Mill Creek - Die Träume meiner Schwester - Susan Mallery - E-Book

Mill Creek - Die Träume meiner Schwester E-Book

Susan Mallery

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Beschreibung

Familie heißt, dass man auch verzeihen kann

Finley McGowan ist fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass ihre Nichte, die bei ihr aufwächst, sich immer geliebt und gewollt fühlen wird. Denn ihr selbst erging es anders, nachdem ihre Mutter sie verlassen hatte und ihr Großvater sie und ihre Schwester Sloane ebenfalls im Stich gelassen hatte, als sie ihn am meisten brauchten. Finley wünscht sich für ihre Nichte das Gegenteil einer chaotischen Kindheit und schlägt den geraden Weg ein – das bedeutet für sie vor allem: hart arbeiten und sich an Regeln halten. Dasselbe erwartet sie jetzt von ihrer Schwester. Sloane behauptet zwar, sich in den letzten Jahren geändert zu haben, aber Finley ist schon zu oft verletzt worden. Erst als sie Jericho Ford kennenlernt, der weiß, wie chaotisch Familien sein können, erkennt Finley, dass Hingabe mit Freude verbunden ist und dass Loslassen Frieden bringt.

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Seitenzahl: 659

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Zum Buch

Sloane geht es gut. Fast ein Jahr lang ist sie jetzt trocken. Sie hat einen Job, eine stabile Beziehung, und jeden Samstag verbringt sie den Nachmittag mit ihrer Tochter, die sie am Tiefpunkt ihres Lebens bei ihrer Schwester als Pflegekind zurücklassen musste. Doch Sloane möchte mehr. Sie möchte Verantwortung übernehmen, eine richtige Mutter sein. Normal sein. Sie kennt den einzigen Weg dorthin: Sie kann das Vertrauen nur dann zurückzugewinnen, wenn sie jeden Tag aufs Neue beweist, die Sucht überwunden zu haben und jetzt eine andere Sloane zu sein. Dafür kämpft sie mit allem, was sie hat.

»Susan Mallery kann zwischenmenschliche Beziehungen so gut darstellen wie kaum eine andere Autorin. Dieser Roman fesselt von Anfang an und hält einen während der gesamten Reise mit dieser Familie fest. Es kommt nicht darauf an, was sie sagt, sondern wie sie es sagt. Das ist der Susan-Mallery-Effekt, laut und deutlich.« Fresh Fiction

Zur Autorin

Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Susan Mallery unterhält ein Millionenpublikum mit ihren herzerwärmenden Frauenromanen, die in 28 Sprachen übersetzt sind. Sie ist dafür bekannt, dass sie ihre Figuren in emotional herausfordernde, lebensnahe Situationen geraten lässt und ihre Leser mit überraschenden Wendungen zum Lachen bringt. Mit ihrem Ehemann, zwei Katzen und einem kleinen Pudel lebt sie in Washington.

Lieferbare Titel

California Beach – Am Strand der Träume

Ozeanträume

Herbstfreundinnen

Die Brombeerschwestern

Blackberry Island

Inselpfade zum Glück

Die Originalausgabe erschien2023unter dem TitelThe Sister EffectbeiHQNBooks, Toronto.

© 2023 by Susan Mallery, Inc.

Deutsche Erstausgabe

© 2024 by HarperCollins Taschenbuch in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./SARL

Covergestaltung von FAVORITBÜRO, München

Coverabbildung von Juliann, ZaZa Studio, cpaulfell / Shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783749906826

www.harpercollins.de

Widmung

Für Sarah … wegen Ellis

1. Kapitel

Finley McGowan liebte ihre Nichte Aubrey über alles, doch sie musste der Wahrheit ins Auge blicken – Aubrey war nicht gerade mit einem ausgeprägten Talent für Stepptanz auf die Welt gekommen. Während die anderen Achtjährigen sich perfekt im Rhythmus bewegten, hinkte Aubrey stets einen halben Takt hinterher. Es klang jedes Mal wie ein hartes, stakkatoartiges Echo des Songs »Counting Stars« von OneRepublic, der aus der Musikanlage des Tanzstudios dröhnte.

Finley bemerkte, dass ein paar der Mütter zu ihr herüberblickten, so als lauerten sie darauf, wie sie auf Aubreys Performance reagierte. Doch sie lächelte nur und nickte den Takt mit, erfüllt von grimmigem Stolz angesichts von Aubreys Enthusiasmus und ihrer Freude am Tanzen.

Wäre Stepptanz der größte Lebenstraum ihrer Nichte, würde ihr mangelndes Rhythmusgefühl ihr womöglich einen Strich durch die Rechnung machen, aber Aubrey war noch ein Kind und probierte gerne neue Dinge aus. Sie mochte im Tanzen, Bogenschießen oder Schwimmen nicht gerade glänzen – dafür war sie ein liebes Mädchen mit einem großen Herzen und einer positiven Lebenseinstellung. Und das waren in Finleys Augen genügend Vorzüge. Sie würde das holperige Echo ihrer Tanzschritte ertragen, bis ihre Nichte zum nächsten Hobby überging.

Die Musik endete, und die Erwachsenen, die sich zur monatlichen Tanzvorführung versammelt hatten, klatschten. Aubrey kam auf sie zugerannt, die Arme in Erwartung einer dicken Umarmung ausgestreckt. Finley fing sie auf und zog sie an sich.

»Das hast du toll gemacht«, sagte sie und strich ihr das Haar glatt. »Und du warst gar nicht nervös.«

»Stimmt, ich habe keine Angst mehr. Der Song hat mir richtig gut gefallen, und es hat Spaß gemacht, die Schrittabfolge zu lernen. Danke, dass du mir beim Üben geholfen hast.«

»Jederzeit gerne.«

Als Aubrey den Wunsch geäußert hatte, Stepptanz zu lernen, hatte Finley im Internet nach einer Bauanleitung für eine kleine Stepptanzfläche gesucht. Sie hatten sie in der Garage aufgestellt und Bluetooth-Lautsprecher angeschlossen. Jeden Nachmittag vor dem Abendessen hatte Finley »Counting Stars« laufen lassen und die Schritte laut mitgezählt, sodass Aubrey sich die Abfolge einprägen konnte.

Nächste Woche würden die Tanzschülerinnen eine neue Choreografie und einen neuen Song vorgestellt bekommen, und die ganze Prozedur würde von Neuem beginnen. Angesichts der Tatsache, dass sie es sich in den nächsten fünf Wochen drei- bis vierhundertmal würde anhören müssen, hoffte Finley inständig, dass das neue Lied nicht zu nervig sein würde.

Gemeinsam gingen sie zur Umkleide, wo Aubrey sich ein Sweatshirt über den Gymnastikanzug zog und ihre Steppschuhe gegen Regenstiefel austauschte. April im Pazifischen Nordwesten bedeutete, dass der Himmel grau und feucht war und die Luft kühl. Finley vergewisserte sich, dass ihre Nichte ihren Schulrucksack nicht vergaß, dann winkte sie der Tanzlehrerin zum Abschied zu und geleitete Aubrey zu ihrem Subaru.

Aubrey ließ sich auf der Beifahrerseite auf dem Rücksitz nieder, und Finley legte ihren Rucksack neben sie, sodass er leicht für sie erreichbar war. Obwohl die Fahrt nach Hause nicht lang war, würde ihrer Nichte währenddessen unweigerlich irgendetwas einfallen, das sie ihr ganz dringend sofort zeigen musste, und sie würde wild im Rucksack danach kramen. Finley wollte nicht noch einmal erleben, dass Aubrey ihren Sitzgurt löste und im Kofferraum herumkletterte, um einen fehlerlosen Rechtschreibtest hervorzukramen. Bei hundert Kilometern pro Stunde mit einer Achtjährigen als potenziellem Projektil über den Freeway zu rasen, hatte sie um zwanzig Jahre altern lassen.

»Wir haben die Aufgabe für unser Geschichtsprojekt bekommen«, verkündete Aubrey, als Finley den Wagen startete. »Wir sollen in Teamarbeit ein Diorama von einem Ureinwohnerstamm hier aus der Gegend basteln. In meiner Gruppe sind vier Kinder.« Sie legte eine dramatische Pause ein. »Zoe ist auch dabei!«

»Zoe mit den roten oder Zoe mit den schwarzen Haaren?«

Aubrey lachte. »Zoe mit den schwarzen Haaren. Wär’s Zoe mit den roten Haaren, wäre mein ganzes Leben versaut.«

»Wegen eines Dioramas? Bedeutet in deinem Alter ein versautes Leben nicht eher, dass es keine Eiscreme mehr gibt oder deine Lieblingsjacke einen Riss hat?«

»Dioramen sind wichtig.« Aubrey dachte kurz nach. »Und schwer zu buchstabieren. Morgen suchen wir uns einen Stamm aus, recherchieren über ihn und entscheiden uns dann, wie wir das Diorama gestalten. Ich möchte gerne Totempfähle basteln. Die verschiedenen Tiere erzählen alle eine Geschichte, und ich glaube, das wäre nett. Oliver hätte gerne einen Bären, der ein Dorf angreift, aber Zoe ist Vegetarierin und will kein Blut sehen.« Aubrey kräuselte angewidert die Nase. »Ich esse Fleisch, Blut will ich aber trotzdem nicht sehen. Harry findet die Totemidee auch gut, aber Zoe weiß nicht so genau.«

»Da ist ja einiges los bei euch«, sagte Finley, die sich nicht sicher war, ob sie bei dem Diorama-Drama noch mitkam.

