Mit dem letzten Zug - B. Horst Feuer - E-Book

Mit dem letzten Zug E-Book

B. Horst Feuer

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Beschreibung

Ein brutales Verbrechen schockiert im Mai 1905 die Menschen in einem beschaulichen Schwarzwaldtal. Ein zwölfjähriges Mädchen wird ermordet aufgefunden. Die Bevölkerung ist aufgebracht, und eine fieberhafte Suche nach dem Täter beginnt. Heribert Finkner, einen Regierungsbeamten, der sich zu dieser Zeit zufällig dienstlich dort aufgehalten hat, lässt das Geschehen nie mehr los und viele Jahre später begibt er sich auf Spurensuche. Er fahndet nach Zeitzeugen und findet einen alten Lehrer, der sich intensiv mit dem Fall beschäftigt hat. Finkner erhält Einblicke in dessen Aufzeichnungen und erlebt eine unerwartete, dramatische Entwicklung. B. H. Feuer führt den Leser in die ländliche Welt des Schwarzwaldes zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eindrücklich und authentisch kommen Beteiligte und Zeitzeugen zu Wort und geben Zeugnis von einem Geschehen, welches das Leben der Bewohner erschüttert. Nach der Festnahme und Verurteilung des Täters scheint alles wieder im Lot, doch der Schein trügt.

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B. Horst Feuer

MIT DEM LETZTEN ZUG

Kriminalgeschichte

Engelsdorfer Verlag

Leipzig 2016

B. Horst Feuer

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de

abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Cover

Titel

Der Autor

Impressum

Widmung

Prolog

Damals

Später

Jetzt oder nie

Zu guter Letzt

Dank

Quellen

Für Luisa, Lotta und Linus

PROLOG

„Wie ein Lauffeuer durchlief heute in frühester Morgenstunde die Kunde von einem schrecklichen Verbrechen unser Städtchen, und zwar war es die Kunde von einem ganz in der Nähe begangenen Lustmord, die die Bevölkerung in große Aufregung versetzte. Was wir darüber bis jetzt feststellen konnten, ist folgendes: Gestern Abend ½ 6 Uhr schickte Landwirt Valentin Bucher von dem ¾ Stunden von hier entfernten, zum hiesigen Kirchspiel gehörenden Ort Oberentersbach seine 12 Jahre alte Tochter Veronika nach hier, wo sie verschiedene Einkäufe für den Haushalt machen sollte und auch besorgte. Auf dem Rückweg, den sie gegen ¾ 7 Uhr hier antrat, hatte sie eine Handtasche, in welcher sie 2 Flaschen mit Essig und Oel trug, ferner einen in ein Tuch eingewickelten Laib Brot und eine eingerahmte, in Papier eingeschlagene Photografie, welch letztere sie und ihren Bruder und noch 3 Schulkameraden als Erstkommunikanten zeigte. Ein hier wohnhaftes, etwa 7jähriges Mädchen begleitete sie bis einige Schritte vor den Wald, allwo sie unter einem Apfelbaum sich setzten und gemeinschaftlich Wurst und Brot aßen. Hierauf ging das Zeller Mädchen wieder Zell zu, während Veronika Bucher den Weg nach Hause fortsetzte. Kurz vor 7 Uhr hörten nun Spaziergänger, die dort vorbei gingen, zwei Schreie, die indes sofort verstummten und nichts Böses ahnend setzten die Leute ihren Spaziergang fort. Veronika aber kam nicht nach Hause und als die Zeit ihrer mutmaßlichen Rückkehr immer mehr und mehr verstrich, begaben sich die schwer geängstigten Angehörigen des Mädchens im Verein mit den Nachbarn auf die Suche, welche sie die ganze Nacht fortsetzten. Endlich morgens ¼ 5Uhr fanden sie das arme Mädchen in einem hohen Kornacker, unter einem Apfelbaume liegend, etwa 30 bis 40 Schritte von der Straße entfernt und etwa 200 Meter unterhalb des Waldes, tot, erwürgt und übel zugerichtet, auf. Den Schrecken der Eltern kann man sich nicht ausdenken. Die Hände leicht über den Kopf gekrümmt, an dem Hals Strangulierungsmerkmale, leichte Kratzwunden im Gesicht und verschiedene leichte Verletzungen im Unterleib, lag das bedauernswerte, junge Opfer einer Bestie in Menschengestalt da.“

DAMALS

Der Zusammenbruch des Großherzogtums und das Ende Badens waren mit der Flucht des Regenten nach Badenweiler und seiner kurz danach erfolgten Abdankung besiegelt. Im August war noch das 100-jährige Jubiläum der Badischen Verfassung gefeiert worden. Ja, so schnell kann es gehen!

Die Grundlage seiner beruflichen Existenz war ihm entzogen, was macht ein Regierungsdirektor ohne Regierung, ohne staatliche Verwaltung?

