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Er hat keine Vergangenheit. Sie keine Zukunft.
Der Auftakt der Midnight Chronicles
449 entflohene Seelen. 449 Tage, um sie zurück in die Unterwelt zu schicken. Roxy weiß, dass ihre Mission so gut wie unmöglich ist. Dass sie jetzt auch noch ein Auge auf den mysteriösen Shaw haben soll, der von einem Geist besessen war und seitdem keinerlei Erinnerungen an seine Vergangenheit hat, passt ihr daher gar nicht. Vor allem weil das Kribbeln zwischen ihnen mit jedem Augenblick, den sie miteinander verbringen, heftiger wird. Und das ist nicht nur für Roxys Herz gefährlich - sondern auch für ihr Leben ...
"Magisch, kraftvoll, intensiv. Ein imposanter Reihenauftakt, der mein Kämpferherz erwachen lässt." Red Fairy Books
Band 1 der New-Adult-Fantasy-Reihe von Bianca Iosivoni und Laura Kneidl
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Seitenzahl: 540
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Playlist
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Epilog
Danksagung
Leseprobe
Glossar & Personenverzeichnis
Die Autorinnen
Die Romane von Bianca Iosivoni und Laura Kneidl bei LYX
Impressum
BIANCA IOSIVONI
LAURA KNEIDL
MIDNIGHT CHRONICLES
SCHATTENBLICK
ROMAN
Als Roxy das erste Mal auf Shaw trifft, könnte der Zeitpunkt für die junge Huntress kaum ungünstiger sein. Denn Roxy ist nicht nur auf der Suche nach ihrem verschwundenen Bruder, der von übernatürlichen Wesen entführt wurde, sie hat auch alle Hände voll damit zu tun, die 449 Seelen einzufangen, die sie versehentlich aus der Unterwelt befreit hat. Wenn es Roxy nicht gelingt, all diese entflohenen Wesen innerhalb der vorgegebenen Zeit zurückzuschicken, wird sie mit ihrem Leben bezahlen – eine Mission, die trotz der Unterstützung der Londoner Hunter so gut wie unmöglich ist. Deshalb passt es ihr überhaupt nicht, dass sie jetzt auch noch ein Auge auf den mysteriösen Shaw haben soll, der von einem Geist besessen war und seitdem keine Erinnerung an seine Vergangenheit hat. Nicht nur treibt er sie mit seiner großen Klappe vom ersten Moment an in den Wahnsinn, Roxy kann auch das Kribbeln zwischen ihnen nicht brauchen. Ein Kribbeln, das immer stärker wird, je näher sie sich kennenlernen – und das zur Gefahr für ihre ganze Mission werden könnte …
Für alle, die an Magie glauben.
Für alle, die anders sind.
Für alle, die in keine Schublade passen.
Dieses Buch ist für euch.
Elle King – Good Girls
Natalie Taylor – In the Air Tonight
Imagine Dragons – Warriors
Oh The Larceny – Check It Out
Marmozets – Weird And Wonderful
The Pretty Reckless – Why’d You Bring a Shotgun to the Party
Michael A. Levine, Lucas Cantor, Miriam Speyer – In The Dark
Black Lab – This Blood
Imagine Dragons – Bad Liar
The Phantoms – All For One
Led Zeppelin – Immigrant Song
DMX – Party Up
Muse – Dig Down
1985 – Every Woman
Amaranthe – Drop Dead Cynical
Skrizzly Adams – Dance with Darkness
Gin Wigmore – Written In The Water
Valerie Broussard – Trouble
Amy Stroup – In The Shadows
Bon Jovi – In These Arms
Unions – Bury
Once Monsters – Heroes of Today
Bon Jovi – We Don’t Run
RAIGN – This Is The End
Imagine Dragons – Rise Up
DMX – X Gon’ Give It To Ya
Ich liebte Essen. Schokolade. Pasta. Cottage Pie. Eintopf. Pizza. Scones. Eiscreme. Essen machte einfach alles besser.
Genüsslich schob ich mir den letzten Bissen Kartoffeln in den Mund und legte die Gabel mit einem zufriedenen, nein, mit einem vorfreudigen Seufzen auf den Teller. Denn als Dessert stand ein Triple Chocolate Cake mit flüssigem Kern und hausgemachter Soße aus echten Vanilleschoten auf dem Programm. Das war besser als jeder Orgasmus. Das ganze Menü war schon köstlich gewesen, aber das hier? Dieses Dessert war zum Sterben gut, und ich konnte es gar nicht erwarten, dass es endlich auf dem Tisch landete. Dafür verschwendete ich liebend gerne meine begrenzte Lebenszeit. Nicht für den Kerl, sondern für das Essen.
Na gut, ein bisschen auch für den Kerl, der mir gegenübersaß.
»Du genießt das richtig, was?« Seamus grinste, wodurch das kleine Grübchen in seiner glatt rasierten Wange sichtbar wurde.
Im Alltag hatte er seinen irischen Akzent größtenteils abgelegt – aber zusammen mit mir? Da erkannte ich meine Heimat in fast jeder Silbe. Bonuspunkte gab es dafür, dass er eine angenehm tiefe, ruhige Stimme hatte, die perfekt zu seinem attraktiven Äußeren passte: gestyltes blondes Haar, breite Schultern und trainierte Arme, die von jahrelangem Rugbyspielen zeugten, dazu graue Augen, in denen es flirtfreudig funkelte.
Wir hatten uns vor einer Woche in der Nähe des British Museum kennengelernt. Ich fuhr manchmal zum Nachdenken dorthin, während er gerade auf dem Weg zur Senate House Library gewesen war, um irgendetwas für sein Studium zu recherchieren. An dem Tag war ich total übermüdet gewesen und hatte mir nichts sehnlicher gewünscht als einen Kaffee. Stattdessen war ich in Seamus reingelaufen und hatte seine Nummer sowie ein Date bekommen. Kein schlechter Deal, wenn ihr mich fragt.
Ich trank einen Schluck von meinem Wasser. »Ich versuche einfach, jeden Moment zu genießen.«
In seinen Augen blitzte es auf, und sein Blick wanderte für einen Moment genau so an mir auf und ab, wie er es getan hatte, als ich hereingekommen war. Er hatte bei den Halbstiefeln mit den mörderisch hohen Absätzen angefangen, war über die hautenge schwarze Hose und das geblümte Oberteil mit den weiten Ärmeln, den royalblauen, ungefähr drei Zentimeter großen Anhänger an der Goldkette um meinem Hals und bis hin zu meinem Mund geglitten. Darüber, dass der dunkelrote Lippenstift nach diesem Abend und dem köstlichen Menü nicht mehr richtig halten oder verschmiert sein könnte, machte ich mir keine Gedanken. Ich hatte ihn schon unter härtesten Bedingungen getestet: bei Nacht und Nebel – und Nieselregen! – in den Londoner Straßen, als ich mit meinem Kampfpartner Finn auf der Jagd gewesen war. Wenn dieser Lippenstift eine Begegnung mit Untoten, Geistern und den Kreaturen der Unterwelt überstand, dann auch dieses Abendessen.
»Das ist eine gute Einstellung«, sagte Seamus schließlich und sah mir wieder in die Augen. »Aus allem das Beste zu machen.«
Bildete ich mir das ein oder klang seine Stimme etwas belegt? Ein bisschen rau? Womöglich sogar erregt?
Ich lächelte langsam. Allem Anschein nach würde dieses Date genauso interessant weitergehen, wie es angefangen hatte. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass Seamus mir nicht gleich vor dem Restaurant Gute Nacht sagen und in der nebligen Londoner Nacht verschwinden würde. Stattdessen würden wir uns ein Taxi teilen, auf der Fahrt vielleicht ein bisschen herumknutschen, anschließend noch tanzen oder in einen Pub gehen und früher oder später in seiner Wohnung landen. Zumindest hoffte ich, dass er eine eigene Wohnung oder wenigstens ein eigenes Zimmer in einer WG hatte, statt sich im Wohnheim eins teilen zu müssen, wo sein Mitbewohner hereinplatzen könnte, während wir gerade im Bett zugange waren. Alles schon erlebt, und auf eine Wiederholung konnte ich verzichten.
Statt einer Antwort lächelte ich nur breit – und sah mich möglichst unauffällig nach dem Kellner um. Der einzige Grund, aus dem ich dieses Restaurant ausgewählt hatte, war die Dessertkarte gewesen, also wollte ich auch in den Genuss dieses Triple Chocolate Cakes kommen. Dafür würde ich glatt meine Seele verkaufen. Na ja, also, wenn ich das nicht schon getan hätte. Irgendwie zumindest. Allerdings blieben mir noch …
Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk, die das heutige Datum anzeigte: fünfzehnter Juni. Beim Anblick der Zahlen zog sich mein Magen zusammen. Denn das bedeutete, dass mir noch exakt 299 Tage blieben, um meine begrenzte Lebenszeit zu genießen. 299 Tage, um all die Geister aufzuspüren und zurückzuschicken, die ich selbst befreit hatte. Bisher hatte ich davon jedoch nur einen Bruchteil gefunden. Was nicht wirklich verwunderlich war, schließlich war diese Mission von Anfang an unmöglich und zum Scheitern verurteilt gewesen …
Ich spülte den bitteren Geschmack in meinem Mund mit einem großen Schluck Wasser hinunter und zwang mich dazu, mich wieder auf meinen Gegenüber zu konzentrieren.