»Ich weiß. Könnten wir auf dem Weg nach Hause am Gugelhupfladen anhalten? Für Grandma? Sie war in letzter Zeit so traurig.« Aubrey lehnte sich so weit vor, wie ihr Sitzgurt es erlaubte. »Allerdings versteh ich das nicht. Ich dachte, am Broadway zu spielen, wäre etwas Gutes.«

»Das ist es auch.«

»Dann war Grandma doch eine gute Lehrerin für ihre Schülerin. Wieso ist sie nicht zufrieden?«

Finley überlegte, wie sie die emotionale Komplexität ihrer Mutter auf ein paar leicht verständliche Begriffe herunterbrechen konnte. Auf keinen Fall würde sie erwähnen, dass ihre Mutter früher gerne selbst am Broadway gespielt hätte, stattdessen aber als mittellose Mutter von zwei Mädchen endete. Das Höchste, was Molly in ihrer Theaterkarriere erreicht hatte, waren ein paar kleine Rollen in Wandertheatergruppen. Ihre Mutterschaft und der Zwang, praktisch zu denken, hatte ihren Traum immer mehr in die Ferne rücken lassen, bis er nur noch eine blasse Erinnerung war. Heute unterrichtete sie Theater am örtlichen Community College und gab Schauspiel-Intensivkurse bei sich im Souterrain. Letzteres war der Grund für ihre aktuelle Depression.

»Ihre Schülerin war Grandma nicht dankbar genug für alles, was sie für sie getan hat. Als sie die große Rolle bekam, hat sie sie weder angerufen noch ihr geschrieben, um sich für die Mühe zu bedanken, die Grandma in sie gesteckt hat.«

Molly hatte nicht nur eine Unterkunft für ihre Schülerin in New York gefunden, sie hatte auch ihre Kontakte spielen lassen, um ihr überhaupt erst einen Vorsprechtermin zu besorgen.

Sie, Finley, mochte den Drang, vor einem Publikum zu stehen und so zu tun, als wäre man jemand anders, nicht nachvollziehen können, aber wenn das nun mal jemandes Wunsch war, dann war es das Mindeste, sich nett zu verhalten, wenn eine andere Person einem eine derartige Chance verschaffte.

Finley warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie Aubrey vor Entrüstung die Augen aufriss.

»Man soll doch immer Danke sagen.«

»Das stimmt.«

»Arme Grandma. Wir müssen ihr unbedingt einen Gugelhupf kaufen. Den kleinen mit den Zuckerstreuseln, den sie so mag.«

Finley unterdrückte ein Grinsen. »Und vielleicht auch noch einen Schoko-Gugelhupf für uns beide zum Teilen?«

»Oh, das wäre supertoll! Aber wir können auch einfach nur einen für Grandma kaufen, wenn du das besser findest.«

Finley war sich sicher, dass Aubrey ihren letzten Satz beinahe ernst meinte. Zumindest für den Moment. Sollte sie das Ganze jedoch durchziehen und keinen zweiten Kuchen kaufen, wäre ihre Nichte am Boden zerstört. Sie würde sich um Tapferkeit bemühen, wäre aber sehr traurig.

Nothing Bundt Cakes lag nicht gerade auf ihrem Heimweg, aber es war auch kein Riesenumweg. Finley fuhr über den Bothell-Everett-Highway, bis sie den Central Market, gegenüber der Bibliothek, erreichte. Dort bog sie links ab und parkte vor der Bäckerei. Zusammen mit Aubrey ging sie hinein.

Ihre Nichte lief zur Auslage. »Guck mal, sie haben die mit Zuckerkonfetti, die Grandma mag. Die sind so hübsch.«

Die Verkäuferin lächelte. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Wir hätten gerne zwei kleine Gugelhupfe«, sagte Finley. »Einen mit Zuckerkonfetti und einen mit Schokolade bitte.«

Aubrey warf ihr einen dankbaren Blick zu, dann tippte sie an die Glasscheibe. »Können wir auch einen mit Vanille nehmen? Samstagnachmittag bin ich bei Mom. Ich könnte ihr einen mitbringen.«

Beim unangenehmen Gedanken an Aubreys bevorstehenden Besuchstag biss Finley unwillkürlich die Zähne zusammen. Sie versuchte jedoch, sich bewusst zu entspannen, und sagte: »Es ist erst Mittwoch. Ich weiß nicht, ob der Kuchen so lange frisch bleibt.«

»Bewahren Sie ihn einfach im Kühlschrank auf«, riet die Verkäuferin ihr. »Dort hält er sich bis zu fünf Tage.«

Aubrey sprang vor Freude auf und ab und klatschte begeistert in die Hände. »Das reicht doch.« Sie zählte die Tage durch. »Donnerstag, Freitag, Samstag. Das sind ja nur drei Tage. Mom wird den kleinen Gugelhupf so lecker finden.« Sie faltete flehend die Hände. »Vanille ist doch ihre Lieblingssorte.«

Finley sagte sich, dass Aubrey ihre Mutter selbstverständlich wichtig war. Die meisten Kinder liebten ihre Eltern, egal wie unverantwortlich diese sich verhalten mochten. Das war ein biologisches Phänomen. Und Sloane kam in letzter Zeit besser klar. Vielleicht würde sie diesmal tatsächlich trocken und auf freiem Fuß bleiben. Doch obwohl Finley sich das wünschte, glaubte sie nicht wirklich daran.

Sie nickte der Verkäuferin zu. »Wir nehmen alle drei.«

Aubrey kam auf sie zugelaufen und schlang ihr die Arme um die Hüften. »Danke, Finley. Für den Kuchen und dafür, dass du bei meiner Aufführung warst und mir beim Üben geholfen hast.«

»Ich kann wohl nicht anders, als dich über alles zu lieben, Süße. Ich gebe mir alle Mühe, dagegenzuhalten, aber du bist einfach zu bezaubernd.«

Aubrey sah lachend zu ihr auf. Finley ignorierte, wie sehr ihre Nichte Sloane ähnelte – sie hatten die gleichen großen blauen Augen und vollen Lippen, die gleichen langen gelockten Haare. Aubrey war ein hübsches Mädchen und würde sich ganz wie ihre Mutter eines Tages in eine atemberaubend schöne Frau verwandeln, nach dem Vorbild ihrer Großmutter Molly. Sie selbst sah dagegen ganz gewöhnlich aus – eine farblose Seemöwe in einem Schwarm exotischer Papageien.

Wahrscheinlich besser so, sagte sie sich, als sie die Kuchen bezahlte. Ihrer Erfahrung nach ließen sich schöne Frauen durch die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwurde, leicht vom Wesentlichen ablenken. Kaum etwas zählte für sie so sehr wie Bewunderung. Wichtige Beziehungen wurden vernachlässigt und fielen dem Glanz der schönen Frau zum Opfer. Sie hingegen konnte sich voll und ganz auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren – darauf, ihre Nichte großzuziehen und dafür zu sorgen, dass niemand sie in Gefahr brachte. Noch nicht mal deren eigene Mutter.

»Was ist das?« Jericho Ford starrte ratlos auf das Bild, das ihm vom Tablet-Bildschirm entgegensprang. Die sich umeinanderwindenden Metallrohre sollten anscheinend irgendetwas darstellen – er hatte jedoch keine Ahnung, was.

»Der Künstler beschreibt die Kreation als die materielle Manifestation seiner Vorstellung von Glück«, kam Antonio ihm zu Hilfe.

»Sieht für mich eher aus wie ein Warzenschwein.«

»Es ist ein Kunstwerk.«

»Dann eben ein teures Warzenschwein.«

»Aber es ist im Angebot.«

»Und wenn es mit einem ›Bitte mitnehmen‹-Schild am Straßenrand liegen würde – es ist hässlich, und deshalb sage ich Nein.« Jericho sah seinen Freund an. »Wieso zeigst du mir das überhaupt?«

»Du hast gesagt, du brauchst ein paar neue Einrichtungsgegenstände für dein Wohnzimmer.«

»Ich meinte ein Sofa und eventuell einen größeren Fernseher.«

»Du könntest es auf den Couchtisch stellen.«

»Da stelle ich mein Bier und mein Popcorn ab.« Jericho deutete auf den Tablet-Bildschirm. »Wenn es dir so sehr gefällt, kauf du es doch.«

Antonio zog pikiert eine Augenbraue hoch. »Auf keinen Fall. Mein Haus ist derzeit durchgängig im Fünfzigerjahre-Stil eingerichtet.«

»Und das Warzenschwein ist nicht Fünfzigerjahre genug?«

»Nein.« Antonio knallte die Tablet-Abdeckung zu und steckte es in seinen Rucksack, dann holte er zwei graue Metrofliesen hervor und legte sie auf Jerichos Schreibtisch. »Ich möchte in Haus elf gerne eine Veränderung beim Küchenfliesenspiegel vornehmen.«

Antonio deutete auf die rechte Fliese. »Die hier war unsere ursprüngliche Wahl. Mir gefallen der Glanz und die Struktur, aber ich finde sie jetzt irgendwie zu blau.« Er tippte auf die linke Fliese. »Diese hier hat mehr Grünanteile und passt besser zu den dunkleren Schränken der Kücheninsel.«

Jericho liebte seine Arbeit. Er baute Häuser in Seattle und Umgebung, hochwertige Gebäude mit edler Ausstattung und intelligentem Design. Die Materialien für ihre Neubauten bezog seine Firma, wann immer möglich, von Händlern vor Ort, sie hatte einen hervorragenden Ruf und häufig eine Warteliste. Castwell Park – ein gut zwei Hektar großes Stück Land, das er in Kirkland, Washington, gekauft hatte – war in zwanzig überdimensionierte Baugrundstücke unterteilt worden, und seine Firma Ford Construction war nun dabei, Luxushäuser darauf zu errichten.

