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Urlaub von der Rente Seit über einem Jahr gibt es in dem beschaulichen Klein-Freudenstadt keine ungeklärten Todesfälle mehr. Eigentlich eine gute Nachricht für alle Bewohner des Örtchens in der Uckermark, nur für Angela Merkel nicht. Sie sehnt sich nach dem Thrill der Ermittlung, denn nichts hatte der Rentnerin so viel Freude bereitet wie die Detektivarbeit. In ihrer Verzweiflung hat sich Angela ein neues Hobby gesucht, von dem sie allerdings noch nicht einmal ihrem Ehemann Achim erzählt hat. Die gebuchte Ostsee-Kreuzfahrt soll etwas Abwechslung verschaffen – und ganz nebenbei Erkenntnisse für ihr neues Hobby liefern. Denn Angela und ihre Begleiter machen nicht irgendeine Kreuzfahrt, sondern eine Krimi-Kreuzfahrt. Dementsprechend sind neben der Ex-Kanzlerin, Achim und dem geliebten Mops auch diverse Krimiautoren unterschiedlichster Couleur mit an Bord. Als jedoch kurz nach dem Auslaufen der Megastar des deutschen Thrillers unerwartet zu Tode kommt, läuft Angela zu neuer Höchstform auf.
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Seitenzahl: 341
David Safier
Roman
URLAUB VON DER RENTE
Eine Seefahrt, die ist lustig. Diese Seefahrt, die bringt Tod. Die Krimi-Kreuzfahrt auf der Ostsee, die Angela für sich und ihre Lieben gebucht hat, soll der Ex-Kanzlerin etwas Abwechslung verschaffen. Doch die Traumschiffreise verläuft ganz anders als im Reiseprospekt angekündigt. Gleich am ersten Abend kommt der Megastar des deutschen Thrillers Florian Watzek unerwartet zu Tode. Und die anderen erfolgreichen Krimi-Autoren, die sich an Bord befinden, zählen zu den Hauptverdächtigen. Endlich schlägt wieder die Stunde für die Meisterdetektivin.
Ihr dritter und verzwicktester Fall bringt Miss Merkel in tödliche Gefahr.
«Immer witzig, klug, spannend und erhellend.»
Hape Kerkeling
David Safier, 1966 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Autoren der letzten Jahre. Seine Romane, darunter «Mieses Karma», «Jesus liebt mich», «Happy Family» und «MUH!», erreichten Millionenauflagen im In- und Ausland. Die ersten beiden Bände seiner Krimireihe «Miss Merkel» rund um die Ex-Kanzlerin führten ebenfalls die Bestsellerliste an. Als Drehbuchautor wurde David Safier unter anderem mit dem Grimme-Preis sowie dem International Emmy ausgezeichnet. Er lebt und arbeitet in Bremen, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Originalausgabe
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg
Coverabbildung Oliver Kurth
ISBN 978-3-644-01083-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Marion, Ben und Daniel. Ich liebe euch von ganzem Herzen.
«Gib Gas, Puffeline. Wir müssen uns beeilen!», keuchte Achim, und Angela erwiderte schnaufend: «Alte Dame ist doch keine Ostseepipeline.»
«Das Schiff tutet schon!», stöhnte Angelas Ehemann auf, der zwei alte grüne Reiserucksäcke über seinen schmalen Schultern trug, während sie Mops Pupsi auf dem Arm hatte.
«Ich glaube nicht», sagte Angela keuchend, «dass ‹tutet› der korrekte maritime Fachbegriff für dieses Geräusch ist.»
«Und sie schließen schon die Gangway», rief Achim voller Panik.
Das Schiff war bereits in Sichtweite, und in der Tat begannen zwei Angestellte der Kreuzfahrtlinie gerade damit, das Gitter am Eingang der überdachten, vollverglasten Brücke, die auf die Elegant Princess führte, zu schließen. Markerschütternd ließ das Kreuzfahrtschiff mit Platz für 412 Passagiere sein Horn ein weiteres Mal ertönen. Das Schiff war schon ein wenig in die Jahre gekommen. Am Bug blätterte an der ein oder anderen Stelle die blaue Farbe ab und legte den Rost darunter frei. Aber Angela war das Äußere einerlei. Auf der Elegant Princess wurde eine ganz besondere Ostsee-Kreuzfahrt veranstaltet, die sie zu ihrem persönlichen Traumschiff machte.
«Hey! Hey!», rief Achim den Männern zu. «Warten Sie auf uns!»
«Sie können dich nicht hören!», japste Angela und an den Mops gerichtet: «Still, Pupsi», denn er bellte die kreischenden Möwen an, die sich nicht einmal im Ansatz davon beeindrucken ließen. Es war, als ob Friedrich Merz die Bundesregierung kritisierte.
«Wir hätten», stimmte Bodyguard Mike, der mit vier Koffern beladen war und dessen Hemd aus der schwarzen Anzughose hing, nun ins Gekeuche ein, «nie die Deutsche Bahn nehmen sollen. Dreimal umsteigen. Dreimal! Da kann man ja gleich ein Hotelzimmer auf der Strecke buchen.»
In der Tat war die Fahrt von Angelas neuer Wahlheimat, dem uckermärkischen Klein-Freudenstadt, nach Kiel eine Tour de Farce gewesen. Dabei hatte Angela bei der Planung bereits Verspätungen eingerechnet. Sie wusste ja, dass die Deutsche Bahn nur 54 Prozent der Züge pünktlich ins Ziel brachte und bei der Berechnung sogar noch mehr trickste als das griechische Statistikamt auf dem Höhepunkt der Eurokrise. Womit Angela jedoch nicht gerechnet hatte, waren die vielen kleinen Hindernisse, die die Bahn für ihre Kunden bereithielt. Als da wären: der Trick des kurzfristigen Bahnsteigwechsels. Das Phantom des Schienenersatzverkehrs. Das Wunder der umgekehrten Wagenreihung. Und beim letzten Umstieg in Hamburg erlebte die kleine Reisegruppe das noch größere Wunder der angetäuschten umgekehrten Wagenreihung: Angesagt wurde eine umgekehrte Wagenreihung, woraufhin alle Reisenden auf dem ohnehin überfüllten Gleis mit ihren Koffern hektisch in ihre neuen Abschnitte liefen, nur um dort zu erfahren, dass nun doch die richtige Wagenreihung galt, und alle noch hektischer wieder in den ursprünglichen Abschnitt zurückhetzten. Es war erstaunlich, dass dabei auf den engen Bahnsteigen des Hamburger Bahnhofs nicht massenweise Menschen auf die Schienen purzelten.