»Also …«, begann Seamus, hielt jedoch inne, als der Kellner uns das Dessert brachte. Endlich! Das wurde aber auch Zeit. »Wo willst du nach dem Essen hin?«
»Wir könnten noch in den Pub gehen«, schlug ich vor und griff nach meiner Gabel, noch bevor der hübsche kleine Teller vor mir abgestellt wurde. »In einen Club. Oder direkt zu dir.«
Seine Mundwinkel hoben sich. Oh ja, dieser Vorschlag traf eindeutig auf Gegenliebe.
Unter anderen Umständen hätte es mich vielleicht abgeschreckt, schon beim ersten Date mit einem Kerl ins Bett zu gehen. Aber genau hier kam die begrenzte Lebenszeit ins Spiel, denn die Wahrheit war: Ich suchte keinen Partner fürs Leben, keinen Mann, den ich heiraten, mit dem ich Kinder kriegen und alt werden konnte. Denn all das würde ich nicht mehr erleben und hatte meinen Frieden damit geschlossen. Was ich an meinem freien Abend suchte, war ein bisschen harmlosen Spaß. Etwas, um meine Gedanken für eine Weile mit etwas anderem als der tickenden Uhr über meinem Kopf zu beschäftigen.
Seamus räusperte sich. »Dann würde ich vorschlagen: gleich zu mir.«
»Liebend gern.«
Ich teilte ein Stück meines Triple Chocolate Cakes mit der Gabel ab und tunkte es in die warme Vanillesoße. Doch genau in der Sekunde, in der ich den Bissen zum Mund führen wollte, klingelte es neben mir. Ich erstarrte. Einen Moment lang betete ich innerlich, dass es sich dabei um das Handy eines anderen Gasts handelte, das nur zufällig denselben Klingelton hatte wie meines. Doch als ich das Gerät aus meiner Handtasche zog, wurde ich eines Besseren belehrt.
»Sorry«, murmelte ich abgelenkt. »Da muss ich rangehen.«
Ich nahm den Anruf entgegen und hielt mir das Handy ans Ohr. »Finn!«, begrüßte ich ihn freundlicher, als mir gerade zumute war. Der erste Bissen vom Schokoküchlein lag unberührt auf meinem Teller. »Was willst du?«
»Wo steckst du?«, ertönte die mittlerweile vertraute Stimme mit dem schottischen Akzent.
Ich runzelte die Stirn. »Auf einem Date. Schon vergessen?«
Heute war mein freier Abend. Kein Training. Keine Patrouille. Keine Jagd. Und erst recht keine Geister, die es in die Unterwelt zurückzuschicken galt. An diesem einen Abend sollten sich gefälligst alle zurückhalten, bis ich morgen wieder an die Arbeit ging. Das konnte doch nicht zu viel verlangt sein, oder?
Ich warf Seamus ein beruhigendes Lächeln zu. Vielleicht wollte ich damit aber eher mich selbst beruhigen, denn mittlerweile hatte ich das Gefühl, ein Garant für katastrophale Dates zu sein. Wobei das wirklich nicht meine Schuld war. Was konnte ich dafür, wenn ich regelmäßig mittendrin von meinen Hunterkollegen angerufen wurde, weil sie Unterstützung brauchten? Oder wenn der nette ältere Herr vom Nachbartisch von einem Geist besessen war, den ich kurzerhand auf der Männertoilette austreiben musste? Ähm, ja … Reden wir nicht darüber.
»Ach so, ja«, erwiderte Finn trocken. »Dann bitte ich den Geist einfach, sich zu gedulden, bis du aufgegessen und den Typen gevögelt hast.«
Ich biss die Zähne zusammen. Nach außen hin mochte ich völlig ruhig wirken, aber in Gedanken drehte ich Finn bereits den Hals um. Und das nicht nur, weil er mich während meines Dates gestört hatte.
»Ist heute nicht auch dein freier Abend?«
Oder auch: Was zum Teufel machst du da draußen, wenn du genau weißt, dass kein Hunter allein auf die Jagd gehen soll? Dafür hatte jeder von uns schließlich einen Partner, verdammt.
»Schon …«, kam es scheinbar gelangweilt von meinem Kampfpartner. »Aber ich war gerade auf dem Heimweg vom Pub und da ist mir diese nette, ziemlich mächtige Erscheinung über den Weg gelaufen. Also, was ist? Soll ich sie bitten, zu warten, oder kommst du jetzt?«
»Wo bist du überhaupt?«
»Im Ravenscourt Park.«
Und damit gerade mal eine U-Bahn-Station entfernt.
Ich würde ihn umbringen. Dieser Kerl war so was von tot. Erst fand er einen Geist – und das an seinem freien Abend! – und dann unterbrach er auch noch mein Date. Argh!
»Das Ding ist verflucht stark«, fuhr er im Plauderton fort. »Gut möglich, dass es einer von deinen Geistern ist, also beweg gefälligst deinen Hintern hierher, Roxana Blake.«
Grrr. Ich hasste es, wenn er mich so nannte. Dabei fühlte ich mich immer, als wäre ich noch zu Hause in Irland und meine Eltern würden mich ausschimpfen, weil ich mich wieder mal spätabends aus dem Haus geschlichen hatte.
»Ich schicke dir die Koordinaten aufs Handy«, sprach Finn weiter, ohne auch nur meine Reaktion abzuwarten.
»Du kannst mich mal!«, fauchte ich eine Spur zu laut und ignorierte die Blicke, die ich damit auf mich zog. »Dafür schuldest du mir was, MacLeod.« Und dann, weil ich ihn trotz allem nicht ohne jede Hilfe dort draußen allein lassen konnte: »Ich bin unterwegs.« Damit legte ich auf und wandte mich wieder an meine Begleitung.
Mittlerweile lächelte Seamus nicht mehr, sondern betrachtete mich besorgt. Zwischen seinen hellen Brauen hatten sich zwei kleine Falten gebildet. »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Ich warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das Dessert, griff nach meiner Tasche und stand auf. »Ich muss nur kurz jemandem bei etwas helfen. Keine Sorge, das dauert keine zehn Minuten. Maximal zwanzig. Vielleicht auch dreißig. Bestell dir einfach noch etwas zu trinken. Ich bin zurück, bevor du merkst, dass ich weg war. Und was auch immer du tust: Lass nicht zu, dass sie das Dessert abräumen, bevor ich wieder da bin!«
Keine Sekunde später marschierte ich mit großen Schritten durch das Restaurant. An der Garderobe holte ich mein Cape, das einem überlangen dunkelroten Pullover ähnelte, und trat in die kühle Nacht hinaus. Der Stoff flatterte wie ein Umhang hinter mir. Vorne reicht er mir nur bis zu den Hüften, hinten bis zu den Unterschenkeln. Ich schob mir das hellblonde Haar hinter die Ohren, zog mir die Kapuze tief ins Gesicht und machte mich auf den Weg.
Stimmengewirr und die Geräusche der U-Bahn folgten mir, als ich wenige Minuten später die Ravenscourt Park Station verließ und wieder in den kühlen Abend hinaustrat. Mittlerweile hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt, und das Licht der Straßenlampen spiegelte sich in den Pfützen am Bordstein. Meine Schritte hallten von den Wänden wider, als ich unter einer Brücke hindurchging und gleich danach auf den schmalen Weg abbog, der geradewegs in den Park hineinführte. Einen Herzschlag später begann eine Kirchturmuhr zu läuten und in der Ferne ertönten Sirenen. Im Park selbst war es jedoch still. Fast schon zu still.
Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf, und eine Gänsehaut breitete sich genauso schnell auf meinem Körper aus wie der Nebel, der vom See im nördlichen Teil des Parks über die Wiesen zog. In Gedanken verfluchte ich mich dafür, keine einzige Waffe mitgenommen zu haben. Das Amulett um meinen Hals erwärmte sich und vertrieb etwas von der Gänsehaut, ganz so, als wollte es mich daran erinnern, dass ich meine stärkste Waffe immer bei mir trug.
Ich beschleunigte meine Schritte. Sie waren nicht das einzige Geräusch hier draußen, aber das lauteste. Hin und wieder hörte ich das Zirpen von Grillen, genau wie den Straßenverkehr in der Nähe, und sogar eine Eule machte sich bemerkbar. Abgesehen davon nahm ich nur meine eigenen schnellen Atemzüge wahr. Keine anderen Menschen. Keine Hunter. Keine übernatürlichen Wesen. Aber ich hatte den Treffpunkt, den Finn mir aufs Handy geschickt hatte, auch noch nicht erreicht.
Die Tennisanlage, an der ich vorbeikam, war um diese Uhrzeit verlassen, genau wie der Spielplatz im Süden des Parks. Die Schaukeln schwankten leicht im Wind. Ich zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht und folgte dem Weg Richtung Norden, vorbei an Bänken, Mülleimern und in gleichem Abstand zueinander gepflanzten Bäumen. Immer weiter, bis der Nebel dichter wurde und der kleine See in der Mitte des Parks vor mir auftauchte.
