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In 14 Geschichten lernen wir wütende Feen, erkältete Riesen und verzweifelte Zauberer kennen. Wir erleben, wie eine Prinzessin einem Drachen hilft und wie eine Hexe wieder in ihrem Hexenbuch lesen kann. Außerdem geht es um Trolle, Wassermänner, Monster und Monsterchen und einen waschechten Flaschengeist. Dazwischen lernen wir noch das eine oder andere besondere Wesen kennen. Mehr wird jetzt aber nicht verraten.
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Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Die wilde Fee
Wenn Riesen niesen
Friedolin und das Fahrkartenmonster
Der Wut-Knut
Das Mampf
Ein Zauberer mit Omnibus
Der Waldgeist im Schrank
Der Drache und die feuerspeiende Prinzessin
Ein Haustier für den Fakir
Eine neue Brille für die Hexe
Das Wünschel
Das Gesponster
Paul Quappe – der Wassermann
Das Grusel-Flusel und warum Olli nicht schlafen kann
Wir alle kennen Feen. Da gibt es Blumenfeen, die dafür sorgen, dass die Blumen in den Wiesen und den Blumenkästen auf den Balkonen blühen. Es gibt Eisfeen, die im Winter die Eisblumen an die Scheiben zaubern und im Sommer den Eisdielenbesitzern nachts neue Eisrezepte ins Ohr flüstern. Es gibt Wunschfeen, die ganz braven Kindern einen geheimen Wunsch erfüllen. Und es gibt die Zahnfeen, die den Kindern ein Geldstück dalassen, wenn diese ihren herausgefallenen Milchzahn unter das Kopfkissen legen. Sind alle Feen also freundliche Geschöpfe, die nur Gutes tun? Oh nein. Es gibt manchmal auch böse und gemeine Feen. Aber das weiß so gut wie niemand, denn der GMOPF, der Großmeister für Ordnung, Pünktlichkeit und Freundlichkeit, achtet sehr genau auf das Verhalten aller Feen. Nur etwa alle 63 Jahre gibt es einen Vorfall, bei dem eine Fee gegen die Regeln verstößt und vom GMOPF bestraft werden muss.
Und genau auf diesen überfälligen Vorfall wartete Hieronymus Hüter, GMOPF und damit oberster Polizist und Richter im Feenreich. Er blickte aus dem Fenster im Wachturm des Kristallschlosses und kratzte sich nervös am Kinn. „Es sind jetzt schon 64 Jahre, 1 Stunde und 5 Minuten seit dem letzten Zwischenfall. Das kann nur furchtbar werden“, murmelte er. Sein Blick wanderte zur großen Standuhr. Je länger die Zeit zwischen zwei Vorfällen war, desto schlimmer wurde es. Einmal, als es fast 65 Jahre waren, hatte eine Blumenfee einen Stinkzauber benutzt und alle Blumen auf der ganzen Welt rochen nach Knoblauch und Zwiebeln. Da hörte er von draußen hektisches Flattern und mehrere dumpfe Schläge. Die Tür zum Wachzimmer flog auf und Elvira Eckzahn, die oberste Zahnfee, flatterte unkontrolliert herein. Sie prallte gegen den Schreibtisch und landete nach zwei Drehungen in der Luft im großen Abfalleimer. „Furcht-, schreck-, es ist -, wir müssen -, das hat es noch nie -“, stammelte sie aufgeregt, während sie sich mühsam aufrappelte. Dann stand sie vor Hieronymus Hüter, stemmte die Fäuste in die Hüften und rief: „Ein Hundegebiss und Wildschweinhauer! Es ist katastrofürchterlich. Das muss aufs schlimmerichste bestraft werden. Das hat es bei den Zahnfeen noch nie gegeben!“ „Stopp!“, unterbrach Hieronymus Hüter die aufgebrachte Fee, „wovon sprechen Sie denn?“ Elvira Eckzahn zog zwei Kristalltafeln aus ihrem Kleid. „Diese Bilder hat das Glotzophon gemacht, mit dem wir die Arbeit der Feen überwachen. Tobias und Lukas Weber, Zwillinge, 6 Jahre alt.“ Hieronymus Hüter erschrak. Die beiden Bilder zeigten zwei kleine Jungen, die beide weinten. Einer hatte zwei große Wildschweinhauer, die aus dem Unterkiefer ragten, der andere ein Hundegebiss mit Reißzähnen. „Nicht zu fassen“, entfuhr es ihm, „wer hat das gemacht?“ „Das war O weh“, antwortete die Oberzahnfee, „die habe ich vorhin zu den beiden geschickt um ihre ersten ausgefallenen Zähne zu holen.“
