Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der zurückgezogen lebende Wolfgang Mann hadert mit den ungerechten Verhältnissen und der Macht des Geldes. Die Gesellschaft ist zersplittert und nervös. Die nahende Pandemie ängstigt, Mann kommt nicht zur Ruhe, seine Nachbarn hängen abstrusen Ideen an, seine Frau hat ihn verlassen, eine alte Freundschaft zerbricht. Auf der Suche nach seinem Glück inmitten der verworrenen Zeiten verliebt sich Wolf in eine Apothekerin, wagt es jedoch nicht, sie anzusprechen. Als er seinen Arbeitsplatz verliert und sein geliebtes Auto verkaufen muss, wachsen Verzweiflung und Wut, und nähren die Überzeugung, ein Zeichen setzen zu müssen, um etwas zu verändern. Unbemerkt von der Umwelt driftet Wolf allmählich ab …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 251
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Philipp Stoll
Philipp Stoll
Roman
© Dittrich Verlag ist ein Imprint
der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2023
Printed in Germany
ISBN 978-3-910732-12-4
eISBN 978-3-910732-15-5
www.dittrich-verlag.de
Satz: Gaja Busch, Berlin
Covergestaltung: Helmi Schwarz-Seibt, Leverkusen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Der Autor
Da kommt er endlich, sagte Wolf. Er wandte sich vom Fenster ab, nahm den Schlüsselbund und verließ die Wohnung. Kurz dachte er daran, Bescheid zu geben, dass er nach draußen ging, bis ihm bewusst wurde, dass sich außer ihm niemand in der Wohnung befand. Im Treppenhaus roch es nach gebratenen Zwiebeln. Wie meistens, wenn in der Erdgeschosswohnung von Hohmann, seinem Vermieter, zu Mittag gekocht wurde. Als er die kahle Steintreppe hinabstieg kam er sich vor wie ein kleines Kind, das sein Lieblingsspielzeug beim Vater abliefern muss. Aber es gab keine Alternative. Er musste Silberpfeil verkaufen. Denn er war ausgemustert worden und arbeitslos. Tut mir wirklich leid, hatte der Chef gesagt. Wenn die Firma überleben soll, dann müssen wir abspecken. Und dein Bereich ist völlig eingebrochen. Da machen wir praktisch keinen Umsatz mehr. Abspecken – das war nur ein Vorwand gewesen. Die Firma arbeitete profitabel. Der einzige, der abspecken musste, war der Chef selbst. Sie schoben die allgemeine Lage vor, um ihn loszuwerden. Nutzlos, lästig und vor allem zu teuer war er geworden. Sein Beruf hatte wenig Zukunft. Bald würden Roboter und Algorithmen das alles erledigen. Präzise, unermüdlich, ohne krank zu werden, ohne zu spät zu kommen. Ohne Zigarettenpausen. In Anwesenheit des Chefs hatte er noch Haltung bewahrt. Aber dann wusste er nicht wohin, und so schloss er sich in der Toilette ein. Schwindlig war ihm geworden, er setzte sich. Alleine hatte er sein wollen, doch das war ihm auch nicht recht gewesen. Im Nachhinein betrachtet wunderte er sich, wie er damals überhaupt wieder in seine Wohnung zurückgefunden hatte.
Vor dem Haus blendete die Frühjahrssonne. Der Käufer stieg aus seinem Auto, einem perfekt erhaltenen und polierten alten Cabrio, graumetallic lackiert, schwarze Ledersitze. Wolf wunderte sich, was jemand, der selbst so eine Glanzkutsche fuhr, mit seinem alten Billigkarren wollte. Der Mann trug trotz der frischen Luft ein kurzärmeliges weißes Poloshirt, eine legere, teuer aussehende Jeans und geschmeidige Wildlederschuhe. Er sah aus wie jemand, den man kannte. Wolf kannte ihn nicht. Er wollte ihn nicht kennen.
Der andere streckte ihm die Hand hin. Dann, als ihm Wolf seine Hand verweigerte, sagte er, ach, sind wir schon so weit! Egal, jeder geht mit der Virenhysterie auf seine Art um. Er lachte. Wolf wunderte sich, was es zu lachen gab. Er lachte nicht und er mochte den Mann nicht. Der sah aus wie einer, der keine Probleme hat. Und über die Probleme der Anderen hinweggeht.
Er musterte Wolfs Wagen, der ein Stück entfernt am Straßenrand stand und dessen dunkelblauer Lack in der Sonne glänzte. Das ist also das Prachtstück, sagte er.
Sie gingen die paar Schritte hinüber, Wolf öffnete die Fahrertüre. Dann entriegelte er die Motorhaube, klappte sie hoch und klemmte die Haltestange fest.
Bitte, sagte er mit einer einladenden Handbewegung.
Der Andere sah in das Wageninnere, setzte sich dann auf den Fahrersitz, ließ das Auto an und testete alle Funktionen.
