Miss Merkel: Mord in der Therapie - David Safier - E-Book

Miss Merkel: Mord in der Therapie E-Book

Safier David

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Beschreibung

Der vierte Band der Bestseller-Krimireihe um die ermittelnde Altkanzlerin Angela ist niedergeschlagen. Beim Schreiben ihrer Autobiografie ist ihr klar geworden, dass sie in ihrer Amtszeit das ein oder andere Problem des Landes eher suboptimal gelöst hat. Sei es zum Beispiel die Digitalisierung, die Energiewende oder die Bundesbahn, die allesamt Anlass zu Klagegebeten geben. Nachdem Angela auch noch Friedrich Merz anranzt, schlägt Ehemann Achim ihr einen Besuch beim Psychologen vor. Da aber auch in Angelas beschaulichem Heimatort Klein-Freudenstadt Fachkräftemangel herrscht, gibt es für sie nur einen Platz in einer Gruppentherapie bei Doktor Felix Fenstermacher. Dummerweise wird der Therapeut gleich nach der ersten Sitzung auf seinem Hausboot in die Luft gesprengt. Angela bekommt dadurch gleich viel bessere Laune, endlich kann sie wieder ermitteln. Verdächtig sind die Mitglieder der Gruppe: ein Wutbürger, eine Katzenfrau, eine Viren-Phobikerin, eine Klimaaktivistin und ein Mann, dem es buchstäblich die Sprache verschlagen hat. Allerdings fällt der Verdacht der anderen erst einmal auf Angela selbst, schließlich starb der Therapeut gleich nach ihrer ersten gemeinsamen Sitzung.

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David Safier

Miss Merkel: Mord in der Therapie

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Auf der Couch

Angela hat den Blues. Beim Schreiben ihrer Autobiografie ist ihr klar geworden, dass sie in ihrer Amtszeit das ein oder andere Problem eher suboptimal gelöst hat: Digitalisierung, Energiewende oder Deutsche Bahn – überall Anlass zu Klageliedern. Als Angela am Telefon auch noch Friedrich Merz anranzt, legt Ehemann Achim ihr einen Besuch beim Psychologen nahe. Aber auch in Klein-Freudenstadt herrscht Fachkräftemangel, und so gibt es für sie leider nur einen Platz in einer Gruppentherapie. Dummerweise kommt der Therapeut gleich nach der ersten Sitzung unter mysteriösen Umständen zu Tode. Verdächtig sind die Mitglieder der Therapiegruppe: ein Wutbürger, eine Katzenfrau, eine Virenphobikerin, eine Klimaaktivistin sowie ein Mann, dem es buchstäblich die Sprache verschlagen hat. Und natürlich Angela selbst, zumindest in den Augen der anderen: Schließlich starb der Therapeut unmittelbar nach ihrer ersten gemeinsamen Sitzung.

 

In ihrem vierten Fall muss sich Miss Merkel den Rätseln des Unbewussten stellen.

Vita

David Safier, 1966 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Autoren der letzten Jahre. Seine Romane erreichen eine Gesamtauflage von sieben Millionen im In- und Ausland. Auch die Krimireihe rund um die Ex-Kanzlerin Angela Merkel konnte sich mit jedem Band auf Platz 1 der Bestsellerlisten platzieren. Als Drehbuchautor wurde David Safier unter anderem mit dem Grimme-Preis sowie dem International Emmy ausgezeichnet. Er lebt und arbeitet in Bremen, ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Songtext S.176: «Sonne statt Reagan», Text: Alain Thomé

Songtext S. 202 und vordere Umschlaginnenseite: «Octopus’s Garden», Text: John Winston Lennon, Paul James McCartney, Richard Starkey

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverabbildung Oliver Kurth

ISBN 978-3-644-01714-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Marion, Ben und Daniel.

Ich liebe euch.

1

«Ich bin nicht gereizt», sagte Angela gereizt.

«Oh doch, das bist du», erwiderte ihre beste Freundin Marie. Die Neununddreißigjährige war die einzige Person auf der Welt, die keine Angst hatte, Angela mit der Wahrheit über sich selbst zu konfrontieren.

«Bin ich nicht.» Angela klang noch eine Spur gereizter.

«Und wie du das bist.»

Die beiden Frauen saßen bei schönstem Frühlingssonnenschein an dem Holztisch in Angelas Garten, der ihr Fachwerkhäuschen in Klein-Freudenstadt umgab, einem winzigen Flecken am malerischen Uckermärker Dumpfsee. Dort, so raunte man, schlummere ein schlangenartiges Ungeheuer, das seit den finsteren Tagen des Mittelalters Jormudgandr genannt, aber zu DDR-Zeiten von der Bevölkerung Klein-Freudenstadts heimlich in Margot umgetauft wurde, nach Honeckers Ehefrau.

Der Dritte am Tisch war Angelas Ehemann Achim, der sich gerade eine weitere Tasse seines geliebten Hagebuttentees einschenkte – außer ihm gab es wohl keinen Menschen, der davon im infektfreien Zustand freiwillig mehr als drei Tassen trank. Währenddessen starrte Mike, Angelas Bodyguard, auf die angeschnittene Aprikosentorte. Sie duftete mindestens so wundervoll wie die aufblühenden Rosen im Garten. Mike hatte bereits zwei Stücke gegessen, die so verdammt lecker waren, dass er sichtlich mit sich rang, ein drittes zu verputzen. Seit Mike bei der Hobby-Bäckerin Angela im Dienst stand, hatte er bereits mehrfach neue Dienstkleidung beantragen müssen. Die Ausrede, sein ausgiebiges Bauchmuskeltraining sei schuld an seinem wachsenden Umfang, nahmen ihm seine Chefs schon lange nicht mehr ab. Was jedoch fast schlimmer war: Mike drohte nicht mehr in den stilvollen grünen Anzug zu passen, den er am Wochenende bei seiner Hochzeit mit Marie tragen wollte.

«Ein für alle Mal, ich bin nicht gereizt!», erklärte Angela noch deutlich gereizter.

«Dann bist du vielleicht unleidlich?»

«Marie.»

«Unwirsch?»

«Hör auf.»

«Missgestimmt? Knurrig? Kiebig?»

«Hast du einen Thesaurus verschluckt?»

