Mittsommerstürme - Madita Tietgen - E-Book
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Madita Tietgen

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Beschreibung

Ein Sturm so stark wie das Herz, das ihm entgegensieht. Wenn Malin einer Sache aus dem Weg geht, dann dem Abenteuer. Die zurückhaltende Buchhändlerin bevorzugt einen guten Roman, eine Tasse Tee und ein überschaubares Maß an Aufregung. Als die Agentur ihrer Schwester in der Klemme steckt, lässt Malin sich dazu überreden, ihre Komfortzone vorübergehend zu verlassen. Sie soll den Weltumsegler Einar Berglund auf einer Sponsorenreise entlang der schwedischen Ostküste begleiten und dafür sorgen, dass er sich gut benimmt. Ein unmögliches Unterfangen. Besonders als klar wird, dass sie die gesamte Zeit mit Einar auf dessen Segelboot verbringen muss und er ihr das Leben mit Absicht schwer macht. Malin bemerkt schon bald, dass hinter Einars rauer Fassade ein Herz lauert, das sich beständig auf der Flucht nach vorn befindet. Wider Erwarten öffnet sich ihre Seele zwischen zauberhaften Schären, aufbrausenden Wellen und lauen Mittsommernächten für diesen rätselhaften Mann. Und auch in Einars Herz scheint sich ein Umsturz anzubahnen. Doch wie begegnet man einem Abenteurer, dessen Lebensweg im steten Ankerlichten und Davonsegeln besteht?

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Madita Tietgen

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

________________________

Texte: Madita Tietgen

Cover / eBook: Grit Bomhauer

mit verwendeten Lizenzen von

© Adobe Stock – Ahtesham | Photocreo Bednarek | Olha Rohulya | Passakorn | 7nov.studio | RenZen | Carlos

© Despositphotos – zatvor | 1xpert | ciuciumama

Korrektorat: Redaktionsbüro Feldbaum

________________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Erstveröffentlichung: 2024

________________________

ISBN: 9783757992798

 

 

 

 

 

 

Für Aljoscha.

 

Weil Ankommen manchmal viel schwieriger ist,

als zu neuen Abenteuern aufzubrechen.

 

Zu Hause. Hierfür gab es so viele Definitionen. So viele Kalendersprüche und bedruckte Postkarten. In allen lag ein Funken Wahrheit, und doch konnte dieser nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Begriff »zu Hause« für jeden etwas anderes darstellte. Es konnte ein Ort sein. Ein Gefühl. Oder ein Mensch. Es konnte einfach alles sein. Obendrein war »zu Hause« ein Versprechen. Eines, das man tief im Herzen bewahrte und das einem zu jeder Zeit Sicherheit schenkte.

Um ehrlich zu sein, fühlte Malin sich in diesem Moment nicht besonders sicher. Das lag aber weniger an ihrem Zuhause als vielmehr an dem Mann, der neben ihr aufgebracht die Hand zur Faust ballte und sich nach vorn lehnte, um Malins Schwester Selma einen bitterbösen Blick zuzuwerfen.

»Vergiss es! Das kannst du nicht machen!« Empört riss er seine blauen Augen auf und zog die Stirn in gefährlich anmutende Falten. Langsam öffnete er seine Finger, streckte sie der Reihe nach durch und schloss sie erneut zu einer festen Faust. Es wirkte, als würde er eine unsichtbare Pumpe bedienen.

Malin, die still neben ihm auf einem Sessel saß, war darauf bedacht, sich möglichst unsichtbar zu machen. Sie warf einen unauffälligen Blick auf den Kerl, der sich längst wieder ungehalten über seine Situation beschwerte.

Man hätte Einar Berglund als das genaue Gegenteil von Malin beschreiben können. Groß, laut und selbstbewusst. Das Gesicht schmal und ein wenig lang gezogen, mit einer geraden Nase, unauffälligen Lippen und tief liegenden blauen Augen. Der blonde Schopf und seine im richtigen Maß gebräunte Haut ließen ihn aussehen, als würde sich dieser Mensch immerzu im Urlaubsmodus befinden. Einars Statur war weder übertrieben muskulös noch besonders schlank. Aber Malin bemerkte unwillkürlich das feine Zusammenspiel seiner Sehnen, während er nach wie vor seine Finger zur Faust ballte. Schultern, Brustkorb, Taille, Hüften, Beine – alles zeugte von regelmäßigem Sport.

Malin ließ ihre Augen ein letztes Mal über ihn schweifen, während Einar zum Höhepunkt seiner Gegenargumentation ansetzte. Sie hörte den tiefen, leicht kratzigen Bariton und blendete seine harten Worte aus. Sie wusste, dass der Typ im weißen Shirt, der moosgrünen Chinohose und den modernen Lederslippern es nicht unbedingt persönlich meinte, als er sich echauffierte: »Das ist lächerlich! Ich werde ganz bestimmt keine Babysitterin mitnehmen. Ich lasse mir nicht vorschreiben …«

»Ach, hör auf!« Die Stimme von Selma, Malins jüngerer Schwester, die ihnen am Schreibtisch gegenübersaß, unterbrach Einars Gesten.

Malin wandte ihr Gesicht gen Schoß und unterdrückte ein nervöses Räuspern. Sie wollte eigentlich gar nicht hier sein, aber was tat man nicht alles, um seiner Familie zu helfen?

»Wir müssten das nicht machen, wenn du dich in den letzten Wochen nicht so danebenbenommen hättest.« Streng musterte Selma den einzig anwesenden Mann in ihrem Büro. »Du bist ganz und gar allein für diese Sache verantwortlich. Also hör auf rumzumotzen und benimm dich endlich wie ein Erwachsener.«

Empört fuhr Einar hoch. »Das muss ich mir nicht anhören.« Mit großen Schritten lief er zu der Tür, die sich seitlich von Selmas Schreibtisch befand. Zeitgleich erhob sich ihre Schwester aus ihrem weißen Bürostuhl.

»Einar, bau jetzt keinen Scheiß.«

Der wütende Mann hielt inne und zog seine Hand von der Türklinke zurück. Ohne sich umzudrehen, hörte er Selmas nächsten Worte zu.

»Wir haben darüber geredet. Diese Sponsorentour ist Pflichtprogramm. Du kannst froh sein, dass du so einfach aus der Sache rauskommst.«

»Einfach?!« Fassungslos drehte Einar sich um, und Malin machte sich einmal mehr möglichst klein auf ihren vier Buchstaben. Wenigstens einmal im Leben war ihre geringe Größe von Vorteil.

Malin schaute zu ihrer Schwester, die warnend eine Augenbraue hob und die Arme vor der Brust verschränkte. Das sommerlich türkisfarbene Kostüm, das sie heute trug, stand in starkem Kontrast zu ihrem kompromisslosen Gesichtsausdruck. »Wir werden jetzt nicht wieder darüber diskutieren. Damit sind wir durch.«

Es war Malin ein Rätsel. Obwohl sie verwandt waren, schienen sie und ihre Schwester nicht viel gemeinsam zu haben. Während Malin lange braune Haare besaß, die sie meist in einem sorgfältig eingedrehten Dutt versteckte, wippten auf Selmas Kopf herrliche blonde Locken hin und her. Malins Augenfarbe konnte man höchstens als eine eigenwillige Grünblau-Mischung betiteln. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester strahlte mit den klarsten blauen Augen, die ein menschliches Wesen nur hervorbringen konnte. Und dann die Figur. Selma war groß, schlank und sportlich. Malin hingegen?

Sie unterdrückte ein Seufzen. Positiv formuliert würde man es als eine Art Sanduhr bezeichnen. Klein, etwas zu viel Oberweite, etwas zu breite Hüften und eine mit viel Fantasie halbwegs passable Taille. Dick war sie nicht, nur eben irgendwie klein – oder platzsparend, wie sie es insgeheim gern bezeichnete.

Malins Blick glitt wieder über Selmas schönes Gesicht. Selbst ihre Eigenschaften waren absolut unterschiedlich. Malin war zurückhaltend, manchmal sogar eher schüchtern und zog die Gesellschaft eines guten Buches so mancher sportlichen Aktivität vor. Selma hingegen war selbstbewusst, durchsetzungsstark und zielstrebig. Malin verbrachte ihre Lebenszeit eher gemütlich, während ihre Schwester immerzu die nächste Herausforderung suchte.

Ein Schmunzeln glitt über Malins Lippen. Man sollte meinen, sie würden so grundverschieden sein, dass sie es kaum miteinander aushielten. Doch glücklicherweise war das absolut nicht der Fall. Sie waren sich gegenseitig innig verbunden. Die Schwächen der einen wurden mit den Stärken der anderen ausgeglichen. Sie ergänzten sich und akzeptierten ihre unterschiedlichen Lebensweisen. So, wie sie akzeptierten, dass sie einander kaum ähnelten, ohne dem anderen beweisen zu wollen, dass der eigene Weg der bessere war. Denn so war es nicht. Jeder musste für sich selbst den richtigen Pfad finden. Und Malin war dankbar, dass ihre Eltern ihnen genau das beigebracht und vorgelebt hatten.