Er genoss den gesamten Bauprozess – von der Erschließung des Grundstücks bis zur Übergabe der Schlüssel an die neuen Besitzer. Zwar würde er seine Tage lieber mit körperlicher Arbeit verbringen, doch er war der Bauleiter und Firmeninhaber, und sämtliche Entscheidungen gingen über seinen Tisch. Inklusive Änderungen bei Fliesenspiegeln, wie sein bester Freund und der Innenarchitekt sie gerade vorschlug.

»Diese zwei Fliesen haben exakt dieselbe Farbe«, sagte Jericho mit tonloser Stimme.

Antonio verzog das Gesicht. »Haben sie nicht. Diese hier …«

»… hat mehr Blauanteile. Das sagtest du bereits.«

Jericho nahm die Fliesen und verließ den großen Baucontainer, den er gegenüber dem Eingang von Castwell Park auf der anderen Straßenseite hatte aufstellen lassen.

Er hatte eine Vereinbarung mit den Besitzern des leeren Grundstücks getroffen und das Areal für die gesamte Bauzeit angemietet. Wenn seine Leute das zwanzigste Haus fertiggestellt hätten, würde er noch ein weiteres für die Grundstückseigentümer bauen. Eigentlich hatte er es sich zur Regel gemacht, keine Einzelprojekte anzunehmen. Doch dies war der Preis für den perfekten Standort seines Containers gewesen, daher machte er diesmal eine Ausnahme.

Als sie draußen standen, drehte und wendete er die zwei Fliesen im Tageslicht und versuchte, einen Farbunterschied zu erkennen. Okay, klar, die eine war ein bisschen blauer, doch er bezweifelte, dass dies mehr als fünf Prozent aller Menschen überhaupt bemerkten. Antonios Gestaltungsideen hatten allerdings großen Anteil am Erfolg des Unternehmens. Er hatte ein Gespür dafür, einen heißen Trend aufzugreifen und ihn in etwas Zeitloses zu verwandeln.

»Schick mir den Änderungsauftrag, dann setze ich mein Okay darunter«, sagte er und gab die Fliesen zurück.

»Ich wusste, dass du einverstanden sein würdest. Diese hier werden den entscheidenden Unterschied machen.«

»Aber keine Änderungen mehr an Haus elf und zwölf«, ermahnte er Antonio und ging ihm voraus zurück in den Container. »Deren Gestaltung ist festgelegt, und wir haben schon alle Materialien bestellt.«

»Ich weiß. Das hier ist die allerletzte.« Antonio lächelte. »Übrigens habe ich schon bei der Lieferantin nachgefragt, und sie hat gesagt, dass wir sie problemlos austauschen können.« Er ließ sich auf dem Stuhl vor Jerichos Schreibtisch nieder. »Dennis und ich haben gestern Abend über dich gesprochen.«

»Das kann nichts Gutes für mich bedeuten.«

Antonio tat den Kommentar mit einem Handwedeln ab. »Zu unserer nächsten Party laden wir eine Frau ein.«

Jericho wusste genau, was sein Freund meinte, beschloss jedoch, sich dumm zu stellen. »Zu euren Partys kommen doch immer Frauen.«

»Ich meine eine Frau für dich.«

»Vergiss es.«

Antonio beugte sich zu ihm vor. »Komm schon, es wird langsam Zeit. Es sind jetzt schon fast sieben Monate, seit Lauren und du euch getrennt habt. Ich weiß, du bist immer noch sauer auf deinen Bruder, aber das sollte dich nicht daran hindern, über deine Ex-Frau hinwegzukommen. Die beiden haben dich betrogen, sie sind furchtbare Menschen, und wir hassen sie, aber du musst dein Leben weiterleben.«

Antonio war schon immer gut darin, komplexe Vorgänge kurz und knapp darzulegen, dachte Jericho, der dessen Fähigkeit bewunderte, den Schock, den die Affäre seiner Frau mit seinem jüngeren Bruder und die darauffolgende Scheidung bei ihm ausgelöst hatte, in einem einzigen Satz zusammenzufassen.

»Ich lebe doch mein Leben weiter«, sagte Jericho.

»Du triffst dich nicht mit Frauen. Noch schlimmer – du gabelst noch nicht mal welche in Bars auf, um mit ihnen zu schlafen.«

Jericho grinste. »Wann habe ich das jemals getan?«

»Du bist ein Heteromann. Ist das nicht üblich bei euch?«

»Ich hasse es, wenn du mir Klischees zuschreibst, nur weil ich hetero bin.«

Antonio grinste. »Du Ärmster.« Dann wurde er ernst. »Hör auf zu schmollen und lebe dein Leben.«

»Hey, ich schmolle nie.«

»Na schön, nenn es, wie du willst. Lauren ist eine miese Kuh, und mir fehlen echt die Worte, um auszudrücken, was für eine Arschlochaktion das von Gil war. Aber du bist geschieden und behauptest, dass du über sie hinweg bist. Dann gönn uns doch einen kleinen Beweis.« Seine Mundwinkel senkten sich. »Ich mache mir wirklich Sorgen um dich.«

»Danke, aber mir geht’s gut.«

Meistens jedenfalls. Er hatte seinen Bruder seit einem halben Jahr nicht gesehen, was zu einer ungewohnten Gestaltung der Feiertage geführt hatte. Seine Familie war klein – sie bestand nur aus seiner Mom, ihm und seinem Bruder, plus Antonio als adoptiertem Mitglied. Gils Affäre mit Lauren hatte seine Familie und ihre kleine Welt fast so sehr erschüttert wie der Tod seines Vaters vor acht Jahren. Seine Mutter hatte sich auf seine Seite gestellt – anfangs zumindest. In letzter Zeit sprach sie allerdings immer wieder von Versöhnung. Da Gil und Lauren nach wie vor zusammen waren, war er jedoch nicht bereit, sich darauf einzulassen.

»Dennis ist aber ein wirklich guter Kuppler«, murmelte Antonio.

»Habe ich nicht gerade Nein gesagt? Doch, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Nein gesagt habe. Ich kann mir meine Frauen selbst suchen.«

»Ja, aber du tust es nicht.«

»Wer schmollt jetzt hier?«

Die ersten fünf Töne von »La Cucaracha« erklangen draußen und verkündeten die Ankunft des Imbisswagens.

Antonios Miene hellte sich auf. »Mittagspause. Du zahlst.«

»Irgendwie zahle ich immer.«

»Du bist ja auch der reiche Bauunternehmer von uns. Ich bin ein Künstler, der sich abmüht. Das ist also nur gerecht.«

»Du führst ein erfolgreiches Innenarchitekturbüro. Und als wäre das nicht schon genug, ist dein Ehemann auch noch Partner in einer schicken, teuren Anwaltskanzlei. Du hast reich geheiratet, mein Lieber.«

Antonio lachte. »War das nicht schlau von mir?«

Jericho folgte ihm aus dem Container. »Du hättest ihn allerdings auch geheiratet, wenn er vollkommen blank und obdachlos gewesen wäre. Du liebst ihn über alles.«

»Ja, das tu ich. Und für dich müssen wir auch jemanden zum Lieben finden. Aber keine Rothaarige mehr. Die letzte war ein totales Desaster.«

»Ich glaube nicht, dass das Scheitern unserer Ehe etwas mit ihrer Haarfarbe zu tun hatte.«

»Womöglich nicht. Aber willst du das Risiko eingehen?«

Nach dem Abendessen half Aubrey Finley dabei, die Küche aufzuräumen. In Wahrheit verbrachte die Achtjährige mehr Zeit damit, zu reden, als damit, Dinge wegzuräumen, doch das ging in Ordnung für Finley – sie genoss einfach die Gesellschaft der Kleinen. Außerdem sollte Aubrey wissen, dass sie interessiert an ihrem Tag, an ihrer Schule und an ihren Freunden war, dass jedes Detail zählte.

Die ersten fünf Jahre im Leben ihrer Nichte waren äußerst turbulent verlaufen. Und solange sie Aubreys Pflegemutter war, würde sie dafür sorgen, dass das kleine Mädchen sich allzeit sicher und geliebt fühlte.

»Harry hat erzählt, dass er mit seiner Familie dieses Jahr nach Disneyland fährt«, verkündete Aubrey voller Ehrfurcht. »Für eine ganze Woche!«

»Hat Harry nicht einen ganzen Haufen Brüder?«

»Ja, vier Stück. Er ist der zweitjüngste. Aber, Finley, Disneyland! Warst du schon mal da?«

»Nein, noch nie«, gab sie zu und versuchte zu ignorieren, wohin Aubrey dieses Gespräch unweigerlich lenken würde. »Fliegen sie nach Los Angeles, oder fahren sie mit dem Auto?«

Aubrey trug einen Teller vom Küchentisch zur Theke. »Ich weiß es nicht. Ist es weit bis dahin?«

»Über tausendsechshundert Kilometer.«

Aubreys blaue Augen weiteten sich. »Die Fahrt würde ja ewig dauern.«

»Ungefähr zwei Tage.« Womöglich sogar mehr mit fünf Kindern, die alle zu unterschiedlichen Zeiten auf die Toilette mussten. Nicht, dass das beim Fliegen wesentlich unkomplizierter wäre, aber da würde die Reise wenigstens nicht so lange dauern.

»Wir sollten auch hinfahren«, erklärte Aubrey. »Wir hätten bestimmt ganz viel Spaß.«

Finley fuhr fort, die Spülmaschine zu beladen. »Das hätten wir bestimmt, aber das ist eine ganz schön lange Reise.« Außerdem eine teure, und sie glaubte nicht, sie sich leisten zu können.