Bei der Fahrt von Hamburg nach Kiel im stickigen Zug mit ausgefallener Klimaanlage kam es zu allem Überfluss auch noch zu mehreren Halten auf offener Strecke. Anfangs gab es noch Erklärungsversuche des tapferen Zugführers, die von «Oberleitungsschaden» über «Schafe auf den Gleisen» zu «Ich habe auch keine Ahnung, warum wir jetzt nicht weiterfahren dürfen» reichten. Beim letzten ungeplanten Halt sagte der verzweifelte Zugführer mit unverhüllter Ironie: «Wegen Verzögerungen im Betriebsablauf wird sich der Betriebsablauf verzögern.»
Hach, es war schwer, bei so einer fehlerhaften Organisation keine Ostalgie-Gefühle zu entwickeln.
«Wir hätten mit dem Auto fahren sollen», meldete sich nun auch Angelas Freundin Marie zu Wort, die einen Buggy mit ihrem mittlerweile knapp zwei Jahre alten Sohn Adrian Angel schob. In ihrem geblümten Sommerkleid mit der Jeansjacke darüber sah die Afrodeutsche von allen Mitgliedern der kleinen Reisegruppe am wenigsten derangiert aus.
«Das ganze Gepäck hätte niemals in das kleine Elektroauto gepasst, das sich Frau Merkel als Dienstwagen ausgesucht hat», schnaufte Mike nicht ohne vorwurfsvollen Seitenblick in ihre Richtung. «Außerdem gibt es auf dem Weg keine einzige Ladestation.»
Angela fühlte sich schuldig. So wie sie sich im letzten Jahr immer häufiger für irgendwelche Unzulänglichkeiten im Land verantwortlich fühlte, obwohl sie doch ihrer Meinung nach in ihrer Amtszeit alles ihr nur Mögliche getan hatte, um Deutschland voranzubringen. Aber es fiel nun mal schwer, sich selbst als erfolgreiche Regierungschefin a.D. zu sehen, wenn man bei einer Fahrt von der Uckermark nach Kiel kaum mehr als dreißig Sekunden am Stück Netzempfang hatte. Ganz zu schweigen von der Presse, die ihr quasi jeden Tag all ihre Versäumnisse an den Kopf warf. Die Journalisten taten fast so, als hätte sie höchstpersönlich die defekten Puma-Panzer zusammengeschraubt. Das Schlimmste für sie war, dass sie nichts mehr machen konnte, um die Fehler der letzten 16 Jahren zu beheben. Als Rentnerin konnte sie sich nur eine andere Tätigkeit suchen, in der sie den Menschen ein wenig Freude bereitete. Und sie wusste auch schon, welche das sein sollte!
«Hat der Hund etwa gepupst?», drehte sich Mike, der schräg hinter Angela ging, angewidert zur Seite.
«Ein Bäuerchen gemacht», erklärte Achim, der nun ebenfalls nach Luft rang.
«Bäuerchen?»
«Von der Uckermärker Leberwurst, die Angela ihm so gerne gibt, die extra Grobe.»
«Ich hasse meinen Job», murmelte Mike leise. Irgendwann müsste Angela ihm sagen, dass sein leises Murmeln in der Anwesenheit seiner Vorgesetzten eindeutig zu laut war.
«Du hättest», schnaufte Marie, «auch durchklingeln können, dass wir uns verspäten. Der Kapitän hätte garantiert auf dich gewartet.»
«Du weißt, ich will solche Extrawürste nicht», erwiderte Angela.
«Aber für die Wagner-Festspiele lässt du dir gerne die besten Karten geben», lächelte Marie Angela zu. Angelas beste Freundin hatte die Eigenschaft, ihre moralischen Widersprüche auf eine Weise aufzudecken, die sie ihr nie übel nehmen konnte.
«Die Gangway ist zu», sagte Achim und blieb abrupt stehen. Beinahe wäre Angela aufgelaufen, sie konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen, stolperte so allerdings in Mike hinein. Pupsi jaulte auf, und Mike ließ die Koffer fallen. Sie landeten auf seinen Füßen.
«Aua!», rief er.
«Es tut mir leid», sagte Angela.
«Und mir weh», murmelte Mike wieder nicht halb so leise, wie es in Anwesenheit seiner Vorgesetzten angemessen wäre.
«Wir müssen wohl umkehren», kam Marie mit dem Buggy nun ebenfalls zum Stehen.
«Ich setze mich garantiert in keinen Zug mehr», entfuhr es Mike, der mit schmerzverzerrtem Gesicht mal auf dem einen, mal auf dem anderen Fuß hüpfte.
«Dazu müsste man auch erst mal einen Sitzplatz finden», sagte Achim und strich dabei tröstend dem Mops über den Kopf.
«Sieht so aus», sagte Marie zu Angela, «als ob es auf eine andere Kreuzfahrt hinauslaufen wird.» Sie deutete auf die beiden Angestellten, die die verschlossene Gangway hochliefen.
«Ich will keine andere Kreuzfahrt machen. Nur diese Krimi-Kreuzfahrt!», erklärte Angela, die in der Tat für keine andere ihren CO2-Fußabdruck vergrößern würde. Der war nach all den Jahren in Regierungsfliegern ohnehin schon so groß wie der von Burkina Faso.
«Nur weil du keine echten Morde mehr zum Lösen hast, liest du so gerne Krimis», lächelte Marie. «Das kannst du auch zu Hause machen.»
Angela hatte in den ersten Monaten in Klein-Freudenstadt die Morde an dem Freiherrn von Baugenwitz, dessen Ehefrau, einem Friedhofsgärtner und einer Pole-Dancerin aufgeklärt. Doch seit über einem Jahr hatte es in dem kleinen Örtchen keine weiteren ungeklärten Todesfälle mehr gegeben. Eine Tatsache, die alle Bewohner des Dorfs erleichterte, nur Angela nicht. Auch wenn sie wusste, dass man sich als anständiger Bürger keine ungeklärten Todesfälle in der näheren Umgebung oder sonst wo wünschen sollte, sehnte sie sich nach dem Thrill der Ermittlung. Nichts hatte der Pensionärin so viel Freude bereitet wie die Detektivarbeit.
Nichts, außer ihrem neuen Hobby.
Von dem sie noch niemandem erzählt hatte.
Weder Achim noch Marie, schon gar nicht Mike. Nur Pupsi wusste davon. Bei ihm war ihr Geheimnis sicher.
Und eben wegen ihres neuen Hobbys, mit dem sie in Zukunft Menschen Freude bereiten wollte, musste sie jetzt unbedingt auf dieses Schiff!
«Ich sprinte da jetzt hin und sorge dafür, dass sie uns noch auf das Schiff lassen.»
«Du willst … sprinten?», staunte Achim.
«Warum nicht?»
«Nun, sprinten ist nicht das erste Verb, mit dem ich dich in Zusammenhang bringen würde.»