Unvermittelt begann es in meiner linken Schulter zu kribbeln. Und je näher ich dem See kam, desto wärmer wurde dieses Gefühl, bis meine Haut in Flammen zu stehen schien. Ich hätte ja das Gesicht verzogen, wenn mir diese Empfindung nach beinahe einem halben Jahr nicht schon so vertraut gewesen wäre. In dieser Zeit hatte ich mehr Seelen zurück in die Unterwelt geschickt als in all den Jahren als Huntress zuvor – aber es war nicht genug. Es würde nie genug sein, um meine Aufgabe zu erfüllen, bevor die 299 Tage abliefen.
Am Ufer des Sees angekommen, in dessen Mitte sich eine kleine Insel befand, blieb ich stehen. Mein Atem kondensierte in der kühlen Luft, und die allgegenwärtige Feuchtigkeit drang durch meine Kleidung. Ich unterdrückte ein Schaudern und sah mich um. Keine Sekunde später löste sich eine Gestalt aus dem Schatten eines Baumes und kam geradewegs auf mich zu.
Andere Frauen bekamen vielleicht Herzklopfen, wenn jemand wie Finn MacLeod auf sie zusteuerte, aber dafür kannten wir uns mittlerweile zu gut. Ja, okay … Finn war attraktiv. Das konnte ich durchaus zugeben, schließlich war ich nicht blind. Und wie könnte er das mit dem schwarzen Haar, das ihm in die viel zu blauen Augen fiel, dem schottischen Akzent und der typisch trainierten Statur eines Grim Hunters auch nicht sein? Aber bevor etwas zwischen Finn und mir lief, sprang ich lieber freiwillig vom Uhrenturm des Palace of Westminster oder ließ mich von Höllenhunden in die Unterwelt zerren. Wir gingen zwar regelmäßig zusammen auf die Jagd, stritten uns aber wie Bruder und Schwester – und genau so war auch unser Verhältnis: eine Mischung aus ständigem Voneinander-genervt-Sein, gelegentlichen Momenten der Sympathie und der tiefen Gewissheit, sich immer aufeinander verlassen zu können.
»Das hat ja gedauert«, begrüßte er mich und drehte seinen Dolch zwischen den Fingern. Diese Waffe trug er immer bei sich, ganz egal, ob er auf der Jagd war oder in den Pub ging, um sich ein Fußballspiel anzuschauen. »War das Date so gut oder so mies?«
Ich setzte ein Lächeln auf, auch wenn der Blick aus meinen Augen mörderisch war. »Wenn es nicht so gut gewesen wäre, würde ich jetzt nicht den Drang verspüren, dich zu killen statt den Geist.«
»Uuuh«, machte er nur und hob alles andere als beschwichtigend die Hände.
Ich schnaubte. »Hast du eine Ahnung, was ich jetzt gerade tun würde, wenn du nicht dazwischengefunkt hättest?«
»Essen?« Finn grinste unbekümmert. »Du kannst froh sein, dass du durch mich wenigstens noch so etwas wie ein Workout bekommst, mit dem du all die Kalorien wieder abtrainieren kannst.«
Meine Antwort darauf war nur ein Knurren.
»Sorry, Blake, wir jagen zwar zusammen, aber ich werde sicher nicht die Drecksarbeit für dich erledigen. Auch nicht, wenn du auf einem Date bist. Das wievielte ist es in diesem Monat überhaupt? Das fünfte?«
Der Gedanke, ihm den Hals umzudrehen, wurde von Sekunde zu Sekunde verlockender. Wie als Reaktion darauf leuchtete das Amulett unter meiner Kleidung auf.
Finn warf nur einen kurzen Blick auf das bläuliche Schimmern. »Ich bin enttäuscht. Du weißt doch, dass du Amulettmagie nicht gegen andere Hunter einsetzen darfst.«
Ich lächelte so breit, dass meine Wangen schmerzten, und deutete um mich. »Ich sehe hier keine Zeugen. Du etwa? Außerdem: Was zum Teufel fällt dir ein, allein jagen zu gehen? Maxwell bringt dich um, wenn er davon erfährt.«
»Er wird nicht davon erfahren, denn ich war nicht auf der Jagd, sondern bin dem Geist zufällig begegnet«, konterte Finn mit einem lässigen Schulterzucken. »Außerdem gibt es den Teufel nicht, höchstens den Grimkönig auf seinem hübschen Thron in der Unterwelt.«
Ich riss die Hände hoch, als wollte ich ihm wirklich an die Gurgel gehen. Wie ich es überhaupt so lange mit diesem Kerl ausgehalten hatte, ging über mein Verständnis. Wir hatten uns vor etwas mehr als drei Jahren kennengelernt, als ich meine Hunterprüfungen in London abgelegt hatte. Schon damals hatte er mich in den Wahnsinn getrieben … und trotzdem waren wir bei meiner Rückkehr nach London Anfang des Jahres Partner geworden. Verdammt gute Partner sogar. »Danke, du Klugscheißer.«
Ein tiefes Grollen vom See her erinnerte uns beide daran, warum wir hier waren.
Ich seufzte. »Lass es uns endlich hinter uns bringen.«
Statt sofort loszugehen, warf Finn mir einen kritischen Blick zu. Genauer gesagt meinem Outfit. »Sicher, dass du dafür richtig ausgestattet bist?«
»Echt jetzt?«
Zugegeben, das dunkelrote Cape war das einzige Kleidungsstück, das ich auch auf einer richtigen Jagd tragen würde. Die dünne Hose und die Halbstiefel mit den Pfennigabsätzen eher weniger. Wobei man Letztere im Zweifelsfall sicher auch als Waffe verwenden konnte. Das wäre zumindest eine Alternative zu der handlichen Pistolenarmbrust, die ich sonst immer bei mir trug.
Das wichtigste Utensil für die Jagd war jedoch immer bei mir – und das nicht nur aus dem Grund, weil das Amulett mit dem blauen Stein an der goldenen Kette nicht mehr abging, seit ich es mir umgehängt hatte. Das war der Nachteil an magischen Amuletten. Einmal angelegt, konnte man sie nicht mehr abnehmen, bis ihre Magie aufgebraucht war. Nach über zehn Jahren Training musste ich nur daran denken, und schon leuchtete der Stein ein weiteres Mal so hell auf, dass es sogar durch den Stoff zu sehen war.
»Bring mich zum Geist«, verlangte ich und schob mir die Kapuze vom Kopf.
Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen, aber in der Luft hing noch immer so viel Feuchtigkeit, dass ich sie auf meiner bloßen Haut spüren konnte und unwillkürlich fröstelte.
Finn deutete mit dem Daumen hinter sich. »Hier entlang.«
Ich folgte ihm, ohne Fragen zu stellen. Nicht nur, weil ich seinem Urteil zu hundert Prozent vertraute – ich wollte auch nicht, dass das hier länger dauerte als unbedingt nötig. Da wartete schließlich noch ein Date auf mich. Der Gedanke an den Triple Chocolate Cake trieb mich derart an, dass ich Finn fast überholte. Wir gingen am Ufer entlang, darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen und erst recht nicht die Enten und Gänse zu wecken, die unsere Position verraten würden.
»Da vorne.« Finn ging hinter einem Strauch in die Hocke und schob ein paar Äste zur Seite. Dann zeigte er auf eine Stelle nur wenige Meter entfernt.
Während der Rest des Parks friedlich und aufgeräumt war, lag hier eine Holzbank in Trümmern. Der Mülleimer daneben war umgestoßen und die angepflanzten Blumen zerfetzt worden. Für andere mochte das wie ein Akt von Vandalismus aussehen, aber wir wussten es besser. Nicht zuletzt, weil sich ein mehrere Meter großer Krater im Boden gebildet hatte, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Vom Geist selbst war jedoch nichts zu sehen. Nicht weiter ungewöhnlich – doch dann begann sich direkt vor unseren Augen eine blasse Gestalt zu materialisieren.
»Oh Shit.«
Ich hatte zwar gewusst, dass er mich nicht ohne guten Grund herrufen würde, aber ein Teil von mir hatte trotzdem gehofft, dass wir es mit einer mittelmäßig starken Seele zu tun bekämen. Denn nur die mächtigsten Geister, die wir Phase 4 zuordneten, konnten durch pure Willenskraft ihre alte Form annehmen und selbst für das normale menschliche Auge sichtbar werden. Alle anderen Geister waren für Menschen und sogar für Jäger wie Finn und mich unsichtbar. Lediglich Soul Hunter mit dem Seelenblick waren dazu in der Lage, jede Art von Geistern zu jeder Zeit und an jedem Ort wahrzunehmen – doch die waren ziemlich rar gesät. Im ganzen Londoner Quartier gab es nur einen einzigen dieser speziellen Sorte von Huntern – und Deek lag gerade mit einer Grippe flach.
