Mit Herz und Klarheit - Herbert Renz-Polster - E-Book
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Herbert Renz-Polster

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Beschreibung

Der renommierte Erziehungsexperte und Kinderarzt Herbert Renz-Polster stellt immer wieder fest: Das Thema Autorität ist ein Knackpunkt, an dem viele Eltern den Eindruck haben, mit der bedürfnisorientierten Erziehung nicht weiterzukommen. Wie aber kann eine andere, menschliche Autorität funktionieren? In diesem Buch macht er fundiert und umsetzbar verständlich, wie sich Achtsamkeit, Respekt und Mitbestimmung mit Klarheit, Führung und Verantwortung verbinden lassen, und vermittelt ein klares Bild von einer guten Kindheit, ohne falsche Leuchttürme und Erziehungstrends.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Auf der Suche nach dem guten Kern von Erziehung

Kapitel 1 Reise ins Ungewisse

Entwicklungsziel Neuland

Wurzelflügelwesen

Das Lebensfundament

Kapitel 2 Das vierblättrige Kleeblatt

Heimat geben – und Orientierung

Das vierte Kleeblatt

Kapitel 3 Das magische Band

Eine Geschichte der Missverständnisse

Bowlby meets Germany

War die BRD bindungsfreundlicher?

Das Bonding-Desaster

Was ist dran am Konzept eines Bindungszeitfensters?

Attachment Parenting: Befreiendes Konzept mit Fragezeichen

Vermasselt Fremdbetreuung die Bindung?

Ein neuer Stress: Bindungskonkurrenz

Bindung als Straftat?

So sicher gebunden wie möglich

Kapitel 4 Begleiten, nicht steuern – auf die Balance kommt es an

Kinder, die immer gesteuert werden, kommen nicht voran

Begleiten, ermöglichen – und Orientierung geben

Kapitel 5 Erziehung und was es dazu (nicht) braucht

Ideale können beflügeln – aber auch lähmen

Können wir bedingungslos lieben?

Selbstfürsorge – Zauber mit Lücken

Muss ich zuerst mein inneres Kind umarmen?

Erziehung hängt an unserem Sein

Der Grundton zählt

Kapitel 6 Bedürfnisorientierte Erziehung – was ist das eigentlich?

Das Kreuz mit den Bedürfnissen

Kapitel 7 Mit Herz und Klarheit – echte Autorität ist möglich

Das Herz der echten Autorität

Echte Autorität: die ultimative Challenge

Neue Autorität – wer führt da?

Der Weg zu echter Stärke

Kapitel 8 Das kooperative Kind – wo ist es geblieben?

Kapitel 9 Grenzen neu denken

Nein sagen – eine Frage des »Wie«

Grenzen: kein Thema, wenn wir einen Kompass haben

Die Flügel nicht vergessen!

Kapitel 10 Grenzen – die praktischen Fragen des Alltags

Darf ich mich durchsetzen?

Darf ich Verbote aussprechen?

Darf ich mit Konsequenzen arbeiten?

Darf ich »Wenn …, dann …« sagen oder »bis drei zählen«?

Darf ich schimpfen?

Darf ich strafen?

Muss ich immer konsequent sein?

Darf ich mein Kind bestechen?

Darf ich mein Kind loben?

Müssen wir uns einig sein?

Was bringen Absprachen und Regeln?

Kapitel 11 Neue Medien – auf die Begleitung kommt es an!

Wir sind Jäger und Sammler – von Geschichten

Wir brauchen ein eigenes Drehbuch

Kleine Kinder – kleine Probleme?

Die Handy-Frage

Die Online-Welt deines Kindes ist anders als deine

Medien- und Kommunikationsstress

Medienstress im Quadrat: Vergleiche Dich – und verzweifle dabei!

Das doppelte Handicap der Jugendlichen

Die Wirksamkeitslücke

Für manche Kinder: vom Regen in die Traufe

Handy, jetzt aber

Noch einmal: Auf die Begleitung kommt es an

Die Diskussion geht weiter

Kapitel 12 Mehr Kindheit wagen!

Kindheit verloren?

Kindheitsmuster heute

Kitas in Not

Schulen in Not

Lasst uns zur Besinnung kommen

Zusammenwachsen, zusammen wachsen: Das Geheimnis des Gelingens

Danksagung

Über den Autor

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Dieses Buch ist meinem Freund, Begleiter und Lehrer Remo Largo gewidmet.

Wie gerne hätte ich Dir dieses Buch in die Hände gelegt!

Reise ins Ungewisse

Ich bin mir sicher, dass alle, die dieses Buch lesen, einen ganzen Karton voller Fragen haben: Darf ich mein Kind bestrafen? Etwa, indem ich Konsequenzen durchsetze? Darf ich Dinge verbieten? Überhaupt: Grenzen setzen, wie macht man das? Und engt das mein Kind nicht zu sehr ein? Was ist mit Belohnungen für gutes Verhalten? Ist Schimpfen immer schlimm für das Kind? Ab wann darf es ein Handy bekommen? Und, und, und … Ja, über all das werde ich schreiben und über viele andere Fragen. Und doch will ich dieses erste Kapitel einer anderen Perspektive widmen, einer Art Vogelschau: Wo kommen unsere Kinder her? Was suchen sie für ihre Entwicklung? Für mich ergeben alle Erziehungsfragen nämlich nur vor diesem Hintergrund Sinn: Mit wem haben wir es eigentlich zu tun? Was ist der grundsätzliche »Auftrag« von Kindern, was ihr tiefster Plan? Ich finde, wir vergessen diesen Blick manchmal und verlieren vielleicht auch deshalb bisweilen das Maß: Weil wir das Wunder nicht verstehen, wie unsere Kinder sich entwickeln. Dieses Wunder wird uns bei der Suche nach einem guten Weg in der Erziehung leiten können. Bei der Frage nach den Grenzen und bei der nach den Belohnungen.

Auch bei der Handyfrage? Natürlich.

Eine Geschichte vorweg, unsere Geschichte

Vor vielen, vielen Hunderttausenden von Jahren entwickelte sich in den Savannen Afrikas eine neue Tierart. Schon bald wurde klar, dass sie alles übertreffen würde, was Tieren bisher möglich gewesen war. Ja, sie würde sich als erste Art überhaupt außerhalb des Tierreiches stellen.