Es war nicht immer schön, einen Ehemann zu haben, der stets ehrlich war.
«Ups, Fettnapf», murmelte Mike.
Achim erkannte nun auch, dass seine Bemerkung ein wenig an Charme zu wünschen übrig ließ, und versuchte sich herauszureden: «Aber es gibt natürlich sehr viele Verben, die man noch viel weniger mit dir in Verbindung bringt: voltigieren zum Beispiel …»
«Puffelchen?»
«Ja?»
«Was haben wir gesagt, was du tun sollst, wenn du in einen Fettnapf getreten bist?»
«Ich soll nicht auch noch darin herumspringen?»
«Genau.»
«Dann werde ich das auch nicht tun.»
«Sehr gut», sagte Angela und drückte ihm Pupsi in die Arme. «Ich sprinte dann mal!»
Mike öffnete den Mund, um wieder etwas zu murmeln, doch Angela sagte: «Und Sie hören endlich auf mit Ihren Kommentaren!»
Der Bodyguard schloss den Mund wieder. Angela knöpfte sich ihren blauen Blazer zu und sprintete los. So schnell sie konnte. Schneller als je zuvor in den letzten dreißig Jahren. Schneller sogar als im letzten Jahr, als eine Mörderin mit einer Armbrust hinter ihr her gewesen war. Sie ignorierte die Seitenstiche. Sie ignorierte die Schnappatmung. Sie ignorierte die Wade, die sich langsam zusammenzog. Sie verfluchte sich nur selbst, dass sie ihren Personal Trainer gleich beim ersten Training mit den Worten entlassen hatte: «Ich mag es nicht, wenn jemand grinst, während ich mich an einem Klappmesser versuche.»
Als Angela die Gangway erreichte, war sie völlig außer Atem, aber auch erleichtert: Die Verbindung zur Elegant Princess war noch angedockt. Die beiden Angestellten der Gesellschaft waren jedoch nicht mehr zu sehen. Dafür aber ein Mann, der aus dem Bauch des Schiffes zu Angela blickte, sie offensichtlich erkannte und sofort die Rampe herunterstürmte. Er war schlank, trug einen dunklen Anzug, darunter ein graues Hemd. Bei ihm handelte es sich um einen jener Slim-Fit-Mittvierziger, die gerne als Anfang 30 durchgehen wollten, wie Angela sie aus der FDP kannte. Nur war dieser Mann, das wusste sie aus dem Programmheft der Krimi-Kreuzfahrt, kein FDP-Politiker, sondern der vielfache Nummer-eins-Bestseller-Autor Florian Watzek. Er schrieb Psychothriller, in denen auf so kreative Art und Weise gefoltert und gemordet wurde, dass die CIA in ihren Geheimgefängnissen im Libanon gestaunt hätte. Marie mochte seine Romane. Für Angela waren sie nichts, hatte sie doch in ihrer Amtszeit zu viele Berichte über die Grausamkeiten auf der ganzen Welt gelesen. Sie brauchte so etwas nicht abends im Bett vor dem Einschlafen.
Watzek erreichte die Gangwaytür und rüttelte daran, konnte sie jedoch nicht öffnen. Angela rief ihm durch die Scheibe zu: «Sagen Sie an der Rezeption Bescheid, dass wir noch an Bord wollen.»
«Das mache ich gerne, Frau Merkel», rief Watzek enthusiastisch zurück.
«Danke», schnaufte Angela erleichtert.
«Wenn Sie auch eine Kleinigkeit für mich tun.»
Angela staunte.
«Erlauben Sie mir nachher, ein Selfie mit Ihnen für meine Social-Media-Accounts zu machen?» Watzek lächelte dabei so charmant, dass Angela ihm einfach nicht böse sein konnte.
«Einverstanden», antwortete sie durch die Scheibe. Was war schon dabei, sie hatte in ihrer aktiven Zeit so viele Selfies mit sich machen lassen, da kam es auf ein weiteres nicht an.
Wenige Minuten später knipste Florian Watzek an der Rezeption der Elegant Princess Selfies mit der ehemaligen Bundeskanzlerin. Es sollten die letzten in seinem Leben werden.
«Und jetzt noch mal im Querformat», grinste Watzek in die Kamera und legte dabei seinen durchtrainierten Arm um Angela. Sie machte lächelnde Miene zum nervigen Social-Media-Spiel, Watzek knipste das allerletzte Foto seines Lebens und rief dann: «Sophie!»
Eine junge brünette Frau in grauem Langrock, grauem Langjackett und klobigen schwarzen Schuhen schrak auf. Sie war so unscheinbar, dass man sie in der Rezeptionshalle selbst dann noch übersehen hätte, wenn sich nicht unzählige Passagiere um Angela und Watzek geschart hätten.
«Ja, Florian?», antwortete die Brünette mit piepsiger Stimme. Angela betrachtete sie genauer: Hinter dem unscheinbaren Äußeren versteckte sich eine hübsche junge Frau, die nicht mal im Ansatz zu ahnen schien, wie hübsch sie war.
«Fang!», Watzek warf ihr das Handy zu. Sophie fing es so halb, aber das Handy purzelte ihr aus der Hand und fiel zu Boden.
«Sophie, Sophie, Sophie», sagte Watzek charmant tadelnd mit einem Blick in die Runde, «ich gebe dir eine Gehaltserhöhung, damit du dir eine neue Brille leisten kannst.»
Die Passagiere lachten und klatschten, während die junge Frau, die offensichtlich seine persönliche Assistentin war, beschämt das Handy aufhob. Die graue Maus hätte sich am liebsten unter dem blau-weißen, an einigen Stellen schon abgewetzten Teppichboden verkrochen.
«Poste bitte das Bild von mir und der Bundeskanzlerin gleich auf allen Kanälen!» Watzek wandte sich an die Passagiere: «Und Sie alle können das dann gerne auf Social Media liken. Auf Instagram und Twitter @FlorianWatzek und auf Facebook einfach nur ‹Florian Watzek›. Wir haben da auch gerade ein Gewinnspiel zu meinem neuen Roman Der Henker. Ich verlose unter meinen 739838 Followern fünf signierte T-Shirts aus eigener Kollektion.» Er drehte sich zu Angela: «Na, Frau Merkel, was meinen Sie, um was es in dem Buch geht?»
«Ich schätze mal um einen Henker.»
«Sie sind echt scharfsinnig», lächelte Watzek auf seine spitzbübische Art. Die Menge lachte erneut. Angela fragte sich, ob sie seine Bemerkung mit einem ‹Dann ist es ja ein sehr fantasievoller Titel› kontern sollte – sie hatte Erfahrung mit präpotenten Männern –, ließ es aber bleiben, schließlich war sie nicht auf Krimi-Kreuzfahrt, um irgendjemandem die Show zu stehlen, sondern aus ganz anderen Gründen. Stattdessen sah sie der Assistentin hinterher, die in einen der Fahrstühle huschte, und dachte, diese Frau wirkt, als hätte sie sich aus einer Schwarz-Weiß-Welt in die unsere verlaufen.