»Warum hast du nicht gleich gesagt, dass es ein Phase-4-Geist ist?«
»Weil er sich bis eben keinen eigenen Körper erschaffen hat«, murmelte Finn. »Ich hab nur den Krach gehört und das Chaos gesehen.«
Was eher auf einen Geist hindeutete, den wir Phase 3 zuordneten, mit der Fähigkeit, Menschen zu besetzen und Gegenstände zu bewegen. Sie waren mächtig und gefährlich, aber nicht unbesiegbar. Anders als dieses Exemplar.
In Gedanken ging ich unsere Möglichkeiten durch. Finn war als Grim Hunter auf seine überragende Körperkraft und seine Waffen angewiesen, die er sehr gut beherrschte, doch im Kampf gegen einen Geist war beides so gut wie wirkungslos. Da konnten nur Soul Hunter oder Amulettmagie etwas ausrichten.
Kurz wanderte mein Blick über die nähere Umgebung. Ein leerer Weg, Nebel über dem Wasser, keine anderen Menschen in Sicht. Ein Plan formte sich in meinem Kopf. Ein Plan, den wir in den vergangenen Monaten oft genug zusammen durchgespielt hatten, um uns nicht mehr absprechen zu müssen.
Ich nickte Finn zu und er setzte sich in Bewegung. Geduckt schlich er weiter, suchte hinter einem Baum Deckung und verschwand dann für einen Moment aus meinem Sichtfeld. Einige Herzschläge später tauchte er wieder auf, diesmal jedoch mitten auf dem Parkweg schlendernd – als wäre er ein ganz normaler Mensch, der an diesem Freitagabend einen Spaziergang durch den Park machte. Mit etwas Glück war das Ablenkung genug, damit ich in Aktion treten konnte.
Wie erhofft, bemerkte der Geist Finns Anwesenheit sofort. Was auch nicht sonderlich schwierig war, so viel Lärm, wie der Kerl veranstaltete. Ich beobachtete die Szene, die sich vor meinen Augen abspielte, und zog das Amulett unter meinem Cape hervor. Es interessierte mich nicht sonderlich, welche Geschichte die Erscheinung hatte oder warum sie sich dazu entschlossen hatte, ausgerechnet an diesem Ort zu randalieren. Das Einzige, was mich interessierte, war, den Spirit zurück in die Unterwelt zu verbannen. Dorthin, wo er hingehörte. In das Gefängnis, aus dem ich ihn vor ein paar Monaten unwissentlich befreit hatte.
Ich umfasste das Amulett so fest, dass sich die spitzen Kanten in meine Haut bohrten. Der Schmerz hielt mich im Hier und Jetzt und vertrieb die Erinnerungen aus meinem Kopf. Ich konnte es mir nicht leisten, mich ablenken zu lassen. Nicht einmal von meinen eigenen Gedanken.
Sobald der Geist zum Angriff überging, trat ich aus meiner Deckung und lief auf die beiden zu. Der Geist setzte seine telekinetischen Kräfte ein und schleuderte einen Mülleimer auf Finn, der gerade noch rechtzeitig zur Seite sprang.
Das Brennen in meiner Schulter verstärkte sich mit jedem Schritt. Ich blendete es aus und richtete all meine Konzentration auf das Amulett um meinen Hals. Die darin eingeschlossene magische Energie pulsierte, dann glitt sie wie ein leuchtend blauer Nebelschleier durch meine Finger hindurch und schloss sich darum.
Ich blieb breitbeinig stehen und ließ die Energie durch meine Hände fließen. Im selben Moment bemerkte mich die Geistergestalt und wirbelte zu mir herum. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen und weiteten sich beim Anblick der konzentrierten Magie. Wahrscheinlich ahnte sie bereits, was ihr bevorstand.
Ich lächelte nur. »Bye, bye.«
Dann stieß ich die Hände nach vorne. Die Magie schoss in einem leuchtend blauen Strahl auf das Wesen zu und durchdrang es von Kopf bis Fuß. Ein, zwei Herzschläge lang schwebte es noch reglos über dem Boden, dann zersplitterte es in Tausende winzige Leuchtpartikel, die sich gleich darauf mit einem letzten Funkeln in Luft auflösten.
Stille senkte sich über den Park. Zuerst hörte ich nur meine eigenen Atemzüge und das Rauschen des Blutes in meinen Ohren, doch nach und nach drangen die nächtlichen Geräusche zu mir durch. Das leise Plätschern von Wasser. Grillenzirpen. Das Rascheln der Blätter in den Bäumen. Das Rufen einer Eule.
Finn sicherte die Umgebung ab und joggte dann auf mich zu. »Gute Arbeit. Alles klar?«
»Bestens.«
Das Brennen in meiner Schulter ließ abrupt nach, und ich konnte förmlich spüren, wie ein winzig kleiner Teil der Narbe von meiner Haut verschwand. Ich atmete erleichtert aus. Abgesehen von der beginnenden Erschöpfung, die sich nach jedem Einsatz von Amulettmagie in meinem Körper ausbreitete, ging es mir gut.
Ich schob den Anhänger wieder unter meine Kleidung und setzte die Kapuze auf. Dann drehte ich mich zu Finn um und schenkte ihm ein breites Lächeln.
Sofort zog er alarmiert die Brauen zusammen. »Was ist los?«
»Halt dich an deinem freien Abend gefälligst von Geistern und anderen Kreaturen fern!« Ich bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust. »Und wenn ich bis morgen früh noch einmal von dir höre, wird es dir so was von leidtun.«
»Aye.« Er schüttelte belustigt den Kopf. »Na los, hau schon ab. Und genieß dein Dessert!«, rief er mir nach, aber ich drehte mich nicht mehr zu ihm um, sondern grinste nur. Irgendwie schaffte dieser Typ es immer, dass ich ihm nicht lange böse sein konnte. Und zum wiederholten Mal tauchte die Frage in meinem Kopf auf, ob es mit Niall heute wohl genauso wäre … wenn mein Bruder noch da wäre.
Der Schmerz kam schnell und plötzlich, aber nicht überraschend. Ich biss die Zähne zusammen und eilte durch den dunklen Park, während Finn in die entgegengesetzte Richtung marschierte. Und mit jedem Schritt versuchte ich, all meine Gedanken, aber vor allem die Schuldgefühle hinter mir zu lassen. Sie hatten hier nichts verloren. Denn heute Abend standen keine Geister und keine Magie mehr auf dem Programm, sondern nur noch jede Menge Spaß. Und Schokokuchen.
Ich bin gleich da, textete ich meinem Date noch im Gehen.
Die Antwort kam umgehend: Kann’s kaum erwarten! :D
Lächelnd steckte ich das Handy in meine Handtasche und beschleunigte meine Schritte. Ich hatte keine Angst, nachts allein durch den Park zu laufen, da mich sowohl meine ehemalige Mentorin – eine Magic Huntress – als auch die Hunter im Londoner Quartier sehr gut ausgebildet hatten. Selbst nach Jahren mochte ich zwar kein Profi im Nahkampf sein wie Finn, aber ich konnte mich zumindest selbst verteidigen – und im Zweifelsfall immer noch Magie einsetzen. Sei es gegen irgendwelche übernatürlichen Kreaturen, die hier ihr Unwesen trieben, oder gegen aufdringliche Typen. Wobei ich denen lieber eine blutige Nase verpasste, statt mich und alle anderen Hunter in Gefahr zu bringen, indem ich mein Amulett vor den Augen eines ganz normalen Menschen aktivierte.
Ich zog die Schultern hoch und beschleunigte meine Schritte. Bis eben war mir kaum aufgefallen, wie kühl es geworden war. Aber wäre ich nicht so darauf bedacht gewesen, so rasch wie möglich zu Seamus ins Restaurant zurückzukehren, wäre ich die Strecke komplett zu Fuß gegangen, statt nur bis zur nächsten U-Bahn-Station zu laufen. Andere hätten mich vielleicht für verrückt erklärt, dass ich freiwillig durch die Gegend spazierte, allerdings stammte ich aus einem winzigen Dorf an der Westküste Irlands, und viel zu laufen hatte für mich schon immer zum Alltag dazugehört. Vor allem in Zeiten wie diesen – spätabends, wenn ein leichter Nieselregen die Stadtluft reinwusch und der erdige Geruch des Parks überdeutlich wahrzunehmen war – fiel es mir schwer, mich in die stickigen Tunnel der U-Bahn zu verabschieden.
Je näher ich dem südlichen Ausgang kam, desto mehr verblasste die Stille des Parks. Die Geräusche vorbeifahrender Fahrzeuge wurden lauter, irgendwo ganz in der Nähe schrillte eine Autoalarmanlage los. Gleich würde ich die Straße erreichen und damit auch wieder die Zivilisation.
Ich strich mir ein paar hellblonde Haarsträhnen hinters Ohr, die mir der Wind ins Gesicht geweht hatte und die kurzzeitig meine Sicht trübten. Als ich wieder etwas erkennen konnte, blieb ich abrupt stehen.
Mein Herz polterte los. Mein ganzer Körper spannte sich an. Und auf einmal bereute ich es zutiefst, meine Armbrust nicht mitgenommen zu haben.
Jetzt nahm ich die Kälte in der Luft überdeutlich wahr. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus, während ich den Kerl beobachtete, der nur wenige Schritte von mir entfernt in der Dunkelheit stand.