Die bisher bekannten Tierarten passten sich an die Gegebenheiten und Begrenzungen ihrer Umwelt an. Jede tat das auf ihre eigene Art und sicherte sich so ihren Zugang zu Nahrungsquellen, Schutz und Fortpflanzungsmöglichkeiten. Das eine Tier setzte dabei zum Beispiel auf Muskelkraft – etwa das Mammut. Das andere auf Schnelligkeit – zum Beispiel die Gazelle. Wieder ein anderes auf giftige Tentakel. Und so weiter. All diese Lebewesen waren Anpassungskünstler, die sich auf ihre besondere Art am Angebot der Natur bedienten.

Diese neue Tierart aber, das war bald abzusehen, nahm einen anderen Weg. Natürlich, auch sie musste sich an die Umwelt anpassen. Nur tat sie das auf eine noch nie da gewesene Weise: Sie passte sich an die Umwelt an, indem sie diese systematisch veränderte. Immer effektiver, immer radikaler. Kurz, diese Art spezialisierte sich auf Disruption: das Alte abreißen, Neues schaffen. Die Umwelt so gestalten, dass sich darin besser leben lässt. Anders ausgedrückt: Die neue Art erschuf Kultur. Und obwohl auch andere Tiere kulturelle Strategien hatten – etwa Wale, Menschenaffen oder manche Vögel –, gab es doch einen gravierenden Unterschied: Für den Menschen war die Kultur die dominierende evolutionäre Kraft.

Für ihr revolutionäres Werk verließ sich diese neue Art auf die immer bessere Leistung ihres Gehirns. Dieses extrem aufwendige, hungrige und flexible Organ ermöglichte nicht nur die Anfertigung immer besserer Werkzeuge, sondern vor allem die immer engere Zusammenarbeit mit Artgenossen. Und welche Vorteile diese Grenzgänger sich mit ihrer Fähigkeit zur intensiven Kooperation verschafften! Sie konnten jetzt das Feuer mit sich tragen. In bisher unbesiedelte Räume vorstoßen. Und sich irgendwann in allen Klimazonen der Erde etablieren. Ja, diese Spezies von Systemsprengern würde einmal ein neues Erdzeitalter begründen. Und es eines Tages auch so benennen: Anthropozän – das Erdzeitalter des Menschen.

Aber schon damals in den Savannen Afrikas zeigte sich die andere Seite der Medaille. Der Nachwuchs dieser neuen Spezialisten zeigte nämlich eine seltsame Rückentwicklung: Je größer und leistungsfähiger das Gehirn der Menschen wurde, desto unfertiger war ihr Nachwuchs! Das war einem anatomischen Missverhältnis geschuldet: Während das Gehirn der Menschenjungen immer größer wurde und damit schon im Mutterleib immer mehr Platz beanspruchte, konnte das Becken ihrer zweibeinigen Mütter nicht beliebig erweitert werden. Der Nachwuchs musste deshalb in einem immer unreiferen Stadium die Geburt antreten, um überhaupt noch den Ausstieg durch das Becken zu schaffen.[4]

Spätestens als die neue Art so wirkmächtig, sozial hoch entwickelt und intelligent war, dass wir sie im Rückblick als Homo sapiens bezeichnen – als weisen, einsichtigen Menschen –, war die Notlage seines Nachwuchses offenkundig. Keine Schimpansenmutter hätte diese viel zu früh geborenen, unreifen Geschöpfe angenommen: zu schwach, zu bedürftig, viel zu riskant, das Wagnis der Aufzucht solcher Pfleglinge einzugehen! Kann der Nachwuchs der »Krone der Schöpfung« sich irgendwo festhalten? Nein, er kann nicht einmal seinen Kopf selbst halten. Kann er beim Stillen aktiv mitmachen? Nein, er muss auf eine ganz bestimmte Art an der Brust geparkt werden, und wehe, wenn nicht. Sich selbst ein bisschen fortbewegen, und sei es durch Krabbeln? Das wird kommen, natürlich, aber dann werden schon neun Monate vergangen sein. Selbst laufen, im viel besungenen aufrechten Gang? Dafür werden weitere Monate ins Land gehen, vielleicht sogar noch einmal neun. Und in dieser Zeit heißt es: Jemand möge mich bitte tragen, mich, einen Brocken mit sechs, acht, zehn Kilogramm. Was für ein Aufwand!

Und es gab noch mehr Belastungen. Die Kindheit dieser neuen Art, also die Zeit der Abhängigkeit, dehnte sich in die Länge, sie erreichte fast ein Drittel der Lebensspanne. Die wohl größte Belastung aber entstand durch eine geänderte Fortpflanzungsstrategie. Die anderen Menschenaffen führen ihre Jungen hintereinander in die Selbstständigkeit: Die nächste Geburt findet erst statt, wenn das vorige Kind selbst für sich sorgen kann. Und was macht der »weise« Mensch? Er bindet sich überlappende Versorgungsansprüche an den Hals! Kaum ist das Menschenjunge aus dem Allergröbsten heraus, rundet sich der Bauch seiner Mutter erneut.

Das bringt nicht nur Geschwisterkonflikte und noch mehr Aufwand für die Versorgenden mit sich, sondern begründet auch einen krisenanfälligen Entwicklungsverlauf. Denn schauen wir uns allein einmal das körperliche Wachstum der Menschenkinder an: Anders als das Wachstum der anderen Menschenaffen ist es ein einziges Go-Stop-Go! Die ersten zwei, drei Jahre: ein unglaubliches, hungriges Aufholrennen, man schaut einmal zur Seite und schon kann das Kind etwas Neues, hat wieder Hunger, braucht die nächste Stramplergröße! Dann die mittlere Kindheit, die Strecke bis zur Pubertät: das Wachstum gedrosselt, die Entwicklung ein sanftes Dahingleiten. Natürlich, es geht weiter vorwärts, aber nach der Devise: Energie sparen! Und schließlich, mit der Pubertät, ein regelrechter Gipfelsturm: Das Kind lässt alles stehen und liegen und rennt los, dem Erwachsenenleben entgegen, das es in wenigen Jahren erreichen soll. Alles ändert sich, und viel zu schnell!

Kurz: Alles, was die neue Art »Mensch« von den anderen Tieren unterscheidet, läuft auf ungeheure, noch nie da gewesene Belastungen des »Familiensystems« hinaus. Allein für das rasch wachsende Gehirn aufzukommen ist Extremarbeit: Es verdreifacht sein Volumen in den ersten drei Lebensjahren und verbraucht dabei im Schnitt etwa 60 Prozent des körperlichen Grundumsatzes an Energie. Aber bitte in Form von Glukose – deshalb ist die Milch der neuen Art so lieblich süß! Und kein Wunder, dass der Schlaf der Kleinen so zerstückelt ist, schließlich pocht dieses hungrige Gehirn auch nachts auf Nahrung. Packt man die Versorgungslast in Zahlen und berechnet einmal die Energie, mit der ein Menschenkind bis zu seiner Selbstständigkeit unterstützt werden muss, so kommt man auf etwa 13 Millionen Kilokalorien an Energie.[5] 26.000 Tafeln Schokolade.