«Ich will ein Autogramm!», rief eine Passagierin mittleren Alters, die einen orangenen Begrüßungscocktail in der Hand hielt.
«Ich auch», rief eine weitere Passagierin mittleren Alters mit einem erdbeerroten Cocktail. Nach und nach stimmten immer mehr Frauen gleichen Typs mit verschiedenfarbigen Cocktails ein, bis Angela sich an die Menge wandte und erklärte: «Ich gebe keine Autogramme, ich bin privat hier!»
«Doch nicht von Ihnen!», rief die erste Passagierin. «Von Flori!»
«Flori! Flori! Flori!», riefen die Frauen, offensichtlich war das der Kosename für ihr Idol. Sie begannen, Watzek zu bedrängen, als wären sie noch Teenager und Watzek Nick Carter von den Backstreet Boys. Angela kämpfte sich durch die Menge ins Freie. Dort standen am Rande der Rezeption Achim, Mike und Marie samt dem schlafenden Adrian Angel im Buggy und dem schnarchenden Mops Pupsi zu deren Füßen. Sie hielten bereits die Kabinenkarten in den Händen. Und Marie lächelte amüsiert: «Das sind die Watzis.»
«Watzis?», fragte Angela.
«So nennen sich die Hardcore-Watzek-Fans.»
«Dann sind sie in der Namensgebung genauso originell wie er.»
«Du bist ja nur neidisch», grinste Marie, «dass du nicht das Zentrum des Geschehens bist.»
«Das macht mir nichts aus.»
«Nein, natürlich nicht», grinste Marie noch mehr.
«Das kannst du mir glauben.»
«Das glaub ich dir ja auch», sie hörte gar nicht mehr auf zu grinsen.
«Wirklich!»
«Ja», Marie konnte sich kaum verkneifen, loszuprusten, und Angela fühlte sich ertappt. Sie hatte immer gedacht, der Bedeutungsverlust in der Rente würde ihr nichts ausmachen. Die meiste Zeit stimmte das auch, aber wenn er ihr so vorgeführt wurde wie gerade eben, war es halt doch nicht so einfach, ihn auszuhalten.
«Watzek», sagte Angela, «wird hier aber auch nicht lange das Zentrum des Geschehens sein.»
«Wieso? Die anderen Krimi-Autoren, die hier auftreten, sind bei Weitem nicht so erfolgreich», erwiderte Marie.
«Na dann», sagte Mike, «werden sie den Kerl genauso wenig ausstehen können wie ich. Wie der seine Angestellte behandelt hat …»
«Du hast so ein gutes Herz», gab Marie ihm ein Küsschen. Mike wurde rot, wie immer, wenn seine Freundin ihn in Anwesenheit seiner Dienstherrin liebkoste.
«Es gibt noch einen Stargast», sagte Angela, «der berühmter ist als Watzek!»
«Der geheimnisvolle X», mischte sich Achim ins Gespräch ein.
«Oder die geheimnisvolle X», strahlte Angela. «X ist die Nummer eins im Programm und muss daher noch erfolgreicher sein als Watzek.»
«Erfolgreichere Autoren als ihn gibt es in Deutschland nicht», warf Marie ein.
«Also ist sie …»
«Oder er», warf Achim ein.
«… womöglich Engländerin», ließ Angela sich nicht beirren. Sie hoffte insgeheim, dass es sich beim Stargast X um Penny Plimpton handelte, die die neuen Geschichten von Agatha Christies Meisterdetektivin Miss Marple schrieb. Es wäre ein Traum, wenn Plimpton einen der Schreibworkshops, die auf der Reise angeboten wurden, leiten würde. Näher an die verstorbene Großmeisterin Agatha Christie könnte man gar nicht kommen, um etwas über das Krimischreiben zu lernen.
Krimis schreiben.
Das war es, was Angela wollte und bisher niemandem anvertraut hatte.
Aber sie wollte es exzellent tun, und dafür musste sie von den Besten lernen!
«Wir werden sehen, wer X ist», sagte Marie. «Er oder sie wird heute Abend beim Dinner vorgestellt.»
«Vorher», sagte Achim, «müssen wir erst mal unsere Kabinen finden.»
«Und die Rettungsübung mitmachen», ergänzte Marie, die sich vor der Abfahrt diverse Kreuzfahrtdokus im Internet angesehen hatte, um sich über die Abläufe zu informieren.
«Rettungsübung?», staunte Mike. «Gehen die etwa davon aus, dass der Kahn untergehen kann?»
Angela musste schmunzeln. Es war immer wieder überraschend, wovor ihr Personenschützer, der keinem Attentäter aus dem Weg gehen würde und Marie, ihr Kind und den Mops bereits todesmutig vor einer Granate gerettet hatte, so Angst hatte. Bei ihrer letzten Mordermittlung hatte er sich nachts auf dem Friedhof von Klein-Freudenstadt vor Geistern gefürchtet.
«Keine Sorge», nahm Marie die Hand ihres Freundes, «das hier ist nicht die Titanic.»
«Das will ich stark hoffen», Mike hob die vier Koffer hoch und ging in Richtung Aufzug.
«Er hat», lächelte Marie Angela zu, «mit mir den Titanic-Film von James Cameron gesehen und am Ende geweint. Er ist so süß.»
Angela lächelte ihre Freundin an. Vielleicht war das Größte, was sie in ihrem Leben zustande gebracht hatte, nicht der europäische Rettungsschirm oder die in ihren Augen unter den gegebenen Umständen recht ordentliche Bewältigung der Coronakrise gewesen, sondern die Liebe dieser beiden Menschen ermöglicht zu haben.
«Aber leider», sagte Marie betrübt, «muss ich ihm das Herz brechen.»
«Du musst was?», Angela traute ihren Ohren nicht.
«Er will mir einen Antrag machen.»
«Hat er dir das gesagt?»
«Ich habe in seinem Gepäck eine Schachtel mit einem Ring gefunden.»
«Du hast sein Gepäck durchsucht?»
«Ich habe ihm eine Donald-Duck-Badehose gekauft, damit er auch mal was Buntes anzieht, und wollte sie als Überraschung in seiner Tasche verstecken.»
«Du kaufst ihm eine Donald-Duck-Badehose?»
«Das ist gerade nicht der Punkt.»
«Nein, der Punkt ist, dass du ihn nicht heiraten willst», sagte Angela mitfühlend.
«Nicht kann», korrigierte Marie betrübt.