Die Narbe an meiner Schulter brannte nicht wie bei dem Geist am See, also könnte das hier auch einfach nur ein gruseliger Typ sein und nichts Übernatürliches. Dennoch tastete ich instinktiv nach dem Amulett unter meinem Cape. Sofort spürte ich das vertraute Pulsieren der Magie unter meinen Fingern. Der Anhänger war schwer, ziemlich klobig und passte nicht zu meinem Outfit, aber selbst wenn ich eine Wahl gehabt hätte, würde ich mich eher freiwillig lebendig begraben lassen, als ihn abzunehmen. Und das als jemand mit einer ausgeprägten Klaustrophobie.
Nicht, dass ich ihn überhaupt abnehmen könnte, aber … Details.
Der Fremde rührte sich noch immer nicht, stand einfach nur da, in heruntergekommenen Klamotten, mit hängenden Schultern, dunklem, leicht gelocktem Haar und starrem Blick. Er wäre wahrscheinlich ziemlich attraktiv, wenn er nicht gerade von einem Geist besessen wäre. Ein Geist, der definitiv nicht nur mit mir plaudern wollte.
Wie ich darauf kam? Das tiefe Grollen aus seiner Kehle könnte ein Hinweis darauf sein. Oder weil er in der einen Sekunde noch stocksteif dastand und in der nächsten in einer irrsinnigen Geschwindigkeit auf mich zurannte. Vielleicht auch die Tatsache, dass er gleich darauf seine Hände um meinen Hals legte und zudrückte.
Der Fremde bewegte sich so schnell, dass ich kaum reagieren konnte. Sofort packte ich seine Handgelenke und versuchte mich zu befreien. Es war ein Reflex, obwohl ich es besser wusste. Obwohl mich die Selbstverteidigungskurse etwas anderes gelehrt hatten. Trotzdem konnte ich nicht anders. Röchelnd schnappte ich nach Luft. Vor meinen Augen begannen weiße Punkte zu tanzen. Adrenalin pumpte durch meine Adern, insbesondere als er mich hochhob und ich den Kontakt zum Boden verlor.
Ich kämpfte gegen die blanke Panik in meinem Inneren ebenso wie gegen meine instinktive Reaktion an, ließ seine Handgelenke los und tastete mit zittrigen Fingern nach meinem Amulett. Ich versuchte mich an das zu erinnern, was man mich gelehrt hatte und all meine Aufmerksamkeit auf die im Anhänger enthaltene Magie zu richten, aber der beginnende Sauerstoffmangel machte es schwer. So verflucht schwer …
Mit jeder Sekunde fühlte ich mich leichter, obwohl meine Gliedmaßen immer schwerer wurden und nur noch schlaff in der Luft hingen. Dafür wurde das Rauschen in meinen Ohren lauter, bis es sogar mein eigenes abgehacktes Keuchen übertönte.
Ich wollte nicht durch die Hand eines ruhelosen Geistes sterben, der einen menschlichen Körper besetzt hatte. Ich würde nicht so sterben, verdammt. Ich musste etwas tun. Jetzt!
Mit einem Mal war sie da. Die Wärme. Die Magie. Aber sie glitt nicht wie leuchtend blauer Nebel über meine Hände wie sonst, sondern pulsierte immer schneller, immer heftiger im Takt meines rasenden Herzens.
Dann explodierte sie mit einem ohrenbetäubenden Knall.
Die Wucht der magischen Energie schleuderte den Angreifer von mir weg, wirbelte herabgefallene Blätter meterhoch in die Luft und ließ die Bäume ächzen wie in einem schweren Sturm. Ich landete auf den Füßen, schnappte röchelnd nach Luft und stützte mich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Das war verflucht knapp gewesen.
Am liebsten wäre ich zu Boden gesunken, hätte die Augen geschlossen und darauf gewartet, dass meine Kraft von allein zurückkehrte, aber ich war nicht so dumm, mich darauf zu verlassen, dass das schon alles gewesen war. Die erste Lektion in Sachen Geister? Drehe ihnen niemals den Rücken zu. Und die zweite? Verliere nie den Fokus. Also richtete ich mich wieder auf, genau in dem Moment, in dem auch der Besessene wieder aufstand. Er hatte ein paar Kratzer und Schürfwunden abgekriegt, doch dem Geist in ihm war das egal. Er nutzte diesen Körper nur für seine Zwecke und unterdrückte die Seele darin mit aller Macht.
Höchste Zeit, dem Parasiten ein Ende zu bereiten.
Als ich diesmal mein Amulett berührte, breitete sich die Magie umgehend in meinen Händen aus. Wie warmes Licht pulsierte sie zwischen meinen Fingern. Ich konnte sie nach meinen Wünschen formen, nach meinem Willen einsetzen. Und mir war nicht nach Spielchen zumute.
Ich bündelte die Magie, hielt jedoch inne und wartete, bis der Fremde näher kam. Nur noch ein kleines bisschen näher. Nur noch einen Schritt, bis er in den Lichtschein der Lampe trat und ich alles von ihm sehen konnte. Dann stieß ich die Hände nach vorne. Ein Strahl aus purer Energie schoss geradewegs auf ihn zu, fuhr durch ihn hindurch und breitete sich rasend schnell in ihm aus. Er erstarrte mitten in der Bewegung, von der Macht erschüttert. Die Lichter um uns herum begannen zu flackern, und es war, als würde die Welt den Atem anhalten … und dann war es vorbei.
Anders als vorhin sah ich das Zersplittern nicht mit bloßem Auge. Ich sah nur, wie der Mann plötzlich auf die Knie sank, als hätte jemand die Fäden einer Marionette durchschnitten. Für einen kurzen Moment lag ein Funkeln in der Luft, das gleich darauf verschwand.
Doch im Gegensatz zu meinen bisherigen Geisteraustreibungen stand der Kerl nicht wieder auf. Nein. Er sackte noch weiter in sich zusammen, fiel vornüber und blieb leblos liegen.
»Nicht dein Ernst, oder?« Fassungslos legte ich den Kopf in den Nacken und starrte in den wolkenverhangenen Himmel, obwohl mein Blick eher nach unten gehen sollte, Richtung Unterwelt. Auch wenn die sich natürlich nicht wirklich unter mir befand. »Das war so was von nicht Teil der Abmachung!«
Trotzdem rannte ich zu dem jungen Mann hinüber – denn, ganz ehrlich, was sollte ich sonst tun? Ihn hier zu meinen Füßen krepieren lassen? Sicher nicht.
Hastig sank ich neben ihm auf die Knie und prüfte, ob er noch atmete.
Nope.
Puls? Herzschlag?
Auch nichts. Dafür beschleunigte sich mein eigener gewaltig, und Panik begann sich erneut wie ein eisiges Gift in meinem Körper auszubreiten.
»Wehe, du gehst drauf!« Meine Hände zitterten, als ich nach seinem Brustbein tastete, um die richtige Stelle für die Herz-Lungen-Massage zu finden. »Ich hab dich nicht von diesem Geist befreit, damit du mir jetzt wegstirbst!«
Sobald ich die richtige Position gefunden hatte, stützte ich mich mit beiden Händen auf und startete mit den Wiederbelebungsmaßnahmen. Einen Moment später fiel mir ein, dass ich vielleicht einen Rettungswagen rufen sollte. Oder Hilfe. Finn musste noch ganz in der Nähe sein.
»Fuck!« Ich unterbrach meine Bemühungen und zerrte mein Handy aus der Handtasche. Wie in einem verdammten Albtraum dauerte es endlose Sekunden, bis ich überhaupt dazu in der Lage war, die richtige Nummer zu wählen. Sobald das erste Klingeln zu hören war, schaltete ich den Lautsprecher ein und machte mit der Herz-Lungen-Massage weiter.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.
Scheiße, der Kerl atmete noch immer nicht. Und er war sogar noch blasser geworden, obwohl das gar nicht möglich sein sollte.
»Komm schon!«, keuchte ich. »Du bist zu heiß, um jetzt draufzugehen!«
Ich beugte mich über ihn, überstreckte seinen Kopf und begann mit der Beatmung. Seine Lippen waren so kalt, dass ich noch stärker zitterte. Und sein Bart kratzte.
Konzentrier dich, Roxy! Der Typ segnet gleich das Zeitliche, da ist es völlig egal, ob sein Bart kratzt oder nicht!
Ich richtete mich wieder auf, drückte beide Handflächen auf seinen Oberkörper, zählte weiter. All das begleitet von einem schier endlosen Klingeln.
»Hey«, ertönte endlich die bekannte Stimme am anderen Ende der Leitung. »Was ist …«
»Krankenwagen!«, rief ich. »Schick mir einen verdammten Arzt her! Einen Magier! Einen buddhistischen Wunderheiler! Völlig egal, solange irgendjemand ihn wiederbeleben kann.«
»Wiederbe… Oh, bloody hell! Wo bist du?«
»Im Park. Südlicher Eingang«, stieß ich hervor und presste die Hände wieder auf seinen Brustkorb. Ich weigerte mich, einfach aufzugeben. »Ich hab den Kerl von einem Geist befreit, dann ist er einfach umgekippt.«
Einmal musste ich ihn noch beatmen, dann kam endlich die erlösende Nachricht aus dem Lautsprecher: »Bin unterwegs!«
Dem Himmel sei Dank.