Ich sprach von einer noch nie da gewesenen Belastung des »Familiensystems«. Mutter, Vater, Kind und so weiter? Hier stoßen wir auf die vielleicht wichtigste Neuerung an dieser Weggabelung der Evolutionsgeschichte. Sind die Jungen der anderen Menschenaffen bis heute bei niemand anderem zu sehen als bei ihrer Mutter, so sind die neuen Menschenjungen zwar ebenfalls gerne bei ihren Müttern, sie werden aber auch von Vätern, Großmüttern, Tanten, Freundinnen und auch älteren Kindern versorgt. Die Menschenmutter ist eingebunden in ein Netz von anderen Menschen, die sie unterstützen, von »Helfern am Nest«, in der Wissenschaft auch »Allo-Eltern« genannt. Kurzum: Das Aufziehen des unreifen Menschenjungen ist zum Gemeinschaftsprojekt geworden.

Wir können das heute nicht genug bedenken. Da entstand eben nicht nur eine neue, unglaublich leistungsfähige Version von Homo mit dem teuersten, aufwendigsten Nachwuchs im ganzen Reich der Lebewesen – da entstand auch eine neue Art und Weise, für diesen Nachwuchs zu sorgen. Das typisch menschliche kooperative Fürsorgemodell. Zwar kannten auch andere Tiere, darunter manche Vögel, wilde Hunde oder Krallenaffen die gemeinsame Fürsorge, doch nur beim Homo sapiens war sie Teil eines XXL-Pakets aus langen Kindheiten, unreifem Nachwuchs und einem unglaublich hungrigen Gehirn.

Wie es dann weiterging? Homo sapiens hat es weit gebracht. Inzwischen kann er in einer Raumstation zwischen Erde und Mond leben, die Besiedlung des Mars steht bevor. Seine Möglichkeiten zur Disruption, zur Veränderung der Umwelt, scheinen fast grenzenlos. Derzeit erprobt er den Einsatz generativer, also sich selbst weiterentwickelnder Intelligenz, die seine eigene Intelligenz bald maßlos übersteigen wird. Er lebt nicht mehr wie zu 99 Prozent seiner Entwicklung in nomadischen oder halbnomadischen Gemeinschaften, in denen er die Dinge des Lebens von Angesicht zu Angesicht regelte und das Gesammelte und Erbeutete teilen musste, sondern zumeist mit Millionen von Menschen in anonymen, zunehmend virtuell interagierenden Gruppen und Gesellschaften.

In diesen modernen Gesellschaften hat sich das Modell des sozialen Zusammenseins grundlegend verändert. Wo die Menschen vorher ihren Lebensunterhalt nur gemeinsam erringen konnten, sind sie jetzt in Konkurrenz gestellt. Das Leben dreht sich um ein neues Programm: Steigerung an Besitz, Produktivität, Effizienz und Gewinn. Beziehungsweise: bei dieser Steigerung mithalten, so gut es geht. Was das für das Habitat von Homo sapiens bedeutet, zeichnet sich immer klarer ab: Wo einmal die »Wiege der Zivilisation« war, herrscht heute an vielen Stellen Dürre. Vor allem aber wurde mit dem neuen Programm das menschliche Fürsorgemodell auf den Kopf gestellt. War die Sorge für den Nachwuchs zuvor Kern und Grundlage des Lebens in der Gemeinschaft, so lastet sie jetzt fast gänzlich auf den Schultern der Eltern – und sie erschwert nicht nur deren eigene materielle Sicherung, sie beeinträchtigt auch die Teilhabe als Erwachsene in der Gemeinschaft. So wunderbar es ist, für Kinder zu sorgen, dieses Projekt ist inzwischen zu einer der größten Herausforderungen geworden, der sich erwachsene Homo sapiens stellen können. Tatsächlich sind wir in einer Situation angekommen, auf die wir evolutionär nicht vorbereitet sind. Kein Wunder, dass gerade in den reichen Gesellschaften immer weniger Kinder geboren werden. Was für eine Ironie! Homo sapiens hat die Welt erobert, aber seine Kinder sind zu einer bedrohten Art geworden.

Ich erzähle diese Geschichte nicht, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Ich erzähle sie mit großer Hoffnung: Wenn wir verstehen, woher wir als Menschen kommen, was unsere Kinder für ihre Entwicklung benötigen und welche Begleitung sie dabei suchen, werden wir einen guten Kompass haben. Er wird Klarheit geben. Uns helfen, Fehler zu vermeiden. Uns davor bewahren, falschen Versprechungen nachzulaufen oder in Sackgassen abzubiegen. Und er wird uns unterstützen, neue Wege in die Gemeinschaft zu finden – und zu fordern. Diese Klarheit wird uns bei dem helfen, was ganz konkret ansteht, egal wie unser Familiennetz heute aussieht: dabei, die besten Eltern zu sein, die wir sein können.

Entwicklungsziel Neuland

Die Suche nach Klarheit sollte nach meiner Auffassung bei der Frage beginnen, was unsere Kinder für ihre Entwicklung eigentlich brauchen. Welche Fürsorge erwarten sie? Was benötigen sie von ihren Begleitern? Welchen Zielen folgen sie in ihrer langen Kindheit? Ja, wo geht ihre Reise eigentlich hin, wie wird ihre Zukunft aussehen?

Wenn wir ehrlich sind: Wir wissen es nicht. Selbst Fachleute, die zur Zukunft forschen, zucken mit den Achseln. Sie weisen zum Beispiel darauf hin, dass es in wenigen Jahrzehnten einen großen Teil der heutigen Arbeitsplätze nicht mehr geben wird. Und viele der Arbeitsplätze, die bis dahin entstanden sein werden, können wir uns heute noch gar nicht vorstellen. Die menschliche Zukunft flimmert wie eine Fata Morgana. Hätten wir uns vor zwanzig oder dreißig Jahren ausgemalt, dass man als Influencerin oder Influencer arbeiten kann? Dass immer mehr Kinder durch künstliche Befruchtung entstehen? Dass Heranwachsende offen mit ihrer Geschlechtsidentität experimentieren? Dass Computerviren einen Konzern lahmlegen können? Und echte Viren eine ganze Gesellschaft? Dass wir ins Zeitalter der Künstlichen Intelligenz eintreten? Wir sind ja beim Blick auf die Nachrichten ständig selbst überrascht, was uns da alles neu begegnet!