«Fünsch?»

«Jetzt reicht’s aber!», rief Angela unleidlich, unwirsch, missgestimmt, knurrig, kiebig und fünsch, alles auf einmal. Sie schlug mit der Hand auf den Tisch wie damals, als Verkehrsminister Andreas Scheuer in einer Kabinettssitzung behauptete, die Deutsche Bahn würde unter seiner Ägide von Jahr zu Jahr besser werden.

Vor lauter Schreck verschüttete Achim beim Einschenken den Hagebuttentee auf dem Tisch, und Mike schnappte sich seufzend ein weiteres Stück Torte. Er war halt ein Stressesser. Das Ärgerlichste an seiner Angewohnheit war, dass er zunahm, ohne das Essen richtig genießen zu können. Manchmal schmeckte er das Süße gar nicht auf der Zunge, sondern schaufelte es sich hinein wie früher als Kind, wenn seine Eltern sich stritten. In solchen Situationen war das Krümelmonster aus der Sesamstraße im Vergleich zu ihm ein Meister der Impulskontrolle.

«Und hiermit beende ich meine Beweisführung», grinste Marie.

«Ich habe nur aufgeschrien», bemühte sich Angela, ihre Fassung wiederzugewinnen, «weil du mich gereizt hast.»

«Du hast schon vorhin am Telefon den Friedrich Merz zurechtgewiesen. Nur weil du nicht für die Partei in den Wahlkampf ziehen willst und er es bitte schön auch nicht tun soll. Und dann hast du ihm gesagt, dass es viele Dinge gäbe, die du lieber tätest, als mit ihm zu sprechen. Zum Beispiel, dir einen Kugelschreiber ins Auge zu bohren. Wie würdest du deinen Zustand denn sonst nennen, wenn nicht gereizt?»

«Aufrichtig», entgegnete Angela. Sie kannte nur wenige Menschen, die sie derart verabscheute wie den CDU-Vorsitzenden. Sie, die gerne vor anderen zum Spaß Politiker imitierte – besonders treffend konnte sie Markus Söder nachahmen, wie er Bäume umarmte –, fand, dass der gute Herr Merz im Grunde eine Parodie seiner selbst war, wenn er, als ehemaliger Investmentfonds-Mann und Privatjet-Besitzer, verkündete, er gehöre zur Mittelschicht.

«Ich möchte dich nicht auf die Palme bringen», sagte ihre Schwarze Freundin sanft und griff nach Angelas Hand. «Aber du bist nicht mehr du selbst, seitdem du deine Autobiografie beendet hast.»

«Das bildest du dir ein», wiegelte Angela ab, fühlte sich aber auch ein klein wenig ertappt. Seitdem sie die letzten Worte der Biografie im Zweifingersystem in den Computer getippt hatte, verspürte sie eine innere Leere. Beim Schreiben hatte sie jeden Tag für mehrere Stunden auf ihre politische Karriere zurückgeblickt, und obwohl sie seitenweise über ihre Erfolge berichtet hatte, konnte sie – trotz allen Stolzes – nicht anders, als auch über ihre Versäumnisse nachzudenken. Gegen den Klimawandel hatte sie nicht genug tun können, die Digitalisierung Deutschlands war eher Anlass zu Trauerkundgebungen, und die Deutsche Bahn sollte man besser umbenennen in Verstehen Sie Spaß?. Von der Russland- und Chinapolitik ganz zu schweigen. Sie hatte sich über die grausamen grauen Herren Putin und Xi nie Illusionen gemacht und sich dennoch bei ihnen verschätzt. Wegen all dem hatte Angela, egal wie viele Ehrungen sie auch entgegengenommen hatte, in schwachen Momenten den Eindruck, zu oft versagt zu haben. Und als Rentnerin ohne nennenswerte Hobbys außer Backen und dem Lösen von Mordfällen hatte sie genug Zeit für solche schwachen Momente. War sie wirklich gereizt? Ließ sie etwa ihren inneren Frust an anderen aus?

Angela wandte sich an ihren geliebten Mann Achim. «Puffel, findest du auch, dass ich in der letzten Zeit häufiger gereizt bin?», fragte sie vorsichtig.

«Puffeline», lächelte Achim, «bevor ich antworte, möchte ich voranstellen, dass ich dich liebe.»

«Das weiß ich doch.»

«Schon seit dem ersten Augenblick, an dem wir uns getroffen haben.»

«Das ist mir bewusst.»

«Und ich liebe alles an dir, auch deine Schwächen.»

«Eins der Geheimnisse unserer erfolgreichen Ehe.»

«Ich finde es zum Beispiel sehr süß, wie du kurz nach dem Einschlafen schnarchst.»

Angela hätte sich ein anderes Beispiel für eine liebenswerte Schwäche gewünscht, zumal sich Marie ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Mike ließ plötzlich vom vierten Stück Aprikosentorte ab – ja, er hatte sich das dritte bereits vor lauter Nervosität vollständig einverleibt – und schaute irritiert auf.

«Oder dieses Knautschgesicht, das du morgens hast. Ein klein wenig wie Pupsi.» Achim deutete auf den Mops, der im Garten die Stöckchen ignorierte, die Maries knapp dreijähriger Sohn Adrian ihm hinwarf.

Maries Grinsen wurde breiter, woraufhin Angela ihre Hand von der ihrer Freundin löste. Mike bot all seine Selbstbeherrschung auf, um nicht laut aufzulachen. Er war zwar mit seiner Vorgesetzten mittlerweile recht vertraut, aber so vertraut, dass er sich über sie amüsieren durfte, natürlich nicht.

«Puffel, du musst nicht noch mehr aufzählen», versuchte Angela behutsam, ihrem Mann Einhalt zu gebieten.

«Aber ich möchte es.» Achim ließ sich nicht beirren. «Du bist sogar liebenswert, wenn du nach dem Essen eins deiner kieksenden Bäuerchen machst.»

«Bäuerchen?», echote Angela.

«Kieksenden Bäuerchen!», kicherte Marie.

Um nicht loszuprusten, kniff sich Mike in den Unterarm.

«Oder wenn du in der Dusche laut und schief singst, wie gestern zum Beispiel Skandal um Rosi.»

Nun biss sich Mike in den Unterarm.