O weh, den Namen hatte der GMOPF schon öfter gehört. Eigentlich handelte es sich um Olivia Winterhut, eine ursprüngliche Eisfee. Doch Olivias Haare waren nicht weiß, wie bei Eisfeen üblich, sondern schwarz mit hellblonden Strähnen. Und da sie im Schnee zu leicht zu entdecken war und im Winter sowieso immer fror und sich erkältete, wurde sie zu den Blumenfeen versetzt. Hier wurde Olivia zu einer Berühmtheit. Nicht weil sie die Blumen so toll blühen ließ. Nein, weil sie die erste Fee in über 10.000 Jahren war, die eine Blumenallergie hatte und ständig niesen musste. Also kam sie zu den Zahnfeen. Die anderen Feen nannten sie von da an wegen ihrer gestreiften Haare nur noch das niesende Zebra. Und das ärgerte Olivia natürlich sehr. Wenn sie sich aber ärgerte, ging immer alles schief. Und wenn etwas schiefging sagte sie immer: „O weh.“ Seit sie zu den Zahnfeen versetzt worden war sagte sie oft: „O weh.“ Erst vorgestern war sie ausgeschimpft worden, weil sie anstatt eines Milchzahns von einem Mädchen das Gebiss von ihrem Opa mitgebracht hatte. Das musste sie natürlich zurückbringen und den richtigen Milchzahn holen. Sie wurde geschimpft und die anderen hatten sie ausgelacht. Das hatte sie so wütend gemacht, dass sich ihre blonden Strähnen rot färbten. Eine Fee mit roten Haaren war aber noch viel gefährlicher als ein Löwe mit Zahnschmerzen. Denn Feen mit roten Haaren reagieren auf Dinge häufig, ohne viel nachzudenken und übertreiben es dabei immer sehr. Und je nachdem wie die Ausgangslage war, konnten bei einer Fee mit roten Haaren dabei die wildesten Ergebnisse herauskommen.
Nun wurde Olivia von Elvira Eckzahn zu Zwillingen geschickt, die beide ihre ersten Zähne am selben Tag verloren hatten. Man muss jetzt wissen, dass der Feenstaub, der die Zauberkräfte der Feen um das Hundertfache verstärkt und viele Zauber erst möglich macht, von uralten Meistern in einem geheimen Labor im Keller des Kristallschlosses hergestellt wird. Einer der wichtigsten Bestandteile dieses Feenstaubes ist ein Pulver, das aus den Milchzähnen der Kinder gemacht wird. Milchzähne von Zwillingen, die am gleichen Tag ausfallen, sind sehr selten und haben eine noch viel größere Kraft als die normalen. Aus ihnen wird der kostbare Obersuperspezialfeenstaub gemacht, der nur vom Königspaar verwendet werden darf.
Olivia ärgerte sich noch immer, als sie in das Zimmer der Zwillinge flog. Beim ersten Jungen gab es keine Probleme. Sie fand den Zahn, legte ihr Geldstück hin und startete zum zweiten. Gerade als sie über das Kopfkissen des zweiten Jungen flog, um den Zahn zu holen und gegen das Geldstück zu tauschen, wachte dieser auf. Er sah die flatternde Fee im Dunkeln und schrie: „Ih, eine Fledermaus!“ Fledermaus? Olivia hatte sich wohl verhört. Dieser Bengel nannte sie eine Fledermaus? Sie wurde wieder wütend. So wütend, dass ihre roten Haare zu glühen begannen. Sie schleuderte ihren ganzen Beutel Feenstaub vor Zorn so fest in das Gesicht des Jungen, dass sein Bruder auch eine ganze Portion abbekam. Dabei fuchtelte sie wild mit ihrem Zauberstab herum und schaute leider auf ein Tierbuch, bei dem ein Schäferhund und ein Wildschwein auf dem Deckel waren. Mehrere Blitze zuckten und ein Junge hatte plötzlich Wildschweinzähne und der andere ein Hundegebiss. Erschrocken begannen beide laut zu weinen, so dass ihre Eltern, die im Zimmer nebenan geschlafen hatten, herüber eilten, um zu sehen, was los war. Als sie ihre beiden Buben mit den scheußlichen Zähnen sahen, erschraken sie fürchterlich. Verwirrt liefen sie umher und sprachen alle durcheinander. Die Mutter wusste gar nicht welchen ihrer Söhne sie als erstes trösten sollte. Der Vater überlegte laut wen er zu Hilfe rufen sollte, den Zahnarzt oder den Tierarzt?