»Warte …«, murmelte ich und starrte in das Gesicht des Fremden. »Ich glaube, er atmet wieder.« Probehalber hielt ich die Finger unter seine Nase und an seine Lippen.
Da! Tatsächlich. Warme Luft strich über meine Haut. Vor Erleichterung sank ich in mich zusammen. Aber ich wusste auch, dass es noch nicht vorbei war.
»Ich bin gleich da!«, drang Finns Stimme durch den Lautsprecher, dann legte er auf.
Ächzend drehte ich den Fremden auf die Seite und brachte ihn in die stabile Seitenlage. Zum ersten Mal war ich froh darüber, dass Maxwell, der Leiter des Londoner Quartiers, uns alle paar Monate dazu zwang, den Erste-Hilfe-Kurs aufzufrischen. Das hatte diesem Typen wahrscheinlich das Leben gerettet.
Nachdem ich ein weiteres Mal sichergegangen war, dass er noch immer brav atmete, setzte ich mich neben ihn auf den Asphalt und wartete. Viel mehr konnte ich nicht tun. Ich war dazu in der Lage, Menschen von Geistern zu befreien, die von ihren Körpern Besitz ergriffen hatten, Ghule auf eine vegetarische Diät in die Unterwelt zu schicken, wenn nötig sogar Vampire und andere Monster in Schach zu halten, aber ich war weder eine Zauberin noch eine Ärztin. Und dieser Kerl brauchte dringend eins von beiden.
Während ich auf Finn und den Rettungswagen wartete, hatte ich Zeit, mir den Fremden genauer anzuschauen. Seine Kleidung wirkte abgetragen, die Schuhe hatten Löcher. Er konnte dringend eine Dusche, ein paar neue Sachen und einen Haarschnitt vertragen, denn die lockigen dunklen Strähnen standen ihm wirr vom Kopf ab. Eine Rasur hätte ihm auch nicht geschadet. Trotzdem hatte er selbst im bewusstlosen Zustand etwas an sich, das ihn attraktiv machte. Oder meine Ansprüche waren nach dem dritten verpatzten Date in diesem Monat echt gesunken. Denn nach dieser Sache war ich mir ziemlich sicher, dass ich weder Seamus noch den Schokokuchen heute Abend wiedersehen würde.
Ganz toll.
Stirnrunzelnd betrachtete ich das Gesicht des Fremden, das aus der Nähe betrachtet ziemlich hager, fast schon eingefallen wirkte. War er vielleicht obdachlos? Zumindest schien er seit seiner Besessenheit nicht allzu viel gegessen zu haben. Gut möglich, dass ihn der Geist schon seit geraumer Zeit in Besitz genommen hatte und er deshalb so abgemagert und heruntergekommen aussah. Ich hatte schon von solchen Fällen gehört, allerdings nie zuvor in London. Hier achteten Maxwells Hunter penibel darauf, die Stadt sauber zu halten. Und das bedeutete keine besessenen Menschen auf den Straßen und so wenig Geistererscheinungen wie möglich. Von Gremlins, Vampiren, Hexenwesen und den legendären Black Shucks ganz zu schweigen. Allein beim Gedanken an diese gruseligen schwarzen Hunde schauderte ich.
Schritte wurden lauter, dann tauchte Finn aus der Dunkelheit auf.
»Wo bleibt der Krankenwagen?«, fragte ich und hielt die Finger wieder an das Gesicht des Fremden. Er atmete noch. Offenbar war das Schlimmste überstanden, trotzdem war es merkwürdig, dass er mir beinahe weggestorben wäre. Normalerweise reagierten die Leute nicht so heftig auf einen Exorzismus. Sie waren vielleicht verwirrt, manchen wurde auch schwindlig oder sie kotzten ins nächste Gebüsch, aber sie gaben nicht gleich den Löffel ab.
Finn schüttelte den Kopf. »Kein Krankenwagen. Wir nehmen ihn mit ins Quartier. Hilf mir, ihn hochzuheben.« Er ging bereits neben dem Kerl in die Hocke und schob die Hände unter seine Arme.
Ein, zwei Sekunden lang konnte ich Finn nur anstarren, stand dann aber doch auf, um an den Beinen mit anzupacken. »Warum? Wer sagt das?«
Sein Blick war Antwort genug. »Maxwell.«
Mein Kopf dröhnte. Scheiße, mein ganzer Körper dröhnte, als hätte ich eine ganze Woche lang durchgemacht. Außerdem war da ein Piepen in meinem Ohr, das einfach nicht aufhören wollte.
Ein krächzender Laut bohrte sich in mein Bewusstsein. War ich das?
Ich versuchte die Augen zu öffnen, aber es war, als hätte jemand eine verdammte Langhantel mit unendlich vielen Gewichten auf meinem Gesicht abgelegt. Ächzend probierte ich es noch einmal. Etwas Helles blendete mich und zwang mich dazu, die Lider wieder zusammenzukneifen. Was zum Teufel …? War ich tot und ins Licht gegangen oder wie auch immer das hieß? Wobei sich das hier eher wie die Hölle anfühlte.
Sekunden tickten vorbei, in denen ich die Augen geschlossen hielt, während meine restlichen Sinne nach und nach zum Leben erwachten. Trotz des Hämmerns in meinem Kopf meinte ich, Schritte zu hören. Jemand war hier. Lief herum. Drei Schritte vor. Drei Schritte zurück. Wieder und wieder.
Die Temperatur war mild, und es schien kein Wind zu wehen, also musste ich mich in einem geschlossenen Raum befinden. Gut so. Allein beim Gedanken daran, dass ich im Wald sein oder auf einer Wiese liegen könnte, dem ganzen Krabbelzeug da draußen hilflos ausgeliefert, während ich meinen Rausch ausschlief, stellten sich mir die Nackenhaare auf. Nein, danke.
Aber wo um alles in der Welt war ich dann gelandet? Und warum war ich hier? Was war passiert?
Probehalber bewegte ich erst die Finger, dann die Zehen. Funktionierte. Oh, Gott sei Dank. Höchste Zeit, aufzuwachen.
Diesmal hielt ich mich nicht mit zögerlichem Blinzeln auf. Ich öffnete die Augen – und zuckte im nächsten Moment zusammen, weil mich erneut etwas Grelles blendete. Autsch!
»Willkommen zurück«, erklang eine fremde Stimme. Weiblich. Hell. Irgendwie kühl.
Als ich die Augen einen Spaltbreit öffnete, starrte ich nicht mehr in das viel zu grelle Licht der Deckenlampe über mir, sondern richtete meinen Blick auf die fremde Frau, die am Bettende stand.
Sie hatte hellblondes, unglaublich langes Haar, das ihr bis zur Taille reichte, und trug ein buntes Oberteil mit einem Muster, das meine Kopfschmerzen nur noch verstärkte, dazu einen klobigen blauen Anhänger an einer Halskette. Jetzt stützte sie sich mit den Händen auf das metallene Fußende, und während ich den Teil von ihr musterte, den ich von hier aus erkennen konnte, schien sie den Blick keine Sekunde lang von meinem Gesicht abzuwenden. An ihrem Hals waren rote Spuren, aber auf die Entfernung konnte ich sie nicht allzu deutlich ausmachen. Als ich wieder bei ihrem Gesicht ankam und diesen misstrauischen Ausdruck in ihren hellbraunen Augen bemerkte, wanderten meine Mundwinkel unwillkürlich nach oben.
»Hallo, Schönheit.«
Gott, meine Stimme klang so rau und kratzig, als hätte ich nicht bloß einen Frosch im Hals, sondern einen ganzen Teich verschluckt.
Ich wollte mir übers Gesicht reiben, stieß bei der Bewegung aber auf einen Widerstand. Zum ersten Mal schaute ich an mir hinunter.
Panik begann sich in mir auszubreiten. Und das nicht etwa, weil ich auf einem Bett unter einer dünnen Decke lag und ganz in Weiß angezogen war – sondern weil ich gefesselt war. Irgendjemand hatte meine Hand- und Fußgelenke ans Bett gekettet. Was zur Hölle?
Mein Herzschlag beschleunigte sich rapide, wodurch das bisher gleichmäßige Piepen im Hintergrund immer schneller und lauter wurde. Ein drückendes Gefühl legte sich auf meinen Brustkorb und schnürte mir die Kehle zu. Ich war an einem fremden Ort und wachte ans Bett gefesselt auf. Das rechtfertigte auf jeden Fall etwas Panik. Jede Menge Panik sogar.
Dennoch zwang ich mich dazu, ein-, zwei- oder vielleicht auch dreimal tief durchzuatmen, ehe ich den Blick wieder hob und die junge Frau am Bettende fixierte.
»Unter Fesselspielchen habe ich mir irgendwie etwas anderes vorgestellt, aber … okay.«
Kein Lächeln. Nicht mal ein Zucken in ihren Mundwinkeln. Allem Anschein nach hatte ich es hier mit einem harten und ziemlich mies gelaunten Brocken zu tun. Aber das war mir egal. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass solche Sprüche das Einzige waren, das mich im Moment davor bewahrte, komplett durchzudrehen.