«Und besonders hinreißend war deine Nachdichtung. Du hast das Lied umgetextet in Skandal um Scholzi.»

Angela hatte dabei an die Cum-ex-Affäre gedacht.

«Worauf willst du hinaus, Puffel?», fragte sie, nun wieder gereizt.

«Du sollst wissen, dass ich das Folgende aus Liebe und Sorge um dich sage: Du bist nicht nur gereizter, seitdem du deine Biografie geschrieben hast, sondern auch trauriger.»

Trauriger.

Das saß.

Erst jetzt begriff Angela: Sie war tatsächlich trauriger geworden.

Weil sie ihre Fehler der Vergangenheit nicht mehr ändern konnte.

Weil sie die innere Leere in der Rente kaum füllen konnte.

Und obwohl sie so viele liebe Menschen und einen geliebten Hund um sich hatte, spürte Angela einen tiefen Schmerz.

Warum nur reichte ihr das nicht aus, um ein glückliches Rentnerleben zu führen?

Was stimmte nicht mit ihr?

Angela schwieg. Die anderen schwiegen mit ihr. Nur der kleine Adrian nicht, der durch den Garten sprang und so tat, als sei er ein mutiger Ritter und sein Stöckchen ein Schwert, mit dessen Hilfe er einem bösen Drachen klarmachte, dass dieser nur zwei Möglichkeiten für seine Zukunft hatte: sich Hiebe einzuhandeln oder in Zukunft die Flugbereitschaft des kleinen Ritters zu sein. Flugbereitschaft war ein Wort, das nur jene Kinder kannten, die sehr viel Zeit mit pensionierten Spitzenpolitikern wie Angela verbrachten.

«Ich befürchte», sagte Angela mit leiser, gebrochener Stimme, die alle am Tisch besorgte und Mike dazu brachte, doch das vierte Stück Torte zu verputzen, «ich bin nicht in einer Finanz-, Flüchtlings- oder Corona-, sondern in einer ganz persönlichen Krise.»

Nach Angelas Geständnis kehrte Schweigen ein. Marie ergriff erneut Angelas Hand, Achim die andere. Man hörte nichts außer dem leichten Frühlingswind in den Bäumen, Vogelgezwitscher, Adrians lustigem Ritterspiel – das Stöckchen hatte sich mittlerweile in den Flugbereitschaftsdrachen verwandelt, auf dessen Rücken Adrian saß und durch die Winde ritt – und Mikes Schmatzen. Diese Schweigephase dauerte länger als die erste, bis Marie sich ein Herz fasste und sagte: «Ich glaube, du brauchst ein wenig Hilfe.»

«Hilfe?» Angela verstand nicht recht.

«Ja, Hilfe … im Sinne von Hilfe …» Marie betonte das zweite «Hilfe» auf merkwürdige Weise. Angela begriff immer noch nicht.

«Puffeline», mischte sich Achim ein.

«Ja?»

«Marie meint eine Therapie.»

«Therapie?», rief Angela aus. Darüber hatte sie noch niemals nachgedacht. Weil sie es nicht nötig gehabt hatte. Im Gegensatz zu vielen anderen Politikern, die sich in Alkohol, Drogen oder in Frauen- und/oder Männergeschichten gestürzt hatten, um mit Druck und Überforderung klarzukommen, hatte sie nie solche Kompensationen benötigt, geschweige denn einen Besuch bei einem Psychologen. Erst jetzt, da sie keiner Belastung mehr ausgesetzt war, begann ihre Seele zu schmerzen. Aber das war doch nicht so schlimm, dass sie einen Therapeuten aufsuchen musste, wie Armin Laschet, der seinen Tick, in unmöglichen Situationen zu lachen, heilen wollte. Oder etwa doch?

«Therapie», sagte nun auch Marie mit fester Stimme.

«Seid ihr wirklich alle der Ansicht, dass ich eine machen sollte?», fragte Angela verunsichert in die Runde.

«Nur ein paar Sitzungen», erwiderte Marie. «Die werden bestimmt reichen, damit du dich ein wenig sortierst und stabiler wirst.»

«Schaden kann es nicht, Puffeline», fand Achim.

«Ihr beide habt euch darüber schon unterhalten, nicht wahr?», argwöhnte Angela. Als ehemalige Regierungschefin konnte sie geheime Absprachen, die hinter ihrem Rücken getroffen wurden, buchstäblich wittern.

Marie und Achim nickten bestätigend und drückten ihr dabei lieb die Hände.

Ein paar Sitzungen …, dachte Angela. Nun, Zeit hatte sie ja genug. Aber dennoch behagte ihr der Gedanke nicht, mit einem wildfremden Menschen über Probleme zu reden, die sie selbst nicht richtig greifen, geschweige denn präzise ausformulieren konnte. Ihr Blick fiel auf Mike. Vielleicht würde er Marie und Achim widersprechen?

Er tat es nicht.

Stattdessen sagte der Bodyguard: «Jedem Menschen kann geholfen werden.»

Angela fiel wieder ein, dass Mike nach dem Aus seiner ersten Ehe ebenfalls in Therapie gewesen war, die ihn emotional gestärkt hatte. Davon hatte er bei seinem Vorstellungsgespräch mit ihr freiwillig und ohne Scham erzählt.

Der Bodyguard setzte in ungewohnt klarem Ton hinzu: «Man zeigt keine Schwäche, wenn man mit einem Profi seine Probleme bespricht. Ganz im Gegenteil: Das ist ein Zeichen der Stärke.»

Der Stärke, zu einer Schwäche zu stehen.

Besaß sie diese Kraft?