Sieben Minuten nach dem Vorfall traf der GMOPF mit einem eilig zusammengestellten Notfallteam im Zimmer der Zwillinge ein. Gute-Nacht-Feen ließen die Kinder und die Eltern sofort einschlafen. Transport-Feen brachten die vier zurück in ihre Schlafzimmer. Antizauberfeen beseitigten die Tiergebisse mit kompliziertester Magie und ein bisschen Spezialfeenstaub, den die Königin zur Verfügung gestellt hatte. Und Suche-und-finde-Feen machten sich auf die Suche nach der wilden Zahnfee. Sie fanden Olivia ziemlich schnell im Keller, da ihre Haare von jetzt an rot leuchteten und brachten sie zu Hieronymus Hüter. Der GMOPF hielt ein Olivia eine gehörige Standpauke und verurteilte sie noch an Ort und Stelle. Zur Strafe muss sie sich mit ihren leuchtend roten Haaren mindestens 200 Jahre lang auf die Spitze des höchsten Turmes im Kristallschloss setzen, damit die anderen Feen bei Nebel nicht gegen den Turm fliegen. Damit wurde sie die erste Leuchtturm-Fee in der Geschichte des Feenreichs.
Die Zwillinge und die Eltern wachten am nächsten Morgen mit etwas Kopfweh auf. Alle hatten anscheinend schlecht geträumt, konnten sich aber beim besten Willen nicht mehr an den Traum erinnern. Und irgendwie konnten sich die beiden Jungen nicht über ihre Geldstücke freuen, die sie unter ihren Kopfkissen gefunden hatten.
Es waren die großen Ferien. Die Zeit im Jahr, auf die sich alle Schüler und Schülerinnen freuen. Alle, bis auf Amelie. Während ihre Freundinnen so tolle Länder wie Ägypten, Mexiko oder Südafrika besuchen durften, musste sie wieder zu ihrer Großmutter Anneliese in die Berge fahren. Ihre Freundinnen erlebten sicherlich die aufregendsten Abenteuer bei Mumien, Pyramiden, Elefanten und Sombreros. Und sie durfte Kühen beim Käuen und dem Gras beim Wachsen zuschauen. Vermutlich würde sie vor Langeweile Spinnweben ansetzen. Das Haus von Amelies Großmutter lag nämlich mitten in den Bergen, weit weg vom nächsten Dorf. Und das Dorf bestand auch nur aus zehn Häusern, einer Bushaltestelle und einem Briefkasten. Das einzige, was sich in dem Dorf bewegte, war die Klappe des Briefkastens, wenn der Wind stark blies.