Da fährt er bald dahin, dachte Wolf. Er hatte den Wagen noch als Teenager von seinem ersten Geld gekauft, angezahlt und dann über ein paar Jahre die Raten abgestottert. Mit dem Wagen war er von Anfang an per Du gewesen. Und stolz. Erst, weil er ein neues Auto fuhr, später weil der Wagen dank seiner Pflege immer gut aussah und zuletzt, weil er zum ansehnlichen Oldtimer gewachsen war. Ein kleiner, niedriger Sportwagen mit runden, von der Motorhaube abgesetzten Kotflügeln, die ihm Charme verliehen. Er hatte ihn immer schonend behandelt. Klein aber fein. Oft hatte er selbst Hand angelegt. Er wusste nicht, ob er sich jemals wieder ein Auto kaufen würde. Er wusste auch nicht, ob die ihm verbleibende Zeit noch dafür reichen würde.
Und warum verkaufst du den, wollte der Andere wissen.
Naja, sagte Wolf, dann schwieg er und starrte auf den Kühlergrill. Unverschämt, dachte er, mich einfach zu duzen. Respektlos. Ich werde ihm den Gefallen nicht tun.
Verstehe, sagte der Andere in das Schweigen hinein und beugte sich zum Kühlwasserbehälter.
Jetzt wäre der Moment, dachte Wolf. Um die Motorhaube fallen zu lassen.
Der Andere richtete sich aber schon wieder auf. Tolle Dinger, alte Autos, nicht wahr?! Kann mir kein besseres Spielzeug vorstellen. Er lachte. Ach ne, fügte er dann hinzu. Das ist nicht ganz richtig. Nun grinste er. Der Mann hatte einen guten Kieferorthopäden gehabt und war stolz darauf. Er wandte sich wieder dem Motorraum zu und sprach nun direkt die Fahrzeugbatterie an. Oldtimer sind ein ganz besonderes Hobby. Hat mit Ästhetik und Technik gleichzeitig zu tun. Faszinierend, wie in diesen Gefährten zu einem ganz bestimmten historischen Zeitpunkt beide Gesichtspunkte aufeinandertreffen. Das sind fahrende Denkmäler, die müssen wir schützen und erhalten. Findest du nicht auch?
Ja, ja, sagte Wolf. Schon. Der hat wohl heute zu viel Kola getrunken, dachte er. Mit seiner blöden Kunstfresse.
Der Hauch eines Männerdufts wehte zu ihm herüber, würzig, holzig, angeberisch, in krassem Gegensatz zur tiefblauen, geruchlosen Karosserie. Und zu Wolfs Stimmung.
Der Andere richtete sich wieder auf und nickte. Der Wagen ist gut in Schuss, behauptete er mit einer Handbewegung zum Fahrzeug hin, als ob nicht Wolf, sondern er der Verkäufer wäre. Schönes Teil. Wider Erwarten kein Kratzer. Das ist heute keine Selbstverständlichkeit. Die Leute kümmern sich nicht mehr um ihre Sachen. Die haben von allem zu viel und dann fehlt die Wertschätzung. Aber wem sage ich das. Wenn ich den Wagen anschaue, dann sehe ich, dass wir einer Meinung sind. Jetzt mache ich eine kleine Probefahrt, nur um den Block herum.
Bitte, sagte Wolf und schloss die Türen. Die Motorhaube ließ der Andere selbst herunter. Wolf sah zu, wie sein Wagen langsam und vorsichtig auf die Straße hinausfuhr und dann verschwand. Jedenfalls bin ich nicht Deiner Meinung, dachte er. Ihrer Meinung, korrigierte er sich. Hoffentlich nimmt er den Wagen nicht. Nein, hoffentlich nimmt er ihn. Ich brauche das Geld. Arbeitslosengeld gibt es nicht.
Denn er war, weil der Chef es unbedingt so gewollt und von den vielen Vorteilen dieses Beschäftigungsmodells geschwärmt hatte, ein Scheinselbstständiger gewesen. Jetzt, im Nachhinein, begriff Wolf, dass man ihn ausgenutzt hatte. Von seinen lächerlich geringen Ersparnissen musste er einen Teil an Jennifer geben. Das Auto konnte er sich beim besten Willen nicht mehr leisten. Demnächst mussten die Bremsen erneuert werden. Er würde zum Amt gehen und Unterstützung beantragen. In den vergangenen vierzehn Jahren hatte er sich ein Recht auf Hilfe erarbeitet. Und dennoch war es demütigend, die Hand aufhalten zu müssen. Als ob er krank wäre. Oder schwach. Als ob man ihn in dieser Gesellschaft nicht mehr brauchte. Ja, so war es: er wurde nicht mehr benötigt, war ein Auslaufmodell. Das Großkapital sorgte für wachsende Produktivität. Der Mensch wurde durch die Maschine ersetzt. Das hatte er begriffen und es wurde Zeit, dass das alle begriffen. Er fürchtete, dass man bei der Behörde die Dreizimmerwohnung als zu groß für eine Person befinden und die Miete deshalb nicht übernehmen würde. Mit dem Erlös aus dem Verkauf des Wagens konnte er immerhin neun Monate leben. Und würde nicht auffallen. Und vielleicht würde sich demnächst ohnehin alles ändern. Er spürte einen dicken Kloß im Hals.