Und das ist keineswegs eine neue Erfahrung, auch wenn das Tempo sich beschleunigt hat und sich weiter beschleunigt. Man nehme nur einmal das Buch der Geschichte, diesen dicken Band, und blättere rückwärts, wie ein Daumenkino. Man wird kaum eine Generation ausmachen, die nicht verdammt überrascht war, was die Zukunft ihr gebracht hat. Immer landeten wir Menschen woanders.

Was bedeutet das für unsere Kinder, was für deren Erziehung? Dieser beständige Wandel, den wir Menschen veranstalten, begründet tatsächlich ein Dilemma. Ich nenne es das »Unschärfedilemma der Erziehung«. Auf welche Zukunft sollen sich unsere Kinder vorbereiten, wenn diese sich beständig wandelt? Wie sollen wir Eltern unsere Kinder gut begleiten, wenn wir das Ziel nicht kennen? Oder, anders gewendet: Wie kann eine Erziehung aussehen, die dem Ungewissen Rechnung trägt?

Kleine Siedler

Unsere Kinder sind also Reisende mit einem noch nicht bekannten Ziel, kleine Siedler quasi. Während sie groß werden und ihren Entwicklungsweg gehen, entsteht unter ihren Füßen schon eine neue Welt. Ein Neuland, das sie mit ihresgleichen besiedeln, wieder verändern und gestalten werden. Ein Neuland, das noch nie jemand betreten hat. Die Karte, die es für dieses Land braucht, ist selbst bei den besten Eltern nicht im Angebot. Die Reisenden müssten sich in diesem Neuland selbst orientieren.

Damit wäre schon das erste Geheimnis der kindlichen Entwicklung umrissen: Sie muss das Kind neulandfähig machen, es also in die Lage versetzen, einmal das Beste aus dem Vorgefundenen machen zu können.

Es lohnt sich, bei diesem Gedanken kurz innezuhalten und zu staunen. Dieser Blick auf die offene Zukunft unserer Kinder bedeutet ja: Ihre Entwicklung zielt nicht darauf, einfach der Spur ihrer Eltern zu folgen! Vielmehr hat die kindliche Entwicklung immer auch eine eigene Spur im Sinn. In vielem müssen Kinder im wahrsten Sinn des Wortes über ihre Eltern hinauswachsen, sie müssen in diesem Sinne eigen-sinnig sein. Tierkinder folgen dem Modell ihrer Eltern, und das ist gut so: Ihre Zukunft wird sich ja in der gleichen Welt abspielen, in der ihre Eltern erfolgreich waren. Menschenkinder aber müssen ihre Eltern in vielen Dingen überholen können, wenn sie ins Neue hinausziehen. Das heißt nicht, dass unsere Kinder nicht viel Wichtiges bei uns lernen können (von der Rolle des Vorbilds wird noch die Rede sein). Trotzdem wären sie schlecht beraten, immer nur von ihren Eltern abzukupfern. Wer mit Kindern lebt, beobachtet ja auch, wie sie ständig versuchen, sich einen eigenen Reim auf die Welt zu machen. Und wie sie immer auch die Entwicklungsimpulse aus der Kinderwelt aufgreifen, ihrer eigenen Generation also – der Generation, mit der sie das Neuland einmal ausgestalten werden.

Tierkinder tun gut daran, in ihrer Entwicklung das Buch vom Leben ihrer Art genau zu kopieren, Buchstabe für Buchstabe. Ihr Leben wird sich um diese Buchstaben drehen. Menschenkinder müssen mehr lernen, als nur das »Buch vom Menschenleben« abzuschreiben. Sie müssen immer auch ihre eigene Geschichte schreiben.

Instinkte reichen nicht aus

Das »Entwicklungsziel Neuland« macht noch etwas anderes deutlich. Menschliche Erziehung braucht mehr als Instinkte. Wir Eltern beklagen uns ja oft darüber, dass wir nicht immer aus dem Bauch heraus wissen, was das Beste für unsere Kinder ist. Wie sehr würden wir uns wünschen, dass das Erziehen so intuitiv funktionierte wie bei Tieren! Da ist kein Stress, kein Missverstehen, da weiß die Mama immer, was als Nächstes kommt. Etwa, wann die Zeit zum Abstillen gekommen ist, das »weiß« die Katzenmutter. Fragt man dagegen hundert Menscheneltern, wo der »richtige« Zeitpunkt zum Abstillen liegt … Ja, das ist lästig, aber was sollten wir Menschen auch mit einem fest in uns eingeschriebenen Erziehungsprogramm anfangen? Wo wir doch in abertausend verschiedenen Welten leben? Wie könnte ein One-size-fits-all-Programm den vielen Welten gerecht werden, in denen wir uns bewegen, den vielen Kulturen und Klimazonen mit ihren jeweils völlig anderen Herausforderungen? Da müssen ein paar Versatzstücke reichen. Der Rest: bitte selbst ausfüllen.

Wir sollten das feiern. Diese Flexibilität, diese Offenheit, diese Anpassungsfähigkeit ist Teil des Geheimnisses unserer Art, Teil unserer Freiheit auch.

Wurzelflügelwesen

Schauen wir aber noch einmal genauer auf die Kinder. Da ist das beschriebene Siedlerkind. Gut zu erkennen, wie es sich darauf vorbereitet, ins »Neuland« aufzubrechen. Es ist etwas ungeduldig, auch das ist deutlich. Lass mich ziehen, dürfte sein Motto sein, lass mich meine Flügel nutzen, zu meinem Ziel!

Aber da ist auch dieses andere Kind. Der extrem hilfsbedürftige Pflegling. Das in prekärer Unreife geborene Kind, das eine scheinbar endlos lange Strecke seines Lebens abhängig, schutz- und versorgungsbedürftig ist. Das den Beistand gleich mehrerer Bindungspersonen braucht, um gedeihen zu können. Ein Kind, das mit jeder Faser seines Wesens nach Wurzeln, nach Nähe und Verbindung sucht, um nicht in Stress und Angst zu versinken. Sein Motto: Begleite mich! Schütze mich, pass gut auf mich auf! Und sei immer bereit, mich zu empfangen.