Das Schicksal bzw. sein Alter aber wollten es, dass er just in dieser Zeit des Umbruchs fast das Ende seiner Dienstzeit erreicht hatte und mit der Auflösung Badens, im November 1918, dann vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurde. „Man muss auch mal Glück haben“, meinte seine Frau. Er sah das nicht so, ihm war nicht wohl.

So also saß Heribert Finkner in seiner Karlsruher Wohnung und erlebte das bittere Ende des grauenvollen Ersten Weltkrieges. Er hatte keine Gelegenheiten mehr hinauszukommen und fühlte sich ständig unter Aufsicht.

Zwar versuchte er sich mit Dingen zu beschäftigen, die er sich für den Ruhestand aufgehoben oder vor sich hergeschoben hatte, aber das befriedigte ihn nicht. Was hatte er nicht alles vorgehabt, was wollte er noch alles tun.

Jetzt, da er die Zeit hatte, drängte es ihn, Unerledigtes anzugehen und sich Liegengebliebenem zuzuwenden. Er hatte das Gefühl, sich beschäftigen zu müssen, nur um nicht ins Grübeln zu kommen, nicht unruhig zu werden. Er kam zur Überzeugung, sein weiteres Leben nur genießen, ja ertragen zu können, wenn er alles in Ordnung gebracht und zu seiner Zufriedenheit erledigt hätte.

Obwohl er ahnte, dass er diese Aufgabe nie würde ganz vollenden können, musste er sie in Angriff nehmen, er konnte nicht anders. Seine Beamtenseele brauchte dieses Vorgehen, dieses Prinzip. Wann immer er sich in den letzten Wochen nach seiner Pensionierung zum Arbeiten, Lesen oder einfach zum Müßiggang niedergelassen hatte, dauerte es nicht lange bis ihm jenes Ereignis, diese Geschichte, der Lustmord, der Mädchenmord in den Sinn kam – es ließ ihm keine Ruhe.

Immer öfter – und er hätte es zugeben müssen, schon seit längerem – beschäftigte ihn die Sache, die er vor vielen Jahren erlebt hatte. Es reizte ihn, ja, es drängte ihn, sich darum zu kümmern. Auch weil er wieder rauskommen wollte.

Finkner war mürrisch und unzufrieden, und er ärgerte sich über sich, über sein Leben – ach, über fast alles und jedes. Er hatte wenig von all dem erreicht, was er gewollt hatte, und vieles, was er erreichte, hatte er so nicht gewollt.

In letzter Zeit wuchs der Unmut über seine Situation und ihm wurde immer bewusster, dass manches wohl auch mit damals zusammenhing, auch wenn er sich noch so sehr dagegen wehrte und es nicht wahrhaben wollte, auch selbst schuld zu sein.

Aus der Sicht seines Umfelds konnte man bei oberflächlicher Betrachtung ja immerhin meinen, dass alles glatt, als ob so geplant verlaufen war: geordnet, gerade und ohne Abweichungen, verlässlich und voraussehbar: Karriere, Familie, Ansehen, alles bestens.

Ja, so sahen es die anderen, aber er, er wusste, so glatt war das nicht gegangen. Er hatte anderes vorgehabt, er hatte anders leben wollen, hatte Pläne.

Doch er ließ sich in die Pflicht nehmen, machte sich selbst zum Gefangenen. Er ließ sich gängeln und fühlte sich fremdbestimmt, benutzt, bedrängt. Seine Wünsche und Vorstellungen waren und blieben weggesperrt und mittlerweile schien dies alles ohne jede Aussicht auf Veränderung, was ihn besonders deprimierte.

Ach, wie bewunderte er doch Menschen, die aus der Reihe tanzten und ihr eigenes Leben lebten. Solche, die in der Lage waren, auszubrechen, sich ihren Neigungen hinzugeben, ihre eigenen Interessen wichtig zu nehmen, und er bemerkte wohl, und es belastete ihn schon lange, dass er sich nach einem anderen Leben sehnte und ihn geheime Wünsche und Träume beschäftigten und quälten.

Gerade auch seine Frau und seine Ehe gehörten zu den Lasten, die er zu tragen gezwungen war. Er fühlte sich ewig bevormundet, unfrei, ja, wie geknechtet. Der übermächtige Vater hatte die Braut aus gutem Hause damals ausgewählt. Die ständig kränkelnde Mutter ihn bedrängt: „Kind, ich könnte viel ruhiger sterben, wenn ich dich versorgt wüsste.“

Er hatte sich gebeugt und litt unter der „Herrschaft“ seiner Gattin und ihn demütigten, wie er sich irgendwann eingestehen musste, die Tuscheleien und Anzüglichkeiten von Verwandten und Freunden. Warum hatte er es nie geschafft, auszubrechen, sich aufzulehnen?