«Warum?»
«Ich habe viel zu viel Angst davor.»
Angela verstand: Maries Eltern waren bei einem Autounfall gestorben und sie danach in einem Waisenhaus groß geworden. Die Leiterin wurde zu ihrer Ersatzmutter, aber auch die verstarb früh. Für Marie war eine enge Bindung gleichbedeutend damit, für immer verlassen zu werden.
«Aber wenn ich seinen Antrag ablehne», Marie begann zu zittern, «wird er vielleicht mit mir Schluss machen.»
Angela erkannte das Dilemma und antwortete: «Ich werde mit Mike darüber reden, dass er ihn vorerst nicht macht.»
«Du bist die Beste!», Marie drückte ihre Freundin an sich, griff nach dem Buggy und ging erleichtert zu den Aufzügen.
«Du hast es schon wieder getan, Puffeline», raunte Achim ihr zu.
«Was denn?»
«Dir eine extrem schwere, eigentlich unlösbare Aufgabe gesucht.»
«Aber Mike …»
«… wird damit nicht umgehen können.»
«Wieso nicht?»
«Er denkt ohnehin, er sei nicht gut genug für Marie. Und wenn sie seinen Antrag gar nicht erst hören will, wird er es als Gewissheit nehmen.»
«Wie kommst du darauf?»
«Das hätte ich auch gedacht, wenn du meinen Antrag nicht angenommen hättest», antwortete Achim und gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange. Dann stupste er Pupsi mit dem Fuß an, damit er aufwachte, und machte sich mit ihm auf den Weg in den Fahrstuhl.
Angela blickte ihm nach, bis sich die Fahrstuhltür hinter den beiden und ein paar der Watzis schloss, und dachte sich: Männer und ihr Selbstwertgefühl – das letzte ungelöste Rätsel der Menschheit.
Auch Angelas und Achims Außenkabine mit kleinem Balkon hatte ihre besten Tage schon gesehen, so etwa im Jahre 1982. Die Einrichtung war kein allzu schöner Traum aus Braun und Orange. Auf dem orangenen Teppichboden standen ein schlichtes braunes Doppelbett, ein noch schlichterer brauner Schrank sowie ein kleines braunes Tischchen mit einem ebenfalls braunen Stuhl. Als Achim sich daraufsetzte, um Englisch zu lernen, wackelte er gefährlich. Sein Leben lang hatte Achim sich geärgert, dass er in der Schule zu DDR-Zeiten nur Unterricht in Russisch bekommen hatte und deshalb all seine heiß geliebten Rocksongs aus den 60ern kaum verstand. Jetzt in der Rente hatte er endlich die Zeit dafür, sich eine neue Sprache anzueignen, musste er sich doch nicht mehr mit seinem Fachgebiet, der Quantenchemie, beschäftigen. Achims selbst gewählte Lernmethode war, sich mit Grammatikheft und Wörterbuch über die Songtexte zu beugen. Auf diese Weise hatte er schon mal herausgefunden, dass es im Lied Zabadak in der Textzeile Shai, Shai, Skagalak nicht, wie von ihm jahrzehntelang vermutet, um einen Chai-Tee ging, der aus irgendwelchen Gründen auf dem Skagerrak vor Jütland getrunken wurde, sondern die Worte im Englischen genauso wenig Sinn ergaben wie der Brexit.
Angela machte die Kargheit der Kabine nichts aus. Wenn man wie sie als Kanzlerin ständig in 5-Sterne-Hotels unterwegs gewesen war, wusste man, dass man auch in deren Zimmern besser in Schuhen über den Teppich ging. Außerdem freute sie sich über das Bullauge in der Wand neben der Tür zum Balkon, aus dem man den Hafen überblicken konnte. Am meisten begeisterte sie jedoch, dass auf dem Bett neben dem Täfelchen Begrüßungsschokolade das aktualisierte Programmheft der Reise lag. Sie ergriff es sofort in der Hoffnung, dass sich X wirklich als Penny Plimpton erweisen würde. Leider stand in dem Heftchen lediglich, dass das Geheimnis um X gleich nach dem Auslaufen beim Dinner gelüftet werden sollte. Sie musste sich also noch ein wenig gedulden, so schwer es auch fiel. Das Letzte, worauf Angela in ihrem Leben so hingefiebert hatte, war der Zapfenstreich zu ihrem Amtsende gewesen. Hach, sie konnte sich immer noch diebisch darüber freuen, dass sie eine Bundeswehrkapelle dazu gebracht hatte, Du hast den Farbfilm vergessen zu spielen.
Angela las sich durch, welche Autoren final für das Programm feststanden. An Nummer eins gesetzt war natürlich Florian Watzek. Über ihn stand zu lesen:
Florian Watzek
Der Megastar des Psychothrillers wurde 1976 in Pirmasens geboren, studierte Medizin und weiß seitdem, wie man mit Skalpellen Grusel verbreiten kann. Sein Debütroman ‹Das Skalpell› stürmte die Spitze der Taschenbuchcharts und hielt sich dort 263 Wochen. Auch seine weiteren Romane ‹Das Display›, ‹Der Amokläufer› und ‹Das Badewasser› wurden Megaseller. Derzeit wird sein Roman ‹Impfung›, wie zuvor schon die Romane ‹Taxi› und ‹WLAN›, für Netflix als Mini-Serie produziert. Florian Watzek lebt ohne Frau, Kinder und Hund in Düsseldorf.
Kein Wunder, dachte sich Angela, dass so viele Frauen hofften, die Lücke in Watzeks Leben zu füllen, wenn er sie so öffentlich in seiner Kurzbiografie annoncierte.
An zweiter Stelle im Programm war das Foto eines älteren fröhlichen Mannes in Latzhose mit wilden weißen Einstein-Haaren abgebildet:
Jochen ‹Jockel› Fuchs
Der 1958 in Erlangen geborene Autor lebt seit über 30 Jahren auf seiner Wahlheimatinsel Rügen. Seine mittlerweile schon auf 33 Bände angewachsene Reihe von Inselkrimis mit dem gehbehinderten und einäugigen ExPolizisten Alexander Pommer, der stets den Durchblick hat, wurde schon in 15 Sprachen inklusive Plattdeutsch übersetzt. Für RTL wurde sein Debütroman ‹Inselhass› abgedreht, ‹Inselpanik› und ‹Inselkoller› sollen folgen. Jochen ‹Jockel› Fuchs engagiert sich für den Kampf gegen den Klimawandel und den Widerstand gegen das Artensterben durch Windräder.