Zwei komplett verschiedene Kinder also, die doch eines sind. Mit zwei völlig unterschiedlichen Forderungen: nach Wurzeln und nach Flügeln. Wie um alles in der Welt bringen die Menschenkinder diese widersprüchlichen Teile ihrer Entwicklung unter einen Hut? Wie können sie abhängig sein, sich Nähe, Schutz und Beistand sichern – und gleichzeitig Segel setzen für eine nur andeutungsweise erkennbare, in eigener Verantwortung zu gestaltende Zukunft? Wie kann ein Kind gleichzeitig sein Leben als Siedler in der Fremde vorbereiten – und dabei doch Kind sein, das ohne den Beistand seiner Großen unglücklich und verloren wäre?

Lange Zeit kursierte eine simple Antwort auf diese Frage: Entwöhne dein Kind möglichst früh von seinen Forderungen nach Nähe, Umsorgung und emotionalem Beistand – dann wird es sich aus seiner Abhängigkeit lösen und rasch selbstständig werden! Als funktioniere ein Kind wie eine alte Waage: auf der einen Waagschale die Abhängigkeit, die Bitte »Sei mir nah, lass mich nicht allein, lass uns verbunden sein«. Auf der anderen Schale die Selbstständigkeit: »Lass mich stark werden, lass mich ziehen, mein Ziel ist die Fremde!« Um dem Kind zur Selbstständigkeit zu verhelfen, so die Vorstellung, müsse man einfach auf der Nähe-Seite etwas wegnehmen, und schon hebe sich die andere Schale und das Kind gewinne an Selbstständigkeit! Bis heute sitzt dieses Modell fest in manchen Köpfen und Herzen. Das zeigt sich etwa dann, wenn die Hoffnung verbreitet wird, kleine Kinder würden dadurch selbstständig, dass man sie dazu »trainiert«, allein einzuschlafen.

Dass diese Vorstellung nicht stimmen kann, zeigt wieder der Blick in unsere evolutionäre Vergangenheit. Wäre es in der Menschheitsgeschichte jemals möglich gewesen, bei einem kleinen Kind an Nähe und körperwarmer Umsorgung zu sparen? Nie und nimmer! Wir lebten ja bis in die allerjüngste Vergangenheit als Nomaden oder Halbnomaden in einer gefährlichen Welt. Die Hyänen schlichen ums Lager, im Gebüsch lauerten vielleicht Schlangen, und die Nächte waren nicht auf 16 bis 18 Grad klimatisiert. Ein kleines Menschenkind war nur im Nahbereich seiner Bindungspersonen sicher. Es schlief bei seiner stillenden Mutter, es wurde getragen, und es hatte auch noch als Kleinkind Zugang zur Mutterbrust. All das ist heute zweifelsfrei belegt und gut begründet. Wenn der Weg zur Selbstständigkeit über den Entzug von Nähe verliefe, dann hätten wir Menschen es in der Geschichte nicht sehr weit gebracht.

Aber wie setzen Kinder dann ihre Segel? Selbstständig werden, das mussten Kinder schon immer in der Geschichte der Menschheit. Und wie! Die Welt war ja nicht mit Plüsch ausgelegt. Wie gingen sie vor?

Dieses zweite Geheimnis ihrer Entwicklung verraten uns die Kinder selbst, sogar schon die ganz Kleinen. Was macht ein kleines Kind, das sich wohlfühlt? Das sich bei einer seiner Bindungspersonen entspannen kann? Es nutzt die Entspannung entweder für ein Schläfchen – sehr klug, denn auch der Schlaf ist Entwicklungsarbeit. Oder aber es setzt Segel, es wird mutig, es tritt in Aktion. Es fängt an zu lautieren, zu schäkern, zu krabbeln, es beginnt Dialoge mit den Augen oder auch dem ganzen Körper. Kurz: Es wird tätig, es wird entdeckungslustig und genießt seine Wirksamkeit. Dieses Prinzip durchzieht die ganze Kindheit: Wo ich mich sicher und wohlfühle, kann ich neugierig sein und die Welt entdecken!

Die Evolution hat das Dilemma des widersprüchlichen menschlichen Entwicklungsauftrags also durch einen Trick gelöst, nennen wir ihn den Wurzelflügeltrick. Fühlt das Kind sich verbunden, so macht ihm das Mut, seine Flügel zu nutzen, sich zu lösen und die Welt zu entdecken: Lass mich los, lass mich tun, lass mich sein, heißt seine Parole. Fühlt sich das Kind aber überfordert, gestresst oder gar in Not, so richtet es seine Kraft auf die Wurzeln. Es sucht Nähe, Schutz und Verbindung, und will sich dadurch stärken. Nimm mich an, schütze mich, stehe mir bei, heißt jetzt die Devise. Unser Wurzelflügelwesen nutzt Wurzeln und Flügel also nicht gleichzeitig – es käme damit gar nicht von der Stelle. Es nutzt seine Kräfte abwechselnd, je nach Bedarf – und bleibt so in Balance. Das Geniale daran: Die Kraft, die ein Kind über seine Wurzeln sammelt, stärken gleichzeitig seinen Drang zu fliegen.

Typisch Kind: Die Frucht der Geborgenheit ist die Sehnsucht nach Aufbruch.

Wir können diesen Wurzelflügeltrick im Bindungsprogramm des Menschenkindes nicht genug würdigen. Er erklärt zum einen, warum Nähe und Autonomie eben keine Widersprüche sind, sondern Kräfte, die die Entwicklung des Kindes am Laufen halten. Er erklärt damit auch, warum die alte Angst vor der »Verwöhnung« des Kindes durch körperliche oder emotionale Nähe keine Grundlage hat. Wenn du den kleinen Finger gibst, dann nimmt es die ganze Hand? Von wegen! Ein in seinem Bindungsbedürfnis befriedigtes Kind holt eben nicht seine Klebstofftube heraus, um sich an uns festzukleben, sondern entfaltet seine Flügel: aus Wohlbefinden wird Tätigkeit.

Deshalb tun wir den Kindern (und uns) keinen Gefallen, wenn wir Form und Inhalt verwechseln. Ein Kleinkind, das noch an der Brust trinkt, ist nicht weniger selbstständig als eines, das dies nicht mehr tut, und es hat deshalb auch keine schlechtere Beziehung zu seiner Oma oder seinem Vater. Ja, es wird in Nähe umsorgt – und kann trotzdem ein mutiger kleiner Draufgänger sein – der Wurzelflügeltrick lässt grüßen.[6]

Das Lebensfundament

Wenden wir uns jetzt, wo wir wissen, wie unsere Wurzelflügelkinder ihre Entwicklung vorantreiben, noch einmal dem ultimativen Ziel der kindlichen Entwicklung zu – der Vorbereitung auf eine ungewisse Zukunft. Welche Aufgaben erwarten sie da? Für welche Aufgaben müssen sie ihre Kräfte einsetzen? Das wird vielleicht am besten deutlich, wenn wir uns einmal in ihre Lage versetzen. Uns selbst einmal auf eine Reise ins Neuland vorbereiten.

