Zitronenfieber - Madita Tietgen - E-Book

Zitronenfieber E-Book

Madita Tietgen

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Beschreibung

Ein Neuanfang zwischen sauren Zitronen und süßen Küssen.
Neuer Job, neuer Ort, neue Perspektive. Das ist Hopes Plan, als sie an die eindrucksvollen Cliffs Of Moher der irischen Westküste reist. Die Physiotherapeutin übernimmt die sechswöchige Pflege von Destillerie-Besitzer Angus O'Neill nach einem schweren Unfall. Sie hofft, fernab von ihrem Zuhause auch ihren Selbstzweifeln und Schuldgefühlen den Rücken kehren zu können.
Trotz der ungemütlichen Art ihres neuen Patienten fühlt sich Hope in dem kleinen Ort Ardwellheart schnell wohl. Dafür sorgt vor allem Dylan, Angus’ erwachsener Sohn. Zu irischen Pub-Abenden und dem spontanen Engagement in einem Feriencamp für Waisenkinder mischen sich verstohlene Blicke und heiße Küsse. Allerdings zwingen alte Dämonen Hope zu einer brachialen Entscheidung, denn in der Familie O’Neill geht es alles andere als harmonisch zu. 
Haben Hope und Dylan eine Chance auf das irische Glück, wenn Hope schon wieder dabei ist zu fliehen und Dylan vor die schwerste Entscheidung seines Lebens gestellt wird?
 
Der achte Teil der Bestseller-Reihe »Irland - Von Cider bis Liebe« von Madita Tietgen ist eine Geschichte über Liebe, Vergebung und die unerwarteten Wendungen des Lebens. Alle Bände sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Zitronenfieber

IRLAND – VON CIDER BIS LIEBE

Buch 8

MADITA TIETGEN

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

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Texte: Madita Tietgen

Cover: Grit Bomhauer

Korrektorat: Dr. Andreas Fischer

Satz: Zeilenfluss

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

_____________________

ISBN: 978-3-9671-4304-1

Für Sophie.

Weil du ein wundervoller Mensch bist und ich von Herzen dankbar bin,

dass wir trotz Entfernung aufeinander zählen können.

Eins

Atemberaubend. Etwas anderes fiel Hope zu diesem Anblick nicht ein. Mit leicht geöffneten Lippen betrachtete sie die steilen Klippen, die nicht weit entfernt den rauen Wellen des Atlantiks trotzten. Durch die angelehnte Terrassentür wehte eine sommerlich frische Brise in das herrschaftliche Wohnzimmer, in das sie vor wenigen Minuten geführt worden war. Der Duft blühender Rosen erreichte Hope, und einmal mehr blinzelte die junge Frau. Wüsste sie es nicht besser, würde sie denken, an einem ganz besonderen Ort gelandet zu sein. Doch die kurzzeitige Vorstellung wurde schon in der nächsten Sekunde zunichtegemacht.

»Sie genießen die Aussicht?« Eine tiefe, provozierende Stimme erklang hinter Hope, und sie fuhr erschrocken herum.

»Das muss man wohl, wenn sie so aussieht.« Sie lächelte und hoffte, ihre Nervosität damit zu überspielen.

Der Mann vor ihr schaute ebenfalls durch die Fenster, doch er schien diese malerische Perspektive wohl schon zu oft gesehen zu haben. Unbeteiligt deutete er auf eines der pastellfarbenen Sofas mit Seidenbezug, während er sich mühsam auf Krücken zu einem Sessel vor dem Kamin begab, der sich seitlich der Terrassentüren befand. Das mächtige steinerne Gebilde im Rücken, richtete er das edle Einstecktuch an seinem schwarzen Dreiteiler zurecht. Er mochte derzeit zwar lädiert sein, aber wie Hope bei einer unauffälligen Musterung bemerkte, war dieser Mann nicht bereit, sich das ansehen zu lassen. Sein teurer, maßgeschneiderter Anzug war nur ein Hinweis auf ihre Vermutung.

Langsam schaute Hope sich um, während sie sich auf dem ihr zugewiesenen Platz niederließ. Der Marmorboden, der sich durch den großen Raum zog, wurde lediglich bei den Sitzgelegenheiten von einem dicken Perserteppich mit aufwendigem Blumenmuster überdeckt. Die Wände ringsherum waren mit hohen Regalen versehen, in denen zahlreiche Bücher untergebracht waren. Eines älter als das andere. Zwischendurch erkannte Hope einige Bilderrahmen mit Schwarzweißfotografien. Nur wenige Fotos waren tatsächlich in Farbe.