Jetzt sah Malin zu, wie ihre Schwester sich energisch gegen ihren Klienten behauptete und ihm die Leviten las. Da sie selbst ein wenig in ihren Gedanken versunken gewesen war, hatte sie nicht alles gehört, doch Selmas Ton verdeutlichte, dass sie keinerlei Widerspruch mehr von Einar duldete.

Wieder machten sich Zweifel in Malins Kopf breit. Was hatte ihre Schwester sich nur dabei gedacht, sie um diesen Gefallen zu bitten? Es war absurd. Für den Moment jedoch blieb Malin lieber still und wartete ab. Sie warf einen kurzen Seitenblick auf Einar, der sich inzwischen vor Selmas Schreibtisch aufgebaut hatte und die Arme vor der Brust verschränkte. Malin konnte ihn nur mehr von hinten sehen, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er ihre Schwester wütend anfunkelte.

»Ich bin immer zuverlässig gewesen. Warum bürdest du mir jetzt eine Babysitterin auf?«

»Du weißt, wieso.« Selma stöhnte genervt, und Malin bekam das Gefühl, dass sie sich bei diesem Gespräch im Kreis drehten. Trotzdem schwieg sie eisern. Das musste Selma klären, nicht sie. Es war schlimm genug, dass sie scheinbar diejenige war, um die es hier ging. Doch so genau dachte Malin lieber nicht darüber nach, das würde nur dafür sorgen, dass sie an Selbstbewusstsein verlor. Und so unendlich viel wie ihrer Schwester stand ihr davon nun auch wieder nicht zur Verfügung. Nicht, wenn es um jemanden wie Einar Berglund ging.

Dieser schien etwas loswerden zu wollen. Er warf einen Blick über die Schulter zu Malin, die sich um ein entschuldigendes Lächeln bemühte. In Einars blauen Augen lag eine gewisse Resignation, als er sich wieder an Selma wandte.

»Aber ich bin nicht für sie verantwortlich.« Groll begleitete seine tiefe Stimme.

Selma schmunzelte. »Meine Schwester kann sehr gut auf sich selbst aufpassen.«

Malin hätte beinahe gelacht. Konnte sie das? Normalerweise schon. Aber diese Situation war nicht normal. Nicht mal annähernd. Wohlweislich unterdrückte sie das nervöse Räuspern, das sich in ihrem Hals lösen wollte, und schwieg eisern, mit einem aufgemeißelten Lächeln auf den Lippen. Sie ließ Einar lieber nicht wissen, dass sie diese Idee ebenfalls für übergeschnappt hielt. Das würde ihre Position nur schwächen. Und sie hatte das Gefühl, dass sie diesem Mann ordentlich die Stirn bieten musste, um von ihm respektiert zu werden.

Einar gab ein ersticktes Prusten von sich und schüttelte den Kopf. Dann lief er leise fluchend wieder zu Selmas Bürotür. Während er sie öffnete, erklärte er abschließend in Malins Richtung: »Wir laufen morgen früh um Punkt sechs vom Wasahamnen aus. Ich werde nicht warten. Entweder du bist da oder ich fahre ohne dich.«

Entsetzt fuhr Malin hoch. »Auslaufen?«

Genervt nickte der Segler. »Hab ich gesagt, ja.«

Bevor Malin widersprechen konnte, stürmte Einar aus Selmas Büro und ließ die beiden Frauen allein zurück. Die eine angespannt, die andere extrem nervös.

Geschockt schaute Malin zu ihrer Schwester. »Auslaufen?«, wiederholte sie mit zitternder Stimme.

Ein unangenehmer Schatten huschte über Selmas hübsche Wangen. »Ja, darüber wollte ich noch mit dir reden.«

»Auslaufen?!«, fragte sie erneut in ungewöhnlich hohem Tonfall. »Ich soll auf ein Segelboot? Mit diesem Kerl? Hinaus aufs … Meer?«

Eilig kam Selma um den Schreibtisch herum und legte ihre manikürten Hände auf Malins Schultern. Behutsam redete sie auf ihre Schwester ein. »Es war schwer genug, Einar zu erklären, dass du ihn begleitest. Ihm auch noch zu verklickern, dass ihr mit dem Auto fahrt, erschien mir unmöglich. Und ehrlich gesagt hatte er recht, als er argumentierte, dass es für einen Segler seltsam wäre, nicht mit seinem Boot zu fahren, wo der Trip doch die Ostküste entlangführt.« Verzagt sah sie zu Malin. »Es sind doch nur zwei Wochen.«

Malin wusste nicht, wie ihr geschah. Nur widerwillig hatte sie Selmas Bitte nachgegeben, diese undankbare Rolle der Begleiterin zu spielen. Alles nur, weil über der Sportler-Agentur ihrer Schwester derzeit ein Fluch zu schweben schien. Die Hälfte der Angestellten lag mit einer fiesen Sommergrippe flach, eine Mitarbeiterin hatte letzte Woche ihr erstes Kind bekommen, bei einem anderen Kollegen war überraschend der Vater gestorben, und bei wieder einem anderen stand ein lang geplanter und bereits gebuchter Urlaub an. Durch die Krankheitswelle befand sich das Team unter massivem Druck, den es nach außen natürlich nicht zeigen durfte. Die Sportler, die Selmas Agentur vertrat, sollten sich gut aufgehoben fühlen.

Dummerweise schien Einar Berglund sich etwas zu gut aufgehoben gefühlt zu haben. Zumindest wenn Malin den Gerüchten Glauben schenken durfte. Wie die Presse es formuliert hatte, hatte der werte Herr sich bei seiner letzten Regatta nicht nur verantwortungslos verhalten, sondern obendrein auch noch einem hochrangigen Politiker die Frau ausgespannt. Das warf nicht gerade ein optimales Licht auf den sonst so erfolgreichen Weltumsegler.

Laut Selma wurden seine Sponsoren nervös. Und in diesem Sport brauchte man Geldgeber, andernfalls kam man auch mit den ausgefeiltesten Fähigkeiten nicht sehr weit. Dass Einar sich nun auf einen entsprechenden Wiedergutmachungstrip für seine Finanziers begeben musste, schien ihm offensichtlich nicht zu gefallen. Insbesondere nachdem Selma ihm heute Malin vorgestellt und dabei erklärt hatte, dass sie ihn auf dieser Reise begleiten würde.

Immer noch fragte Malin sich, warum sie nachgegeben hatte. Es waren die flehenden Augen ihrer Schwester gewesen. Und Malins zu großes Herz, das für ihre Familie und Freunde schlug. Sie konnte ihnen einfach nichts abschlagen, wenn sie nach Hilfe fragten. Trotzdem, was hatte Selma sich nur dabei gedacht? Malin war nie und nimmer die Richtige, um sich um einen aufbrausenden Sturkopf wie Einar zu kümmern. Sie würde sang- und klanglos untergehen! Im wahrsten Sinne des Wortes.

Eine Welle der Panik schwappte über Malin hinweg. »Du weißt ganz genau, dass ich und das Meer nicht miteinander können. Nur wenn ich an einem hübschen Ufer stehe, sind wir vielleicht so etwas wie Freunde. Aber nicht …« Der letzte Halbsatz blieb ihr im Hals stecken, ebenso fehlte ihr die Luft zum Atmen. Hilflos riss sie ihre Augen auf und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich kann das nicht, Selma. Auf keinen Fall!«

Ermutigend drückte die Agenturchefin den Arm ihrer Schwester. »Doch, du kannst das. Ihr seid ja nicht nur mit dem Boot unterwegs. Die meiste Zeit verbringt ihr an Land. So wie besprochen. Du sorgst dafür, dass er auftaucht, pünktlich ist und sich ordentlich benimmt, damit die Sponsoren zufrieden sind und vor allem milde gestimmt werden.«

»Aber …«, widersprach Malin und wurde sogleich von Selma unterbrochen.

»Ihr seid höchstens vier bis fünf Tage auf See. Die restliche Zeit über hast du festen Boden unter den Füßen. Versprochen.«

Die Zweifel, die Malin seit ihrer leisen Zustimmung vor wenigen Tagen begleiteten, schoben sich energisch an die Oberfläche.

»Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt dazu habe überreden lassen. Es tut mir so leid, Selma! Aber das kann doch nur schiefgehen! Wie soll ich diesen Kerl zur Räson bringen? Ausgerechnet ich!« Sie spielte auf ihre eher introvertierte Art an, die zwar in eine Buchhandlung passte, nicht aber in die Gesellschaft eines impulsiven, streitlustigen Seglers.