Geld leihen wäre eine Möglichkeit gewesen. Aber außer der Mutter kam niemand in Frage. Und er schämte sich vor ihr. Er schämte sich auch vor Kamran, ihrem neuen Mann. Vor allem wollte er Mutter mit seiner neuen Lage nicht belasten.
Die Probefahrt war kurz. Der Mann bugsierte den Wagen routiniert an dieselbe Stelle, an der er zuvor geparkt gewesen war.
Ist gut in Schuss, wiederholte er. Passt ausgezeichnet in meine Sammlung. Ich nehme ihn.
Zum zweiten Mal war Wolf überrascht. Ein Autokäufer, der nicht anfängt, den angebotenen Preis zu drücken. Der kannte sich offenbar mit Oldtimern aus und hatte begriffen, was Wolf jahrelang in das Auto investiert hatte. Mit einer eleganten Handbewegung drückte er die Fahrertüre zu, schloss ab und steckte die Schlüssel ein. Das fand Wolf unverschämt. Er wollte schon protestieren, ließ es dann aber. Wie so oft in seinem Leben.
Der Käufer griff in seine Jackentasche und zog ein Bündel Geldscheine heraus. Ich zahle jetzt, hole den Wagen aber erst morgen. In Ordnung? Er zeigte wieder seine Zahnreihen. Es kam Wolf schadenfroh vor.
Und sollte der Wagen morgen wider Erwarten nicht ordentlich fahren, komme ich wieder und hole mein Geld.
Wolf nickte, nahm das Geldbündel, bemerkte erneut den Herrenduft und zählte angewidert. Im Grunde bin ich froh, dass der das Auto zu dem Preis kauft, beruhigte er sich. Ein anderer hätte nie so viel Geld gezahlt. Dann beobachtete er, wie das neue Herrchen von Silberpfeil in sein eigenes Cabrio stieg und wegfuhr. Es wäre ihm lieber gewesen, der hätte Silberpfeil gleich mitgenommen und ihn in seine Sammlung gestellt. Wider Erwarten, hatte dieser Typ gesagt. Wolf mochte Leute nicht, die so aufgeblasen daherredeten. Verlogen, dachte er. Der wollte nur Eindruck schinden. Auf meine Kosten natürlich. Wider Erwarten. Dieses geschwollene Arschloch.
Er war beinahe an der Haustür angelangt, drehte dann aber um und ging zurück zur Garage. Sie lag hinter einer Holzbaracke und war vom Haus aus nicht zu sehen, so dass Hohmann ihn weder beobachten noch riechen konnte. Der hatte sich schon mehrfach beschwert, wenn der Zigarettenrauch durch ein geöffnetes Fenster in seine Wohnung gezogen war.
Wolf beneidete den Käufer. Der hatte eine Sammlung. Und der war in der Lage, ein Auto zum angegebenen Preis zu kaufen ohne zu verhandeln. Er wurde wütend, weil er mit einem Schlag begriff, dass er seinen Wagen an die andere Seite verkauft hatte. Die Seite, die er verachtete und hasste. Die Seite, gegen die man etwas unternehmen musste.
Jetzt war auch die Garage leer. Die Wohnung war leer, seitdem Jennifer weggegangen war. Er konnte die Garage untervermieten. Aber erstens hatte ihm Hohmann das verboten. Und zweitens brauchte er den Platz. Vor allem den Dachboden über der Garage. Sollte er sich tatsächlich entscheiden, die Angelegenheit durchzuziehen, würde er die Sachen irgendwo lagern müssen.
Er trat die Kippe aus, hob sie vom Boden und hielt sie in der Hand, um sie später in die zu seiner Wohnung gehörende Mülltonne zu werfen. Hohmann wollte auch auf dem Gehweg vor der Garage keine Kippen haben. Dieser Hohmann! Das war auch so einer. Der noch immer einen Schlüssel zu seiner Wohnung hatte und sie einmal im Jahr ohne Erlaubnis in Wolfs Abwesenheit betrat. Nachträglich erfand er dann immer einen Vorwand, etwa dass er die elektrischen Sicherungen überprüfen müsse, weil er merkwürdige Unregelmäßigkeiten festgestellt habe. Aber Wolf war sich sicher, dass er auch bei anderen Gelegenheiten, nach seinem Gutdünken, in seine Privatsphäre eindrang und es verschwieg. Ein Schnüffler. Der seine Macht als Vermieter ausnützte. Die Geld haben, wissen mit ihrer Macht umzugehen. Wolf spürte die Demütigung. Aber er wagte nicht, ihn deshalb zur Rede zu stellen. Oder etwa den Schlüssel zurückzufordern. Gerade jetzt nicht. Denn seit zehn Jahren hatte Hohmann die Miete nicht erhöht.