Fünf Wochen war Amelie nun hier gefangen. Ihre Großmutter tat alles, um ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, aber sie konnte schließlich keine aufregenden Abenteuer für ein zehnjähriges Mädchen herbeizaubern. So saß Amelie in ihrem kleinen Zimmer unter dem Dach und schaute trüb aus dem Fenster auf die Berge. Plötzlich gab es ein furchtbar lautes Geräusch. Ein lauter Knall, der sich wie ein „Haputtt“ anhörte, gefolgt von einem langen Grollen. Amelie zuckte zusammen. „Ein Gewitter?“, dachte sie, „es scheint doch die Sonne.“ Und was für einen komischen Donner es hier gab. „Nicht mal ein richtiges Gewitter gibt’s hier“, schnaubte sie verächtlich und schüttelte den Kopf. Da donnerte es wieder mit diesem komischen „Haputttttttt!“ Amelie lief nach unten und fand ihre Großmutter in der Küche. „Oma, warum donnert es denn, obwohl die Sonne scheint?“, platzte sie mit ihrer Frage heraus. „Das war kein Donner. Das war ein Niesen von einem der Bergriesen“, antwortete die Großmutter mit einem verschmitzten Lächeln. „Oma, ich bin doch kein Baby mehr“, antwortete Amelie genervt und rollte mit den Augen, „an Riesen glaubt doch kein Mensch.“ Die Großmutter blickte gedankenverloren aus dem Fenster auf die Berge und sagte mehr zu sich selbst: „Doch, ich habe das auch schon als Kind gehört. Meine Oma hat mir die Geschichte von den Bergriesen erzählt. Sie wohnen in einer versteckten Spalte zwischen den beiden Gipfeln, die wie eine Zwergenmütze und eine Kartoffel ausschauen. Manchmal, wenn der Wind im Sommer kühler ist als normal, dann erkältet sich ein Riese und bekommt einen Schnupfen. Und dann hören wir ihn hier niesen, weil wir so weit oben sind.“ Amelie hatte keine Lust mehr auf diesen „Babykram“ wie sie es nannte und ging wieder auf ihr Zimmer.
Als sie in dieser Nacht einschlief, hatte sie einen komischen Traum. Sie träumte von Riesen mit großen Nasen, die Schnupfen hatten und denen die Taschentücher ausgegangen waren und von einem Riesen, der besonders schlimm erkältet war. Gerade als die ersten Sonnenstrahlen die Berggipfel berührten wurde Amelie unsanft von einem lauten „Haputtt“ aus den Bergen geweckt. Sie blickte auf ihren Wecker: „5:40 Uhr!? Der Riese spinnt doch!“, schimpfte sie los. Die Geschichte ihrer Oma und der Traum der vergangenen Nacht schwirrten noch in ihrem Kopf herum. Amelie setzte sich in ihrem Bett auf und traf eine Entscheidung. Wenn die Geschichte stimmen sollte, dann würde sie in ihren Ferien keinen Tag mehr ausschlafen können, wenn dieser Riese seinen Schnupfen nicht loswird. Sie stand auf, verschwand kurz im Bad, zog sich an und schnappte ihren Rucksack. „Mal überlegen“, dachte sie, „was könnte ein erkälteter Riese brauchen?“ Sie nahm zwei große Betttücher aus der Kommode. „Da hätte ich schon mal die Taschentücher.“ Und aus der Küche holte sie eine große Packung Erkältungstee und zwei große Gläser Honig. „Erkältungstee mit Honig hilft immer“, dachte sie. Anschließend machte sie sich noch ein paar belegte Brote und nahm zwei Flaschen Apfelsaft mit. Als alles im Rucksack verstaut war, hob sie ihn auf und wäre fast nach hinten umgefallen. „Ui, der ist schwer“, dachte sie, „hoffentlich krieg ich den die Berge hoch.“ Dann trat sie vor die Tür.
Ihre Großmutter hatte gesagt, dass die Riesen zwischen zwei Berggipfeln leben würden. Der Zwergenmützengipfel und der Kartoffelgipfel waren nicht zu übersehen. Also atmete sie noch einmal tief durch und stapfte los. Von ihrem Fenster aus hatten die Berge nicht so groß ausgesehen. Jetzt, als sie zu Fuß unterwegs war, schienen sie plötzlich unerreichbar. Amelie kamen Zweifel. Sicherlich war das doch nur eine blöde Geschichte, dachte sie, und wollte schon umkehren. Aber ein erneutes „Haputt“ zerstreute ihre Zweifel und sie lief weiter. Nach ungefähr zwei Stunden stand sie am Fuß der beiden Berge. Eine geheime Spalte, hatte ihre Großmutter gesagt, die musste sie nun finden. Und zum ersten Mal hoffte Amelie auf einen Nieser, der ihr die Richtung zeigen konnte. „Erst einen mitten in der Nacht wecken und dann nicht niesen, wenn man es brauchen könnte“, schimpfte Amelie als sie zwischen den Felsen herumkletterte. Plötzlich entdeckte sie zwei große spitze Felsen, die schräg aneinander lehnten und auf einer Steinplatte standen. Das sah fast wie ein Tor aus. „Bis dahin klettere ich noch, dann mach ich erst einmal Pause“, dachte sie. Als sie die Felsen erreicht hatte, setzte sie sich auf die große Steinplatte und biss in ein Brot. Auf einmal ließ ein lautes „Haputt“ die Platte so wackeln, dass Amelie umkippte und mitsamt ihrem Rucksack ein ganzes Stück weiter nach hinten in eine Felsspalte kullerte.