Die Vorstellung, zu einem jener auf Politiker spezialisierten Therapeuten in Berlin zu gehen und dort im Wartezimmer auf ehemalige Kollegen zu treffen, war Angela zuwider. Kaum auszudenken, dass sie neben Mitgliedern der Linken-Fraktion, die von Sahra Wagenknecht in den Wahnsinn getrieben worden waren, auf der Couch saß. Ein Hauptstadtpsychologe kam auf gar keinen Fall infrage! Und in dem wahrlich kleinen Klein-Freudenstadt fand sich gewiss kein Therapeut. Die mangelnde ärztliche Versorgung auf dem Land war ein weiterer Punkt, für den sich Angela manchmal schämte, besonders jetzt, als ihr ein Gespräch von letzter Woche einfiel. Ihre alte Nachbarin, Frau Kunze-Kuntze (die Frau hieß von Geburt an Kunze, heiratete einen Kuntze und fand den Doppelnamen witzig – sollte noch einmal jemand sagen, Uckermärker hätten keinen schrägen Humor), hatte Angela ihr Leid geklagt. Die Frau hatte nicht nur sieben Monate auf einen Termin beim Proktologen in Templin warten müssen, sondern verpasste ihn auch noch, weil der Bus, der planmäßig dreimal am Tag von Klein-Freudenstadt abfuhr, plötzlich nur noch dreimal die Woche auftauchte.

«Ich glaube nicht», sagte Angela in die Runde und hoffte, dass sich das Thema Therapie damit erledigen würde, «dass es hier in der Gegend eine entsprechende Praxis gibt.»

«Oh doch. Diplompsychologe Dietrich Fenstermacher», erklärte Marie.

«In der Grünengasse 7», ergänzte Achim.

«Ihr habt das nachgeguckt?»

«Ja, das haben wir, Puffeline.»

«Jeder für sich», fügte Marie hinzu.

«Ihr habt also über mich geredet.»

«Ja», bestätigten beide unisono.

«Und beschlossen, es gemeinsam anzusprechen, damit nicht nur einer von euch Ärger mit mir bekommt?»

«Ja», bestätigten die beiden erneut wie aus einem Mund.

«Am besten in einem Augenblick, in dem ich mich mal wieder gereizt zeige, wie vorhin bei Friedrich Merz?»

«Genau!» Marie und Achim schienen bestens aufeinander synchronisiert zu sein.

«Und wenn ich es nicht mit dem Therapeuten in der Grünengasse versuche, werdet ihr mir auf den Wecker fallen, bis ich einlenke?»

«Du kannst dir wirklich viel Stress mit uns ersparen», grinste Marie. Achim grinste natürlich mit.

«In Ordnung.» Angela gab sich geschlagen und staunte sogleich, dass sie daraufhin so etwas wie Hoffnung schöpfte: Vielleicht würde ihr dieser Doktor Fenstermacher tatsächlich helfen, etwas weniger betrübt zu sein. «Ich werde mir einen Termin organisieren.»

«Nicht nötig», lächelte Marie.

«Ihr habt schon einen für mich vereinbart?»

«In der Tat», bestätigte Achim.

«Und wann?»

«Morgen früh, zehn Uhr», erscholl es von Marie und Achim im Duett zurück.

«Wegen euch beiden», stöhnte Angela, «benötige ich bestimmt eine Extrasitzung.»

Und alle am Tisch lachten, wobei Mike die Tortenkrümel aus dem Mund fielen.

2

Die ganze Nacht hatte Angela kein Auge zubekommen. Die Aussicht, einem Wildfremden die eigenen Probleme offenzulegen, war furchterregend. Achim hatte von ihrer Im-Bett-Herumwälzerei nichts mitbekommen. Der Quantenchemiker besaß einen gesegneten Schlaf, was wohl auch daran lag, dass er zum Einschlafen Quanten zählte. Mops Pupsi, der am Fußende schlummern durfte – er besaß nicht nur eine Vorliebe für Käse, sondern auch für Achims Füße –, hatte die Nacht durchgeschnarcht, wie es nun einmal seine Art war. Mindestens fünfundzwanzig Mal hatte Angela währenddessen entschieden, den Therapeuten nicht aufzusuchen, und mindestens sechsundzwanzig Mal, es doch zu tun. Nun stand sie frisch geduscht und im blauen Blazer in der Küche, während Achim den Mops im nahe gelegenen Wald ausführte. In ihrer Hand hielt sie eine Jubiläumskaffeetasse der CDU zum siebzigsten Geburtstag der Partei. Darauf stand: 70 Jahre sind wir froh, CDU, mach weiter so! Ursprünglich hatte der Marketingexperte vorgeschlagen, das Wort ‹so› mit ‹h› zu schreiben: ‹soh›, damit jeder den Reim auch verstand. Damit hatte er Angela in ihrer Ansicht bestätigt, dass Leute, die sich Slogans für Parteien ausdachten, die Wähler in Wahrheit verachteten.

Sie blickte auf die Uhr: In zehn Minuten müsste sie aufbrechen, um ihren Termin bei Doktor Fenstermacher in der Grünengasse wahrzunehmen. Sie gab sich innerlich einen Ruck, aber bevor sie damit fertig war, klingelte es. Angela eilte durch den schmalen Flur ihres Fachwerkhäuschens und öffnete die Tür. Vor ihr stand ein kleiner, südländisch wirkender Mann, der sie ein wenig an diesen Sänger erinnerte, Adriano Celentano. Mit italienischem Akzent stellte der Mann eine Frage, die Angela schon seit den Neunzigerjahren nicht mehr gehört hatte: «Sind Sie Angela Merkel?»

«Ja, ich bin Angela Merkel», antwortete Angela, etwas, was sie ebenso lange nicht mehr hatte tun müssen.

«Mein Name ist Enrico Pallazzo, Signora. Und ich habe etwas für Sie.»

Angela staunte. Was sollte der Mann für sie haben? Da er aussah wie Adriano Celentano, dachte sie für einen Augenblick, er würde sagen: ‹Ein Ständchen›, und sogleich singen: Azzurro ...

Doch Enrico Pallazzo tat nichts dergleichen, sondern zeigte auf ein dreirädriges motorisiertes Gefährt, ein Kleintransporter mit offener Ladefläche. Eine sogenannte Ape. Sie war grün und schon ein wenig ramponiert.

«Die ist für Sie, Signora.»

«Für mich?»

«Für Sie.»

«Das muss ein Missverständnis sein.»

«Sie sind doch Signora Merkel.»

«Ja.»

«Dann ist das kein Missverständnis. Sie haben sie geerbt.»

«Wie? Von wem?»

«Von Silvio Berlusconi.»

«Berlusconi?» Angela war sprachlos. Er hatte sie in seinem Testament bedacht? Dabei hatten sie sich gar nicht gemocht, was den Italiener jedoch nie daran gehindert hatte, ihr Bussis auf die Wange zu drücken, die mehr als feucht waren.