Entgegen der Gewohnheit kehrte er nicht in die Wohnung zurück, sondern blieb stehen. Die Luft war angenehm kühl und klar. Zwischendurch wehte Hohmanns Zwiebelduft herüber. Er stellte fest, dass er in den letzten Tagen kaum vor die Tür gegangen war. Auf der Straße waren nur wenige Passanten unterwegs. Die meisten hielten sich an die behördlichen Anordnungen. Das überraschte Wolf. Angesichts des Versagens des gesamten Apparats. Nachdem man in den Wochen davor so getan hatte, als gebe es im fernen China ein Problem, mit dem man selbst nichts zu tun habe. Wer ein wenig seinen Verstand anstrengte und ein bisschen Ahnung von der Welt hatte, der konnte vorhersehen, dass dieses Virus Deutschland nicht verschonen würde. Aber es war denen egal, was mit den Menschen passierte. Hauptsache, sie behielten die Macht in Händen. Und diejenigen, die eh schon Milliarden hatten, konnten weiteres Geld an sich raffen. Denn keine Regierung tat etwas dagegen. Die Politiker waren nichts anderes als Schnurpuppen des Kapitals, das war eh klar. Das Wort, das er gesucht hatte, fiel ihm ein: Marionetten. Er hatte vor kurzem Erschütterndes gelesen: wenige Milliardäre, die genaue Zahl hatte er vergessen, aber es waren keine zwanzig, haben genauso viel Geld wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit. Das sind mehrere Milliarden Menschen. Er versuchte, sich vorzustellen, wieviel mehrere Milliarden sind. Es gelang ihm nicht.
Mit Politik kannte sich Wolf nicht aus. Wollte er auch nicht. Dieses blöde Hin- und Hergerede. Und Ja-Aber-Gejammere. Wer einer anderen Partei angehört hat sowieso nie Recht, auch wenn er Recht hat. Und daneben hält man schön die Hand auf, irgendetwas wird sicher hineinfallen. Vor einigen Jahren hatte er bei Jennifers Eltern unfreiwillig eine halbe Stunde lang eine Bundestagsdebatte im Fernsehen verfolgt, wobei es darum ging, wie man die Finanzmärkte bändigen kann. Ein wichtiges Thema, wie er schon damals fand. Diese sogenannten Volksvertreter boten dann aber unter der Glaskuppel eine lächerliche Vorstellung. Wie ein Haufen Hühner im Stall. Wenn einer ein Ei gelegt hatte, trat er an das Rednerpult und verkündete stolz, dass sein Ei das schönste sei. Einer von der Regierungspartei, er war feist von Kopf bis Fuß, redete davon, man müsse die soziale Kluft in diesem Land verkleinern und dafür sorgen, dass große Teile der Bevölkerung sich nicht abgehängt fühlten undsoweiter. Dabei machte er ein Gesicht wie ein Vegetarier, der seinen Kumpanen am Tisch erklärt, warum er im Gasthof einen Schweinebraten bestellt.
Trotzdem hielt Wolf sich an die Anordnungen. Auch das überraschte ihn. Wobei er nicht sicher war, ob der Wunsch, eine Zigarette zu rauchen, ein triftiger Grund war, um eine Wohnung, die keinen Balkon hatte, verlassen zu dürfen. Was bitte ist ein triftiger Grund? Und warum gibt es in meiner Muttersprache nicht einmal ein Wort für den gegenwärtigen Zustand? Antwort: weil wir längst nach der Pfeife des großen Kapitals tanzen. Und das sitzt nun mal vor allem in den Staaten. Entschlossen und mit dem Gefühl, es müsse endlich ein Anfang gemacht werden, warf er die Kippe auf den Gehweg. Ich, dachte Wolf. Mann ohne Auto.
Das Foto, das in der Familienwohnung im Flur hängt, zeigt einen eleganten Schlitten vor der prächtigen Kulisse des Schlosses. Der Bräutigam geschniegelt, sein perfekter Anzug betont die breiten Schultern. Sein Haar füllig, das Gesicht frisch, der Ausdruck stolz, sogar triumphierend. Die rechte Hand an der leicht geöffneten Fahrertür des Wagens. Ein Auto, das als Neuwagen die finanziellen Verhältnisse des Paares übersteigen würde. Aber der Bräutigam hat eine geschickte Hand für Gebrauchte. Ein Mann mit Auto und Braut. Es ist die Zeit scharfkantiger Mittelklassewagen mit Plastikleisten und grellen Lackierungen. Der Wagen glänzt krokusblau, Zeichen hoffnungsvoller Lebendigkeit. Der linke Arm des Bräutigams liegt galant um die Braut gelegt. Im weißen Kleid, wie es sich gehört, hält sie den Brautstrauß in beiden Händen, mit einem Gesichtsausdruck, den Wolf nie bei seiner Mutter gesehen hat. Mit diesem Blick beginnt ein neues Leben. Womöglich hat es schon begonnen und Mutter weiß es, obwohl in ihrem Lachen nicht ein Hauch von Mütterlichkeit liegt. Gut, dass Söhne ihre Mütter nicht vor ihrer eigenen Geburt kennenlernen.