Energisch schüttelte Malins Schwester den Kopf. »Nein, du machst das schon. Davon bin ich absolut überzeugt.«

»Weil du es sein musst«, brummte Malin. »Du hast niemanden sonst, stimmt’s?«

Selma lächelte ermutigend. »Ich weiß, dass du diejenige sein wirst, die Einar in den Griff kriegt.«

Verständnislos starrte Malin in die blauen Augen ihrer Schwester. »Wie kommst du da nur drauf?«

Selmas Lächeln wurde breiter, und für einen Moment erinnerte Malin der Ausdruck an die vielen sonnendurchfluteten Nachmittage, die sie mit ihrer Schwester und ihrem Bruder in dem weitläufigen Garten ihrer Eltern verbracht hatte. Sorglos und übermütig hatten Selma und Holger sich durch das dichte Himbeerdickicht geschlagen, während Malin lieber mit einem neuen Buch auf der Wiese gelegen und sich in fremden Welten verloren hatte. Noch immer konnte sie das herzhafte Lachen ihrer Geschwister hören, wenn sie nun in Selmas fröhliches Gesicht blickte.

Die erklärte zu Malins Überraschung mit fester Stimme: »Du denkst, du bist still und zurückhaltend. Aber ich kenne keine Frau, die so einfach andere dazu bringen kann, das zu tun, was sie will.«

Jetzt musste Malin wahrhaftig lachen. »Wie bitte?!«

Doch Selma meinte es ernst. »Wirklich. Ich wünschte, ich wüsste, wie du das anstellst.«

Malin winkte ab. »Das ist doch Blödsinn. Du willst mir nur schmeicheln, damit ich dich nicht hängen lasse.«

Selma kehrte zurück hinter ihren Schreibtisch und klappte den Laptop auf. »Wann ist in Ekströms Bokhandel jemals jemand rausgegangen, ohne ein Buch zu kaufen, das du ihm empfohlen hast?«

Malin holte Luft, um etwas zu erwidern. Doch dann musste sie lächelnd innehalten. Selma hatte recht. In all den Jahren, in denen sie nun schon in der gemütlichen Buchhandlung in Stockholms Altstadt arbeitete, war nach wirklich jeder Beratung, um die man sie gebeten hatte, jemand mit einem Werk unter dem Arm hinausgegangen, das Malin ihm oder ihr ans Herz gelegt hatte. »Das zählt nicht.«

Selma widersprach sachlich. »Aber natürlich. Du verstehst es, die Leute subtil in die Richtung zu schubsen, die gut für sie ist.« Ein warmes Lächeln bildete sich um ihre Mundwinkel. »Das ist eine große Gabe, Malin. Rede das nicht klein. Und deshalb bist du genau die Richtige, um mir in dem Schlamassel mit Einar zu helfen.« Seufzend setzte sie sich. »Einar ist normalerweise nicht so. Er mag in jedem Hafen eine andere haben, aber er hat sich noch nie so …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »… selbstzerstörerisch verhalten. Zugegeben, er ist kein Fan von Sponsorenarbeit. Aber er weiß, dass sie die Basis für seine Leidenschaft ist. Dieser Ausrutscher in Cannes … passt überhaupt nicht zu ihm.«

Malin ließ sich ebenfalls nieder und legte die Hände in den Schoß. Leise gab sie zu bedenken: »Vielleicht hast du es bisher nur noch nie so deutlich mitbekommen?«

Wieder schüttelte Selma den Kopf. »Nein, da steckt mehr dahinter. Irgendetwas ist mit ihm. Ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Immer. Da steckt mehr dahinter.«

»Du bittest mich aber nicht gerade darum, dass ich herausfinde, was das sein soll, oder?« Argwöhnisch hob Malin eine Augenbraue. »Ich werde schon überfordert und nervlich am Ende sein, diesen Kerl überhaupt zu begleiten und dafür zu sorgen, dass er seinen Verpflichtungen nachkommt, ohne neue Feuer zu legen.«

Selma wechselte in einen ironischen Ton. »Du verbringst die nächsten zwei Wochen mit ihm. Dir wird schon etwas auffallen.« Sie nickte Malin zu. »Besonders wenn du deine Zuhörerqualitäten einsetzt.«

Unwillkürlich musste Malin lachen. »Er wird nicht mit mir reden, Selma. Mich höchstens anschreien, wenn ihm etwas nicht passt. Aber zu mehr wird es nicht kommen. Seinen Blicken nach zu urteilen, kann er mich offensichtlich jetzt schon nicht sonderlich leiden.«

»Das ist nur den Umständen geschuldet. Spätestens auf See kommt er wieder zu sich und wird das Beste aus der Situation machen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, murmelte Malin. Im nächsten Augenblick kehrte die Panik zurück. »Oh, apropos See … Kann ich nicht einfach mit dem Auto fahren, und wir treffen uns vor Ort?« Hoffnungsvoll schaute sie zu ihrer Schwester, aber die verneinte den Vorschlag bereits.

»Ich muss sichergehen, dass er wirklich Kurs hält und nicht spontan einen Segeltörn nach Finnland macht. Du bleibst bei ihm. Komme, was wolle. Sorg dafür, dass er bei seinen Terminen erscheint und sie glanzvoll bestreitet, und ich bin dir zu ewigem Dank verpflichtet.«

Grummelnd erhob Malin sich. »Ich habe schlecht verhandelt. Ich sollte auf einer hohen finanziellen Entschädigung bestehen!«

Zuckersüß lächelte Selma sie an. »Ich verschaffe dir ein Date mit Mats Huldgren.«

»Ich will und brauche kein Date.« Lachend straffte Malin ihre Schultern. »Wer ist das überhaupt?«

In gespielter Empörung rief Selma: »Das ist Schwedens großartigster Tennisspieler! Wie kannst du den nicht kennen? Er steht neuerdings bei mir unter Vertrag.« Ein gewisser Stolz lag in Selmas blauen Augen, und Malin konnte nicht anders, als ebenso zu empfinden. Ihre jüngere Schwester hatte sich eine erfolgreiche Sportagentur aufgebaut. Ganz allein. Mit nur fünfunddreißig. Sie war schlichtweg bewundernswert.

Aus tiefstem Herzen seufzend begab Malin sich zur Bürotür. »Ich will das nicht«, quengelte sie leise und wusste doch, dass sie diesen, wenn auch schwierigen Gefallen nicht ablehnen konnte. Nicht, nachdem sie dummerweise schon zugesagt hatte.

Selma kam zu ihr, um sie zum Abschied zu drücken. Herzlich breitete sie die Arme aus und presste ihre Schwester an sich. An Malins Ohr wisperte sie: »Danke. Ich schulde dir etwas.«

Malin erwiderte die liebevolle Geste. Erst als sie sich löste, sagte sie mit einem Hauch von Sarkasmus: »O ja, das tust du. Aber kein Date mit diesem Mats.« Sie grinste und atmete tief durch. Einen Moment lang starrte sie auf die Schuhspitzen ihrer Ballerinas. Schließlich verdrängte sie ihre Sorgen mit einem weiteren ironischen Kommentar. »Schau mich lieber noch mal gut an und präge dir das Bild ein. Wenn Einar mit mir fertig ist, bin ich in mindestens hundert Stücke geteilt worden und versacke am Grund der See.«

Selma rügte sie lächelnd. »So schlimm wird es schon nicht werden.«

»Stimmt, es wird viel schlimmer.« Malin lachte und hatte gleichzeitig das Gefühl, nie ehrlicher gewesen zu sein. Sie fürchtete sich. Vor den kommenden zwei Wochen. Vor dem Segeltörn. Vor Einar. Nicht zum letzten Mal in diesem Sommer stellte sie sich die Frage: Warum hatte sie diesem Theater nur zugestimmt?

Die Antwort war beinahe ebenso klar wie die Zweifel an dieser ganzen Sache. Weil sie ihre Schwester liebte und nie im Stich lassen würde. Deshalb. Selbst wenn das bedeutete, dass Malin ihre größte Angst überwinden und zwei Wochen mit einem unfreundlichen, wütenden und undurchschaubaren Kerl verbringen musste.

 

Es war kühl an diesem Junimorgen, doch die Wut in Einar sorgte für genug Wärme, sodass er bereits jetzt, wo noch Nebel über dem Wasser lag, eine kurze Hose trug. Leise tappten seine Sohlen über den alten Holzsteg des Wasahamnen, einem Gästehafen für Segelboote nahe dem Vasa Museum in Stockholm. Kurz darauf kam ein vertrauter Bug in Sicht und Einar sprang leichtfüßig auf das glänzende weiße Deck.