«Ich soll Ihnen vom Testamentsvollstrecker ausrichten, dass es etwas gedauert hat, bevor unser Ex-Premier das Erbe sortieren konnte. Signor Berlusconi hatte so viele Model-Freundinnen, die behaupten, ihre Kinder wären von ihm. Und dann die ganzen Briefkastenfirmen. Der Notar glaubt, dass die Aufgabe erst gelöst sein wird, wenn alle angeblichen Erben und Erbeserben tot sind. Aber diese Ape gehört jetzt Ihnen. Und hier ist noch ein Brief von Signor Berlusconi für Sie.»

Pallazzo überreichte ihr den Brief, sie öffnete ihn und las: ‹Liebe Angela …›

Angela hörte in Gedanken Berlusconis Stimme, die ölig war wie seine Haare: ‹Ape heißt in deiner Sprache Biene. Du warst zwar keine flotte …›

Na, vielen Dank, jetzt musste sie sich von dem Kerl auch noch posthum beleidigen lassen.

‹… aber eine fleißige, die auch mal brutal stechen konnte. Daher passt das Auto, das ich als Teenager gefahren habe, sehr gut zu dir.›

Das klang jetzt schon freundlicher.

‹PS: Dem Sarkozy habe ich eine Trittleiter vermacht.›

Angela musste schmunzeln: Das einzig Angenehme an Berlusconi war, dass man mit ihm auf EU-Gipfeln wunderbar über den Franzosen mit dem Napoleon-Komplex lästern konnte. So wie das einzig Angenehme an Sarkozy war, dass man mit ihm über Berlusconis Eitelkeit scherzen konnte. Was die beiden hinter ihrem Rücken über Angela tratschten, hatte sie nie wissen wollen und in den Geheimdienstberichten beim Lesen übersprungen.

«Unterschreiben Sie bitte hier», sagte der Überbringer des grünen Gefährts, das nicht den Anschein erweckte, irgendwelchen deutschen Kfz-Normen zu folgen. Angela setzte ihre Signatur auf das Blatt Papier und war damit Besitzerin einer nicht wirklich verkehrssicheren Ape. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie nicht ahnen, dass sie sich schon bald darin auf einer mörderischen Verfolgungsjagd befinden würde. Und neben ihr ein Exhibitionist, der voll irrer Freude beim halsbrecherischen Kurven durch die engen Gassen von Klein-Freudenstadt Berlusconis Lieblingsworte brüllte: «Bunga Bunga!»

3

Angela sah sich in der Grünengasse um. Wie in vielen Straßen ostdeutscher Kleinstädte standen auch hier sanierte Häuser neben einigen mehr oder weniger verfallenen, etwa im Verhältnis eins zu vier. Die alten Bruchbuden, im Grunde Ruinen, waren billig zu haben, teilweise reichten schon 10000 Euro für ein 500-Quadratmeter-Haus. Dafür musste man jedoch mindestens 800000 Euro hineinstecken, um es auf den neusten Stand zu bringen, und wer investierte eine solche Summe schon in einem Ort, in dem der Zuzug des Ehepaars Merkel die Abwanderung junger Menschen nicht mal im Ansatz wettmachen konnte?

Haus Nummer sieben, in dem der Psychologe Fenstermacher seine Praxis hatte – vielleicht auch seine Wohnung? –, war eindeutig renovierungsbedürftig. Die Fassade des Fachwerks war grau verwittert und mit schwarzen Kritzel-Grafittis überzogen. Das Niveau der Sprüche ging über ‹Deine Mutter› nicht hinaus. Das Gebäude wirkte insgesamt windschief, und am Dach fehlten sogar einige Ziegel, die gewiss von Stürmen davongefegt worden waren. Zwischen den beiden mit gelber Farbe gestrichenen Nachbarhäuschen mutete Nummer sieben zwar recht trist, andererseits aber auch sehr eigen an.

Angela blieb auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen und zögerte. Nicht so sehr aus Unsicherheit, ob sie das Abenteuer Therapie wagen sollte – Marie und Achim hatten sich so bemüht, da war es das Mindeste, dem Ganzen eine Chance zu geben –, sondern weil sie nicht dabei beobachtet werden wollte, wie sie die Praxis des Psychologen betrat. Jetzt verfluchte sie sich, dass sie ihre lange braune Perücke und ihre große braune Sonnenbrille nicht dabeihatte. Utensilien, die sie benutzte, wenn sie unerkannt durch Berlin flanieren wollte. Achim fand immer, dass sie in dieser Aufmachung eine gewisse Ähnlichkeit mit Gina Lollobrigida besaß, was Angela zwar als schmeichelhaft empfand, aber auch daran zweifeln ließ, ob ihr Ehemann überhaupt eine Vorstellung davon hatte, wie die Lollobrigida aussah.

Sie blickte sich um. Doch jedes Mal, wenn sie dachte, jetzt wäre die Bahn frei, tauchten wieder Menschen in der Straße auf. Zum Beispiel die vier Damen im fortgeschritteneren Alter, die ihren Stammtisch in der Marktplatz-Bäckerei Wurst abhielten. Sie nannten sich ‹Die Lästermäulchen›, was keineswegs ironisch gemeint war. Gerade jetzt waren sie wieder im Läster-Einsatz. Eine kleine Frau mit weißer Pudelfrisur, die Anführerin der Truppe, erzählte den anderen: «Dem Albrecht ist die Frau weggerannt.»

Ein ‹Ah› und ‹Oh› ertönte aus den Kehlen der Golden Girls.

«Die ist einfach auf und davon», redete die Pudelfrisur weiter, «obwohl sie ihre Hüftprothese noch nicht bekommen hat.»

Gekicher bei den Damen.

Diese Lästermäuler duften auf keinen Fall bemerken, wie Angela hinter der Praxistür des Therapeuten verschwand. Sie tat daher, als ob sie nur auf der Straße angehalten hatte, weil sie etwas in ihrem Handy nachsehen wollte. Die Damen wuselten an Angela vorbei, ohne sie zu begrüßen. Als Klein-Freudenstädter waren sie schon so sehr daran gewohnt, der Ex-Kanzlerin zu begegnen, dass sie sich davon nicht mehr aus dem Gesprächskonzept bringen ließen.