Er war ja als Ministerialbeamter in der großherzoglichen Verwaltung in Karlsruhe tätig und in dieser Aufgabe auch des Öfteren dienstlich im Ländle unterwegs. Zuständig für Gewerbe und Industrie ging es immer wieder um Gründungen oder Erweiterungen von Fabriken, um Genehmigungen und vieles andere mehr. Oft vereinbarte er daher Ortstermine, um durch Augenscheinnahme und persönliche Gespräche mit den Betroffenen sich ein Bild von den tatsächlichen Gegebenheiten zu machen. Und das war auch gut so, denn Papier ist ja bekanntlich geduldig und kann sich nicht wehren.

Zudem gefielen ihm diese Termine ganz außerordentlich, er freute sich, das stickige, langweilige Präsidium verlassen zu können, im Land herumzukommen und Menschen zu treffen, frei zu sein. Draußen war er eine gewichtige Persönlichkeit, er wurde zuvorkommend behandelt und hofiert und das gefiel ihm, hier blühte er auf – es war halt ganz anders als daheim. Hier fand er Anerkennung und Bestätigung, ja, diese Dienstreisen taten ihm gut, sie waren wie willkommene Fluchten aus seinem eintönig empfundenen Dasein und aus der Regentschaft seiner Frau.

Seit sie auch öfter krank war, steigerten sich ihre Schikanen, und er spürte in manchen Augenblicken, wie Wut und Zorn schon Spuren von Hass enthielten und ihn auch ängstigten.

Mit den Weibern konnte er, wenn er allein und weg von Karlsruhe unterwegs war, ganz anders umgehen, und er spielte bisweilen ein gefährliches Spiel. Wenn das die Gattin gewusst hätte!

Ja, er erschreckte bisweilen vor sich selbst, war sich wie fremd ob seines Leichtsinns und trotzdem waren die hinterher mit schlechtem Gewissen erzwungenen Vorsätze bis zur nächsten Reise und Versuchung meist wieder abgemildert und verdrängt.

Auch gönnte er sich bei diesen Anlässen den reichlichen Genuss guten badischen Weines, den er sich in heimischer Umgebung, im Dunstkreis seiner Gattin, auch nicht erlauben durfte, sie war ja eine absolute Gegnerin des Alkohols und er musste gehorchen, obwohl er natürlich heimlich jede Gelegenheit nutzte.

So war er auch schon zuvor zweimal in Zell gewesen. In diesem idyllischen alten Städtchen im Schwarzwald, bekannt als die ehemals kleinste Reichsstadt und durch die beiden Zeller Keramikfabriken. Das heißt, damals waren es noch zwei, später wurden sie vereinigt. Die beiden Firmen waren auch der Anlass seiner Besuche gewesen. Fabrikgründungen, Erweiterungen, Wasserleitungen, Stromerzeugung und andere Vorhaben waren in dieser Zeit an der Tagesordnung und die Behörden hatten viel zu tun.

Das Städtchen liegt etwas abseits der Kinzigtalstraße von Gengenbach nach Haslach und abseits der Schwarzwaldeisenbahn. Gerade als er Zell einen Besuch abstattete, war kaum ein halbes Jahr vorher die Harmersbachtalbahn eingeweiht worden. Diese Nebenbahn verband den Bahnhof Biberach an der Schwarzwaldbahn mit Zell und Oberharmersbach am Ende des etwa zehn Kilometer langen Tales. So war es ihm also möglich, die gesamte Reise mit dem Zug zu bewerkstelligen.

Eine zweite, zugegebenermaßen ganz private Aufgabe hatte ihm seine Gattin noch mitgegeben, klar, wie immer. Ihre jüngste Tochter, die Agathe, war im Begriff, ihren Oberinspektor zu heiraten, und sie beabsichtigten, ihr zur Hochzeit ein Porzellanservice zu schenken. Nun, die Zeller Manufaktur von Georg Schmider hatte damals einen ausgezeichneten Ruf und die Dekore, entworfen von Elisabeth Schmidt-Pecht, gehörten zu den beliebtesten ihrer Zeit, seine Gattin war davon sehr angetan. So hatte sie ihm aufgetragen, sich bei Schmider die ausgestellten Teile anzusehen und, wenn möglich, Muster oder doch wenigstens einen Katalog mitzubringen.

Es war ein heller, sonniger Morgen, als er also mit dienstlichen und privaten Aufgaben versehen los fuhr. Schon früh, kurz nach sieben Uhr, bestieg er den Zug nach Offenburg, wo er gegen halb zehn Uhr ankam.

Mit jeder Minute, die er sich von Karlsruhe entfernte, fühlte er sich wohler und freier und die Welt kam ihm so heiter und schön vor, so dass er in wohliger Vorfreude in sich versank:

„Herrlich, ich muss die beiden Tage genießen.“ Er nahm es sich fest vor.