Völlige Stille umgab ihn. Die Stadt schlief noch. Nur der Klang der seichten Wellen, die gegen die Rümpfe der umliegenden Boote schwappten, hallte in der Morgenluft wider. Der frühmorgendliche Dunst begann, sich zu lichten, und die ersten Sonnenstrahlen des Tages tanzten sanft über das Wasser hinweg. Die friedliche Atmosphäre sollte Einar beruhigen. Doch das tat sie nicht. Er wusste schon gar nicht mehr, wann er das letzte Mal entspannt gewesen war. Nicht seit Cannes. Und das war nun schon sechs Wochen her.

Ärger bäumte sich in seinem Inneren auf. Fluchend kickte er seine Tasche über das Deck und wünschte, all das wäre nie passiert. Es war sinnlos, sich auszumalen, was hätte anders laufen müssen, um ihm diese Katastrophe zu ersparen. Trotzdem fing sein Hirn immer wieder davon an. Er konnte nichts dagegen tun.

Verdammt, er hätte früher eingreifen sollen. Wenigstens dieses eine Mal. Doch er hatte etwas Wichtiges übersehen. Und jetzt zahlte er den Preis dafür, denn er war der Einzige, der ihn zahlen konnte.

Seine Tasche verhakte sich an einer der Leinen, und frustriert riss Einar an den Riemen, bis sich der unförmige Sack aus blauem Stoff endlich wieder löste. Einar war schlecht gelaunt, extrem schlecht gelaunt. Das lag aber nicht nur an dem, was er seit gut eineinhalb Monaten mit sich herumschleppte.

Selma. Seine Agentin. Sie hatte ihm die Stimmung verhagelt. Normalerweise hatten sie ein ausgezeichnetes Verhältnis. Verlässlich und absolut korrekt kümmerte sie sich um seine Bedürfnisse, seine Verträge und seine Sponsoren. Ohne den Anschein zu machen, viel Mühe mit ihm zu haben, regelte sie sein gesamtes Leben. Vielleicht nicht das ganze, aber beinahe alles, was ihm wichtig war. Eben alles, was mit dem Segeln zu tun hatte.

Und jetzt halste sie ihm eine Aufpasserin auf. Eine Babysitterin! Ihm! Wenn er nur daran dachte, erhöhte sich sein Puls um gefährlich viele Schläge pro Minute. Wegen dieser bescheuerten Sache in Südfrankreich. Wieder einmal fragte er sich, ob er nicht einfach hätte Klartext sprechen sollen. Selma hatte ihr Vertrauen in ihn verloren. Das hatte er ihr deutlich angesehen. Er schämte sich dafür und wurde gleichzeitig noch wütender.

Selma kannte nur einen Teil der Geschichte, wenngleich sie der Meinung war, alles zu wissen. Einar hätte es in den vergangenen Wochen richtigstellen können. Aber das hatte er nicht getan. Nicht wirklich zumindest. Doch es oblag seinem Ehrgefühl zu schweigen. Es ging niemanden etwas an, wie es wirklich abgelaufen war.

Zu dumm nur, dass dieses Verhalten eines Gentlemans ihm den gegenteiligen Ruf eingehandelt hatte. Er galt als Verführer, der die Ehe eines hochrangigen französischen Politikers zerstört hatte. Und obendrein warf man ihm rücksichtsloses Verhalten während einer Regatta vor. Ebenso falsch wie die erste Behauptung. Doch auch hier stand sein Wort gegen das eines anderen.

Einar war nie der Typ gewesen, der mit Dreck auf Leute warf, die bereits am Boden lagen. Und er würde auch jetzt nicht damit anfangen. Selbst wenn das bedeutete, dass sein Ruf darunter litt. Und verdammt, das tat er! Seine Sponsoren spielten sich zu Moralaposteln auf und drohten, ihre Gelder abzuziehen, während seine Agentin ihm misstraute und ihm einen Spürhund vor die Nase setzte. Ihre Schwester. Diese Malin. Er hatte sie gestern das erste Mal flüchtig kennengelernt. Diese kurze Begegnung hatte ihm allerdings gereicht, um zu wissen, dass er sie nicht auf seinem Boot haben wollte.

Vielleicht war es ihr gegenüber ein bisschen unfair. Aber die Welt war nun mal ungerecht. Er bekam es am eigenen Leib zu spüren. Jeden Tag seit Cannes. Alle urteilten über ihn. Zeitungen, Fernsehsender, Radiostationen, normale Menschen, die bis dato nicht das Geringste mit dem Segelsport zu tun gehabt hatten. Alle hatten eine Meinung zu dem, was angeblich passiert sein soll. Einfach alle. Dabei wusste kein einziger, wie es sich wirklich zugetragen hatte. Er wurde durchaus danach gefragt. Aber wie schon gesagt, Einar war zu sehr Gentleman, als der Welt zu eröffnen, was genau passiert war.

Nun musste er selbst zusehen, wie er aus diesem Schlamassel wieder rauskam. Er würde dabei kaum Hilfe bekommen. Er war wieder eine Ein-Mann-Crew – allein auf weiter Flur und den stürmischen Wellen und zerstörerischen Winden ausgesetzt. Er allein navigierte sich durch den Orkan, der um ihn herum tobte. Es lag an ihm, wieder auf Kurs zu kommen.

Der erste Schritt war nun also dieser Sponsorentrip. Der schwedische Bootshersteller, der zu seinen größten Finanziers gehörte, hatte nach diesem öffentlichen Skandal um Einars Person eine Wiedergutmachung verlangt. Einar sollte auf verschiedenen Events entlang der Ostküste von seinen Weltumsegelungen erzählen, Hände schütteln und eifrige Segelfans unterhalten. Außerdem sollte er ein Fotoshooting für eine Uhrenmarke absolvieren, das schon lange auf seiner To-do-Liste wartete. Wenn er sich jetzt nicht darum kümmerte, würde der Sponsor womöglich abspringen. Das Unternehmen hatte sowieso schon großzügig reagiert, indem es selbst nach den Vorfällen an der Côte d’Azur weiterhin auf die Erfüllung seines Werbevertrags bestand. Man hätte ihn genauso gut aufkündigen können.

Abgesehen davon würde Einar an einer Mittsommer-Regatta rund um die Insel Öland teilnehmen. Er war als erfolgreichster Segler des Landes sozusagen das Zugpferd des Wettbewerbs, bei dem auch Hobby-Segler mitmachen durften. Es ging dabei nicht um einen großen Preis. Es war vielmehr eine Tradition, die sich über die Jahre etabliert hatte. An Mittsommer fiel der Startschuss für die Regatta, und wenn am Sonntag schließlich auch das letzte Boot ins Ziel fuhr, folgte eine große Feier mit Musik, Tanz und Unmengen an Essen und Cocktails.

Normalerweise liebte Einar dieses Event. Er erinnerte sich an kein Jahr, in dem diese Tour nicht zu den besten seines Sommers gehört hatte. Sie war nicht besonders anspruchsvoll, trotzdem mochte er sie. Für ihn fühlte es sich jedes Mal an wie ein Heimspiel vor ausverkauftem Publikum. Hinzu kam der fabelhafte Blick auf Schwedens wundervolle Küstenlandschaft. Aber dieses Jahr würde es anders werden. Das stand außer Frage. Einar hatte wenig Lust, sich all den Blicken zu stellen, die man ihm zuwerfen würde. Ebenso wenig war er auf all die ungenierten Fragen scharf, die ihm so manch einer sicherlich stellen würde. Er würde sich ein paar Floskeln ausdenken müssen, die er Mal um Mal abspulen würde. Das war der einzige Weg, diesen Trip durchzustehen.

Ein verlegenes Räuspern riss Einar aus seinen Gedanken. Er hob den Kopf, und sofort fühlte er ein dumpfes Brodeln in der Magengegend. Diese Malin beobachtete ihn vom Steg aus. Wie lange stand sie schon da? Einar blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es war erst halb sechs. Wieso war sie bereits hier?

Ohne Hast stieg er vom hinteren Teil, der etwas tiefer lag, hinauf aufs Deck seines Seglers und ging langsam auf die ihm eigentlich noch unbekannte Frau zu. Gestern hatte er sie in Selmas Büro kaum betrachtet. Während er nun die wenigen Meter zu ihr überbrückte, holte er das unauffällig nach.

Sie war nicht besonders groß. Einar schätzte sie auf nicht mal einen Meter fünfundsechzig. Ihr hellbraunes Haar hatte sie in einen ordentlichen Knoten am Hinterkopf verbannt. Keine einzige Strähne traute sich, von der strengen Frisur abzuweichen. Ihr rundes Gesicht wurde von zwei ebenso runden Augen dominiert, deren Farbe Einar an einen stürmischen Tag auf dem Meer erinnerte. Kein klares Blau, kein intensives Grün, aber grau waren sie auch nicht. Eher eine Mischung aus allen dreien. Eben wie die See, wenn sie gnadenlos ihre Wellen hochpeitschen ließ.