»Wir könnten doch alle zusammen hin – du, ich, Grandma und Mommy.«

Mit Sloane auf Reisen gehen? Das würde ganz sicher nicht passieren.

»Hast du deine Leseaufgaben fertig?«, fragte sie in der Hoffnung, ihre Nichte vom Thema abzulenken.

»Ja, hab ich. Und meine Matheaufgaben habe ich auch gemacht. Morgen kriegen wir unsere neue Rechtschreibliste. Ich bin schon gespannt, welche Wörter diesmal draufstehen.«

»Ich weiß nicht, aber ich finde, die werden in letzter Zeit immer schwieriger.«

Aubrey vollführte eine Drehung. »Das ist mir auch aufgefallen! Letzte Woche hatten wir Indizien und Schlussfolgerung. Die waren echt schwer.«

»Aber du hast sie gelernt.« Finley lächelte. »Ich bin stolz auf dich, meine Kleine.«

Aubrey kam zu ihr und schlang ihr die Arme um die Hüften. Finley wischte sich die nassen Hände an der Jeans ab, dann drückte sie das Mädchen an sich.

»Ich hab dich lieb, Finley.«

»Ich dich auch. Du bist mein Lieblingsmädchen.«

Ebenso schnell wie die gefühlsgeladene Umarmung begonnen hatte, war sie auch schon wieder vorbei. Aubrey tänzelte von ihr weg und trällerte dabei den Song »Physical«, denn sie und ihre Grandma hatten beide ein Faible für die Achtziger.

Sobald die Spülmaschine lief und die Küchentheke abgewischt war, lief Aubrey nach oben, um ihr Ausmalheft für den Abend auszusuchen. Mit dem Heft und den Malstiften in der Hand ließ sie sich vor dem großen Couchtisch auf dem Boden nieder. Dann besprachen sie die Fernsehoptionen und einigten sich schließlich auf eine Stunde Wiederholungen von »Drei Mädchen und drei Jungen«, wonach Aubrey bis zum Schlafengehen lesen würde.

Finley überlegte, sich zu ihr zu setzen, doch es gab Wäsche zu waschen und das Badezimmer, das sie sich mit Aubrey teilte, musste auch mal wieder geschrubbt werden – eigentlich eine Aufgabe für den Samstag, doch in den vergangenen zwei Wochen hatte sie samstags Überstunden gemacht.

Sie war gerade halb die Treppe hochgegangen, als sie ihre Mom nach ihr rufen hörte.

»Finley, ich muss mit dir reden.«

Eine unverfängliche Bitte, sagte sie sich, dennoch spannten sich ihre Schultern an.

Sie folgte ihrer Mutter in das Gästezimmer, beziehungsweise Homeoffice, im hinteren Teil des Hauses. Wäschekörbe voller Sommerkleidung standen darin neben Kisten mit Weihnachtsdeko. Finley setzte sich auf das Doppelbett, während ihre Mom sich auf dem Bürostuhl niederließ.

Obwohl Molly McGowan in ein paar Monaten ihren fünfundfünfzigsten Geburtstag feiern würde, ging sie immer noch gut als Mittvierzigerin durch – wobei die Zeit und Enttäuschung ihre einst wunderschönen Gesichtszüge so weit verwischt hatten, dass sie nun nur noch auf gewöhnliche Art attraktiv war. In Finleys Augen bestand der Vorzug ihres eigenen eher durchschnittlichen Äußeren darin, keiner verblassenden Schönheit hinterhertrauern zu müssen. Sie konnte nicht noch mehr Probleme gebrauchen.

Ihre Mutter presste die Lippen zusammen, dann stieß sie sämtliche Luft aus. Finleys Schultern spannten sich daraufhin noch mehr an, und als ihr Magen vor lauter Unbehagen zu zwicken begann, bereute sie die zweite Portion Enchiladas, die sie sich beim Abendessen gegönnt hatte. Was auch immer Sloane diesmal getan hatte, sie war diejenige, die sich damit würde auseinandersetzen müssen. So ist es jedes Mal, dachte sie grimmig.

»Ich habe von deinem Großvater gehört.«

Finley registrierte die Worte ihrer Mom, hatte jedoch Schwierigkeiten, deren Bedeutung zu erfassen. Sie hatte nur einen Großvater, den Vater ihrer Mutter. Er hatte eine zentrale Rolle in ihrem und Sloanes Leben gespielt, bis er Molly auf das Sorgerecht für ihre Kinder verklagt hatte.

Mit dreizehn und fünfzehn waren sie und ihre Schwester alt genug gewesen, um gefragt zu werden, wo sie leben wollten. Sollten sie sich gegen ihre Mutter entscheiden, so würden sie sie nie wiedersehen, hatte Molly ihnen gedroht – eine erschreckende Aussicht. Jedoch hatte niemand voraussehen können, dass ihr Großvater sich, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, von ihnen abwenden und vollständig aus ihrem Leben verschwinden würde, als sie angaben, bei ihrer Mutter bleiben zu wollen.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Finley. »Er hat dich angerufen? Zwanzig Jahre lang meldet er sich kein einziges Mal, und jetzt ruft er plötzlich an?«

Ihre Mutter nickte. »Er ist älter geworden, und es geht ihm nicht gut. Anscheinend ist er schon seit einer Weile krank und hat zuletzt in verschiedenen Pflegeheimen gelebt.«

Molly saß vollkommen reglos da, abgesehen von ihren Fingern, die nervös den Ring an ihrem rechten Zeigefinger hin und her drehten. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie etwas zu sagen hatte, das Finley nicht hören wollte.

»Liegt er im Sterben?«, fragte sie. »Musst du zu ihm?« Sie hielt inne. »Wo wohnt er überhaupt?«

»In Phoenix. Er ist nach Arizona gezogen. Nach der Sache damals … Du weißt schon.«

»Nach der Sache damals? Mom, er hat versucht, dir deine Kinder wegzunehmen! Er hat uns alle vor Gericht gezerrt, und als er seinen Willen nicht bekommen hat, hat er uns einfach sitzen lassen. Dabei hatte er behauptet, komme, was wolle, er sei immer für uns da, und dann war er plötzlich verschwunden. Einfach weg.«

Molly drehte den Ring an ihrem Finger schneller. »Das ist alles lange her.« Sie wandte einen Moment lang den Blick ab, dann sah sie Finley an. »Er wird bei uns einziehen. Ich habe deinen Großvater eingeladen, bei uns zu wohnen.«

»Du hast was?«

Finley bemerkte, dass sie unwillkürlich aufgesprungen war, ohne sich an die Bewegung erinnern zu können. Sie starrte ihre Mutter an, hob verzweifelt die Arme in die Luft und ließ sie wieder fallen.

»Er kommt hierher? In dieses Haus?« Als ihr einfiel, dass Aubrey im Raum nebenan war, senkte sie die Stimme. »Du hast gesagt, wir werden ihm nie verzeihen können, was er uns angetan hat. Du hast gesagt, dass wir ihn für immer hassen werden. Er hat uns verlassen, Mom. Uns alle.«

»Das hat er, da hast du recht. Aber das ist lange her, und die Dinge ändern sich.«

Finley sank zurück aufs Bett. »Wir haben nie wieder von ihm gehört. Er hat sich nicht ein Mal gemeldet.«

»Aber jetzt hat er das, er hat mich angerufen. Er ist alt und allein, und er ist mein Vater.«

Was äußerst empathisch ist, dachte Finley, und vermutlich unter moralischen Gesichtspunkten genau die richtige Haltung. Doch sie konnte ihm nicht so leicht verzeihen. Als ihr Großvater den Fall damals verloren und sich so derart wütend und zugleich kaltherzig gezeigt hatte, war sie diejenige gewesen, die zu ihm gelaufen war, die seine Hand genommen und ihn angefleht hatte, doch bitte zu verstehen, weshalb sie ihre Mutter hatte wählen müssen. Sie war diejenige gewesen, die ihm gesagt hatte, dass sie ihn lieb hatte. Die ihn gebeten hatte, ihnen nicht böse zu sein. Doch statt die Angelegenheit aus der Perspektive seiner dreizehnjährigen Enkelin zu betrachten, hatte er ihre Hand abgeschüttelt und war gegangen.

Finley erinnerte sich daran, wie sie auf dem harten Steinboden des Gerichtsgebäudes zusammengebrochen war und geschluchzt hatte, als hätte er ihr das Herz gebrochen. Denn genau das hatte er.

Wochenlang hatte sie darauf gewartet, von ihm zu hören. Sie hatte ihn angerufen, doch sein Telefon war nicht mehr angeschlossen gewesen. Sämtliche Briefe, die sie ihm schrieb, waren zurückgekommen. Ein halbes Jahr nach jenem schrecklichen Tag hatte ihre Mutter schließlich verkündet, dass Lester den Bundesstaat verlassen habe, ohne sie darüber zu informieren.

»Er zieht nächste Woche ein«, sagte ihre Mom nun und holte sie damit in die Gegenwart zurück. »Das hier wird sein Zimmer, und deshalb muss es ausgeräumt werden.«

Ihre Mutter sprach noch weiter, doch Finley hörte nichts mehr. Nächste Woche schon? Wie konnte das alles so schnell gehen?

Sie wollte Nein sagen, kundtun, dass sie strikt dagegen war. Doch dies war nicht ihr Haus, und daher war es auch nicht ihre Entscheidung.