Ein Stück entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite tauchte ein Mann auf, der sich um Mund und Nase eine Schutzmaske gebunden hatte. Als ob er fürchtete, das Virus würde mit den Abgasen in den Straßen schweben. Der wusste nicht, dass die Masken gar nichts helfen. Hatte man ja oft genug auf allen Kanälen gehört. Andererseits hatte Wolf gelernt, misstrauisch zu sein. Gerade, was man den Leuten als Wirklichkeit erklärte, war häufig eine Lüge. Sie überzogen das Volk mit Lügen, um von eigenem Versagen abzulenken und um die Gesellschaft in ihrem Sinn zu manipulieren. Vielleicht flogen diese Viren tatsächlich durch die Straßen. Das verschwieg man, um keine Panik aufkommen zu lassen. Man verschwieg vieles. Das war schon immer so gewesen. Der Mann stellte sich an die Bushaltestelle schräg gegenüber und wartete. Dabei tippte er auf seinem Handy herum, umgeben von seltener Stille, trügerischem Frieden. Wolf wunderte sich, wie ruhig er selbst war. Ich müsste aus der Haut fahren. Schreien, laut schreien. Pflastersteine in Fensterscheiben werfen. Stattdessen starre ich in den Himmel. Wieder einmal ein wolkenloser Himmel. Täuscht es, oder herrscht wirklich besseres Wetter als früher? Und liegt es am angeblichen Klimawandel?
Im schmeichelnden Morgenlicht wirkte die Vorstadtstraße geradezu freundlich. In den Vorgärten sah man die ersten zaghaften Frühjahrsblumen. Wolf konnte sich nicht daran erinnern, dies jemals zuvor so empfunden zu haben. Selbst die blitzblanken, hellen und kantigen Geschosswohnungen, die anstelle der abgerissenen Siedlungshäuser gebaut worden waren, mit großen, überdachten Balkonen, wirkten erträglich. Sie waren so teuer, dass man sich nur wundern konnte, woher die Bewohner das Geld nahmen. Er schloss die Augen und hielt das Gesicht in die Frühlingssonne.
Später würde er bei geöffnetem Fenster ein paar Übungen machen. Seitdem das Studio geschlossen hatte, versuchte er jeden Tag, seinen Trainingsstand zu halten, Oberarmmuskulatur, Bauchmuskulatur und so weiter. Er wollte unter allen Umständen in Form bleiben. Denn was es bedeutete, die Form zu verlieren, kannte er zur Genüge aus seiner Jugend. Nachdem Jennifer ausgezogen war, hatte er eigens das kleine Zimmer mit Matten und zwei Geräten eingerichtet. Auf dem Boden lagen Hanteln mit verschiedenen Gewichten. Sollten einmal Gäste kommen, könnte man ihnen einen Fitnessraum zeigen. Allerdings hatte er seitdem keine Gäste gehabt.
Er hatte auch vorher keine Gäste gehabt.
Jennifer hatte seinen Kraftsport unterstützt. Manchmal trainierte sie mit, in einem super outfit, und es machte ihm viel Freude, ihr Ratschläge zu geben. Er genoss es, dass sie ihn als Experten ansah und wenigstens bei diesem Thema auf ihn hörte. Testhalber, um nachzuspüren, wie sich der Gedanke anfühlte, überlegte er, eine neue Kur zu beginnen, sobald das Studio wieder öffnen würde. Ein kleiner Vorrat von Ampullen war noch im Haus, einiges müsste er nachkaufen. Er verwarf den Gedanken. Er war jetzt alt genug um zu erkennen, was für ein Blödsinn das war. Bis vor kurzem hatte er von seiner athletischen, muskulösen Gestalt geträumt. Im Scheinwerferlicht auf der Bühne. An etwa einem Dutzend Wettbewerbe hatte er bisher teilgenommen, gewonnen hatte er nie. Aber es war Blödsinn. Das Zeug, das man einwerfen musste, wirkte auf Dauer wie Gift. Und bitte, wie kindisch ist das denn, seinen Körper aufzupumpen und dann zur Schau zu stellen? Darauf war er nicht angewiesen. Das hatte er inzwischen begriffen, er war ja nicht blöd. Muskelprotzerei! Ein Pokal würde ihm nicht einmal einen Zentimeter darüber hinweg helfen, dass Jennifer ihn verlassen hatte. Und aufstellen würde er den Pokal eh nicht mehr. Es wäre ihm peinlich. Das alles gehörte endgültig der Vergangenheit an. Klar, er würde sich auch weiterhin fit halten. Seitdem Jennifer seinen durchtrainierten Körper nicht mehr bewunderte, stellte er sich wieder gelegentlich vor den Spiegel. Er wollte sich nicht vor sich schämen.