«Jetzt ist die Doro hinter dem Albrecht her», lästerte die Pudelfrisur weiter. «Die hat sich bei Zalando deshalb sogar ein Negligé gekauft. Ich sag ja: Je oller, je …»

«Doller?», fragte eine besonders hochgewachsene Dame.

«Nö, wuschiger!»

Alle Golden Girls lachten laut auf. Gleich würden sie auf den Marktplatz einbiegen und nicht mitbekommen, was Angela vorhatte. Sie wollte bereits durchatmen, da öffnete sich im Haus Nummer sieben ein Fenster, und ein Mann schaute heraus. Er trug einen braunen Cordanzug, war vielleicht fünfundvierzig Jahre alt, hatte in etwa noch die gleiche Anzahl an Haaren auf dem Kopf und wirkte abgekämpft. Gewiss war es Doktor Fenstermacher. Unwillkürlich wollte Angela auf dem Absatz kehrtmachen, doch der Mann rief: «Frau Merkel, hier ist meine Praxis!»

Prompt fuhren die Lästermäulchen herum.

Das hatte Angela gerade noch gefehlt. Sicher würden die Weiber gleich in der Bäckerei Wurst bei Käsebrötchen mit Remoulade und Cappuccino mit Schokostreuseln tratschen, sie wäre nicht ganz richtig im Kopf. Doch Angela schaltete schnell und rief zurück: «Danke, ich hole dann jetzt die Rezepte für meinen Bodyguard!»

Als Therapeut, so hoffte Angela, würde Fenstermacher sofort erkennen, dass sie sich nicht in der Öffentlichkeit als seine Patientin zu erkennen geben wollte.

Er erkannte es nicht. Sondern erwiderte unüberhörbar: «Ich habe keine Rezepte. Sie haben jetzt Ihren Termin bei mir!»

Neugierig starrten die Lästermäulchen Angela an. Sie versuchte sich an einem Lächeln und sagte zu den Damen: «Der Herr Fenstermacher ist wirklich ein Witzbold.»

«Sie können», brüllte der Psychologe daraufhin über die Straße, «ruhig dazu stehen, dass Sie bei mir in Therapie gehen. Das ist der erste Schritt zur Heilung!»

Die Lästermäulchen grinsten, drehten sich um und eilten in Richtung Marktplatz. Dabei hörte Angela noch, wie die Pudelfrisur-Dame meinte: «Vielleicht ist der Merkel ja der Mann weggelaufen.»

«Wäre die dann eine für den Albrecht?», fragte die hochgewachsene Alte.

«Wenn die Merkel sich an ihn ranmacht, läuft die Doro Amok», gluckste die Frau mit der Pudelfrisur, und alle Lästermäulchen amüsierten sich bei dieser Vorstellung.

Angela seufzte und blickte zu dem Psychologen, der jedoch nicht mehr am Fenster stand. Dafür öffnete er bereits unten die Tür. Sie überquerte die Straße und betrat die Praxis für die letzte Therapiestunde, die der Psychotherapeut Dietrich Fenstermacher in seinem Leben abhalten sollte.

4

Gemeinsam mit dem Psychologen stieg Angela die abgewetzte Holztreppe hoch, die noch lauter knarzte als Joe Bidens Hüftgelenke. Im muffigen Treppenhaus hing ein Van-Gogh-Bilderkalender von 2008. Damals hätte Angela es sich sicher nicht träumen lassen, dass sie an dieses Jahr – trotz der Finanzkrise – einmal als ‹die gute alte Zeit› zurückdenken würde. Oben angekommen, folgte sie dem Therapeuten in sein Arbeitszimmer, das überraschend modern eingerichtet war und damit einen Gegensatz zu den windschiefen alten Wänden bildete: Auf dem schicken Chromschreibtisch entdeckte Angela einen Apple-Laptop, eine Stehlampe aus dem Einrichtungshaus und weiße Bücherregale voller Aktenordner, wie man sie auch in Abgeordnetenbüros finden würde. Fenstermacher setzte sich auf seinen ergonomischen Stuhl und bat Angela um ihre Krankenkassenkarte. Er las sie ein und tippte diverse Dinge in Formulare, wobei er sich Zeit ließ. Nicht demonstrativ, sondern weil es ihm sichtlich an Elan fehlte. Von Nahem wirkte der Therapeut noch müder. Wie ein Mann, der dringend ein Jahr Auszeit benötigte. Es muss, dachte Angela, auch hart sein, sich ständig mit den belastenden Problemen von anderen Leuten auseinanderzusetzen.

Vorerst jedoch bekam Fenstermacher belastende Probleme mit seinem Drucker und versuchte, die Tintenpatrone neu einzusetzen, eine Aufgabe, in deren Verlauf er seine Finger und den braunen Cordanzug bekleckerte. Währenddessen harrte Angela vor dem Designer-Schreibtisch aus. Es fehlte schlicht eine Sitzgelegenheit. In der Nacht hatte sie sich gefragt, ob sie bei der Therapie auf einem Stuhl sitzen oder auf einer Couch liegen würde, aber weder das eine noch das andere Möbel war in diesem Büro zu finden. Sie kombinierte daher, dass die eigentliche Stunde mit Fenstermacher in einem anderen Raum des Hauses stattfinden würde.

«So.» Fenstermacher reichte ihr die Karte zurück. «Ich bin jetzt mit den Formalitäten fertig.»

«Und was geschieht jetzt?»

«Sie gehen schon mal in das Zimmer gegenüber.»

«Einverstanden.»

«Und dann warten Sie da bitte auf die anderen.»

«Die anderen?»

«Aus der Gruppe.»

«Gruppe?»

«Es ist eine Gruppentherapie.»

Über dieses Detail wäre Angela gerne vorher informiert worden.