Malins Nase schien sich den Titel der Stupsnase stolz zu verdienen. Ihr Mund hingegen besaß ein kräftiges, natürliches dunkles Rot, für das andere Frauen sicherlich töten würden … oder bereit wären, jeden Preis für einen entsprechenden Lippenstift zu zahlen.

Malin verbarg ihre Figur in einer dunkelgrauen Steppjacke. Die konnte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine nicht zu verachtende Oberweite besaß. Darauf folgte eine schmalere, aber nicht besonders schlanke Taille sowie etwas breitere Hüften. Ihre Beine steckten in weißen Jeans, die ausgefranst über den Knöcheln endeten. Unwillkürlich blieb Einars Blick einen Tick zu lang an der Form der Schenkel hängen. Sie hatte wirklich hübsche Beine. Diese endeten schließlich in einem Paar dunkelgrüner Sneakers.

Am Boden angekommen, entdeckte Einar eine kleine Reisetasche, die sich neben Malin befand. Schlagartig wurde Einar der Grund für ihr Auftauchen wieder bewusst. Natürlich. Sie würde die kommenden zwei Wochen mit ihm unterwegs sein.

Das Brodeln in seinem Magen nahm zu, und er musste an sich halten, um ihr wenigstens halbwegs höflich zu begegnen.

»Angst, dass ich ohne dich ablege?« Sein Blick glitt zu den runden aufwühlenden Augen, die scheu blinzelten.

»Möglicherweise.« Sie räusperte sich erneut und schaute sich zögernd um. »Darf man an Bord kommen?«

Einar unterdrückte ein Lächeln, denn diese Frau war nicht auf seiner Seite. Sie sollte ihn für Selma im Auge behalten. Das machte sie automatisch zu jemandem, auf den er selbst achtgeben musste. Wer wusste schon, was sie ihrer Schwester erzählen würde. Einar hatte keine Angst vor Selma. Aber sie war eine wichtige Säule seiner Segelkarriere. Und mit seinem aktuellen Ruf würde es schwer werden, jemanden zu finden, der auch nur im Ansatz die gleichen Fähigkeiten besaß wie seine derzeitige Agentin.

»Ich habe wohl kaum eine Wahl.« Er nickte ihr zu und wartete darauf, dass sie über die niedrige Reling stieg.

»Dann sind wir ja schon zwei«, murmelte Malin und musterte den Bug des Seglers. Dabei rührte sie sich allerdings keinen Millimeter vom Fleck.

Nach einigen Sekunden hob Einar fragend seine rechte Augenbraue. »Wartest du auf irgendwen?« Ein Gentleman würde ihr die Hand reichen, um an Deck zu kommen. Und normalerweise war er ein solch gut erzogener Mann. Aber heute war er nicht bereit dazu. Noch nicht. Er wusste, dass es klüger wäre, bei Malin einen positiven Eindruck zu hinterlassen. Aus den eben genannten Gründen. Aber es fiel ihm schwer. Er haderte immer noch mit der Zwangsaufseherin, die Malin für ihn darstellte.

Für gewöhnlich war er allein unterwegs. Er segelte ohne Begleitung. Ganz gleich, wie lang die Strecken waren, er war auf sich gestellt. Einar mochte diese selbst gewählte Einsamkeit. Sich das Boot auf einmal mit jemandem teilen zu müssen und dann auch noch mit einer Frau, die er nicht freiwillig eingeladen hatte, zerrte gewaltig an seinem Nervenkostüm, das sowieso schon unter Spannung stand.

Malin schien indes nach einer Möglichkeit zu suchen, Zeit zu schinden. Ihre Füße standen weiterhin fest auf dem alten Holzsteg, und es wirkte nicht unbedingt so, als hätte sie vor, das zu ändern.

Genervt wiederholte Einar seine Frage: »Wartest du auf jemanden?«

 

 

Witzig. Wirklich witzig. Natürlich wartete Malin auf niemanden! Was dachte dieser angebliche Profisegler denn? In Gedanken strich Malin »angebliche« wieder. Er war unumstritten ein Experte. Sie hatte ihn gegoogelt. Leider hatte sie dabei sogar feststellen müssen, dass er einer von den Seglern war. Also jenen, die ihr Land stolz machten, weil sie so viele Ranglisten anführten, die Welt in Rekordzeit umsegelten und bei Olympia in verschiedenen Disziplinen Gold gewannen. Ja, genau. Vor ihr stand ein mehrfacher Olympiasieger. Diese Zeit lag zwar schon einige Jahre zurück, wirkte aber auch heute noch gewissermaßen beeindruckend.

Malin unterdrückte ein Seufzen. Sie wollte nicht an Bord gehen. Hier auf dem Steg zu stehen glich für sie bereits einer Herausforderung. Sie war den angsteinflößenden Wellen viel zu nah. Wer wusste schon, wie tief es hier runterging?!

Ihr Blick schweifte über die leise schaukelnden Boote rüber zum rettenden Ufer. In einigen Metern Entfernung ragte das eindrucksvolle Vasa Museum in die Höhe. Das schiefe Dach sowie die daraus hervorragenden Masten gaben dem Gebäude das markante Aussehen eines großen Seglers. Das war Absicht, denn das Museum beherbergte etwas Einzigartiges. Nämlich die vor mehr als dreihundert Jahren gesunkene Vasa. Das Kriegsschiff sollte zu jener Zeit eigentlich glorreichen Ruhm einfahren. Stattdessen sorgte ein Konstruktionsfehler dafür, dass nach nur wenigen Hundert Metern die Jungfernfahrt in einer Tragödie endete und das Schiff für Jahrhunderte auf dem Boden der Stockholmer Bucht lag. In den Sechzigerjahren wurde der beinahe vollständig erhaltene Dreimaster in einer aufwendigen Prozedur gehoben und nannte nun das eigens dafür errichtete Museum sein Zuhause.

Sehnsüchtig dachte Malin an ihre Freundin Stina, die dort als Historikerin tätig war. Im Gegensatz zu Malin liebte sie die Seefahrt und war selbst häufig mit einem Boot draußen in den Schären unterwegs. So oft schon hatte sie Malin gefragt, ob sie sie nicht begleiten wollen würde, aber Malin hat jedes Mal abgelehnt. Selma hätte Stina bitten sollen, Einar zu beaufsichtigen. Die beiden würden von den Interessen her gut zusammenpassen und hätten sich bestimmt viel zu erzählen. Ein unwillkürliches Lächeln glitt über Malins Züge. Womöglich hätte Stinas Freund etwas dagegen, dass die Liebe seines Lebens zwei Wochen allein mit einem gut aussehenden Mann auf einem Segelboot verbrachte. Andererseits, Stina und Andrik hatten siebzehn Jahre gebraucht, um endlich zueinanderzufinden – was sind dagegen schon zwei Wochen? Aber nein. Das kam wohl nicht infrage.

Leises, unregelmäßiges Klappern und Klirren ertönte in Malins Ohren. Die Leinen, Haken und was sich sonst noch so auf Segelbooten befand, klimperte in der morgendlichen Brise.

»Bist du schon mal gekentert?«, fragte Malin auf einmal und überlegte zeitgleich, ob es so klug war, sich danach zu erkundigen.

Misstrauisch beobachtete Einar sie von seiner Position auf dem Boot aus. »Das ein oder andere Mal, ja.«

»Großartig«, flüsterte Malin und atmete tief ein. Wenigstens sorgte ihre Nervosität dafür, dass sie die frühmorgendliche kühle Luft kaum wahrnahm. Es war eine gänzlich unmenschliche Zeit, zu der er sie herzitiert hatte. Und da sie in der Tat sichergehen wollte, dass er nicht ohne sie davonsegelte, war sie früher gekommen als vereinbart. Selma hatte ihr gestern noch eine Nachricht mit dem genauen Treffpunkt zukommen lassen. Darunter hatte sie geschrieben: Er ist eigentlich wirklich nett. Pass auf ihn auf, und macht euch eine schöne Zeit!

Als würde Malin mit Einar in den Urlaub fahren. Lächerlich. Und wer passte auf sie auf? Nicht, dass sie das aus Sicht einer emanzipierten Frau bräuchte, aber so aus Prinzip: Einar war der Profisegler. Wenn sich hier jemand in Gefahr begab, dann war es ja wohl sie.

Plötzlich vibrierte es in ihrer Jackentasche. Sie zog ihr Smartphone hervor und ignorierte den äußerst irritierten Blick von Einar.

»Sorry, da muss ich kurz rangehen.«

»Ich … Was?!« Einar schüttelte kaum merklich den Kopf und starrte sie mit offenem Mund an. Auf seinem Gesicht war eindeutig eine Frage abzulesen: Bekam sie wirklich um zwanzig vor sechs an einem Sonntagmorgen einen Anruf?

Malin nahm das Gruppengespräch ihrer Freundinnen an und legte sich das Handy ans Ohr. »Guten Morgen.«

»Hej!«, rief Stina.