Immer noch war nicht bekannt gegeben worden, welche Starautoren die Schreibworkshops betreuen würden, die Angela besuchen wollte, aber sie hoffte sehr, dass sie nicht bei Fuchs landen würde. Sie hatte keine Lust, sich ihre Versäumnisse in Sachen Klimaschutz auch noch auf Reisen vorhalten zu lassen. Abgesehen davon: Wenn Fuchs ökologisch so engagiert war, was machte er dann ausgerechnet auf einer Kreuzfahrt?
Lisa Adler
Die Gastgeberin der Reise …
Angela fiel wieder ein, dass die rothaarige Autorin mit den Sommersprossen, die sie von ihrem Foto aus mit ihren rosigen Pausbäckchen hausmütterlich anlächelte, zugleich die Kreuzfahrtorganisatorin war. Sie war, so hatte Marie in einem Internetklatschmagazin gelesen, mit dem Kapitän der Elegant Princess verheiratet. Einem Mann, der aussehen sollte wie Bill Clinton, was Angela, die den ehemaligen Präsidenten ja persönlich kannte, neugierig auf ihn machte.
… würde niemals ihre schwäbische Heimat verlassen wollen. Sie schreibt die beliebte Reihe um die italienische Austausch-Kommissarin Raffaela Bologna, die in der Schwäbischen Alb ermittelt und mit ihren Kochkünsten die Dorfbewohner nicht nur für sich gewinnt, sondern auch dazu bringt, ihre Geheimnisse zu verraten. Die Verfilmungen ihrer Romane ‹Bolognese-Skandal›, ‹Amarettini-Verschwörung›, ‹Carpaccio-Komplott›, ‹Insalata Mafia› und ‹Pizza Pesto e Fiasco› waren allesamt Schlager an den Kinokassen.
Zweierlei fiel Angela an den bisherigen Biografien auf. Das Alter der Männer wurde erwähnt, aber nicht jenes der Frau, die schätzungsweise Anfang 50 war. Und es war anscheinend enorm wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Romane verfilmt wurden. Als ob die Bücher ohne die Bestätigung des anderen Mediums keinen Wert besäßen.
Würde sie selbst es denn wollen, dass der Detektiv, den sie sich ausgedacht hatte, auch auf Film gebannt würde? Sie musste aufhören zu träumen. Bevor sie an so etwas dachte, musste sie erst einmal ihren Krimi, von dem sie noch nicht mal das sechste Kapitel beendet hatte, fertig schreiben.
Detlev Reiter
Mit dem Roman ‹Der Tote mit dem Hakenkreuz› begann der 1983 in Iserlohn geborene Detlev Reiter die Reihe um den Pathologen Killian Groth, der während der Herrschaft des Nazi-Regimes in Deutschland sowie in der Nachkriegszeit Mordfälle aufklärt. Seine weiteren Romane ‹Mordsache Hitler›, ‹Die Ufa-Leiche› und ‹Mord im Lager› wurden mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet, darunter dem ‹Krimi-Preis am Bande›, dem ‹Krimi-Preis der Barmer Ersatzkasse› und dem ‹Deutschen Krimi-Preis in der Kategorie deutschsprachige Krimis›. Jeden seiner Bände gibt es im Übrigen auch als Graphic Novel zu erwerben.
Interessant, die Romane Reiters, der auf dem Foto aussah wie ein unterbezahlter Germanistikdozent, wurden, das wusste Angela als fleißige Feuilletonleserin, schon seit Jahren als amerikanische Prestige-Serie für den Sender HBO verfilmt. Warum gab er als einziger Autor nicht mit seinen Verfilmungen an? Und betonte stattdessen die Graphic Novels? Sie nahm sich vor, Reiter in einer ruhigen Minute danach zu fragen.
Unter dem blassen Mann war das Foto eines älteren Herrn abgedruckt, der aussah wie ein geselliger wohlhabender Salonkommunist, der sich im Ruhestand gerne in der Sonne bräunte, noch lieber gut speiste und sich mit guten Weinen auskannte:
Jean-Claude Luberon
ist das Pseudonym des 1955 in Bad Salzuflen geborenen ehemaligen Verlegers des Schiffer-Verlags Sven Ding. Seine Romane rund um den in der Provence ermittelnden Inspektor Harold Maude wurden bereits für ARD, ZDF und RTL plus verfilmt. Zudem wurde er von der Region Provence aufgrund der wundervollen Landschaftsbeschreibungen in seinen Krimis zum ‹Chevalier de Provence› ernannt. Unter seinem Klarnamen veröffentlicht Jean-Claude Luberon demnächst einen autobiografisch geprägten Roman über die Westberliner Hausbesetzerszene der 70er-Jahre.
Als Letzte auf der Liste stand eine Frau, deren Bücher in der Tat nicht verfilmt worden waren. Vermutlich, weil es zu schwer war, Tiere zum Sprechen zu bringen:
Gwendolin Gold
Gwendolin Gold wurde in Krimi-Kreisen bekannt durch ihre Romane mit dem im Reich der Tiere ermittelnden Eichhörnchen Écureuil Poirot. Ihr Roman ‹Fuchs, du hast die Gans ermordet› stand zwei Wochen auf Platz 21 der Spiegel-Bestseller-Liste. Es handelt sich dabei um eine clevere Hommage an die Romane von Agatha Christie.
Gwendolin Gold war der Programmmacherin Lisa Adler nur ein paar spärliche Zeilen wert gewesen. Nicht mal ein Autorenfoto von ihr war abgebildet. Wegen Frau Gold hatte sicherlich kaum jemand die Reise gebucht.
Krimis mit Tieren.
Angela blickte zu dem vor sich hin schnarchenden Pupsi: Vielleicht könnte der ja auch der Held eines Buches sein. Schließlich hatte er ihr im Mordfall des Schlossherrn von Baugenwitz das Leben gerettet. Vielleicht Schnüffler auf vier Pfoten? Oder Kommissar Pupsi und das Geheimnis der Leberwurst? Oder Hände hoch oder ich furze? Nein, das war alles zu albern. Der Ermittler ihres Romans hatte eindeutig mehr Potenzial.
«Angela», unterbrach Achim ihre Gedanken.
«Ja?»
«Ich übersetze gerade den Liedtext von Lola. Und ich bin verwirrt.»
«Das ist dein Grundzustand», lächelte Angela lieb.
«Ja, aber hier bin ich ganz besonders verwirrt. She walked like a woman, but talks like a man – geht es da um eine Art Genderfluidität?»
Es war rührend, wie sich Achim als alter weißer Mann bemühte, auf der Höhe der für alte weiße Männer verwirrenden Zeit zu bleiben, auch wenn es bedeutete, dass seine Lieblingssongs urplötzlich ganz andere Bedeutungen bekamen. Erst kürzlich hatte er erkannt, dass die Village People mehr waren als nur Bauarbeiter, Polizist, Sioux-Stammesmitglied, Cowboy, Soldat und Rocker und dass es in Y.M.C.A. bei You can hang out with all the boys und You can have fun in many ways wohl nicht nur um Ringelpiez-Spielen im Verein christlicher junger Männer ging.