»Mir ist klar, dass du aufgewühlt bist«, sagte ihre Mutter. »Aber ich muss das tun. Für meine Zukunft.«

»Verstehe ich nicht.«

Molly wandte den Blick ab. »Er wird uns wieder in sein Testament aufnehmen, wenn er hier wohnen darf. Es ist kein Vermögen, aber es würde mir ein wenig finanzielle Sicherheit bieten. Ich werde ja auch nicht jünger.«

Finley zwang sich, sitzen zu bleiben und den Mund zu halten. Laut loszuschreien würde es nicht besser machen. Vom Kopf her verstand sie, dass dieses Haus alles war, was ihre Mom hatte. Am College verdiente sie nicht viel, und ihre Schüler zahlten fast nichts für den Schauspielunterricht bei ihr.

Aber Lester hier einziehen lassen? Es musste doch eine andere Möglichkeit geben.

»Tu es für mich«, sagte ihre Mutter und sah sie eindringlich an. »Ich habe für dich und deine Schwester alles aufgegeben. Bitte mach jetzt auch einmal etwas für mich.«

»Du könntest auch einfach fragen«, erwiderte Finley, die plötzlich einen bitteren Geschmack auf der Zunge spürte. »Statt mir gleich Schuldgefühle zu machen.«

»Mit dir kann man nicht immer vernünftig reden. Außerdem funktioniert die Methode mit den Schuldgefühlen verdammt gut bei dir.«

Finley ignorierte die Bemerkung. »Aber was ist mit Aubrey? Ich will nicht, dass er ihr wehtut.«

»Dad wird toll mit ihr sein. Denk dran, wie sehr er dich und Sloane geliebt hat.«

»Bis er von einem Tag auf den anderen damit aufgehört hat.«

Ihre Mutter erhob sich. »Dein Leben wäre sehr viel einfacher, wenn du lernen könntest zu verzeihen.«

»Ich kann sehr gut verzeihen. Ich erwarte allerdings von den Menschen, dass sie es sich ein wenig verdienen.«

Molly setzte zu einer Erwiderung an, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Hilfst du mir, das Zimmer leer zu räumen?«

Finley erhob sich und blickte sich um. »Möchtest du den Schreibtisch drin lassen?«

»Nein, der nimmt zu viel Platz weg. Im Keller steht noch eine Kommode. Lass uns lieber die hier reinstellen und den Schreibtisch nach unten bringen.«

»Ich kümmere mich darum. Auch um die Kisten.«

Ihre Mutter legte ihr eine Hand auf den Arm. »Ich brauche das, Finley. Nicht nur wegen des Geldes, sondern auch, weil er mein Vater ist und ich ihn vermisse.«

»Ich vermisse ihn auch, aber wir waren nicht diejenigen, die ihn verlassen haben. Das geht auf seine Kappe.«

»Es ist zwanzig Jahre her. Versuch, die Vergangenheit hinter dir zu lassen.«

2. Kapitel

»Sloane, du warst so ruhig bisher. Gibt es etwas, das du uns erzählen möchtest?«

Sloane McGowan warf der Mittvierzigerin, die sie erwartungsvoll ansah, einen Blick zu. »Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt«, sagte sie mit ausdruckslosem Gesicht. Sie hielt inne. »Oh nein, Moment – falsches Meeting.«

Die zehn Personen, die in dem kleinen Raum der Begegnungsstätte in einem lockeren Kreis zusammensaßen, lachten alle auf. Na ja, nicht ganz alle, dachte Sloane, als sie Minnies wenig belustigten Blick auffing.

»Ist das ein Nein?«, fragte Minnie.

Irgendjemand muss hier mal dringend flachgelegt werden, dachte Sloane, oder einen Einlauf verpasst bekommen. Sie wandte die Aufmerksamkeit den anderen Teilnehmern zu und lächelte breit. »Hallo, zusammen. Ich bin Sloane.«

»Hallo, Sloane«, erwiderten die anderen pflichtgemäß.

»Ich bin genesende Alkoholikerin.« Sie rechnete lautlos nach. »Und noch siebenundvierzig Tage, dann bin ich seit einem Jahr trocken.«

Einige Leute klatschten.

»Dieses Jahr ist mir sehr wichtig«, fügte sie hinzu. »Irgendetwas an diesem Zeitraum wirkt bedeutsam. Und ich meine, hey, wenn ich ein Jahr zusammenhabe, bekomme ich eine neue Münze.«

Sie erntete noch mehr Gelächter. Außer von Minnie natürlich. Vielleicht schmerzten ihre Füße von den unglaublich hässlichen Gesundheitsschuhen, die sie trug.

»Ich habe das Gefühl, sobald ich das Jahr voll habe, habe ich etwas Großes erreicht. Ich muss einfach beweisen, dass ich so lange nüchtern bleiben kann – gar nicht so sehr den anderen, sondern eher mir selbst.«

Beinahe hätte sie hinzugefügt, ein Jahr lang nüchtern zu sein, würde ihr das Gefühl geben, normal zu sein. Doch sie wusste es besser, als der Gruppe gegenüber dieses spezielle Wort in den Mund zu nehmen. »Normal« wurde nicht als gesundes Ziel betrachtet – hauptsächlich, da es schwer greifbar und praktisch unerreichbar war. Mal im Ernst, kannte irgendjemand eine gute Definition von »normal«? Sie jedenfalls nicht. Aber ein Jahr lang trocken bleiben – das war eine Leistung, die sogar Minnie gutheißen konnte.

Sloane verlor schnell das Interesse an diesen deprimierenden Gedanken und ebenso daran, sich mitzuteilen, daher setzte sie ihrer Rede den abschließenden Stempel auf, der Minnie dazu bewegen würde, zur nächsten Person überzugehen.

»Einen Tag nach dem anderen, stimmt’s?«

Wie aufs Stichwort dankte Minnie ihr für ihren Beitrag und suchte sich ein anderes Opfer.

Als die Stunde beinahe um war, standen alle auf und nahmen sich an der Hand, um das Vaterunser aufzusagen. Sloanes Lieblingsteil war der, in dem es um die Vergebung von Schuld ging, eine Lektion, die ihre Schwester noch zu lernen hatte. Als das Gebet endete, nahm sie ihre Tasche und ging zur Tür – fand aber plötzlich Minnie zwischen sich und dem Weg in die Freiheit vor.

»Sloane, hast du mal einen Moment?«

»Klar. Was ist los?«

Minnie, die ungefähr einen Meter fünfundsechzig groß sein mochte und eine grässliche Stretch-Hose und darüber ein unvorteilhaft lockeres Sweatshirt trug, wartete, bis sie allein im Raum waren. Sloane kämpfte gegen den Drang an, einen Witz zu reißen – Humor war in jeder angespannten Lage oft die beste Verteidigung. Doch sie wusste, dass Minnie jeglicher Sinn für alles fehlte, was nur annähernd lustig war.

Soweit Sloane wusste, leitete Minnie dieses Meeting gefühlt bereits seit der Gründung der Anonymen Alkoholiker. Vielleicht auch schon länger. Gleicher Ort, gleiche Zeit, gleiche Minnie. Sie befolgte die Regeln, hielt das Gespräch auf Spur und war nicht sonderlich berührt von den Tragödien derjenigen, die dem Dämon Alkohol verfallen waren. Irgendwann musste sie selbst mal eine Säuferin gewesen sein, doch Sloane konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen.

»Wie geht es dir?«, fragte Minnie, ihr Blick war so eindringlich, dass Sloane innerlich ganz zappelig wurde.

»Mir geht’s super.«

Minnie schwieg erwartungsvoll.

Sloane unterdrückte ein Stöhnen. »Ich tue, was ich tun soll. Ich bin sechs Tage die Woche hier. Nur samstags nicht«, fügte sie hinzu. Obwohl sie sich nicht in der Pflicht sah, Minnie irgendetwas über ihr Privatleben zu erzählen, hörte sie sich hinzufügen: »Da hole ich nach der Arbeit meine Tochter ab.« Auf keinen Fall würde sie von ihrer wenigen Zeit mit Aubrey wegen eines Meetings etwas abknapsen.

»Ich habe es dir schon einmal gesagt«, sagte Minnie. »Du brauchst einen Sponsor.«

»Das hast du mir nicht nur einmal gesagt, das hast du mir schon dreihundertmal gesagt.« Sloane schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln – das Lächeln, das ihr schon so manchen Strafzettel erspart und Eintritt in exklusive Clubs verschafft hatte. »Minnie, mir geht’s richtig gut, ernsthaft. Bald bin ich ein Jahr lang trocken. Ich arbeite mich durch die Schritte, gehe zu den Meetings, hänge mit Leuten ab, die das Problem verstehen und mir helfen wollen. Ich kümmere mich um mein Kind, gehe einer regelmäßigen Arbeit nach. Wirklich, es ist lieb von dir, dass du dir Sorgen machst, aber mir geht’s gut.«

»Du exerzierst das alles nur pro forma durch.«

»Ich dachte, wir sollen nicht über andere urteilen.«

Minnie ignorierte den Einwurf. »Du bist eine Schlaubergerin, was durchaus unterhaltsam sein kann. Aber du bist nur bis zu dem Punkt witzig, an dem andere Leute sich unwohl fühlen, weil sie das Bedürfnis nach einem ernsthaften Austausch haben. Und du gibst bei den Meetings den Ton an.«

»Was soll das denn heißen?«

»Dass du sehr lebhaft und einnehmend bist.«

Obwohl sie Minnies Worte als schmeichelnd empfand, fühlte Sloane sich zugleich niedergemacht. Sie spürte plötzlich eine Enge im Brustkorb. »Willst du mir sagen, dass ich mir besser eine andere Gruppe suchen sollte?« Durfte Minnie das? Sie einfach so rausschmeißen? Gab es keine Regeln, was das betraf?