Angenommen, wir gingen in ein Online-Reisebüro und würden dort eine Reise mit dem Ziel »Neuland« buchen. So viel wir uns auch durch die Beschreibungen klicken, es ist kaum Konkretes zu greifen. Wie die Menschen dort leben: unklar beschrieben. Um was sich der Alltag im Neuland dreht: nur vage bekannt. Was würden wir uns in den Koffer packen, was hätten wir am Reiseziel gerne zu unserer Verfügung – an Fähigkeiten, Möglichkeiten, Kompetenzen?

Wenn ich diese Frage bei Seminaren oder Vorträgen stelle, kommen immer sehr ähnliche Rückmeldungen. Immer werden die grundlegenden Dinge genannt, die uns Menschen ein gutes Leben ermöglichen, egal wo: dass wir mit uns selbst gut klarkommen, also unsere Emotionen und Impulse gut im Griff haben. Dass wir uns etwas zutrauen, also selbstbewusst und beherzt sein können. Dass wir mit den anderen Reisenden gut auskommen, Konflikte konstruktiv lösen können und Interessen untereinander gut ausgleichen können. Dass also das Dreieck von Ich, Du und Wir gut funktioniert. Wir wünschen uns auch, dass uns gute Lösungen für die anstehenden Herausforderungen einfallen, wir also kreativ und lernfähig sind. Und was, wenn uns in dem Neuland etwas nicht gelingt, wir Rückschläge einstecken müssen und im Gegenwind stehen? Dann bräuchten wir das, was heute oft als Resilienz bezeichnet wird: die Fähigkeit, trotz Widrigkeiten in der Spur zu bleiben.

Haben wir etwas vergessen? Ja, vielleicht das Wichtigste, denn wir Menschen sind ja ein bunter Haufen an Individuen. Wir alle unterscheiden uns, und doch sind wir in einem gleich: Wir funktionieren am besten, wenn wir »wir selbst« sein können – also uns auf diejenigen Möglichkeiten und Fähigkeiten verlassen können, die uns besonders liegen und uns deshalb erfüllen. Wer eine Reise ins Neuland bucht, will sich dort bestimmt nicht verbiegen müssen.

So entsteht das Entwicklungshaus

Was für ein Projekt, sich für eine Reise ins Neuland auszustatten! In meinem Buch Menschenkinder habe ich es als Bau eines Hauses beschrieben: eines Entwicklungshauses. Jedes Kind baut sich seine Behausung, und sie wird von Kind zu Kind unterschiedlich aussehen – jedes Kind hat nun einmal andere Vorlieben, Potenziale und Ziele, seine Individualität eben. Aber eines haben alle diese Häuser gemeinsam: Sie werden den Stürmen des Lebens nur standhalten, wenn sie fest stehen. Wenn das Fundament trägt. Was nutzt einem Kind die beste Ausbildung, wenn es mit sich selbst hadert? Und welchen Sinn hat es, wenn Eltern schon klare Vorstellungen haben, welche Erker und Fassaden dieses Haus haben soll, aber dabei das Fundament vergessen?

Tatsächlich sehe ich die Anlage eines tragenden Fundaments als die wichtigste Entwicklungsaufgabe der Kindheit an, ja, als ihren eigentlichen Zweck. Das Fundament ihrer Persönlichkeit ist der Boden, auf dem unsere Kinder den Unwägbarkeiten des Lebens begegnen werden. Jedem Kind ist dieses Rüstzeug zu wünschen, weil es ihm die Breite der menschlichen Möglichkeiten erschließen kann. Und weil es ihm erlaubt, Verantwortung zu übernehmen – für sich und andere. Dieser im wahrsten Sinn des Wortes fundamentale Tiefbau kann später nur schwer nachgeholt werden. Man kann an einem Haus alles verändern, zusätzliche Etagen einbauen, das Haus entkernen, die Decken anheben, die Inneneinrichtung austauschen – ein Fundament zu flicken aber ist sehr schwierig.

Wie aber entsteht dieses Fundament? Wie erwerben Kinder Selbstkontrolle, soziale Kompetenz, Kreativität und Resilienz? Eigentlich ist das die entscheidende Frage der Entwicklungspsychologie. Und natürlich der Eltern, die sich genau diese Fragen – ob bewusst oder unbewusst – stellen: Wie kann ich mein Kind stark machen?

Und an dieser Stelle begegnet uns das dritte Geheimnis der kindlichen Entwicklung: Man kann Kinder nicht stark machen. Sie müssen selbst stark werden. Durch eigene Erfahrung, durch eigenes Tun. Diese Grundlagen an Lebenskompetenz können nicht gelehrt, erzwungen oder vermittelt werden. Vielmehr handelt es sich um Schätze, die die Kinder selbst heben müssen, mit eigenen Händen, eigenem Herzen und auch ihrem eigenen Körper.

Heißt das, das läuft einfach von allein? Und wir Eltern sind außen vor? Das wäre ein komplettes Missverständnis. Die Kinder brauchen uns auch für ihr Fundament. Und wie.

Das vierblättrige Kleeblatt

Welche Rolle bei der kindlichen Entwicklung, beim Legen des Lebensfundaments haben die Begleiter des Kindes? Befragen wir am besten gleich die Kinder, was sie von uns erwarten, damit sie ihr Entwicklungswerk tun können.

Im Grunde stehen sie jeden Tag mit vier Fragen auf – ich will sie das vierblättrige Kleeblatt ihrer Entwicklungsfragen nennen. Nein, sie formulieren diese Fragen nicht mit Worten, aber sie tragen sie doch in ihrer Seele. Sie stellen diese Fragen zu Hause, sie stellen sie aber auch den für sie bedeutsamen Personen in den Einrichtungen, in die sie gehen, ob Krippe, Kita oder Schule.

Die erste Frage, die Kinder stellen, ist die nach Sicherheit: Bin ich hier sicher? Konkret: Du passt auf mich auf, nicht wahr? Und, ganz wichtig: Bekomme ich Hilfe, wenn ich in Not bin?