»Ich bin Roxy«, stellte sie sich vor.
Ein melodischer Akzent begleitete ihre Worte. Ein Akzent, den ich nie zuvor gehört hatte und nicht richtig zuordnen konnte. Woher kam sie? Oder, viel wichtiger, wo waren wir hier?
»Wer bist du?«, fragte sie.
»Ich heiße …«, begann ich automatisch, hielt dann jedoch inne, als es in meinem Kopf leer blieb. Ich runzelte die Stirn, dachte angestrengt nach, versuchte mit irgendeiner Antwort aufzuwarten, aber … da war nichts. Scheiße, wer war ich? Wie lautete mein Name? Ich musste mich doch an meinen verdammten Namen erinnern können!
Wieder wurde das Piepen, das aus einem Monitor links von mir drang, deutlich lauter. Gleichzeitig tippte Roxy mit den Fingern gegen das Bettende, wobei die vielen Ringe an ihren Fingern gegen das Metall schlugen. Wieder und wieder. Der Laut bohrte sich wie ein glühender Pfeil in meinen ohnehin schon malträtierten Kopf, in dem fiese kleine Giftzwerge gerade eine Party feierten.
»Stopp!«
Sie hielt inne, zog überrascht die Brauen hoch, die ein wenig dunkler waren und in einem interessanten Kontrast zu ihren hellen Haaren standen.
»Dieses Geräusch«, murmelte ich und wollte mir über die Stirn reiben, scheiterte jedoch erneut an den Fesseln. »Gott, das ist echt zum Kotzen. Könntest du mal …?« Mit dem Kinn deutete ich darauf.
Roxy wirkte skeptisch, lehnte sich jedoch zurück und sah prüfend nach links. Wahrscheinlich zur Tür, was ich aufgrund des Sichtschutzes, den jemand freundlicherweise neben mein Bett geschoben hatte, nicht sehen konnte. Auf der anderen Seite stand eine weitere Trennwand, sodass auch keine Fenster zu erkennen waren. Nur eine Lampe über meinem Kopf beleuchtete den Raum, der winzig schien, aber genauso gut riesengroß sein konnte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war oder welche Tageszeit wir hatten. Aber mittlerweile hatte ich den Geruch und die Ausstattung erkannt. Ich befand mich in einem Krankenhaus. Oder in einer geschlossenen Anstalt. Nichts davon war sonderlich beruhigend. Und diese Roxy war mit ziemlicher Sicherheit nicht meine Krankenschwester.
Moment mal … Wie konnte ich das mit dem Krankenhaus wissen, wenn ich nicht mal wusste, wie mein eigener Name lautete?
Zu meiner großen Erleichterung verließ Roxy ihren Posten am Bettende und befreite nacheinander meine Hände. Die Beine waren zwar noch immer fixiert, aber wenigstens konnte ich mich jetzt aufsetzen und mir übers Gesicht und die aufgescheuerten Handgelenke reiben.
»Dein Name«, wiederholte Roxy. Diesmal schwang deutlich Ungeduld in ihren Worten mit. Nein, sie war definitiv keine nette, verständnisvolle Krankenschwester, die sich um das Wohl ihres Patienten sorgte. Aber wer war sie dann? Und wer zur Hölle war ich?
»Wie wär’s, wenn du mir erst mal verrätst, wie ich hierhergekommen bin?«, schlug ich vor und sah mich nach etwas zu trinken um, da meine Kehle noch immer staubtrocken war und ich nur krächzen konnte.
Und tatsächlich. Auf dem Nachttisch neben dem Bett standen eine Flasche Wasser und ein kleiner Plastikbecher. Unerreichbar dank der Fußfesseln, die sich mit jeder Bewegung fester um meine Knöchel zu schlingen schienen.
Wortlos ging Roxy um das Bett herum und hielt mir gleich darauf mit ausdrucksloser Miene die Flasche hin. Ich nahm sie dankbar an. Niemand brauchte diesen dämlichen Becher. Ich schraubte die Flasche auf und trank direkt daraus.
»Wir sind in London«, beantwortete Roxy meine Frage und ließ mich keine Sekunde lang aus den Augen. »Ich habe dich gestern Abend im Ravenscourt Park gefunden. Du bist zusammengebrochen und ich habe dich wiederbelebt.«
Ich verschluckte mich am Wasser und musste husten. Fuck, das brannte vielleicht! Röchelnd klopfte ich mir auf die Brust, während das Piepen im Raum erneut hektischer wurde. Die Geräte, an denen ich angeschlossen war, schlugen noch heftiger aus, doch das Einzige, woran ich denken konnte, war: Ich war tot gewesen? So richtig?
Hustend wischte ich mir mit dem Handrücken über den Mund und starrte auf die Narbe zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich war mir absolut sicher, sie nie zuvor gesehen zu haben. Ganz zu schweigen davon, mich daran zu erinnern, wie ich sie bekommen hatte.
Das Piepen wurde schneller. Es bohrte sich genauso schmerzhaft in meinen Kopf wie das Klicken von Roxys Ringen auf dem Metall eben.
»Du hattest kein Handy bei dir. Keinen Ausweis. Keinen Führerschein. Nicht mal irgendwelche Schlüssel oder andere Dokumente, von Geld ganz zu schweigen. Erinnerst du dich, was gestern Abend passiert ist?«, hakte Roxy nach. »Was du so spät im Park gemacht hast? Wie du heißt?«
Ich starrte noch immer auf die Narbe, auf diese im Zickzack verlaufende Linie, die sich hell von meiner bronzefarbenen Haut abhob, und mir wurde klar, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich eigentlich aussah. Ich wusste weder, wie mein Name lautete, noch wie ich meinen Kaffee mochte. Scheiße, ich wusste nicht mal, ob ich überhaupt Kaffee mochte.
Ich wusste gar nichts mehr.
Wenige Minuten später verabschiedete ich mich vom diensthabenden Arzt Doktor Fowler, der den Fremden kurz nach seiner Ankunft untersucht hatte, und schloss die Tür hinter mir um einiges ruhiger, als mir zumute war. Ich durchquerte die Krankenstation mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und lief den Gang hinunter, der geradewegs zum Fahrstuhl führte. Draußen prasselte der Regen gegen die bodentiefen Fenster, die die ganze linke Wandseite einnahmen, und trübte den beeindruckenden Ausblick über London. Während ich auf den Aufzug wartete, lief ich rastlos hin und her. Schlimm genug, dass Finn und ich diesen Kerl, diesen … Fremden, hierhergebracht hatten, aber jetzt wachte er endlich auf – und erinnerte sich an nichts? Er hatte keine meiner Fragen beantworten können, und obwohl er einen auf cool gemacht hatte, war ihm die beginnende Panik anzusehen gewesen. Oder vielmehr anzuhören dank des piependen Monitors, der seinen Herzschlag aufzeichnete.
Wer um alles in der Welt war er? Und warum konnte er sich an nichts erinnern? War er beim Sturz mit dem Kopf aufgeschlagen und litt deswegen jetzt an einer Amnesie? Oder hatte es etwas mit seinem ausgemergelten Zustand zu tun? Hatte die Austreibung am Ende mehr Schaden angerichtet als geholfen?
Ich biss mir auf die Unterlippe. Verdammt. Unsere Oberärztin Ingrid Abrahamsson war noch immer im Quartier in Edinburgh auf der Beerdigung eines Hunters, mit dem sie befreundet gewesen war. Also mussten wir noch auf ihre Einschätzung warten, aber Doktor Fowler hatte eine umfangreiche Erstuntersuchung vorgenommen und mir versichert, dass mein neuer Freund bis auf ein paar Kratzer und Prellungen keine Verletzungen davongetragen hatte. Zumindest nicht äußerlich. Jetzt, wo er wach war, sah das ganz anders aus. Denn keine Verletzungen würde doch bedeuten, dass er sich an seine Vergangenheit erinnern müsste. Oder hatte er mir nur etwas vorgemacht? Aber wozu? Außerdem war das Piepen des Herzmonitors sehr deutlich gewesen.
Die Stahltüren öffneten sich vor mir und ich stieg ein. Automatisch tippte ich den Zugangscode ein und wählte die vierzigste Etage, dann setzte sich der Aufzug lautlos in Bewegung. Ich blieb breitbeinig und mit verschränkten Armen darin stehen und versuchte, langsam und kontrolliert zu atmen. Vielleicht hätte ich doch lieber die Treppe nehmen sollen. Damit wäre ich zwar nicht schneller gewesen, hätte aber zumindest etwas von der rastlosen Energie loswerden können, die auf meiner Haut kribbelte. Und ich müsste diesen Metallsarg nicht betreten … aber meine Mentorin hatte mir schon früh beigebracht, dass es sinnvoller war, mich meinen Ängsten zu stellen, statt vor ihnen davonzulaufen. Also fuhr ich Aufzug, selbst wenn ich die Enge hier drinnen aus tiefstem Herzen verabscheute.