Minnie seufzte. »Nein, natürlich nicht. Ich sage, dass du einen Sponsor brauchst und deine Nüchternheit ernst nehmen musst. Du hattest recht vorhin, als du sagtest, dass ein Jahr ein großer Erfolg ist.«

Sloane wartete auf den Rest des Satzes, doch Minnie schien fertig geredet zu haben.

»Na schön«, sagte sie. »Dann danke für die aufmunternden Worte.«

Genervt stolzierte sie durch die Tür nach draußen und zu ihrem Wagen. Blöde Kuh, dachte sie, als sie die Fahrertür aufriss. Sie setzte sich hinter das Steuer und atmete ein paarmal tief durch.

Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit für sie, sich eine andere Gruppe zu suchen. Oder gar nicht mehr hinzugehen – schließlich ging es ihr großartig. Es hatte eine Weile gedauert, doch langsam bekam sie ihr Leben wieder in den Griff. Sie klopfte sich innerlich selbst auf die Schulter. Und wenn Minnie das nicht sehen konnte, war sie vielleicht das größere Problem.

»Jetzt könnte ich wirklich einen Cocktail gebrauchen.«

Diese Worte stiegen unerwartet in ihr auf, kamen jedoch aus tiefstem Herzen. In der halben Sekunde, ehe ihr deren Bedeutung klar wurde, suchte ihr Gehirn fieberhaft nach der besten Bar, in der sie um ein Uhr mittags einen Old Fashioned oder einen Manhattan bekommen …

»Verdammt!«

Sie riss sich gedanklich von dem Bild los. Was sollte das? Sie trank doch nicht mehr! Sie war trocken und befand sich mitten im Genesungsprozess. Keine Cocktails, keine Bars, keinen Alkohol jeglicher Art.

Als sie ihre Schlüssel aus der Tasche nahm, bemerkte sie zu ihrer Überraschung, dass ihre Hände zitterten. Sie holte noch ein paarmal tief Luft, ehe sie den Schlüssel in das Zündschloss steckte und ihn drehte. Während sie rückwärts aus der Parklücke herausfuhr, dachte sie an die Erledigungen, die vor ihr lagen. Sie musste Lebensmittel einkaufen, und dann wollte sie beim Bastelladen haltmachen, um für Aubreys Besuch am Samstag ein paar Glasperlen zu besorgen. Nur erschien ihr das alles plötzlich äußerst stressig.

»Blöde Minnie«, murmelte sie. Die sicherste Entscheidung – das wusste sie – bestünde darin, einfach nach Hause zu fahren und es auszusitzen. In ein oder zwei Stunden würde sie sich besser fühlen. Und wenn nicht, na ja, dann würde sie mit einer Freundin reden oder sich ein anderes Meeting suchen. Ihr blieben siebenundvierzig Tage, bis sie das Jahr voll hatte, und das würde sie sich auf keinen Fall versauen.

Auf dem Weg zum Abendessen mit seiner Mutter legte Jericho einen Zwischenstopp beim Blumenladen ein. Zum einen, weil er sie wirklich liebte, und zum anderen, weil er sich schuldig fühlte, da er eigentlich gar nicht mit ihr essen wollte. Normalerweise war er gerne mit ihr zusammen, doch in letzter Zeit weniger. Nachdem sie sich sechs Monate lang auf seine Seite statt auf Gils geschlagen hatte, redete seine Mom jetzt nur noch davon, dass die Familie »wiedervereint« werden müsse. Sie wollte, dass er über die Affäre seines Bruders mit seiner Frau hinwegkam und sich mit ihm versöhnte. Eine Vorstellung, gegen die sich alles in ihm sträubte.

Er war bereit zuzugeben – wenn auch nur sich selbst gegenüber –, dass er Gil vermisste. Vor dem Betrug mit Lauren hatten sie sich sehr nahegestanden. Sie verkehrten zwar in unterschiedlichen Freundeskreisen, hatten jedoch stets darauf geachtet, Anteil am Leben des anderen zu nehmen. Er vermisste die kurzen gemeinsamen Abendessen unter der Woche und die Sonntage, an denen sie zu zweit wandern gingen oder zusammen Sportsendungen schauten. Seltsam, dass er über den Verlust von Lauren sehr viel schneller hinweggekommen war als darüber, seinen Bruder nicht mehr zu sehen.

Im Nachhinein erkannte er durchaus, dass er und Lauren womöglich nicht wirklich zusammengepasst hatten. Doch das war keine Entschuldigung für das, was sie und Gil getan hatten.

Er hatte sie nicht in flagranti erwischt, es hatte kein großes Drama gegeben. Eines Sonntags war Gil zu ihnen nach Hause gekommen, um – wie er dachte – ein Seahawks-Spiel mit ihm und Lauren anzusehen. Stattdessen hatte Lauren verkündet, dass sie ihm etwas zu sagen hätten.

Gil und Lauren saßen nebeneinander auf dem Sofa. Er erinnerte sich daran, dass ihn das überrascht hatte, ebenso wie die Art, wie sein Bruder Lauren ansah. Dann beichtete seine Frau ihm tränenreich die Affäre und behauptete, dass sie ineinander verliebt seien. Was danach kam, wusste er nicht mehr genau. Außer dass Gil irgendwann Laurens Hand in seine nahm. An den Teil erinnerte er sich glasklar.

Alte Kamellen, sagte er sich, als er nun vor dem Haus seiner Mutter parkte. Das einstöckige Gebäude stand auf einem knapp zweitausend Quadratmeter großen Grundstück. Das Dach war neu gedeckt und der Garten schön gestaltet. Es war das Haus, in dem Gil und er aufgewachsen waren.

Erinnerungen stiegen in ihm auf – hauptsächlich glückliche, in die sich ein paar bittersüße Noten mischten. All die Feiertagsessen, die Familienabende, das Gelächter, die Tränen. Auch die Trauerfeier für seinen Vater hatten sie hier abgehalten. Das Haus war übergequollen von Leuten, die ihn geliebt hatten. Er erinnerte sich noch daran, wie erschüttert seine Mutter nach dem Unfall gewesen war. Sie hatte immer wieder davon gesprochen, dass sie miteinander hatten alt werden wollen, von den Reisen, die sie noch zusammen unternehmen wollten. All diese Zukunftsträume waren von einem Moment zum nächsten zerplatzt.

Er hatte den Schock verdauen müssen, seinen Vater zu verlieren und zugleich plötzlich ganz alleine für Ford Construction verantwortlich zu sein. Er hatte immer gewusst, dass er das Unternehmen einmal übernehmen würde, aber erst in ein paar Jahrzehnten.

Er nahm den Blumenstrauß und ging zum Haus. Nachdem er angeklopft hatte, öffnete er die Tür und rief: »Hallo, Mom, ich bin’s.«

»Im Wohnzimmer.«

Er durchquerte den altmodischen formellen Salon, den niemand benutzte, ging am Esszimmer vorbei in die Küche und trat in das dahinterliegende Wohnzimmer. Sobald er seine Mom erblickte, erstarb sein Lächeln. Sie war nicht allein – Gil und Lauren waren ebenfalls da. Sie saßen nebeneinander und wirkten beide angespannt, so als fühlten sie sich äußerst unwohl.

Er legte die Blumen auf dem Sideboard ab und sah seine Mutter an.

»Du hast mich ausgetrickst.«

Sie erhob sich. »Jericho, es wird langsam Zeit. Ich weiß, dass nicht recht war, was sie getan haben, aber das ist jetzt Monate her. Sie sind immer noch zusammen und lieben sich. Wir sind doch eine Familie – wir müssen aufeinander zugehen.«

Sie war kaum über einen Meter sechzig groß und doch stand sie vor ihm, als würde sie ihn weit überragen – auf die Art, in der Mütter ihre erwachsenen Söhne mit nur einem Blick zum Schweigen bringen konnten.

Er blieb stehen, wo er war, sah alle drei an und ermahnte sich, keinerlei Reaktion zu zeigen – wenigstens nicht äußerlich. Später würde er sich die Zeit nehmen, die aufgewühlten Gefühle in seinem Bauch zu ergründen.

»Mein Bruder hatte Sex mit meiner Frau. In unserem Haus. Wie soll ich da bitte auf ihn zugehen?«

Das musste er seiner Mom lassen, während Lauren zusammenzuckte und Gil angestrengt auf seine Füße starrte, sah sie ihn weiter vollkommen unbeirrt an.

»Es war nicht recht von ihnen«, wiederholte sie ruhig. »Es war absolut falsch, und es tut ihnen leid. Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber ich bitte dich trotzdem darum. Jericho, ich wünsche mir meine Familie zurück. Du und dein Bruder standet euch immer so nah. Ich vermisse das. Ich vermisse, dass wir alle zusammen sind. Und es seid nicht nur ihr beide – Antonio sehe ich in letzter Zeit auch kaum noch. Natürlich hält er zu dir, aber er fehlt mir. Ich vermisse einfach meine Jungs.«

»Und was geben sie dafür auf?«

Sie runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Du bittest mich, ihnen die Affäre zu vergeben, zu verzeihen, dass sie mich hinter meinem Rücken betrogen haben. Was müssen sie dafür im Namen der Familie tun?«

»So funktioniert das nicht.«

»Das sollte es aber.«

Sie tat einen Schritt auf ihn zu. »Sie lieben sich. Hat das denn gar nichts zu bedeuten?«

»Sie lieben sich nicht.« Er beäugte die beiden. »Sie fühlen sich schuldig wegen dem, was sie getan haben. Würden sie sagen, dass es nur eine Affäre war, wären sie die Bösen. Aber wenn sie so tun, als wäre es eine große Liebesgeschichte, dann wird von uns allen erwartet, es zu verstehen und zu vergeben.« Er lachte höhnisch auf. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt fähig sind, zu lieben.«

Laurens Kopf schnellte hoch. »Jericho, sag das nicht. Du weißt, als wir geheiratet haben, habe ich dich …«

Er unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. »Davon würde ich an deiner Stelle jetzt lieber nicht anfangen«, sagte er leise. »Das macht es nicht besser für dich.«

Gil stand auf und rieb sich die Handflächen an der Jeans ab, dann straffte er die Schultern und sah ihn an.