»Es ist zu früh für einen guten Morgen«, grummelte Alva und lachte.

Oh, wie gut es tat, ihre beiden Freundinnen zu hören! Einar schaute sie immer noch perplex an und schien nicht zu wissen, wie er mit dieser Situation umgehen sollte.

»Wir haben uns extra den Wecker gestellt, um dir ganz viel Kraft für dieses Abenteuer zu wünschen!«, flötete Alva gut gelaunt, so, als wäre ihre Müdigkeit binnen Sekunden verflogen.

Alva. Diese wunderbare Frau war neben Stina Malins beste Freundin. Ihr gehörte inzwischen die Buchhandlung, in der Malin schon seit Beginn ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin arbeitete. Früher einmal hatte Alvas Großvater sie geführt, doch der war vor zwei Jahren verstorben und hatte den Laden seiner Enkelin vermacht. Nach einigen Startschwierigkeiten führte diese das Geschäft nun äußerst erfolgreich. Alva hatte aus der verschlafenen Buchhandlung einen modernen und ebenso historischen Ort des Zusammenkommens geschaffen. Malin liebte es, mit ihrer Freundin gemeinsam an dem Erfolg von Ekströms Bokhandel zu arbeiten und sich immer wieder neue Events einfallen zu lassen, die rund ums Lesen bei ihnen stattfanden.

»Ich bin ja schon ein bisschen neidisch, wenn ich ehrlich bin.« Stinas Stimme unterbrach Malins abweichende Gedanken zu einem schöneren Ort als diesem Steg.

»Wir können gern tauschen«, bot Malin sofort an.

Stina lachte. »Nein, nein. Dieses Abenteuer wird dir guttun.«

Malin drehte sich um, sodass sie mit dem Rücken zu Einar stand. Sein neugieriger und gleichzeitig verwirrter Blick machte sie darauf aufmerksam, dass er jedes ihrer Worte hören konnte.

Leise flüsterte sie: »Wieso bezeichnen das alle als Abenteuer? Das ist nicht …«

»Du begleitest einen erfahrenen Segler auf seiner Tour durch die Schären. Das ist ja fast schon Urlaub«, warf Alva wenig hilfreich ein.

»Nur weil ich mir dafür bei dir Urlaubstage nehmen musste, ist es noch lange kein Erholungstrip«, korrigierte Malin ihre Freundin und Chefin.

»Wie auch immer, wir wollen dich nicht aufhalten. Wir wollten dir nur viel Glück wünschen bei deinen Aufgaben als Baby…«

»Begleitung!«, rief Malin dazwischen, als Stina das falsche Wort in den Mund nahm.

Ein Räuspern hinter ihr ließ Malin herumfahren. Einar stand auf einmal am Bug des Bootes und war damit nicht mal einen halben Meter von ihr entfernt.

»Ich danke euch, aber ich muss jetzt Schluss machen.«

»Viel Spaß!«

»Genieß es!«

Eilig tippte Malin auf die rote Taste auf dem Display ihres Smartphones und ließ es in ihrer Jackentasche verschwinden.

»Wer ruft dich so früh morgens an?!« Einar betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen und den Händen in der Taille.

Malin schluckte und bemühte sich um ein unbeteiligtes Lächeln. »Meine besten Freundinnen.«

»Wieso?!«

Malin zuckte mit den Achseln. »Sie haben mir eine gute Reise gewünscht.«

»Für so etwas gibt es Textnachrichten. Oder den Abend vor der Abreise.«

»Möchtest du mir jetzt vorschreiben, wann meine Freundinnen mich anrufen dürfen?« Es war nicht Malins Art, jemanden zu provozieren, und doch tat sie es. Sie führte es auf ihre innere Anspannung zurück. Das wenn auch sehr kurze Gespräch mit Alva und Stina entfaltete dankenswerterweise seine Wirkung und gab Malin einen Schub Selbstbewusstsein.

»Nein, aber …«

»Schön. Das wäre auch wirklich unpassend«, stellte Malin augenblicklich fest. Sie hob ihre Tasche vom Boden und schluckte. »Also, wir waren beim Kentern …«

»Entweder du kommst jetzt an Bord oder ich lege ohne dich ab. Ich habe keine Lust auf diese Spielchen.« Einars Stimme war leise, allerdings barg sie einen gefährlich drohenden Unterton, der auf Malins Armen eine Gänsehaut hinterließ.

Sie sah auf und erschrak. Das Gesicht des Segelprofis wirkte angespannt und seltsam wütend. In seinen blauen Augen blitzte es auf, und Malin hatte das Gefühl, als würde das Blau von Sekunde zu Sekunde dunkler werden. Wie die Tiefen eines Ozeans, die zunehmend mehr Gefahren bargen.

Er musterte Malin unnachgiebig. Auf seiner Stirn hatten sich wieder diese beiden Falten gebildet, die Malin schon gestern in Selmas Büro bemerkt hatte. Er sah nicht aus, als würde er spaßen.

Ohne ein Wort zu verlieren, begann Malin, auf sich selbst einzureden. Sie war eine erwachsene Frau. Und vor ihr stand ein erfahrener Profi auf einem Boot, das aussah, als wäre es gut in Schuss. Aber was wusste Malin schon davon? Nichts! Sie musste darauf vertrauen, dass alles gut gehen würde. Sie hatte ihrer Schwester versprochen, diese Aufgabe zu übernehmen. Zwar unter anderen Voraussetzungen, aber nun war sie hier im Wasahamnen und musste sich fügen.

Ungeduldig funkelte Einar sie an. »Soll ich bis drei zählen?«

Mühsam versuchte Malin, einen ihrer Füße anzuheben. Sie wollte ja an Bord gehen. Wirklich. Sie wollte es versuchen. Aber ihr Körper trat in Streik. Ausgerechnet jetzt!

Kopfschüttelnd fing Einar an, das Boot zum Auslaufen fertig zu machen. Er prüfte diverse Leinen sowie das eingepackte Segel, während Malin daran arbeitete, ebenfalls auf das Schreckensgefährt zu steigen.

Ohne einen weiteren Kommentar abzugeben, lief Einar zum Heck des Bootes, kümmerte sich dort um irgendetwas und kehrte dann wieder zu ihr zurück. Malin befand sich immer noch dort, wo er sie hatte stehen lassen. Er hatte sich zwischenzeitlich eine Rettungsweste übergestreift. Zwei schmale dunkelblaue Schläuche verliefen über seinen Brustkorb und schlossen sich im Nacken zusammen. Gurte hielten alles an seiner Position, und Malin fragte sich, wie so etwas Winziges am Ende dafür Sorge tragen sollte, dass man nicht unterging.

»Hier, zieh das an!« Einar hielt ihr eine ebensolche Weste entgegen.

Mit zitternden Fingern nahm Malin sie an und versuchte, sie überzustreifen. Es gelang ihr irgendwie, wenn sie auch nicht wirklich sagen konnte, wie. Ihre Anspannung wuchs von Sekunde zu Sekunde, und sie wäre am liebsten weggelaufen. Doch selbst das schafften ihre festzementierten Füße nicht.

Einar warf einen Blick auf seine teure Herrenuhr. »Kurz vor sechs. Können wir dann los? Oder musst du noch mal mit deinen Freundinnen telefonieren?«

Malin bemühte sich um einen erhabenen Blick. »Neidisch?«

»Nicht im Geringsten«, erwiderte Einar tonlos.

Erneut versuchte Malin, an Bord zu gehen. Doch ihre Füße rührten sich einfach nicht vom Fleck. Plötzlich schrak Malin zusammen. Neben ihr polterte es kurz, die Holzplanken bewegten sich leicht, und auf einmal stand Einar direkt neben ihr auf dem Steg. Er war vom Boot zu ihr rübergesprungen.

»Okay, was ist das Problem?«

»Es gibt kein Problem«, krächzte Malin und schluckte.

»Schön, dann können wir ja los. Wenn ich bitten darf?« Er deutete mit der Hand in Richtung Segelschiff, aber Malin stand wie angeschweißt da.

Einar fuhr sich mit der Hand durch die blonden Haare, die in einem geordneten Chaos auf seinem Kopf lagen. »Hör zu, ich würde dich wirklich liebend gern hierlassen. Ehrlich. Ich hätte damit überhaupt keinen Schmerz. Aber dann muss ich mir von deiner Schwester eine Standpauke abholen, die sich gewaschen hat. Und dazu bin ich nicht bereit. Also würdest du jetzt deinen Hintern auf dieses Boot schwingen und uns endlich aufbrechen lassen?«

»Ich …« Malin fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und starrte auf das blank geputzte weiße Deck, den silbernen Mast, der bestimmt fünfzehn Meter in die Höhe ragte, und das eingepackte Segel.

»Malin …« Wieder schwoll Einars leise Stimme bedrohlich an.