Wenige Sekunden später öffneten sich die Türen ein weiteres Mal, nur dass mich diesmal nicht dieselbe Stille begrüßte wie unten auf der Krankenstation. Stattdessen hörte ich das Klirren von Waffen, das Ächzen von Männern und Frauen und gedämpfte Musik, die aus den Trainingsräumen drang. Der einzige Grund, aus dem ich keine Schüsse wahrnahm, war, dass der Raum fürs Schießtraining schalldicht isoliert war.
Ich grüßte zwei Hunter mit einem knappen Nicken und marschierte an ihnen vorbei, ein paar Stufen hinauf und stieß die Türen zu Trainingsraum Nr. 5 mit beiden Händen auf.
»Er hat keine Ahnung, was passiert ist!«
»Wer?« Finn hielt mitten in der Bewegung inne, in der Hand den Dolch, mit dem er auch draußen auf der Straße kämpfte. »Dein Date von letzter Nacht? War der Sex so schlecht, dass er eine Amnesie vortäuschen musste?«
Ich hob den erstbesten Gegenstand auf, den ich zu fassen bekam, und warf ihn nach ihm. Dummerweise hatte Finn gute Reflexe und wich dem heransausenden Boxhandschuh grinsend aus.
»Fick dich, MacLeod!«, knurrte ich.
Er legte den Kopf in den Nacken und lachte.
»Ich nehme an, du redest von dem jungen Mann, den du letzte Nacht von einem Geist befreit hast?«, schaltete sich Maxwell Cavendish ein.
Obwohl ich Maxwell seit drei Jahren kannte und schon einige Zeit hier im Quartier verbracht hatte, war es noch immer seltsam, ihn in Trainingshose und langärmligem, schlichtem Shirt zu sehen. Jeder hier war seine blütenreinen Hemden, Westen und Tweedsakkos gewohnt. Er reparierte sogar seinen geliebten Bentley in diesen Sachen. Aber mir war auch klar, dass viele ihn auf den ersten Blick unterschätzten. Sie sahen nur den netten älteren Herrn mit dem weißen Haar und dem gepflegten Bart, den guten Manieren und dem britischsten Akzent, den ich je gehört hatte. Sie ahnten nichts davon, dass er als Magic Hunter auf die gefährlichsten Kreaturen spezialisiert gewesen war, bevor er der Anführer der Londoner Jäger geworden war. Oder dass er einen schwarzen Gürtel 5. Grades in Karate hatte. Was erklären würde, wieso Finn trotz seiner Waffe ziemlich verschwitzt aussah, Maxwell hingegen so wirkte, als würde er gleich die nächste Teatime einläuten.
Ich presste die Lippen aufeinander und nickte knapp. »Er erinnert sich an nichts. Nicht mal an seinen Namen.«
Nachdenklich rieb sich Maxwell über den Bart. »Faszinierend. Ich setze Weston darauf an, im Archiv nachzusehen, aber meines Wissens gab es in der Geschichte der Hunter keinen Fall, bei dem nach einer Geisteraustreibung eine vollständige Amnesie eingetreten ist.«
»Es ist ja nicht nur so, als hätte er seinen Namen vergessen oder wie er gestern in den Park gekommen ist. Er weiß gar nichts mehr. Null. Nada. Nichts. Wenn ich ihn gefragt hätte, wie die Queen mit Vornamen heißt oder wer den letzten Rugby World Cup gewonnen hat, hätte er mir wahrscheinlich nicht mal das verraten können.«
Spoiler Alert: Es war nicht England gewesen. Und obwohl ich seit Januar dauerhaft in London lebte, war ich durch und durch Irin und konnte das kleine bisschen Schadenfreude in mir nicht unterdrücken. Okay, meistens versuchte ich es gar nicht erst.
Nachdenklich ließ Finn den Dolch zwischen seinen Fingern kreisen. »Was sagt der Doc dazu?«
»Doktor Fowler will noch ein paar Untersuchungen durchführen, jetzt wo der Patient wach und ansprechbar ist, und ihn vorerst zur Beobachtung und um ihn aufzupäppeln hierbehalten. Zumindest bis Ingrid zurück ist und sie ihn sich anschauen kann.«
Finn schnaubte und packte seine Waffe ein. Das Training schien vorbei zu sein. »Also haben wir im Grunde keine Ahnung, was nicht mit ihm stimmt.«
»Genau. Und ich kann ihm ja schlecht sagen, dass er wahrscheinlich über längere Zeit von einem Geist besessen war und deswegen so abgemagert ist. Oder das vielleicht schon vorher war und die Besessenheit ihm den Rest gegeben hat. Und was den Gedächtnisverlust angeht?« Ich breitete die Arme aus, denn dafür hatte ich auch keine Erklärung. Und im Grunde sollte es mir egal sein. Ja, ich hatte diesem Typen gestern Abend mit ziemlicher Sicherheit das Leben gerettet, aber das war’s auch schon. Was jetzt mit ihm passierte, ging mich nichts an. Absolut nichts. Warum machte ich mir also überhaupt Gedanken darüber?
Maxwell nickte bedächtig. »In Ordnung. Wir werden ihn eine Weile im Auge behalten.«
Oh nein. Ich kannte diesen Tonfall und diesen Blick nur zu gut. Nein, nein und nochmals nein.
Warnend hob ich den Zeigefinger. »Sag es nicht …«
Sein Lächeln war so freundlich, dass es fast schon diabolisch wirkte. »Du bist ab jetzt für ihn verantwortlich, Roxy.«
Ich gab ein Geräusch von mir, das irgendwo zwischen einem Schnauben und einem Knurren lag. »Ach, komm schon! Du weißt genauso gut wie ich, dass ich keine Zeit für so etwas habe. Ich muss …«
»Hast du ihn gestern von einem Geist befreit und ihn wiederbelebt, oder nicht?«, unterbrach Maxwell mich gnadenlos.
Ich knirschte mit den Zähnen. »Ja, habe ich.«
»Dann unterliegt diese Sache bis auf Weiteres deiner Verantwortung. Du kennst die Regeln.«
Räume immer hinter dir auf und hinterlasse keine Spuren.
Ja, ich kannte die verdammten Regeln, aber ich hatte weit Wichtigeres zu tun, als den Babysitter für einen Kerl zu spielen, der mit ziemlicher Sicherheit nicht mal wusste, wer uns den Brexit eingebrockt hatte oder wer gerade der amerikanische Präsident war. Wobei … diese Dinge sollte er ruhig vergessen. Ich wünschte, ich könnte das auch.
»Und was soll ich jetzt mit ihm anstellen?«, rief ich Maxwell nach. »Memory spielen, bis er sich wieder an alles erinnert?«
Ich erhielt keine Antwort, da die Türen in diesem Moment hinter ihm zufielen.
Toll. Ganz toll.
»Ach, komm schon, Roxy«, warf Finn lachend ein. »Das kann nicht katastrophaler werden als deine letzten paar Dates.«
Statt einer Antwort zeigte ich ihm den Mittelfinger und marschierte aus dem Trainingsraum. Als ob ich mit Finn nicht schon genug an der Backe hatte, gab es jetzt also einen weiteren Typen in meinem Leben, mit dem ich mich herumschlagen musste. Fantastisch. Genau das, was ich gerade brauchte.
Mein Kopf dröhnte noch immer. Eine hübsche rothaarige Krankenschwester namens Sandy meinte, das läge daran, dass ich total dehydriert und außerdem unterernährt war. Die Leute hier pumpten mir zwar über die Nadel in meiner Ellenbeuge irgendwelches Zeug in den Körper, aber noch spürte ich die Wirkung davon nicht. Außer, wenn Sinn und Zweck des Ganzen war, mich hungrig zu machen. Ich hatte einen Mordshunger. In den letzten beiden Tagen hatte ich so viel gefuttert, als hätte ich jahrelang nichts mehr gegessen. Und das trotz Sandys Warnung, dass sich mein Körper erst wieder an richtige Nahrung gewöhnen müsste. Ich hatte nicht auf sie gehört – und prompt meinen neuen besten Freund kennengelernt: die Kloschüssel.
Jepp. So ganz ohne Erinnerung in einem Krankenhaus zu liegen und sich die Seele aus dem Leib zu kotzen, machte riesigen Spaß. Schlimmer war nur das Fernsehprogramm. Endlose Comedy-Shows, ein Gossip-Girl-Marathon und Nachrichten aus aller Welt, die einen echt nur deprimieren konnten. Aber irgendwie musste ich mich ja beschäftigen, sonst würde ich nur wieder anfangen zu grübeln.
Wer war ich? Wie zum Teufel hieß ich? Wie war ich hier gelandet? Wer war diese Roxy, die an meinem Bett gestanden hatte, als ich die Augen das erste Mal aufgeschlagen hatte? Und warum war sie seither nicht mehr aufgetaucht?
»Guten Morgen, Jon Snow!«, trällerte Sandy, als sie das Zimmer betrat. Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Typ war oder warum sie mich so nannte, aber die Krankenschwester war so ein Sonnenschein, dass ich es nicht über mich brachte, sie zu korrigieren. Und was hätte ich auch sagen sollen?
Sorry, das ist zwar nicht mein Name, aber ich hab auch keine Ahnung, wie ich wirklich heiße?
Ja, ganz bestimmt.