Hier, hinter den spitzen Felsen in der Spalte war es dunkler und deutlich kühler. Als Amelie sich aufgerappelt hatte und nach ihrem Rucksack greifen wollte, sah sie plötzlich in ein riesengroßes Auge. Sie erschrak und konnte sich vor Angst nicht rühren. Da erhob sich das Auge und ein zweites Auge kam zum Vorschein. Es folgten eine große Knubbelnase und ein Mund, der von einem dichten Bart umgeben war. „Ja wer bist du denn und wie kommst du hierher?“, fragte das große Gesicht mit einer donnernden Stimme. „Ich heiße Amelie“, flüsterte sie leise. „Ich habe zwar große Ohren, aber so gut höre ich dann auch nicht“, entgegnete das große Gesicht. „Ich heiße Amelie und ich bringe etwas gegen die Erkältung“, antwortete Amelie jetzt mit fester Stimme. „Ehrlich? Etwas gegen Erkältung? Dich schickt der Himmel!“, jubelte das Gesicht und nun erhob sich die ganze Gestalt zu einem furchtbar großen Riesen. Der große Sprungturm im Freibad, auf den sich Amelie nicht traute, war ungefähr so groß wie dieser Riese. „Hättest du etwas dagegen, wenn ich dich auf die Hand nehme?“, fragte der Riese, „wir sind dann schneller. Es ist noch ein ganzes Stück bis zu Reiffried und ich mache größere Schritte.“ Amelie zögerte kurz, aber willigte dann ein. Sie war jetzt eh hier und was sollte sie auch anderes tun. Der Riese bückte sich und Amelie kletterte auf seine Handfläche. Die Hand war erstaunlich weich und roch nach Moos. „Übrigens, ich heiße Brummfried“, stellte sich der Riese vor.
Mit großen Schritten lief Brummfried weiter in die Felsspalte hinein. Amelie staunte nicht schlecht, als sie viele wundersame Dinge sah. Obwohl hier keine Sonne schien war es doch hell, denn es lagen überall Steine herum von denen manche gelb und manche blau leuchteten. „Wer wohnt denn in dem Haus da?“, fragte Amelie und deutete auf ein großes Gebilde, das sie in der Ferne entdeckt hatte. Der Riese lachte schallend: „Das ist doch kein Haus. Das ist ein Schuh, den jemand dort vergessen hat. Hier ist alles etwas größer als bei dir daheim.“ Da hatte er recht. An manchen Stellen waren die Grashalme so groß wie Bäume.
Dann erreichten sie das Dorf der Riesen. Da standen ungefähr zwanzig gigantische Häuser um einen großen Platz herum. Amelie war zu Beginn ihrer Reise von der Größe der Berge beeindruckt gewesen. Und trotzdem verstand sie nicht, wie diese Häuser überhaupt Platz zwischen den Bergen hatten. Brummfried schien ihre Gedanken erraten zu haben: „Riesig, nicht wahr?“, fragte er sie, „aber wir befinden uns jetzt auch unter den Bergen.“ Da ertönte ein ohrenbetäubendes „Haputt“, so laut und fest, dass das Dach von einem der Häuser einige Meter in die Luft flog und dann wieder krachend auf den Mauern landete. „Da wohnt Reiffried“, sagte Brummfried und deutete auf das Haus, „und der ist erkältet.“ Als sie das Haus von Reiffried betraten bekam Amelie wieder etwas Angst. Da standen ein dicker Riese mit schwarzem Zottelbart und eine blonde Riesin vor einem Bett, in dem ein dritter Riese mit einer riesigen, roten Nase lag. Brummfried setzte Amelie auf einem großen Tisch in der Raummitte ab. „Das sind Knollfried und Hochfrieda, die Geschwister von Reiffried, der übrigens da im Bett liegt“, stellte er die anderen Riesen vor, „und das ist Amelie. Sie hat unserem Reiffried etwas mitgebracht.“