»Wir lieben uns wirklich, auch wenn du es nicht glaubst. Es war falsch von uns, dich zu hintergehen, aber das ändert nichts daran, wie wir zueinander stehen. Ich habe Lauren gefragt, ob sie mich heiraten will, und sie hat Ja gesagt.«

Jericho spürte, dass ihn alle ansahen und auf seine Reaktion lauerten. Er wartete selbst neugierig darauf, denn das hatte er ganz sicher nicht kommen sehen.

Verlobt? Lauren und sein Bruder?

Er blickte zwischen Gil und der Person, die mal seine Ehefrau gewesen war, hin und her. Der Gedanke an das, was Gil getan hatte, schmerzte ihn bis ins Mark. Sie waren Brüder, und so etwas tat man nicht. Niemals. Doch wenn er Lauren ansah, musste er zugeben, dass er … nichts fühlte. Womöglich ein leichtes Bedauern darüber, sie ausgewählt, mal geglaubt zu haben, sie sei die Richtige für ihn. Doch sie und ihre Beziehung vermisste er nicht.

»Du musst doch sehen, weshalb es wichtig für uns ist, ihnen zu verzeihen«, sagte seine Mutter. »Jericho, bitte.«

»Wenn ihr heiratet, wird das, was ihr getan habt, nicht richtiger.« Er sah seinen Bruder an. »Du bist einfach ein Arschloch.«

Gil hielt seinem Blick stand, ohne auszuweichen. »Ich wünsche mir, dass du mein Trauzeuge bist.«

Die Dreistigkeit dieser Aussage brachte ihn beinahe zum Lachen.

»Das kannst du vergessen.«

Seine Mutter tat einen weiteren Schritt auf ihn zu. »Es wird eine Hochzeit geben. Hat das für dich gar keine Bedeutung?«

»Doch, klar – dass sie alles tun würden, damit sie sich besser fühlen.« Er ging zu ihr hinüber und küsste sie auf die Wange. »Ich hab dich lieb, Mom, aber das mache ich nicht mit. Tut mir leid.«

Mit diesen Worten wandte er sich um und verließ das Haus.

Sloane spülte die weißen Bohnen ab, dann schüttelte sie das Sieb. Sie hatte bereits Tomaten, Gurken und Frühlingszwiebeln geschnitten und die Vinaigrette angerührt. Und – oh Wunder! – sie hatte sogar eine annehmbare Avocado im Lebensmittelgeschäft gefunden. Ellis stand am Herd und bewachte die Hühnerschenkel, die in der Pfanne brutzelten.

»Sie ist einfach so eine schleimige Kuh«, sagte sie.

Ellis sah sie an, ein leichtes Lächeln verzog seinen Mund. »Du weißt, dass ich dich nicht hören kann, wenn die Abzugshaube an ist.«

»Wie auch immer«, formte sie mit den Lippen, ehe sie die Bohnen in die Schüssel warf.

Er lachte leise und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fleisch zu.

Sloane gab das Blattgemüse in die Schüssel und würfelte die Avocado, dann vermischte sie alles mit der Vinaigrette. Auf dem Weg zu Ellis’ Haus hatte sie an der kleinen Bäckerei neben dem Highway 99 haltgemacht und ein knuspriges Baguette gekauft. Jetzt schnitt sie es in Scheiben und trug alles zum runden Tisch neben dem Fenster, das den Blick auf seinen Garten freigab. Er kam mit dem fertigen Hühnerfleisch dazu.

Sie hatte bereits eine Karaffe mit Eistee vorbereitet, aus der Fertigmischung, die sie beide gerne mochten. Nachdem sie sich gesetzt hatten, nahm Ellis ihre Hand und senkte kurz den Kopf.

Während er einen Dank für das Mahl aussprach, ließ sie den Blick über sein dichtes braunes Haar und seine Schultern schweifen. Ellis war groß, dazu drahtig und stark. Er war Schweißer von Beruf, arbeitete hart, lebte clean und zog das Programm der Anonymen Alkoholiker mit sehr viel mehr Würde durch als sie.

Er hob den Kopf und suchte ihren Blick. Seine Augen waren braun, und meist blitzte der Schalk aus ihnen. Es war nicht so, als würde Ellis das Leben für einen Witz halten – er schien jedoch stets offen für die Möglichkeiten zu sein, die es bot. Er war schon seit fast zehn Jahren trocken. Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte ihn sich nicht betrunken vorstellen, trotz all der Geschichten aus seiner Vergangenheit, die er ihr erzählt hatte.

»Du hast etwas von schludrigen Kühen gesagt«, bemerkte er.

Sie lächelte. »Von schleimigen Kühen. Das heißt, eigentlich nur von einer.«

»Minnie«, erriet er und legte ihr einen Hühnerschenkel auf den Teller.

»Sie ist so nervig und scheinheilig.«

»Sie macht sich eben Sorgen um dich.«

»Sie macht sich eben Sorgen um dich«, wiederholte Sloane in spöttischem Ton. »Minnie trägt nur potthässliche Kleider.«

»Du urteilst über sie.«

»Ja, und darin bin ich gut.«

Sie lud sich Salat auf den Teller, dann schnitt sie eine dünne Scheibe von der köstlichen irischen Butter ab, die Ellis stets im Haus hatte. Er war ein Mann, der das Einfache liebte, doch irische Butter musste sein.

Sie hatten sich bei einem Meeting kennengelernt. Sloane hatte verschiedene Standorte und Zeiten ausprobiert, um die beste Gruppe für sich und ihren Terminkalender zu finden. Sie war erst seit zwei Wochen aus der Entzugsklinik raus gewesen und hatte an ihren »Neunzig Meetings in neunzig Tagen« gearbeitet. Er war ihr sofort aufgefallen – vor allem wegen der Art, wie er sie angesehen hatte. Nach dem Meeting war sie auf ihn zugegangen und hatte das Gespräch mit einem unverblümten »Du bist eindeutig an mir interessiert« eröffnet.

Er hatte gelacht. »Wie könnte ich das nicht sein?« Dann erstarb sein Lächeln. »Aber es ist noch zu früh für dich.«

Ihr war klar gewesen, dass er recht hatte. Sie war noch voller Angst und fühlte sich nicht wohl in ihrer Nüchternheit. Die zwei Jahre, drei Monate und achtzehn Tage im Gefängnis nicht mitgezählt, hatte sie es nie länger als ein paar Stunden ausgehalten, ohne zu trinken. Drei Monate später hatte er nach einem Meeting draußen vor der Begegnungsstätte auf sie gewartet. Sie hatte keine Ahnung, woher er wusste, dass sie ausgerechnet an diesem Meeting teilnahm, und hatte ihn auch nie danach gefragt. Sie waren einen Kaffee trinken gegangen, der nahtlos in ein Abendessen überging – und seitdem waren sie zusammen.

»Du hast mich nie gefragt, ob ich bei dir einziehen will«, sagte sie, als sie eine Baguettescheibe mit Butter bestrich.

»Nein.«

Sie zerkaute das Brot und schluckte es herunter. »Gibt es einen Grund dafür?«

»Du bist noch nicht so weit. Krieg du erst mal dein Jahr voll, und dann schauen wir, was passiert.«

»Jetzt klingst du schon wie Minnie«, beschwerte sie sich, auch wenn sie wusste, dass er gut daran tat, vorsichtig zu sein. Trockene Alkoholikerin zu sein, war eine verzwickte Angelegenheit. Meistens fühlte sie sich stark und sicher, doch ab und zu überkam sie der seltsame, unerklärliche Drang, etwas zu trinken – wie vor ein paar Tagen, als sie darüber nachgedacht hatte, sich einen Cocktail zu besorgen. Das hatte ihr eine Heidenangst eingejagt.

»Minnie ist ein guter Mensch.«

»Argh. Jetzt stell dich nicht auf ihre Seite.« Sie legte die Gabel ab. »Ich würde sie ja verstehen, wenn ich nicht alles machen würde, was ich machen soll. Aber das tu ich. Ich gehe an sechs Tagen in der Woche zu Meetings. Ich lebe mit zwei Frauen zusammen, die ebenfalls trockene Alkoholikerinnen sind. Und du bist das perfekte Vorbild für mich, das ist also eine Beziehung mit positivem Einfluss. Was will sie denn noch?«

»Dass du deinen Genesungsprozess ernst nimmst.«

»Das tu ich doch.«

Er zog die Augenbrauen hoch.

»Das tu ich wirklich«, wiederholte sie. »Ich kann doch nichts dafür, dass ich ein fröhlicher Mensch bin.«

»Du bist eine Alleinunterhalterin.«

Sloane wünschte sich, das wäre so. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie …

Sie schob diese Erinnerungen beiseite. Ja, sie hatte Talent gehabt und Chancen geboten bekommen, und sie hatte all das weggeworfen, weil sie eine Trinkerin war. Darüber nachzudenken, war zu deprimierend.