Neben dem gegenüberliegenden Sofa entdeckte Hope eine Stehlampe mit rotem Schirm, an dem Fransen herunterhingen. Dezente Kissen mit ähnlichen Kordeln lagen in den Ecken der Sitzgarnitur, und Hope bekam den Eindruck, dieses Haus würde in einer anderen Epoche festhängen. Alles wirkte vornehm und irgendwie kalt. Das einzig Freundliche war der Blick hinaus in den sonnengefluteten Garten. Auf der Terrasse aus grauem Stein standen gemütliche Korbsessel mit weichen Kissen. Entlang des streng gepflegten Rasens zog sich ein halbes Dutzend großer Rosenbüsche, deren weiße Blüten mit beneidenswerter Schönheit und Eleganz angaben.

»David sagte, Sie sind mit dem Zug angereist?« Die stechende Stimme ihres Gegenübers ließ Hope wieder zu dem Grund ihrer Anwesenheit zurückkommen.

»Das stimmt. Ein Taxi hat mich vom Bahnhof hergebracht.« Sie legte erneut ein Lächeln auf ihre Lippen und nickte. Behutsam verschränkte sie ihre Fußknöchel und zog sie dicht an das Sofa heran, auf dessen Kante sie mit kerzengeradem Rücken saß. In den knöchellangen hellen Jeans und dem einfachen weinroten Shirt fühlte Hope sich seltsam deplatziert. Vielleicht hätte sie sich besser auf diesen Job vorbereiten sollen. Andererseits war sie nicht hier, um Eindruck zu schinden. Ob sie wollte oder nicht, sie brauchte diesen Auftrag, der so anders war als ihre bisherige Arbeit, die sie plötzlich nicht mehr hatte ausüben können. Hope presste die Lippen zusammen und schob den Gedanken an die letzten Wochen beiseite.

Missmutig ließ der Mann, der, wie sie wusste, gerade seinen fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert hatte, seine kühlen Augen über sie gleiten. Eine unangenehme Gänsehaut legte sich auf Hopes nackte Unterarme, und ganz automatisch strich Hope über die zarte Zeichnung auf der Arminnenseite, etwa zehn Zentimeter oberhalb ihres Handgelenks. Schließlich ließ ihr vorübergehender Auftraggeber von ihr ab und deutete auf ein Schriftstück, das auf einem kleinen Beistelltisch in der Nähe lag.

»Ich weiß, dass Sie beruflich verpflichtet sind, Stillschweigen zu bewahren. Aber ich gehe immer auf Nummer sicher. Unterschreiben Sie das, bevor David Ihnen Ihr Zimmer für die nächsten Wochen zeigt.«

Irritiert griff Hope nach dem Dokument und überflog es. »Sie wollen, dass ich eine Verschwiegenheitserklärung unterschreibe?« Sie hob den Kopf. »Das ist doch gar nicht nötig.«

Ungeduldig wiederholte er sich. »Ich gehe gerne auf Nummer sicher. Ich habe einen Ruf und ein Ansehen zu wahren. Da will ich nicht, dass Getuschel aufkommt, weil Sie sich irgendwo verplappern. Mit der Erklärung fühle ich mich sicherer, wenn Sie so wollen.«

Achselzuckend griff Hope nach dem Kugelschreiber, den er ihr hinhielt. Dann las sie die wenigen Zeilen noch einmal gründlich durch und unterzeichnete auf der dafür vorgesehenen Linie. Es machte im Grunde keinen Unterschied. Sie dürfte so oder so nicht mit anderen über den Gesundheitszustand eines Patienten sprechen. Abgesehen von Ärzten oder weiteren Therapeuten, für die er seine Zustimmung geben würde. Aber wenn er es so wollte, bitte. Sie würde sich nicht über etwas streiten, das ihr obsolet erschien.