«Das könnte durchaus sein», antwortete Angela ihm.
«Die Zeiten waren schon kompliziert, als wir gar nicht dachten, sie wären kompliziert», stellte Achim fest und kratzte sich dabei an der Wange.
«Und sie werden es wohl auch immer sein», lächelte Angela und gab ihrem Puffel ein Küsschen auf die Stirn.
Da ertönte plötzlich ein Alarm. Siebenmal kurz und einmal lang.
Mops Pupsi wachte auf und begann sofort zu bellen.
«Was ist das?», fragte Achim alarmiert.
«Der Beginn der Seenotrettungsübung», erklärte Angela. Sie strich dem Hund beruhigend den Kopf und gab ihm noch ein paar Leckerli aus ihrer Longchamp-Handtasche, während der Alarm immer weiterpiepte. Stets siebenmal kurz und einmal lang.
«Na, da wird der Mike sich aber freuen», grinste Achim.
Mike freute sich nicht. Aber nicht nur, weil er Angst vor einer Übung hatte, bei der es um den Untergang des Schiffes ging und ihm die Bilder aus dem Film Titanic dabei im Kopf herumschwirrten. Es gab einen weiteren Grund: «Bleiben Sie in der Kabine, Frau Merkel. Ich kann für Ihre Sicherheit nicht garantieren. Hier ist viel zu viel Gewusel.»
Er deutete in den Gang, in dem sich die Passagiere vorbei an holzvertäfelten Wänden und beigen Kabinentüren Richtung Treppe drängten, um an Deck zu gelangen.
«Mike», erklärte Marie, «man muss die Übung mitmachen. Siehst du, das Personal überprüft jede Kabine, ob auch alle rauskommen.» Sie deutete auf die Schiffs-Stewards mit den orangenen Leibchen, die sich gewissenhaft um den ordentlichen Ablauf kümmerten.
«Frau Merkel ist aber ein besonderer Fall!», sagte Mike.
«In jeder Hinsicht», grinste Achim.
Angela gab ihrem Mann einen freundlichen Knuff mit dem Ellenbogen in die Seite.
«Das ist hier», insistierte Mike, «zu unübersichtlich!»
«Wie oft denn noch», sagte Angela freundlich, «niemand, absolut niemand hat noch Interesse daran, mich anzugreifen.»
Das war wohl der größte Vorteil am Bedeutungsverlust: Keine fremde Macht würde sie mehr entführen wollen. Russland, Iran, China oder Nordkorea hätten nichts davon, denn der Olaf würde für sie weder politische Konzessionen machen noch ein Sondervermögen zur Bezahlung des Lösegelds einrichten. Und Reichsbürgerprinzen oder andere Spinner hatten sich mittlerweile mit den Mitgliedern der jetzigen Regierung neue Sündenböcke gesucht, von denen sie glaubten, sie wären von Hitler abstammende Eidechsen, die in Pizzerien satanische Rituale abhielten und dabei Wärmepumpen laufen ließen.
«Sie können stets in Lebensgefahr geraten», widersprach Mike, «was ist, wenn zum Beispiel hier einer wegen Ihrer Politik die Gasrechnungen nicht zahlen konnte?»
«Dann würde er sich wohl kaum eine Kreuzfahrt leisten können.»
«Stimmt auch wieder», lenkte Mike ein.
«Selbst den Gerhard Schröder will kein Mensch wegen Gas angreifen», versuchte Angela ihren Personenschützer zu beruhigen und fügte nur gedanklich hinzu: Und der hätte es schon verdient.
«Ich bin aber nicht für seine, sondern für Ihre Sicherheit verantwortlich.»
Angela legte nun die Hand auf Mikes starke, jedoch von knapp zwei Jahren Dienst bei ihr und ihren ständigen Widerworten etwas gebeugte Schulter: «Auf diesem Schiff droht für mich keinerlei Gefahr.»
«Sie wissen, wonach das für mich klingt?», fragte Mike.
Natürlich wusste sie es. Angela hatte diese Art von Gespräch mit ihrem Personenschützer schon häufiger geführt: «Nach berühmten letzten Worten.»
«Nach berühmten letzten Worten», bestätigte Mike.
«Sie sorgen sich zu viel», beendete Angela freundlich-bestimmt die Diskussion und machte sich auf den Weg mit den anderen Passagieren zur Seenotrettungsübung. Da ahnte sie noch nicht, dass sie zwei Tage später an Mikes Warnung der berühmten letzten Worte zurückdenken würde. Just in jenem Moment, als sie an einem Geländer hoch über dem Meer baumelte.
An der Musterstation D02 vor dem Ausgang zum Deck 02 standen die Passagiere dicht gedrängt. Eine kleine Stewardess las ihre Namen vor und hakte ab. Dabei stand ihre laute scharfe Stimme, die selbst AfD-Parlamentarier diszipliniert hätte, im Kontrast zu ihrem zierlichen Körper. Die Namensabfrage dauerte so lange, dass Mike, nachdem er aufgerufen worden war, seufzend bemerkte: «In der Zeit, die die braucht, ist das Schiff schon viermal abgesoffen.»
«Ich würde ja fragen», sagte Marie, die ihren kleinen schnullersaugenden Adrian in einem Tuch vor dem Körper trug, «warum sie das nicht digital machen. Aber wir sind ja in Deutschland.»
Angela warf ihrer afrodeutschen Freundin einen pikierten Blick zu.
«Sorry», entschuldigte sich Marie hastig.
Es gab Tage, an denen Angela bei dem Wort Digitalisierung am liebsten laut losgeschrien hätte.
«Florian Watzek», rief die Stewardess.
«Anwesend!»
Die Watzis unter den Passagieren jubelten.
«Jochen Fuchs.»
Keine Antwort.
«Jochen Fuchs!», wiederholte die Stewardess, und Angela wunderte sich über die Abwesenheit des Inselkrimi-Autors. Es war doch für alle Passagiere Pflicht, an der Übung teilzunehmen.
«Höchstwahrscheinlich», scherzte Watzek gut gelaunt, «protestiert unser umweltbewusster Jockel gerade gegen die Abgase unseres Kreuzfahrtschiffs.»
Die Watzis lachten.
«Detlev Reiter!», rief die Stewardess.
Auch der Autor der Historienkrimis war nicht anwesend.
«Sven Ding!», rief die kleine Stewardess den echten Namen des Autors Jean-Claude Luberon. Aber auch von ihm gab es keine Meldung. Kein Wunder, dass die Frau immer missmutiger dreinblickte.