Die zweite Frage der Kinder dreht sich um Wert und Anerkennung: Bin ich okay? Konkret: Bin ich euch wertvoll? Und zwar als der Mensch, der ich bin? Erkennt ihr mich? Oder mögt ihr mich nur – das fügt das Kind bang hinzu –, wenn ich bestimmte Bedingungen erfülle, gute Noten schreibe etwa? Und auch diese Forderung verbindet das Kind mit seinem Wunsch, gesehen zu werden: Bleibt bitte nicht an meiner Oberfläche hängen, dem anstrengenden Verhalten vielleicht, das ich gerade an den Tag lege. Sondern schaut, was darunter ist, auf meine Nöte, das, was ich brauche! Ich glaube, wir vergessen manchmal, wie wichtig dieses Erkennen für unsere Kinder ist und dass es viel mit dem alten Begriff der Würde zu tun hat, die Kinder genauso dringend brauchen wie wir Erwachsenen. Und wir vergessen manchmal auch, wie sehr unser Ver-kennen sie ent-würdigt. Und leiden lässt, weil wir dann an ihrem wirklichen Kern vorbeiblicken, ja, vorbeilieben.

Die dritte Frage, die Kinder uns tagtäglich stellen, ist die nach Zugehörigkeit: Gehöre ich dazu? Sind wir ein Team oder falle ich durch die Lücken und bin auf mich allein gestellt? Und auch hier wieder geht es dem Kind um die tiefere Ebene. Denn wir können ja auf zwei Arten zugehörig sein: entweder, wenn wir uns einpassen, also bestimmte Bedingungen erfüllen, die uns dann zu einem akzeptierten Mitglied der Gemeinschaft machen. Oder aber einfach so, aus einer tieferen Berechtigung heraus – weil wir mit den anderen verbunden und deshalb Teil dieser Gemeinschaft sind. Im ersten Fall steht immer ein Wächter vor dem Tor und fragt nach einer Eintrittskarte, im zweiten Fall hat man einen Schlüssel – zu einem gemeinsamen Haus.

Heimat geben – und Orientierung

Drei Fragen, drei Kleeblätter. Alle drei drehen sich um das, was ich mit dem Wort »Heimat« beschreiben will. Ich mag diesen alten Begriff, denn wir verbinden damit eine grundlegende Geborgenheit: Hier bin ich sicher, hier kann ich vertrauen, hier habe ich Wert und Namen, hier fühle ich mich als Teil einer Gemeinschaft. Und auch das passt zum Bild der Heimat: Die Kinder sind nicht nur Empfänger, sie sind mit dabei, sie gestalten mit. Und wachsen so in die Gemeinschaft hinein.

Ein Kind, das Vertrauen erfährt, lernt, anderen zu vertrauen. Ein Kind, dem Wert zugesprochen wird, lernt, anderen Wert und Anerkennung beizumessen. Ein Kind, das sich als Teil eines Teams erfährt, lernt, wie Kooperation aussieht. Und so weiter. Was Kinder empfangen, geben sie weiter. Und sie geben es zurück. Genau das treibt ja ihre Sozialentwicklung an: dass sie die Muster verstehen wollen, nach dem die Gemeinschaft funktioniert, in die sie geboren wurden. Entsprechend verfolgen sie mit größter Dringlichkeit: Wie gehen die Menschen hier miteinander um? Haben sie Freude an mir und miteinander? Wie bringen sie die Interessen des Einzelnen mit denen der Gruppe zusammen? Kann ich mich auf sie verlassen? Was ich beobachte und erlebe, folgern die Kinder, muss richtig sein – es soll auch mein Handeln anderen gegenüber leiten.

Man könnte es auch so sagen: In diesem Dialog entsteht Orientierung. Ein Kompass, der anzeigt, was gut und richtig ist: So also geht Zusammenleben!

Die Wörter Dialog und Orientierung sind mir wichtig. Denn wenn ich von Heimat rede, dann könnte das leicht so missverstanden werden: Da sind die bedürftigen Kinder, und die werden von ihren vertrauten Erwachsenen mit den guten Dingen des Lebens versorgt – mit Sicherheit, Anerkennung, Zugehörigkeit. So wie die Vögel die Würmchen an ihren Nachwuchs verteilen. Die Heimat, die Kinder als innere Grundlage brauchen, baut sich aber anders auf. Sie ist keine Einbahnstraße, sie entsteht im ganz normalen Miteinander, beim täglichen Ausleben und Austarieren von Bedürfnissen, Möglichkeiten und Begrenzungen. Dabei lernen die Kinder die Regeln des Miteinanders, sie spüren, ob sie für ihre Eltern okay sind, sie spüren, ob sie dazugehören und auch, was sie selbst dazu beitragen. Sie erleben, durch welche Handlungen sie in der Gemeinschaft »ankommen«, sie merken, was ihnen selbst ein Gefühl von Anerkennung gibt und was sie ins Team hineinwachsen lässt. Kurz, sie lernen nach und nach, was zu einem guten Leben in der aus Ich, Du und Wir gebildeten sozialen Landschaft gehört und wie man sie am besten navigiert. Orientierung eben.

Zu dieser Orientierung gehören auch die Werte und moralischen Leitplanken, denen die Kinder nach und nach in ihrem Leben folgen. Auch dieser Prozess könnte als Einbahnstraße verstanden werden – und er wird es von manchen bis heute, Stichwort »Werteerziehung«: Wir Erwachsenen erklären den Kindern, was gut und richtig ist und nach welchen Werten sie leben sollen. In Wirklichkeit orientieren sich die Kinder aber auch hier durch ein soziales Resonanzgeschehen. Und bei dem zählt nicht das, was dem Kind gesagt, gepredigt oder eingebläut wird, sondern das, was es über die ihm wichtigen und vertrauten Menschen erfährt – der Kompass des Kindes eicht sich an den für sein Leben bedeutsamen Menschen, an ihren Haltungen, ihren Handlungen, an ihrem Sein. Da zeigt sich die Schizophrenie der früheren »Werteerziehung«: Die Kinder wurden alltäglich von ihren Eltern und Lehrern entwertet, beschämt und verkleinert – und mussten sich dann sonntags in der Kirche anhören, was einen guten Menschen ausmacht.