Mit einem bitteren Gefühl stieg er die Treppe zur Wohnung hoch.
In der Küche nahm er die blaue Flasche vom Regal und schenkte sich das Schnapsglas voll. Er brauchte jetzt etwas, das ihn wärmte. Und das ihm half, sich an die neuen Umstände zu gewöhnen. Er würde nun also einige Fahrten nicht mehr mit dem Wagen machen können. Zu Mutter konnte er mit der U-Bahn fahren. Ins Fitnessstudio mit dem Bus. Wenn es jemals wieder öffnete. Zum Arbeitsplatz fuhr er vorerst überhaupt nicht mehr. Seine bisherigen Bewerbungen auf Stellen waren ohne Antwort geblieben. Ich bin derart unbedeutend, dass man mir nicht einmal antwortet, dachte er. Ich muss dem etwas entgegen setzen, etwas, das nicht nur mein eigenes Leben verändert.
Am nächsten Tag zeigte das Handy eine Nachricht von Felix, dem einzigen Freund, der ihm aus der Kindheit geblieben war.
Hi Wolf, ich mache jetzt frei. Mindestens drei Wochen haben sie gesagt. Der ganze Betrieb ist geschlossen, nur die security-Leute arbeiten. Meine Kohle bekomme ich aber trotzdem. Wahnsinn, weiß noch gar nicht, was ich mit der vielen Zeit anfange. Draußen spielen ist ja nicht mehr. Lena muss dagegen mehr arbeiten als je zuvor. Jetzt soll ich mich um alles in der Wohnung kümmern. Oh Mann! Krass beängstigend finde ich, dass sie uns wirklich einsperren. Wie im Krieg.
Hallo Felix! Hauptsache, man steckt sich nicht an. Mich haben sie übrigens rausgeschmissen. Weiß nicht, ob ich etwas neues finde. Vielleicht umschulen. Habe aber keine Ahnung, was ich machen will. Außer dass ich die Reichen nicht noch reicher machen will. Sobald das Virusproblem gelöst ist, könntest mal wieder hier vorbeischauen. Habe ja jetzt Zeit. Und Platz leider auch, wie Du weißt. Ich glaube, das letzte Mal warst Du vorletztes Jahr hier. Habe schon lange keine Tabuwitze mehr von dir gehört. Es gibt wirklich niemanden, der das annähernd so gut rüberbringt wie Du. Ich bin noch immer sehr dankbar, dass Du mein Gejammere ertragen hast, nach der Sache mit Jennifer.
Hallo Wolf. Kein Ding. Dafür sind gute Freunde da. Smiley. Was hält dich dort? Ich könnte mich hier umhören, wenn Du willst.
Wolf sah aus dem Fenster. Die Straße war beängstigend leer. Derselbe Mann mit Nasen-Mund-Schutz wie am Vortag stand an der Bushaltestelle und starrte auf sein Handy. Das verdammte Problem war, dass man dieses Virus nicht sah, wenn es herumflog, dass man es nicht roch, nicht schmeckte und auch sonst keinen Zugang zu ihm fand. Wolf beschloss, sich auch einen Mund-Nasen-Schutz zu besorgen. Wenn man sich nicht anstecken will, muss man für sich sorgen. Man kann nicht auf den Staat vertrauen. Er hatte recherchiert und festgestellt, dass zwar alle offiziellen Stellen behaupteten, Masken würden nicht helfen. Zugleich jedoch hatte er Bilder gesehen aus Asien, wo ausnahmslos jeder damit herumlief. Und warum sollten die alle doof sein. Zuerst hatten die Politfritzen so getan, als gehe sie das Virus nichts an. Jetzt taten sie so, als ob es reiche, Abstand zu halten. Irgendwann wird ihnen die Idee kommen, dass Gesichtsmasken helfen können. Und dann wird es nicht genügend geben. Vielleicht behaupten sie nur deshalb, Masken seien wirkungslos, weil sie keine haben. Er hatte im Netz eine Seite gefunden, die ganze Wahrheit über das Virus. Dort war in aller Klarheit die Funktionsweise eines Mund-Nasenschutzes erklärt und jeder Mensch konnte erkennen, dass man von den Regierenden belogen wurde. Und was das Entstehen dieser Seuche anging, da war mit Sicherheit etwas faul.