»Es könnte vielleicht sein, dass …«, stotterte Malin und fühlte sich schrecklich hilflos. Warum tat sie sich das an?!

»Was, Herrgott noch mal?!« Einar wechselte zu einem ironischen Unterton. »Sag bloß, du hast Angst vor Booten?«

Schockiert riss Malin den Kopf zu ihm herum und starrte ihn mit offenem Mund an. Eilig gab sie ein unglaubwürdiges Lachen von sich, um seiner Aussage die Wahrheit zu entreißen. »Nein. Also … nein … Ich …«

»Das ist ein Scherz?!« Nun war Einar es, der sie verblüfft musterte. »Du sollst meine Aufpasserin sein und hast Angst, auf ein Segelboot zu steigen?!« Er stieß einen seltsamen Laut aus. »Das kann nicht wahr sein.« Er schüttelte ungläubig den Kopf.

»Es sind nicht unbedingt Boote«, stellte Malin klar und hätte sich dafür am liebsten zurechtgestutzt. Das war nun wirklich nicht hilfreich. Doch ihr Mund schien sich auf einmal zu verselbstständigen. »Ich habe Angst vor breiten Flüssen. Oder großen Seen. Oder dem Meer. Also, vor tiefen oder auch offenen Gewässern.«

 

Lachhaft. Das war das Einzige, was Einar dazu einfiel. Die Frau, die seine Agentin für ihn als Aufpasserin abgestellt hatte, hatte doch wahrhaftig Angst vor Wasser! Er konnte es einfach nicht glauben. Wie wollte Malin die nächsten zwei Wochen überstehen, wenn sie es noch nicht mal schaffte, überhaupt an Bord zu gehen?

Ehrlich, er würde sie gern nach Hause schicken und war sich sicher, dass er ihr damit einen sehr großen Gefallen tun würde. Doch dann würde Selma an die Decke gehen. Und das wog im Moment leider schwer, verdammt schwer. Also musste er wohl oder übel eine Lösung für dieses überaus seltsame Problem finden.

Unruhig fuhr Malin sich mit der Hand über den Schopf und prüfte, ob alle Strähnen akkurat in ihrem Dutt saßen.

»Warum, zum Teufel, hast du diese Aufgabe angenommen, wenn du Angst vor Wasser hast?« Es wollte Einar einfach nicht in den Kopf gehen. Wie verrückt konnte man sein?

Aufgebracht funkelte Malin ihn an und rümpfte die Nase. »Als ich zugesagt habe, ging ich noch davon aus, dass wir mit dem Auto fahren.«

Einar stieß ein verächtliches Schnaufen aus. »Kommt nicht infrage. Wenn ich segeln kann, segle ich.«

Leise murmelte Malin: »Das hätte man mir vorher sagen müssen.«

Sie wirkte in diesem Moment so aufrichtig, dass Einar unwillkürlich Mitleid mit ihr bekam. Sie hatten sich diese Situation beide nicht ausgesucht. Anders als er hatte Malin aber die Möglichkeit zu fliehen. Also schlug Einar ihr das Offensichtliche vor. »Du musst das nicht machen. Du kannst …«

»O nein. Ich habe meiner Schwester versprochen, dich nicht aus den Augen zu lassen, und ich halte mich an das, was ich sage.« Sie seufzte.

»Es gibt bestimmt jemand anderen, der mit mir segeln kann.«

Mit einem besserwisserischen Blick sah sie zu ihm auf. »Wenn es den gäbe, wäre er oder sie jetzt statt meiner hier.«

Einar wagte einen letzten Versuch, die Situation nicht nur zu Malins, sondern auch zu seinen Gunsten zu drehen. »Und was wäre, wenn du mit dem Auto fährst und wir uns an den entsprechenden Orten treffen?«

Plötzlich lachte Malin und schüttelte den Kopf. »Das habe ich Selma gestern auch vorgeschlagen. Daraufhin hat sie mir erklärt, du könntest dich auf See spontan umentscheiden und abhauen.« Sie musterte ihn mit einem strengen Blick, ähnlich dem ihrer Schwester. »Also, nein. Ich weiß deinen Vorschlag zu schätzen, lehne ihn aber in dem Wissen ab, dass er dir viel mehr nutzen würde als mir.«

Einar erhob seine Stimme, aber Malin fuhr ihm mit leiser, absoluter Stimme dazwischen. »Und ja, mir ist klar, dass ein Segler auf seiner Sponsoringtour an der Küste nicht mit dem Auto vorfahren kann.« Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Oder will.«

Genau richtig! Er mochte vielleicht ein bisschen Mitleid mit der kleinen Frau haben, aber das bedeutete nicht, dass er auf das Einzige verzichtete, dass ihm diesen Horrortrip wenigstens im Ansatz versüßen würde. Ein Segeltörn auf der Ostsee.

Er schob seine Hände in die Taschen seiner knielangen Hose und wandte sich zu Malin. Mit seltsam belegter Stimme fragte er: »Wie lösen wir das nun?«

»Ich gehe an Bord.« Malin klang, als würde sie mehr sich selbst als ihn von dieser Aussage überzeugen wollen.

Abwartend betrachtete er sie, doch sie bewegte sich keinen Millimeter vom Fleck. Er sah auf seine Uhr. Es war schon Viertel nach sechs. Sie hatten heute eine lange Etappe vor sich. Einar wollte seine neue Weggefährtin nicht hetzen, aber sie mussten wirklich los.

Sie hatte seinen Blick auf das Zifferblatt bemerkt. Räuspernd straffte sie die Schultern und warf ihre Tasche ungeschickt auf das Deck seines Segelbootes.

»Ich hasse Abenteuer«, flüsterte sie kaum hörbar und zwang sich dann, endlich einen Schritt nach vorn zu machen. Etwas schwerfällig, so, als würden sich zwei Tonnen Gewicht an ihrem rechten Bein befinden, hob sie es hoch und setzte es an den Rand des Bugs. Ihr zweiter Fuß haftete weiterhin auf dem Steg, und sie drohte, einen waghalsigen Spagat zu machen, wenn sie sich nicht bald nach oben schwingen würde.

»Malin …« Einar wollte sie darauf aufmerksam machen, aber sie winkte mit einer Hand ab, während sie sich mit der anderen an die niedrige, eher instabile Reling klammerte.

»Ja, ich bin dabei!«

Das konnte man ja nicht mitansehen. Einar unterdrückte einen Fluch, der über seine Lippen huschen wollte, und schluckte mehrmals. Die Hände in die Taille stemmend beobachtete er, wie der Abstand zwischen Boot und Steg aufgrund mehrerer kleiner Wellen größer wurde. Nichts Problematisches. Normalerweise. Aber Malin befand sich immer noch in dieser kritischen Position, sodass ihre kurzen Beine wahrhaftig dabei waren, einen Spagat zu vollziehen und das Boot zunehmend wegzudrücken.

Panisch versuchte sie, sich an Bord zu ziehen. Einar bemerkte ihre zitternden Finger und konnte nicht länger zusehen. Mit einem schnellen Sprung, der Dank seiner Größe kaum ein Problem darstellte, hüpfte er an Bord und griff sogleich nach Malins klammer Hand. Mit einem starken Ruck zog er sie zu sich, sodass auch ihr zweiter Fuß endlich vom Steg wegkam. Bevor sie durch den Schwung über die kaum nennenswerte Reling stolpern konnte, legte Einar seine Arme um ihren Brustkorb und hob sie kurzerhand auf seine Seite des Decks.

Aufgrund der hastigen Bewegungen schaukelte das Boot minimal hin und her. Für Einar war das nicht weiter nennenswert, doch Malin begann, bereits bei diesen winzigen Schwankungen blass zu werden. Sie erstarrte, und Einar traute sich für eine Sekunde kaum, sie loszulassen. Womöglich ging sie ihm sonst schon im Hafen über Bord – bevor sie überhaupt abgelegt hatten.

Malin stieß seine Hände allerdings sogleich von ihrem Körper und funkelte ihn erzürnt an. »Was fällt dir ein?!«

»Gern geschehen.« Genervt von diesem ganzen Theater fuhr Einar sie härter an als nötig. »Schau zu, dass du dich vom Sonnendeck fernhältst. Ich habe keine Lust, dich später irgendwo aus der Ostsee fischen zu müssen.« Er wandte sich um und lief in Richtung Heck. Er hatte zwar für einen Moment Mitleid mit Malin gehabt, doch nun überwog der Frust über die Gesamtsituation. Und so rief er auf seinem Weg nach Achtern: »Ich will deiner Schwester nicht die Nachricht überbringen, dass ich dich wegen deiner Schusseligkeit auf See verloren habe.«

»Das ist doch …«

Malin ließ eine feine leise Schimpftirade los, die so gar nicht zu dieser Frau passte, die er gestern in Selmas Büro kennengelernt hatte. Er hatte sie dort beinahe übersehen, so unscheinbar hatte sie auf ihrem Stuhl gesessen. Kaum ein Wort war ihr über die Lippen gekommen, und auch sonst schien sie ihm eher zurückhaltend zu sein. Der Eindruck hatte sich verstärkt, als sie heute Morgen am Steg unauffällig auf sich aufmerksam gemacht hatte. All das sprach eher für eine schüchterne Person. Selbst als sie ihn eben angefunkelt hatte, hatte es mehr wie ein Versehen gewirkt.