5

Angela verließ das Büro und blickte ins Treppenhaus. Für einen kurzen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, gleich wieder zu verschwinden und sich wie die alten Damen in der Bäckerei Wurst ein Käsebrötchen – nirgends sonst gab es so leckere Remoulade – und einen Cappuccino mit Schokostreuseln zu bestellen und sich draußen an einen Tisch in den Uckermärker Sonnenschein zu setzen. Angela fand sowieso, ohne jegliche wissenschaftliche Evidenz, dass er der schönste Sonnenschein der Welt war. Aber wenn sie dies täte, würde Achim enttäuscht sein und Marie sie feige nennen. Und sie würde der Freundin nicht einmal widersprechen können. Aber wenn Angela eines nicht sein wollte in ihrem Leben, dann feige. Sie hielt inne und versuchte, sich das Positive der Situation zu vergegenwärtigen: In einer Gruppentherapie würde sie sich gewiss nicht gleich zu Beginn mit ihren Problemen offenbaren müssen. Das konnte niemand von ihr erwarten. Stattdessen könnte sie beobachten, ob der Therapeut überhaupt etwas taugte – Zweifel waren angesichts seines erschöpften Auftretens angebracht.

Angela trat in den gegenüberliegenden Raum, wobei ihr das mehrmals gesprungene Milchglas der Tür ins Auge stach. War das eine Alterserscheinung, oder hatte jemand vor lauter Zorn gegen die Scheibe gehämmert?

In dem Zimmer war ein Stuhlkreis aus alten Holzstühlen aufgestellt, deren geblümte Sitzpolster bereits verblichen waren. An der Wand entdeckte Angela einen Holztisch mit einer orangefarbenen Plastiktischdecke, darauf drei Thermoskannen, zudem Kekse, Obst und jede Menge Becher und Teller, die der Therapeut vermutlich seit seinem Studium in verschiedenen Lebensphasen gesammelt hatte. Insgesamt zählte Angela sieben Stühle – was darauf schließen ließ, dass außer ihr noch fünf weitere Patienten kommen würden, denn einer der Plätze war sicher für den Therapeuten reserviert.

Ein Mitglied der Gruppentherapie saß schon da und wippte nervös hin und her: eine junge Frau mit blau gefärbtem Filzhaar, abgeknabberten Fingernägeln und einem Tattoo, das einen roten Kreis in einem schwarzen Herz abbildete. Angela kannte das Symbol, da war sie sich sicher, konnte es aber momentan nicht zuordnen. Die junge Frau blickte zu ihr hoch, erkannte sie, erschrak, wandte rasch den Kopf zur Seite und schlang ihre Arme um sich, wie um sich festzuhalten. Na, das kann ja heiter werden, dachte Angela bei sich.

Sie näherte sich dem Tisch, suchte sich einen Becher aus, der ihr sauber erschien, und öffnete eine der Thermoskannen. Der Geruch von viel zu starkem Beutelschwarztee strömte ihr entgegen. Sie griff sich die nächste und seufzte. Instantkaffee. Plötzlich sehnte sie sich nur noch mehr nach den Tischen im Sonnenschein vor der Bäckerei Wurst.

Angela goss sich Kaffee ein, verfärbte ihn mit jeder Menge H-Milch, natürlich nicht ohne sich vorher des Haltbarkeitsdatums zu vergewissern, und setzte sich auf einen freien Platz. Erst jetzt bemerkte sie das iPad, das auf einem der Stühle lag. Was wollte der Therapeut damit?

Bevor sie weiter darüber rätseln konnte, schwang die Tür auf, und ein junger Mann trat ein. Er trug ein schwarz-weiß quer gestreiftes T-Shirt und eine weiße Hose, die von roten Hosenträgern festgehalten wurde. Sein Gesicht war weiß geschminkt: ein Pantomime.

Ein Pantomime?

Angela überlegte ernsthaft, ob sie in einem absurden Theaterstück von Samuel Beckett gelandet war: Warten auf den Therapeuten.

Der Pantomime begrüßte sie, indem er eine imaginäre Blume von einer ebenso imaginären Wiese pflückte und sie Angela entgegenstreckte. Dabei lächelte er mit aufgerissenen Augen, wie es nur Pantomimen taten. Der junge Mann schien freundlich zu sein. Mental instabil, aber freundlich. Angela nahm die Blume – bestimmt eine Rose – und sagte, durchaus amüsiert: «Vielen Dank.»

Der Pantomime verbeugte sich galant. Anschließend pflückte er eine Menge weiterer Blumen von der Wiese, band sie zu einem Strauß und wollte sie der jungen Frau überreichen, doch die zog ihre Beine auf den Stuhl und kauerte sich noch mehr zusammen. Der Pantomime legte seinen Strauß auf dem Platz neben ihr ab und setzte sich auf einen anderen. Dabei rieb er sich eine imaginäre Träne aus dem Auge. Er wirkte aufrichtig betrübt.

Eine Weile saßen die drei schweigend da. Die junge Frau mit den blau gefärbten Filzhaaren schloss die Augen, während der Pantomime so tat, als würde er Luftballons aufblasen und zu Ballontieren zusammenknoten. Was die beiden Patienten wohl hierherführte? Angela konnte sich keinen Reim darauf machen. Umso neugieriger war sie, was passieren würde, wenn die Therapiestunde losging. Vorausgesetzt, der Pantomime würde überhaupt sprechen.

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und ein kleiner untersetzter Mann mit silbernem Haarkranz stürmte in den Raum. Er war vielleicht sechzig Jahre alt. Sein schwarzgrauer Oberlippenbart war gerade noch breit genug, um nicht sofort Assoziationen mit Charlie Chaplin und Adolf Hitler zu wecken. Dass zwei derart unterschiedliche Menschen wie der Komiker und der Diktator zur gleichen Zeit ein so ähnliches Markenzeichen besessen hatten, faszinierte Angela stets aufs Neue, besonders seitdem sie erfahren hatte, dass Chaplin und Hitler in einem Abstand von nur vier Tagen geboren worden waren.

«Meine verdammte Krankenkasse», meckerte der Mann drauflos, «hat die Therapie nicht verlängert. Da zahlt man Jahrzehnte ein und bekommt rein gar nichts für seine Kohle! Dieses Land geht endgültig den Bach runter!»

Es war Angela sofort klar, dass sie einen waschechten Wutbürger vor sich hatte. Sicher hatten diese Menschen Gründe für ihren Zorn, meist sehr persönliche, wie Angela wusste, doch sie hatte kein Interesse daran zu erfahren, um welche es sich bei diesem Mann handelte.