Überrascht blickten die Riesen auf das kleine Mädchen das Brummfried mitgebracht hatte. Sogar Reiffried hob seinen Kopf. „Ja“, wandte sich Amelie an die Riesen, „ich habe zwei Taschentücher, Erkältungstee und Honig mitgebracht. Allerdings glaube ich, dass die Portion etwas klein ist.“ „Taffentüfer, fie hat Taffentüfer mitgebraft“, freute sich Reiffried trotz seiner verstopften Nase. Amelie gab Knollfried die beiden Bettlaken, die dieser an Reiffried weiterreichte. Mit einem ohrenbetäubenden Tröten, das einer ganzen Elefantenherde Ehre gemacht hätte, schnäuzte der sich lange und ausgiebig. „Aaaahhhh, hat das gutgetan“, freute er sich, „vielen, vielen Dank Amelie.“ Diese hatte mittlerweile das Paket mit dem Erkältungstee und die beiden Gläser Honig aus ihrem Rucksack geholt. „Ich habe hier noch Erkältungstee und Honig. Na ja, für eine Tasse wird es vielleicht reichen.“ Hochfrieda lächelte und nahm die Sachen an sich. Sie holte eine Tasse, die größer war als das Auto von Amelies Vater, und füllte sie mit heißem Wasser. Dann schüttete sie den gesamten Tee und den Inhalt der beiden Gläser hinein und rührte kräftig um. Sie brachte die Tasse zum Bett und Reiffried schlürfte den Tee mit kleinen Schlucken bis nichts mehr darin war. Er leckte sogar die letzten Tropfen heraus. Ruckartig setzte er sich in seinem Bett auf, streckte und reckte sich und dann atmete er so kräftig durch die Nase ein, dass es Amelie fast vom Tisch gezogen hätte. Sie konnte sich gerade noch an einem Kerzenständer festhalten, der fast doppelt so groß war wie sie. Dabei schoss ihr die Frage durch den Kopf, wie groß hier die Bienen sein mussten, wenn es hier so große Wachskerzen gab? Reiffried sprang geradezu aus seinem Bett und Amelie staunte, als sie sah, wie schnell die rote Nase wieder ihre normale Farbe bekam. „Genau so etwas habe ich gebraucht“, rief er dröhnend. Amelie kam aus dem Staunen kaum heraus: „Wie schnell war das denn? Du hast den Tee doch erst vor drei Minuten getrunken.“ „Bei uns Riesen ist das so“, antwortete Hochfrieda lächelnd, „wir werden selten krank. Aber wenn, dann richtig stark. Und wenn wir eine Medizin bekommen, dann werden wir auch riesig schnell wieder gesund. Dein Erkältungstee und der Honig waren genau die richtige Medizin in der richtigen Menge zur richtigen Zeit.“
„Womit können wir uns denn bei dir bedanken?“, fragte sie Knollfried, der bisher noch gar nichts gesagt hatte. „Wir schulden dir etwas, weil wir heute zum ersten Mal seit Tagen wieder schlafen können.“ „So aufregend es bei euch auch ist, ich würde gerne wieder heim zu meiner Oma gehen. Ich bin seit Stunden weg und sie macht sich sicherlich Sorgen“, antwortete Amelie. „Ich bringe dich runter zu eurem Haus“, sagte Brummfried. Amelie verabschiedete sich von den Riesen und Brummfried setzte sie auf seine Schulter. Dann verließen sie das Dorf der Riesen und Brummfried lief mit riesigen Schritten zum Ausgang der Felsenspalte. „Nicht erschrecken“, sagte er zu Amelie, als sie kurz vor dem Ausgang waren. „Wenn wir Riesen ins Sonnenlicht kommen verändern wir unser Aussehen. Darum werden wir von den Menschen normalerweise nicht gesehen.“ Bei diesen Worten trat er nach draußen und die Sonnenstrahlen trafen seinen Körper. Sein Hemd und seine Hose verwandelten sich augenblicklich zu Moos und seine Haut bekam die graue Farbe der Felsen. Hätte sie jemand gesehen, so hätte sich dieser über ein Mädchen auf einem großen, laufenden Felsen gewundert.