Bis auf den strengen Blick schien Malin kaum etwas mit Selma gemeinsam zu haben. Vom Äußeren ganz zu schweigen, waren sie sich wohl auch vom Charakter her nicht sehr ähnlich. Wieso hatte Selma darauf bestanden, dass ausgerechnet Malin ihn auf diesem Törn begleitete? Sie musste doch wissen, welche Angst ihre Schwester vor dem Meer hatte. Zudem hätte sie ahnen müssen, dass er mit dem Boot fahren würde. Warum also schickte sie Malin und ihn durch diese gemeinsame Hölle? Es hätte doch bestimmt irgendeine andere Möglichkeit gegeben, um ihm klarzumachen, dass er unter Beobachtung stand.

Einar hüpfte in die Vertiefung am Heck, wo sich zwei gegenüberliegende Sitznischen befanden, und holte sein Smartphone aus der hinteren Hosentasche. Eilig tippte er eine Nachricht an seine Agentin:

Wenn du mir das nächste Mal eine Babysitterin aufhalst, such jemanden aus, der keine Angst hat vor allem, was mit Wasser zu tun hat … Ich unterstreiche meine Aussage von gestern: Ich bin nicht für Malin verantwortlich.

Trotz der frühen Morgenstunde erhielt er nur Sekunden später eine Antwort von Selma.

Malin kämpfte sich derweil unsicher über das seitliche Deck zu ihm nach hinten. Einar überflog die wenigen Worte seiner Agentin.

Du bringst meine Schwester sicher von Hafen zu Hafen. Sonst sorge ich dafür, dass das dein letzter Törn war.

Verdammt! Sauer pfefferte er das Smartphone auf die Ablage und fuhr sich durch die Haare. Für einen Moment überlegte er, ob er Malin einfach mit einem Seil anbinden sollte. Zum Wohle aller auf diesem Boot. Aber so, wie sie weiter leise vor sich hin schimpfte, würde das wohl keine gute Idee sein.

Endlich kam Malin bei ihm an und stieg ungeschickt zu ihm in die Vertiefung, die nicht groß war, aber immerhin so viel Platz barg, dass zwei Menschen sich mit ein wenig Abstand zueinander dort hinstellen konnten. Vorsichtig nahm sie in einer der Sitznischen Platz und platzierte ihre flachen Hände seitlich von ihren Oberschenkeln. Diese Frau hatte wirklich kein gutes Verhältnis zu Schiffen oder dem Wasser im Allgemeinen. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, bemühte sie sich um eine neutrale Stimme. Doch er konnte das Zittern eindeutig raushören.

»Wollten wir nicht endlich los? Wir sind ja immer noch hier.«

Einar schnappte nach Luft und wollte etwas Rüdes erwidern, doch ihre verkrampften Finger, die sich inzwischen um die Auflage der Bank klammerten, hielten ihn davon ab. Also nickte er nur. »Gib mir zwei Minuten.«

 

 

Frischer Wind zerzauste Malins sorgfältige Frisur, aber das war in diesem Moment ihr geringstes Problem. Nachdem Einar die Marie, wie sein Boot offenbar hieß, fertig zum Auslaufen gemacht hatte, hatte er den Gästehafen zunächst mit Motorantrieb verlassen. Das Vasa Museum, das Wikinger-, sowie das sehenswerte ABBA-Museum blieben hinter ihnen zurück, und auch der niedliche Freizeitpark Gröna Lund am Ufer der größten Insel Stockholms, Djurgården, war schon bald aus Malins Sichtfeld verschwunden.

Es war noch so früh, dass kaum jemand auf den Straßen Stockholms unterwegs war. Vom Wasser aus hatte die Stadt wie ein schlafender Riese gewirkt, der sich auf einen herrlichen Sommertag vorbereitete. Nur mit Mühe war es Malin gelungen, ihren Blick vom Boden des Segelschiffes zu heben und die vorbeiziehende Schönheit ihrer Heimatstadt zu bewundern. Wenigstens hatte sie das für kurze Zeit von ihrer Angst abgelenkt.

Als sie Djurgården südlich umrundet hatten, ging es zunächst immer in Richtung Osten. Weder Malin noch Einar sagten in dieser Zeit ein Wort. Seltsamerweise war Malin dafür ehrlich dankbar. Sie suchte in ihrem Inneren nach einem Weg, um diese schreckliche Situation anzunehmen. Wütende Schimpftiraden aus dem Mund eines überheblichen Seglers konnte sie dabei wahrlich nicht gebrauchen.

Immer wieder prüfte Malin, ob ihre Schwimmweste auch richtig saß. Sie hatte bei einer umsichtigen Musterung ihrer Schiffsumgebung auch schon einen rot-weißen Rettungsring entdeckt. Nur dass Einar ihn ihr wohl kaum zuwerfen würde, wenn sie über Bord ging. Er würde vermutlich eher die Segel setzen, um möglichst schnell Abstand zu ihr aufzubauen.

Einen Moment lang erinnerte Malin sich an seinen beinahe sanften Ausdruck, als er verstanden hatte, dass sie sich vor tiefen Gewässern fürchtete. Er hatte Mitleid mit ihr. Da war sie sich fast sicher. Allerdings hatte er das wohl ziemlich schnell wieder abgelegt. Immer noch empörte Malin sich über seine Hauruckaktion, um sie an Bord zu hieven. Gewiss, sie hatte in der Klemme gesteckt, aber meine Güte! Musste er denn gleich sämtliche Grenzen überschreiten?

Malin atmete tief durch und besann sich auf ihr ruhiges Wesen, das sie bisher immer gut durchs Leben geführt hatte. Sie gehörte für gewöhnlich nicht zu der Sorte Mensch, die aufbrausend war, nach Streit suchte oder gern den Sturkopf raushängen ließ. Nein, sie war eher Teil des Teams Besonnenheit. Zurückhaltend, nachdenklich und überlegt. Das war auch der Grund, weshalb sie Abenteuer nicht auf ihrer Bucketlist stehen hatte. Sie war nicht der Typ, der das Unvorhersehbare erleben wollte.

Wieder zerrte der Wind an Malins Haaren, und sie richtete das Gesicht in Richtung Bug, damit die vielen losen Strähnen wenigstens nicht in ihre Augen geweht wurden. Nachdem sie die Stadt verlassen hatten, zogen am Ufer bunte Holzhäuser mit beneidenswerten Grundstücken, umgeben von dichten Kiefernwäldern, vorbei. Malin hielt bereits eine Dreiviertelstunde gegen ihre Angst durch, als Einar das Boot um eine kleine Insel steuerte und den Weg in Richtung Süden einschlug. Wenig später fuhren sie unter der Skurubron hindurch. Eine Bogenbrücke, die mit rund 32 Metern hoch genug war, um dem fast 15 Meter hohen Mast der Marie genügend Platz einzuräumen.

Die eindrucksvolle Brücke schwang sich mit drei Rundbögen über das dunkelblaue Wasser und wirkte wie ein überdimensionales Tor. Ein Tor, das Malin sinnbildlich zu ihrem unfreiwilligen Abenteuer führte. Sie verließen endgültig die nähere Umgebung von Stockholm und tauchten in den berühmten Schärengarten ein, der sich in einem Radius von etwa achtzig Kilometern rund um die schwedische Hauptstadt befand.

Neben den zauberhaften Wäldern und Gemeinden würden sie an zahlreichen kleinen Felseninseln vorbeikommen, die jeden Sommer Tausende Touristen anlockten. Doch auch die Stockholmer wussten um die nahe Urlaubskulisse. Wie Malin mal gelesen hatte, befanden sich mindestens 50.000 Ferienhäuser auf den rund 30.000 Inseln des Schärengartens. Eines davon gehörte ihren Eltern. Malin dachte an die vielen Sommer, die sie dort verbracht hatte. Prickelnde Limonade, duftende Wildblumen, frischer Apfelkuchen und rot-weiße Picknickdecken – so hatten Malins Sommermonate ausgesehen. Typisch schwedisch. Verträumt und voller Lachen. Was würde sie dafür geben, wenn Einar sie einfach zum Haus ihrer Eltern bringen und dort absetzen würde. Dort wäre sie in diesem Moment so viel lieber als auf diesem unsäglichen Boot, das ihren Puls in die Höhe und den Schweiß auf die Stirn trieb.

---ENDE DER LESEPROBE---