»Du magst es doch, wenn ich dich unterhalte«, murmelte sie in anzüglichem Ton.

Seine dunklen Augen leuchteten auf. »Ja, das tu ich. Du bist meine größte Schwäche.«

»Mal abgesehen vom Alkohol.«

»An manchen Tagen habt ihr zumindest Gleichstand.«

Sie pikste mit der Gabel ein paar Salatblätter auf. »Aber jetzt genug über Minnie geredet. Wie war dein Tag?«

Sie unterhielten sich die gesamte Mahlzeit über. Nachdem sie den Tisch abgeräumt und die Küche gesäubert hatten, ließen sie sich im Wohnzimmer nieder. Er schaltete den Sportkanal ein, und sie nahm sich ein Tablett und holte ihre Bastelkiste hervor. Sie wollte ein weiteres Perlenarmband für Aubrey herstellen. Das war so ein Spiel zwischen ihnen – jede von ihnen fädelte der anderen unter der Woche ein neues auf.

Sie wählte vier Schnüre in verschiedenen Blautönen, dann suchte sie mehrere Perlen aus, darunter ein Herz und einen Stern. Nachdem sie die einzelnen Stränge in der passenden Länge zugeschnitten hatte, klebte sie sie am Tablett fest und begann, sie zu einem Makrameemuster zu flechten.

Ellis stellte den Fernseher auf lautlos. »Hast du schon mit Finley darüber gesprochen, dass du mehr Zeit mit Aubrey verbringen möchtest?«

»Noch nicht.« Sie fädelte eine weiße Perle auf das Armband. »Aber das werde ich noch.«

Ellis schwieg.

Sie flocht weiter die Schnüre umeinander und fügte dem Armband so einen guten Zentimeter hinzu. Ihr war klar, dass er so lange warten würde, bis sie ihre Gedanken zu Ende gedacht hatte, egal wie lange es dauerte.

Schließlich sah sie ihn an. »Ich hasse es, mich mit meiner Schwester auseinandersetzen zu müssen. Selbst wenn sie nichts sagt, weiß ich genau, was sie denkt.«

»Hier geht es aber um Aubrey.«

»Ich weiß. Und ich wünsche mir sehr, öfter mit ihr zusammen zu sein.«

Finleys Pflegschaft sah Flexibilität vor, was den Kontakt zwischen Elternteil und Kind betraf. Sloane musste nur einen entsprechenden Antrag stellen, und wenn er sich in einem vernünftigen Rahmen bewegte, musste Finley ihm normalerweise zustimmen. Sie zweifelte nicht daran, dass ihre Schwester letzten Endes Ja sagen würde. Das Problem war, was sie sich vorher alles würde anhören müssen.

Momentan sah sie ihre Tochter nur am Samstagnachmittag. Das wollte Sloane gerne dahingehend ändern, dass Aubrey bei ihr übernachten durfte. Sie könnte sie dann auf dem Weg zu ihrer Sonntagmorgenschicht zu Finley zurückbringen. Falls das gut liefe, würde sie sich zusätzlich ein gemeinsames Abendessen unter der Woche ausbitten.

Das Bedürfnis, Aubrey mehr zu sehen, größeren Anteil an ihrem Leben zu nehmen, war wie ein ständiger Schmerz. Doch neben der Sehnsucht war da auch Angst, und die war manchmal so viel größer. Die Angst, es zu vermasseln, ihrer Tochter Schaden zuzufügen, ihr das Leben schwerer zu machen. Schuldgefühle waren ihr ständiger Begleiter.

»Weißt du, was wirklich ätzend daran ist, Alkoholikerin zu sein?«

»Der Mundgeruch am nächsten Morgen?«

Sie lachte über die unerwartete Antwort, dann legte sie das Armband ab und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Dass es eine nicht enden wollende Entschuldigungstour ist. Dass es keine glücklichen Erinnerungen gibt, in denen ich schwelgen kann. Egal, an welchen Moment in meiner Vergangenheit ich denke, er ist immer mit irgendetwas Schrecklichem verbunden, das ich getan habe. Ich würde mich gerne an nur eine einzige Sache erinnern und denken: Hey, da habe ich mal nicht gekotzt oder irgendwas kaputt gemacht oder jemandem wehgetan, den ich liebe. Yeah, gut gemacht!«

»Du kannst vor deiner Vergangenheit nicht weglaufen.«

»Ja, das kann ich akzeptieren. Aber was mich wütend macht, ist, dass ich keine Möglichkeit habe, es wiedergutzumachen. Egal, wie vorbildlich ich mich heute benehme, es bleibt für immer dabei, dass ich es verkackt habe. Das ist doch nicht fair.«

»Heute hast du’s nicht verkackt.«

»Na ja, mir bleiben noch ein paar Stunden. Besser, du stellst mich nicht auf die Probe.«

3. Kapitel

Der Stapel mit Unterlagen, die sie für ihren Kredit durchackern musste, war ungefähr fünf Zentimeter dick. Eines Tages, dachte Finley, während sie Seite um Seite unterzeichnete und datierte, eines Tages werde ich mir ein Haus kaufen und es auf einen Schlag abbezahlen können. Zumindest in ihrer Fantasie. Doch wie die Dinge jetzt standen, war sie dankbar, überhaupt eines Kredits für würdig befunden zu werden.

Es hatte sie drei Jahre harte Arbeit gekostet, ihre Kreditkartenschulden sowie die Schulden bei ihrem ehemaligen Chef abzuarbeiten, während sie gleichzeitig auf die Anzahlung für das Haus sparte, das sie kaufen wollte. Drei Jahre, in denen sie bei ihrer Mom gewohnt und jeden Penny gespart hatte, den sie konnte.

»Das war’s dann«, sagte die Treuhänderin lächelnd. »Ich schicke Ihnen noch eine digitale Kopie zu. Die Bank wird die Finanzierung am Montag bestätigen, und am Dienstag sollte der Kauf dann abgeschlossen sein.«

Finley hielt ihre gekreuzten Finger in die Luft. »So lautet jedenfalls der Plan.«

Zwanzig Minuten später steuerte sie ihren Subaru in Richtung Norden nach Mill Creek. Es war kurz nach zwei. An den meisten Wochentagen wäre sie um diese Zeit bei der Arbeit gewesen, doch sie hatte sich freigenommen, um die Verträge für ihr neues Haus zu unterzeichnen.

So viel ungewohnte Freiheit, dachte sie lachend, als sie in Kellys Einfahrt bog.

Das Haus ihrer Freundin war ein für Seattle typischer zweistöckiger Bau auf einem abschüssigen Grundstück, hinter dessen Eingangstür eine halbe Treppe nach oben und eine halbe nach unten führte. Im Garten wuchsen immergrüne Pflanzen, ein Thema, das sich in der Grünanlage dahinter fortsetzte. Die Fassade war in einem blassen Blau gestrichen, verziert mit einer weißen Bordüre, das tiefdunkle Blau der Eingangstür bildete einen schönen Kontrast dazu.

Finley klopfte an, was die zwei Hunde aufschreckte. Das Gebell wurde begleitet vom lauten Kreischen des fünfjährigen Reilly, der wissen wollte, wer an der Tür war. Sekunden später ließ Kelly sie herein.

»Willst du mein Leben gegen deins tauschen?«, fragte ihre Freundin lachend. »Ich weiß, das habe ich schon öfter gefragt, aber diesmal meine ich es ernst.«

Finley umarmte Kelly, ehe sie Reilly hochhob und ihn umherwirbelte. »Danke, aber ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, mit Ryan zu schlafen. Er ist ein gut aussehender Typ und alles, aber irgendwie widert mich der Gedanke total an.«

»Das sollte er auch«, sagte Kelly, schob die Hunde beiseite und stieg die halbe Treppe zum Hauptwohnbereich hoch.

Das geräumige Wohnzimmer ging in eine große, helle Wohnküche über, links daneben lag das Esszimmer. Hinter der Küche gelangte man in einen Wintergarten, an den sich eine Holzterrasse anschloss, die sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckte. Vom Flur gingen zur anderen Seite hin drei Schlafzimmer ab, darunter auch das Elternschlafzimmer. Im unteren Stockwerk gab es noch einen Familienraum, drei zusätzliche Zimmer sowie ein Bad. Wenn die Kinder älter wären, würden sie sich dort ein wenig ausbreiten können, doch momentan waren alle im oberen Stockwerk zusammengepfercht.

Kelly führte sie in die Küche, und Finley setzte sich und nahm Reilly auf den Schoß.

»Wie war’s im Kindergarten?«, fragte sie.

»Wir haben Schlangen gezählt!« Er wand sich aus ihren Armen, sprang von ihrem Schoß und lief hinaus, nur um Sekunden später mit mehreren kleinen Plastikschlangen zurückzukehren.

»Die sind ja schön«, sagte Finley und bewunderte die Farbenpracht. »Wie viele Schlangen sind das?«

»Eins, zwei, drei, vier, fünf.« Reilly grinste sie an, sein etwas zu langes rotes Haar hing ihm beinahe in die Augen. »Fünf Schlangen!«

Kelly, die ihren Rotschopf all ihren drei Kindern weitervererbt hatte, lachte. »Irgendwer hat eine Kiste voller Schlangen für die Kinder vorbeigebracht. Das war ein Riesenhit, und sie durften alle ein paar mit nach Hause nehmen.«

Finley warf einen Blick in das Wohnzimmer, das voller Spielzeug war und in dem sich einer der Hunde einen Haufen Stofftiere als Bett auserkoren hatte. »Weil ihr noch nicht genug Spielzeug zu Hause habt?«

»So ist es.«