«Vielleicht», rief Watzek vergnügt, «planen sie zusammen meinen Mord, damit sie auch mal die Chance haben, die Nummer eins unter den Krimi-Autoren zu werden!»
Die Watzis krümmten sich vor Lachen.
«Sophie, hast du den Gag für meine Kanäle gefilmt?», rief Watzek.
«Ja, Flori!» Die Assistentin hielt ihr Handy über die Menge der Watzis, die zwischen ihr und ihrem Arbeitgeber standen.
«Soll ich ihn noch mal sprechen?»
«Ich habe ihn drauf.»
«Ich sag ihn noch ein zweites Mal. Besser ist immer besser. Das ist mein Motto!» Er wandte sich an die Menge: «Und Sie alle lachen bitte noch lauter als beim ersten Mal. Auf drei! Eins … zwei … drei: Vielleicht planen die meinen Mord, damit sie auch mal die Chance haben, die Nummer eins unter den Krimi-Autoren zu werden!»
Die Watzis lachten noch lauter als beim ersten Mal.
«Gwendolin Gold!», rief die kleine Stewardess, der das Spektakel gehörig auf die Nerven ging, extra scharf und brachte damit alle schlagartig zum Verstummen.
«Hier!», rief eine lange Enddreißigerin mit ultrakurzen blonden Haaren in einem dunkelgrünen Strickkleid. Angela schaute zu ihr: Das war also die Tierkrimi-Autorin, für deren Foto kein Platz im Programmheft gewesen war.
«Na klar bist du hier, Gwenni», sagte Watzek mit freundlichem Grinsen, aber mit einer bisher nicht gekannten Lust in der Stimme, jemanden zu verletzen: «Eine wie du würde mich nicht ermorden, um die Erfolgreichste zu werden. Deine Bücher werden ja nicht gelesen.»
«Millionenauflagen sind nicht für jeden Autor das Ziel», lächelte Gwendolin so souverän, dass Angela sie auf Anhieb sympathisch fand. «Einigen von uns ist das Schreiben an sich wichtig.»
Watzek wollte gerade etwas erwidern, doch die Stewardess rief: «Sophie Sellering!»
«Hier!», hörte man Watzeks Assistentin unter dem hochgehaltenen Handy piepsen.
«Das wären dann alle! Ich zeige Ihnen jetzt, wie man die Rettungswesten anlegt!» Die kleine Stewardess hob eine Weste vom Boden auf und begann mit der Demonstration. Angela hörte jedoch nicht zu. Sie gehörte zu jenen 98,3 Prozent der Weltpopulation, die sich bei Sicherheitsdemonstrationen anfangs zwar vornehmen, genau hinzuhören, deren Gedanken aber spätestens in der Mitte des dritten Satzes auf Wanderschaft gehen. Angelas wanderten zu Watzek. Sie beobachtete ihn, wie er sich durch die Menge hindurch zu seiner Assistentin drängelte und sagte: «Du stehst jetzt auf der Liste, da musst du den Rest der Übung nicht mehr mitmachen. Geh wieder die Vorrichtung bewachen.»
Sophie nickte beflissen und huschte davon. Und Angela fragte sich in Gedanken: Vorrichtung? Was für eine Vorrichtung?
Im letzten Teil der Übung standen die Passagiere des Abschnitts M06 unter den ihnen zugeteilten Rettungsbooten und bekamen von der kleinen Stewardess die Abläufe für den Einstieg erklärt. Angelas Gedanken wanderten dabei erneut davon, diesmal zu Gwendolin Gold, die mit innigem Lächeln aufs Meer hinausblickte und die Ostseebrise genoss. Diese Frau schien in sich zu ruhen. Offenbar schrieb sie gerne Krimis, egal wie erfolgreich sie damit war, das hatte sie Watzek soeben vor seinen versammelten Fans klargemacht. Angela beneidete sie ein wenig: Als Autorin die Freude am eigenen Werk zu empfinden, am eigenen Tun, ohne vom Urteil anderer abhängig zu sein, das musste eine wunderbare Existenz sein.
Könnte sie selbst auch so eine Autorin werden?
«Wenn das Schiff sinkt», murmelte Mike, «werden die sich alle um die Plätze im Boot prügeln.»
«Ich hätte dir», seufzte Marie, «niemals Titanic zeigen dürfen.»
«Dann heißt es», versuchte Achim die Stimmung aufzuheitern, «Kinder und Ex-Kanzlerinnen zuerst.»
«Und was ist mit Möpsen?», versuchte Angela ihn beim Aufmuntern zu unterstützen und deutete dabei auf Pupsi, den Achim auf dem Boden abgesetzt hatte.
«Gut, also Kinder und Möpse zuerst. Danach kommen die Ex-Kanzlerinnen.»
«Ich finde das gar nicht komisch!», Mike öffnete den Kragen seines gestärkten Hemds. «Ich bin für die Sicherheit von Frau Merkel verantwortlich, also müsste ich bei ihr sein im Rettungsboot. Aber dann würde ich einer Frau, die in der Reihenfolge vor mir dran wäre, den Platz wegnehmen. Dann wäre ich so unanständig wie die herzlosen Millionäre in Titanic und … hmmlllll.»
‹Hmmlllll› war das Geräusch, das Mike machte, als Marie ihre Lippen auf die seinen drückte. Als sie wieder von ihm abließ, waren sowohl sein Redefluss als auch seine aufkommende Panik eingedämmt.
«Und damit ist unsere Übung zu Ende!», rief die Stewardess, und die Watzis bestürmten sogleich ihren Helden, um Autogramme von ihm zu ergattern. Eine Watzi wollte ihres sogar über den Bauchnabel gekritzelt bekommen. So was hatte sich von Angela niemand gewünscht, selbst nicht CSU-Wähler im Bierzelt. Der Starautor erklärte, dass er gerne im Laufe der Reise Bücher signieren würde, sich jetzt aber auf seinen großen Auftritt heute Abend vorbereiten musste. Dafür bräuchte er Konzentration. Er steckte sich drahtlose Kopfhörer in die Ohren und ging durch die Menge davon, als ob sie nicht existierte. Bemerkenswert wie der Mann schlagartig alles um sich herum ausblenden konnte. Was er wohl gerade hörte: Weißes Rauschen? Braunes Rauschen? Meeresrauschen? Letzteres wäre angesichts des Meeres vor Augen etwas absurd gewesen, und doch: Man hätte es auf diese Weise vielleicht sogar mehr genießen können als mit den ganzen schnatternden Menschen an Deck.
Als Watzek durch die Tür ins Innere des Schiffes verschwunden war, fragte sich Angela, ob die von ihm im Gespräch mit seiner Assistentin erwähnte Vorrichtung etwas mit seinem Auftritt zu tun hatte. Aber warum müsste man sie dann bewachen?