Heimat innen drin

Mit ihren Erfahrungen im Resonanzraum Familie kleiden Kinder ihre Seele aus und entwickeln ein grundlegendes Lebensgefühl: »So also fühlt sich das Leben an!« Man könnte es auch als das emotionale Herz unseres Ichs bezeichnen. Mit ihm stellt sich das Kind dem Leben. Ist dieses Herz gesund, kann das Kind Zutrauen zu sich selbst entwickeln. Es kann sich mit Zuversicht der Welt stellen und mit Belastungen umgehen. Mehr noch: Die guten Erfahrungen, die es macht, lassen etwas entstehen, von dem das Kind ein Leben lang profitiert: seine Fähigkeit, Glück zu empfinden.

Ist dieses Herz krank, passiert das Gegenteil. Die Kinder misstrauen sich selbst, sie misstrauen deshalb auch der Welt. Sie neigen zu Angst, Verspannung und Scham, oft auch zu übermäßiger Aggression. Oder sie ziehen sich hinter eine Mauer zurück. Man merkt ihnen an, dass ihnen eine Heimat fehlt, und viele suchen lebenslang nach einem Ersatz. Sie entwickeln Strategien, dieses innere Vakuum zu überspielen, flüchten sich vielleicht ins Männchenmachen, in den übersteigerten Selbstbezug, andere werden still und krank, wieder andere schließen sich Sekten an, ob im politischen oder im religiösen Bereich. Die äußere Ordnung ist für sie oft ein großes Thema – ein Gegenmittel vielleicht für die abhandengekommene innere Ordnung.

Das schaffe ich nie!

Vielleicht geht manchen jetzt durch den Kopf: Der Renz-Polster kann so schön über Heimat reden – aber beim besten Willen, in meiner Familie fühlt sich das oft ganz anders an. Selbstverständlich will ich meinem Kind Sicherheit und Vertrauen geben, aber manchmal habe ich einfach nicht die Reserven dafür. Und wie oft bin ich ungeduldig oder gestresst und zeige das den Kindern auch. Wie soll ich das mit der Heimat bloß schaffen?

Und ja, der Einwand ist verständlich. Heimat klingt nach einem duftenden Rosengarten und immerwährendem Frieden. An vielen Stellen in diesem Buch wird es um genau dieses Nie-am-Ziel-Sein gehen. Vielleicht das vorweg: Der Garten, den unsere Kinder suchen, ist gar kein duftender Rosengarten, sondern ein »echter« Garten. Mit wilden Ecken und Versteckplätzen. Mit Zäunen und Grenzen. Mit verbotenen Fleckchen auch, weil sie für Kinder zu gefährlich sind oder ihrer Seele nicht guttun. Und in dem Garten leben sie mit echten Gärtnerinnen und Gärtnern, die auch mal müde sind und dann Rücksicht brauchen. Die viel, manchmal zu viel um die Ohren haben. Die Stress mit dem anderen Obergärtner haben oder mit der Heizungsrechnung. Die ihre Emotionen zeigen, zum Beispiel, wenn sie gekränkt sind. Auch in diesem Garten haben die Menschen nicht nur Schokoladenseiten.

Und vor allem: Auch in diesem Garten treffen sich Menschen auf ihrem Entwicklungsweg. Sie basteln. Sie üben. Sie lernen. Und sie lernen nicht im stillen Kämmerlein oder üben sich in Theorie. Sie lernen durch das Tun. In etwa wie beim Sprachenlernen.

Das Wunder der Beziehungssprache

Wie unsere innere Heimat entsteht, kann man durchaus mit dem Erwerb einer Sprache vergleichen. Schauen wir uns diese besondere Sprache hier einmal genauer an, die Beziehungssprache, die miteinander verbundene Menschen pflegen.

Kinder haben ein besonderes Talent für diese Sprache. Genauso wie sie die Lautsprache oder auch Zeichensprache mühelos erlernen, die in ihrer geografischen Heimat gesprochen wird, so greifen sie auch die dort gesprochene »Herzenssprache« auf, also die emotionale Substanz und Tönung der Beziehungen. Und zwar nach genau dem gleichen Prinzip: Sie verinnerlichen das Wahrgenommene, ohne dass irgendjemand etwas Besonderes dafür tut. Und das mitten im Alltag, bei ganz banalen Dingen! Etwa wenn wir sie wickeln oder sie in den Schlaf begleiten.[7] Wie beim Erlernen der Laut- oder Zeichensprache extrahieren sie dabei nach und nach die Regeln, die Wortbedeutungen und Redewendungen.

Auch das deckt sich mit der Lautsprache: Der soziale Spracherwerb ist so tief in den Kindern verankert, dass dieses Lernen gar nicht verhindert werden kann. Nicole Wilhelm hat dieses Wunder deshalb auch »Muttersprache der Beziehung« genannt – weil unsere Kinder sie automatisch in ihrem Bindungssystem erlernen.[8] Diese Beziehungssprache ist also auch eine Vatersprache, Großmuttersprache oder Familiensprache.

In ihrem Kern, das sagt schon das Wort, vermittelt die Beziehungssprache, wie Beziehungen zwischen den Menschen funktionieren. Ob sie auf einem Dialog beruhen oder auf Befehlen. Ob die daran Beteiligten Freude empfinden oder Stress. Ob sie Furcht haben oder Vertrauen. Ob sie dem Gegenüber Wert beimessen oder es nur bewerten und vermessen. Ob die Stimmen der anderen zählen – oder ob sie nur dann gehört werden, wenn sie laut und drohend sind. Oder vielleicht süß, schmeichelnd und verzagt. Ob Menschen nur zu Wort kommen, wenn sie Erfolge verkünden, oder auch wenn sie von Zweifeln und Not erzählen.

Wie beim Erwerb der Lautsprache müssen Eltern für diesen Prozess keine besonderen Anstrengungen unternehmen. Die Art, wie die dem Kind bedeutsamen Menschen zueinander in Beziehung treten, geht einfach auf die Kinder über. Eigentlich pure Magie. So können Kinder alle menschlichen Werte erlernen, ohne dass ihnen jemals irgendjemand erklärt, was gut oder falsch ist. Ohne dass man sie jemals bestraft für »falsches« Verhalten. Oder sie zu einem »richtigen« Verhalten lockt! All das Gelernte, all die Regeln, Floskeln und Bedeutungen nehmen wir in unserer Kindheit in uns auf und reden in dieser Sprache dann auch mit uns selbst. Sogar in unseren Träumen. Und mit anderen. Später auch mit unseren Kindern.

Wenn wir Glück haben, ist schon unsere erste, in der Familie erlernte Beziehungssprache ein reiches Instrument. Wenn wir Pech haben, dann erlernen wir dort eine für das Zusammenleben, das gemeinsame Wachsen und das eigene Wohlbefinden wenig geeignete Sprache.