Der Bus kam, hielt mit blinkenden Vorder- und Rückleuchten. Der Mann war der einzige Fahrgast. Wolf vermutete, dass er ebenfalls die Wahrheit über das Virus gelesen hatte. Der Bus fuhr wieder an und verschwand am linken Bildrand um die Kurve, unaufgeregt und unauffällig, als ob nichts Besonderes wäre. Autos waren kaum unterwegs. Sicherlich sahen Tausende genauso wie er aus dem Fenster. Man wartete. Mit süßklebrigem Geschmack im Mund. Hoffte, dass sich die Straßen und Plätze wieder mit Menschen füllten. Und die Büros. Bürohochhäuser mit vielen Angestellten darin.
Wolfs Blick ging nach rechts zur Holzbaracke, hinter der sich seine Garage verbarg. Gut, dass er schon vor Beginn der Einschränkungen Einiges besorgt und dort gelagert hatte. Die Gelegenheit war günstig gewesen, und wenn er das Zeug doch nicht brauchen würde, konnte man es problemlos vernichten. Die Garage war unauffällig, mit verschalten, vergrauten Holzwänden. Die ehemals roten Dachpfannen waren auf der Nordseite von Moos überwachsen, auf der Südseite hatten sich gelbe und weiße Flechten angesiedelt. Er beruhigte sich. Kein Mensch würde in dieser Garage irgendetwas suchen. Selbst wenn der Schnüffler auch dort schnüffeln sollte, die Flaschen und Säcke waren unauffällig. Er hatte sie in neutrale Verpackungen umgefüllt und die Originalbehälter weggeworfen.
Jennifer hatte die Garage nur selten und den Dachboden nie betreten. Mehrmals hatten sie über die Ordnung gestritten. Sie hatte sich darüber aufgeregt, wie er die Kartons an der Wand stapelte und wie er die Regale füllte. Sie vereinbarten, dass er die Ordnung in der Garage bestimmte. Wenn Jennifer den Sonnenschirm aus der Garage brauchte, dann sagte sie, leg mir den Sonnenschirm raus. Dann legte er den Sonnenschirm raus. Umgekehrt hatte er schon seit Monaten die Küchenschränke nicht mehr aufgezogen. Auch hier war es zum Streit gekommen. Denn er war mit der angeblichen Ordnung nicht einverstanden gewesen. Etwa mit der Verteilung des Bestecks im Besteckkasten. Die Verteilung der tiefen Teller, der großen und der kleinen flachen Teller im Wandschrank. Er hatte es aufgegeben, sich selbst einen Teller aus der Küche zu holen.
Wolf trat auf die Straße. Kein anderer Mensch war zu sehen und er fühlte sich verlassen und einsam. Er sah sich aufmerksam um. Bevor man in die Welt eingreift, sagte er zu sich, muss man sie beobachten. Er versuchte, ruhig zu bleiben. Schon seit längerem war er fahrig, unkonzentriert, nervös. Was hast du, hatte Jennifer gefragt. Nichts, hatte er geantwortet und zu Boden geblickt. Manchmal hatte er so getan, als hätte er sie nicht gehört oder wäre so beschäftigt gewesen und auf eine Sache konzentriert, dass er nicht antworten konnte.
Erst letztes Jahr hatte er das Garagentor gestrichen, in einer undefinierbaren Farbe zwischen grau, braun und rot, die ihm der Schnüffler vorgegeben hatte.
Sie müssen das Garagentor streichen, Herr Niedring, hatte er zu Wolf gesagt. In derselben Farbe wie unser Tor. Er gab Wolf ein Kärtchen mit der Farbennummer, so dass Wolf im Baumarkt eine Dose mit genau dieser Farbe kaufte.
Du spinnst, warf ihm Jennifer vor. Du lässt dir von dem Blödmann sogar die Farbe vorschreiben? Der soll sein Garagentor doch selbst streichen. Ich glaube nicht, dass wir als Mieter dafür zuständig sind.
Wolf wollte aber keinen Streit mit Hohmann. Der saß am längeren Hebel.
Jennifer war kaum zu beruhigen gewesen. Diese Farbe ist hässlich. Diese Farbe macht schlechte Laune. Ich fühle mich vergewaltigt, wenn ich diese beschissene Farbe an der Garage anschauen muss. Du bist nicht sein Sklave, rief sie. Der verlangt etwas von dir, was er nicht darf. Das kann man dem doch sagen. Dann ist Schluss. Der gehört in seine Schranken gewiesen. Denn was der tut ist ungerecht.