«Ach du Scheiße!», fluchte er, als er Angela entdeckte. «Was machen Sie denn hier?»

«Das Gleiche wie Sie», konterte Angela nüchtern.

«Sich über die Krankenkasse aufregen?» Der Mann verstand nicht sofort.

«Ich nehme an der Gruppensitzung teil.»

«Soll das eine Schocktherapie für mich werden?», ätzte der Kerl.

«Werner», erklang eine Frauenstimme, «was habe ich dir gesagt, wie du dich anderen Menschen gegenüber benehmen sollst?»

«Netter», grummelte der Wutbürger und schielte zur Tür, wo eine rundliche, fröhliche, blond gefärbte Mittfünfzigerin im knallrosa Kleid stand.

«Ganz genau!»

«Aber das ist Angela Merkel!»

«Und auch zu ihr sind wir nett!», erklärte die mollige Frau, ging auf Angela zu, streckte ihr die Hand entgegen und sagte: «Hallo, ich bin die Rosa.»

«Guten Tag, Rosa.» Angela schüttelte ihr die Hand.

«Eigentlich heiße ich Barbara, aber ich finde Rosa schöner.»

Angela lächelte freundlich und dachte sich, dass Rosa eine bessere Vornamenswahl war als Magenta, Creme oder Ocker.

«Willkommen in der Gruppe», strahlte Rosa zurück und löste den Händedruck, «ich habe mich schon gefragt, wann Sie hier mitmachen.»

«Sie haben sich das gefragt?», staunte Angela.

«Ich habe Sie öfter mit Ihrem Hund durch den Ort spazieren sehen, und dabei wirkten Sie in letzter Zeit immer so betrübt.»

Hatten etwa alle Einwohner Klein-Freudenstadts begriffen, dass sie traurig war, bevor sie es selbst bemerkt hatte?

«Ich wäre», stänkerte Werner, der sich einen Kaffee einschenkte, der ihn garantiert nicht beruhigen würde, «auch traurig, wenn ich das Land in diesem Zustand hinterlassen hätte.»

Angela war tief getroffen, tiefer, als ihr lieb war. Rosa hingegen meinte mitfühlend: «Hören Sie nicht auf Werner. Das tun wir auch nicht. Tut keiner.»

«Wäre aber besser», grummelte der Wutbürger.

«Das hier ist die Nele.» Rosa deutete auf die junge Frau.

«Eine Bekloppte aus der Letzten Generation», schnarrte Werner und setzte sich auf einen Stuhl, während Rosa sich den Keksen widmete, frei nach dem Motto: ‹Wenn schon einer, dann gleich drei!› Jetzt erinnerte sich Angela wieder, woher sie das Tattoo der jungen Frau kannte: Es war das Logo der Klimaaktivisten-Organisation.

«Die haben alle zu oft von ihrem Kleber geschnüffelt», fuhr Werner fort, «und zu viele Gendersternchen geraucht.»

Der Mann war wirklich kein Meister des Sprachbildes, doch Angela merkte sofort, dass zwischen ihm und dem Mädchen eine nicht gerade therapieförderliche Stimmung herrschte. Ebenso wie zwischen ihm und dem Pantomimen, der sich vor Werner aufbaute und seine Lippen mit einem Reißverschluss zu verschließen schien, eine Bewegung, die dem Wutbürger bedeuten sollte, den Mund zu halten. Ganz offenbar wollte der Pantomime Nele schützen.

«Wie oft denn noch», schnauzte der kleine Werner den jungen Künstler an, «wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es!»

«Du weißt», mischte sich Rosa ein, «dass er das nicht kann, wegen seinem Trauma.» Sie biss genüsslich in ihren fünften Keks.

«Trauma, Trauma, wenn ich das höre, früher hatten Männer keine Traumen, sondern Träume!»

«Sie sind schon wieder am Streiten», seufzte Fenstermacher, der in diesem Moment den Raum betrat.

«Sie wissen doch», lächelte Rosa, «wie unser Werner ist.»

«Ja», antwortete der Therapeut, und man hörte förmlich sein nicht ausgesprochenes ‹Leider›. Kurz hegte Angela den Verdacht, Fenstermacher hätte höchstpersönlich dafür gesorgt, dass die Kasse die Therapie des Wutbürgers nicht verlängerte, um sich das Leben einfacher zu machen.

Der Therapeut hingegen griff nach dem iPad und erklärte: «Ich schalte noch die Hiltrud hinzu.» Er entsperrte das Tablet, wischte zweimal und drückte einmal, stellte das Gerät hochkant auf den Stuhl, und eine Frau um die vierzig mit anscheinend seit Wochen nicht gewaschenen Haaren und fahlem Gesicht erschien auf dem kleinen Bildschirm. Sie saß in einem Zimmer eines alten Hauses auf einem Plüschsessel, umgeben von Stapeln und Stapeln und noch mehr Stapeln von Büchern, zwischen denen sich weitere Haufen wahllos aufeinandergeworfener Druckerzeugnisse türmten. Die Teilnehmerin war offensichtlich eine Art Bücher-Messie. Hatte Fenstermacher sie zugeschaltet, weil sie weit entfernt lebte? Oder weil sie an einer Krankheit litt?

Fenstermacher wollte sich auf seinem Stuhl niederlassen, da hielt der Pantomime ihm die Hand entgegen.

«Ich soll mich nicht hinsetzen?»

Der Pantomime nickte.

«Liegt da wieder eine unsichtbare Reißzwecke auf meinem Platz?»

Der Pantomime schüttelte den Kopf.

«Ein Furzkissen?»

Erneutes Kopfschütteln.

«Es ist», flüsterte Nele, kaum hörbar, «ein Strauß Sonnenblumen.»

Der Pantomime nickte, nahm den imaginären Strauß vom Stuhl, ging zu einer leeren verstaubten Billigvase, die auf dem Fensterbrett stand, und steckte die Blumen hinein. Angela aber staunte. Die junge Frau wusste sogar, dass es sich bei dem Strauß um Sonnenblumen handelte. Sie selbst war ja von Rosen ausgegangen. Anscheinend lag diese Nele mit ihrer Fantasie auf der gleichen Wellenlänge wie der Pantomime.

«Was für ein Affenzirkus», stöhnte Werner.