Der Aufstieg von Amelie hatte einige Stunden gedauert, der Rückweg auf Brummfrieds Schulter dauerte nur etwa zwanzig Minuten. Als er in den Schatten des Hauses trat und in die Hocke ging, nahm er wieder sein normales Aussehen an. Vorsichtig setzte er Amelie ab. „Danke für deine Hilfe. Das war sehr mutig für ein so junges Mädchen und wir werden das bestimmt nicht vergessen“, bedankte er sich. Amelie drückte Brummfried noch einmal, so gut das bei seiner Größe eben ging. Dann lief sie ins Haus und in die Küche, denn nach diesem Abenteuer hatte sie einen riesen Hunger. Brummfried hatte ihr noch kurz nachgeschaut, da riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken: „Na Brummfried, ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal sehen.“ Er blickte zur Seite und sah Amelies Großmutter an der Hausecke stehen. „Anneliese! Amelie ist deine Enkelin?“, flüsterte Brummfried erstaunt, dann lächelte er, „dann wundert mich nichts mehr. Weiß sie, dass sie nicht das erste Mädchen ist, das einem erkälteten Riesen Taschentücher und Medizin gebracht hat?“ „Nein, noch nicht“, antwortete die Großmutter, „aber ich werde später mit ihr reden und ihr alles erklären. Dann wird sie erfahren, dass schon meine Großmutter als junges Mädchen einem Riesen namens Bärfried seine Medizin gebracht hat und ich mit elf Jahren einem netten Riesen … mit dem Namen Brummfried.“ Brummfried lächelte: „Wenn das so ist, dann freuen wir uns heute schon auf Amelies Enkelin.“ Er stand auf und sobald ihn die Sonnenstrahlen berührten wandelte sich sein Aussehen wieder in einen mit Moos bewachsenen Felsen. Amelies Großmutter winkte ihm hinterher, als er rasch mit großen Schritten in Richtung der Berggipfel verschwand. Dann drehte sie sich um und freute sich auf das Gespräch, das sie nun mit ihrer Enkelin haben würde.
Friedolin saß auf dem Dach des Zuges von München nach Nürnberg und brauste so mit 180 Stundenkilometern durch die Landschaft. Wer jetzt glaubt, dass das nicht geht und dass es viel zu gefährlich wäre, auf dem Dach eines Zuges zu reisen, der muss wissen, dass Friedolin kein gewöhnlicher Fahrgast war. Nein, Friedolin war ein Gespenst. Genauer gesagt handelte es sich um Friedolin von Schreckeneck und Knochenstein, einem fast ehemaligen Burggespenst und leidenschaftlichen Was-auch-immer-Fahrer. Sobald etwas Räder hatte und sich fortbewegen konnte, musste Friedolin damit fahren. Das hatte schon in der Ritterzeit angefangen, als er sich in den Ochsenkarren und später in den Pferdekutschen versteckte. Man muss dazu wissen, dass Gespenster nicht nur in der Geisterstunde von Mitternacht bis 1:00 Uhr wach sind. Oh nein. Gespenster können den ganzen Tag und die ganze Nacht wach sein und spuken. Nur hin und wieder rollen sie sich irgendwo zusammen und schlafen ein paar Minuten oder ein paar Wochen. Friedolin schlief nur ganz selten und dann immer nur kurz. Er hätte ja die Gelegenheit zu einer besonderen Fahrt verpassen können. Wenn Friedolin jemanden kennenlernte und sich vorstellen musste, dann sagte er immer: „Mein Name ist Friedolin von Schreckeneck und Knochenstein. Ich bin kein „Geh“-spenst, sondern ein „Fahr“-spenst.“ Seit der Erfindung der Eisenbahn fuhr er fast nur noch Zug. Ganz selten versteckte er sich in einem Lastwagen oder einem anderen Auto. Einmal war er auch heimlich in einem Rennwagen der Formel 1 mitgefahren. Tausende Zuschauer waren an der Rennstrecke, Reporter, Mechaniker und viele andere. Alle waren begeistert nur Friedolin hatte sich gelangweilt. Das blöde Rennauto war zwar wahnsinnig schnell gewesen, aber es fuhr fast 80 Runden nur im Kreis. Immer wieder dieselbe Strecke. Wenn Friedolin kein Gespenst gewesen wäre, er wäre sicherlich vor Langeweile gestorben.