Das fand Wolf auch. Und er hasste Ungerechtigkeit. Aber er wusste nicht, wie er das Gespräch mit Hohmann beginnen sollte, welche Worte die richtigen waren. Und er wollte nicht mit seinem Vermieter im Streit leben. Er fürchtete die Mieterhöhung. Das Streichen des Tores war nach zwei Stunden erledigt. Das war das kleine Problem. Dass Jennifer sich dadurch vergewaltigt fühlte, dass er sich in ihren Augen vergewaltigen ließ, war das große Problem. Seine Überzeugung, es gebe im Leben Wichtigeres als die Farbe des Garagentores, entpuppte sich als Irrtum. Ebenso wie seine Hoffnung, sie würde sich schon wieder beruhigen.
Das enttäuschte Gesicht des Vaters, weil der Neunjährige sich nicht auf das Pferd setzen will. Weil er Angst vor Pferden hat. Angst vor der Höhe. Vater hingegen, auf dem Land aufgewachsen, schwingt sich elegant und kraftvoll in den Sattel, sitzt dort in einer unerreichbaren Höhe und würde in dieser stolzen Körperhaltung und dem wissenden, überlegenen Gesichtsausdruck jederzeit als Generalmajor durchgehen. Von hier oben, behauptet er, hast du den Überblick. Wenn du etwas erreichen willst im Leben, musst du dich auf ein Pferd setzen können. Du musst dich im Leben manchmal durchsetzen. Feiglinge bleiben auf ewig Fußvolk. Wolf ist entschlossen, Reiter zu werden. Wie Vater.
Ein andermal kommt Vater hinzu, als eine Nachbarin Wolf auf der Straße zur Schnecke macht, weil er seit einigen Wochen im Vorbeigehen in der Dunkelheit über ihre Thujenhecke leergetrunkene Kolaflaschen in den Garten warf. Wolf sieht zu Boden, während die Nachbarin sich über seine Unverschämtheit aufregt und vielleicht auf eine Erklärung oder Entschuldigung wartet. Der Vater beruhigt sie, er werde mit dem Sohn sprechen. Das tut er dann auch. Wolf hätte sich wenigstens entschuldigen können, hält er ihm vor. Als der Sohn erklärt, er habe das ihm Vorgeworfene nicht gemacht, es sei vielmehr der Typ mit den gelben Schuhen, der zwei Straßen weiter wohne, der am Grundstück der Nachbarin seine Wurfkünste teste, kann Vater nicht begreifen, warum Wolf das der Nachbarin nicht erklärt hat. Du bist vielleicht ein Held, sagt er noch.
Es schmerzte Wolf im Nachhinein, dass der Vater nicht auf die naheliegende Idee gekommen war, dem Sohn als erstes den Ritt auf einem Pony anzubieten.
Er mochte sich nicht vorstellen, was Vater zu der Aktion mit dem Garagentor gesagt hätte. Nein, er war bisher kein Held gewesen. Bedauerlicherweise liebte Jennifer das Heldenhafte.
Plötzlich kam eine Gestalt entgegen. Wolf erschrak. Dann bemerkte er, dass es dafür keinen Grund gab. Es war eine Frau mit Gesichtsmaske. Er vermied es, ihr in die Augen zu blicken. Sie wirkte unecht, wie fremdgesteuert. Wolf wollte nicht wie fremdgesteuert wirken, aber an der Maske führte kein Weg vorbei, wenn man eine Ansteckung vermeiden wollte. Und das wollte er. Man hörte auch von jungen Menschen, die sich ansteckten und schwer erkrankten. Wahrscheinlich würde es bald für ihn keine Rolle mehr spielen. Er war ein Risikokandidat. Er lachte. Die Frau, nur noch wenige Schritte von ihm entfernt, erschrak, wich aus und starrte ihn im Vorübergehen besorgt an.
Am Automaten holte er sich eine Schachtel seiner Lieblingsmarke. Und sträubte sich vergeblich gegen die Wut, die jedes Mal in ihm aufstieg, wenn er daran dachte, dass Mentholzigaretten bald nicht mehr verkauft werden durften. Niemand hatte ihn gefragt, ob er damit einverstanden war. Niemand hatte ihn davon überzeugt, dass das eine sinnvolle Maßnahme war. Er wusste nicht einmal, wer genau diese Bevormundung beschlossen hatte. Das würde man auch nicht herausbekommen. Denn sie steckten alle unter einer Decke. Und wieder ging ein Stück Freiheit verloren. Er nahm sich vor, einen Teil des neuen Bargelds in einen Mentholvorrat zu investieren.
Zu seiner Überraschung trug die Apothekerin eine Nasen-Mund-Maske, weiß, nach vorne spitz zulaufend. Er fühlte sich bestätigt und stellte sich in der Reihe hinter zwei anderen Kunden an. Die Apothekerin war ganz in weiß gekleidet. Das lange blonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der bei stärkeren Kopfbewegungen wippte. Sie mochte etwa sein Alter haben. Entschieden, aber sanft und geschmeidig bewegte sie sich zwischen dem Tresen und den Wandschränken hin und her. Ihre großen und klaren Augen, das Einzige, das man von ihrem Gesicht sah, zogen Wolf magisch an.