»Sie werden die nächsten Wochen auf meinem Anwesen wohnen, aber ich erwarte, dass Ihnen bewusst ist, dass dies immer noch mein Haus ist. Fühlen Sie sich also nicht allzu heimisch.« Seine Finger umschlangen eine kleine Fernbedienung auf dem Tischchen neben ihm. Nachdem er auf einen der Knöpfe gedrückt hatte, ergänzte er an Hope gerichtet: »David wird Ihnen alles zeigen.«

Hope musterte den Mann, dessen Haar bereits ergraut war. Trotz seiner derzeitigen Verfassung schien er für gewöhnlich eher der sportliche Typ zu sein. Seine Schultern waren ein wenig eingefallen, aber das konnte auch an den letzten Wochen liegen, die mit Sicherheit nicht leicht gewesen waren. Hätte er einen guten Tag erwischt, würde er Hope vermutlich an jemanden erinnern. Sie überlegte einen Moment und unterdrückte dann ein Schmunzeln. Er mochte unfreundlich und direkt sein, ebenso hatte seine Körperhaltung gelitten, aber würde man diese Faktoren außer Acht lassen, hätte Hope ihn zu gerne mit George Clooney verglichen. Ja, er wirkte in der Tat ein bisschen wie der gut alternde Schauspieler. Nur, dass dem Mann auf dieser Seite des Atlantiks das charmante Lächeln fehlte.

In diesem Moment sah Hopes neuer Arbeitgeber auf. »David, kümmern Sie sich bitte um Miss Molloy. So wie besprochen.«

Hope blickte auf und erkannte den streng wirkenden Butler, der sie vorhin in Empfang genommen und ins Wohnzimmer geführt hatte. Er nickte bestätigend, und Hope hörte das Klappern zweier Krücken. Eilig erhob sie sich, als der Mann, für den sie in den kommenden Wochen arbeiten würde, an ihr vorüberschlurfte. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ der Hausherr den altbackenen großen Raum.

Hope bemühte sich, ihre Verwunderung nicht ganz so offensichtlich über ihr Gesicht ziehen zu lassen. Wieder wurde ihr bewusst, dass dieser Job anders werden würde. Das erste Mal arbeitete sie bei einem Patienten zuhause und zog sogar für mehrere Wochen in dessen Gästezimmer. Lieber hätte sie in einem nahen Bed and Breakfast gewohnt, doch das miesepetrige George-Clooney-Double hatte darauf bestanden, dass sie direkt bei ihm auf dem Anwesen wohnte. Seltsam, wenn Hope nun daran dachte, dass sie sich hier keinesfalls zuhause fühlen sollte, wie er es vor wenigen Minuten ausgedrückt hatte. Sie erinnerte sich an die zusätzliche Erklärung, die sie hatte unterschreiben müssen. Vermutlich gab der Mann nur ungern die Kontrolle ab und behielt sie lieber im Auge. Das konnte ja was werden.

Dieses Mal hatte Hope es mit einem besonders sturen Patienten zu tun, wie sie fürchtete. Sie hoffte nur, dass er sich während der Therapie entgegenkommender zeigen würde als bei diesem ersten Aufeinandertreffen. Seine Direktheit grenzte an Unhöflichkeit, aber Hope ließ das nicht an sich heran. Sie kämpfte bereits mit der Erkenntnis, dass sie diesen Job angenommen hatte, weil sie zuhause nicht mehr zurechtgekommen war. Diese Einsicht schmerzte sie ebenso sehr wie die Scham, die sich unaufhörlich durch ihren Körper zog und ihre Seele zu Boden drückte. Sie hatte sich einen Fehler erlaubt, der eigentlich keiner gewesen war. Aber für sie fühlte es sich genauso an. Wie ein unverzeihlicher Fehler.

Es hatte ihre Welt derart aus den Angeln gehoben, dass sie ihre eigene Praxis für Physiotherapie verpachtet, sich komplett daraus zurückgezogen hatte und hierher an die Cliffs of Moher geflüchtet war. Der Auftrag war im rechten Moment gekommen, als Hope es in ihrem Heimatort nahe Cork nicht länger ausgehalten hatte. Ohne ausführlich zu überlegen, hatte sie das Angebot angenommen und wollte nun in Ruhe nach einer Perspektive für sich suchen. Wenn sie über ihren neuen Patienten nachdachte, könnte das allerdings anstrengender werden als erwartet.

Tief einatmend wandte Hope sich an David: »Sieht aus, als wäre hier alles gesagt worden.«

Sie zuckte unbedarft mit den Schultern.

Der Butler nickte und bedeutete ihr dann höflich, ihm zu folgen. »Mister O’Neill empfängt nur selten Besuch, deshalb verzeihen Sie ihm seine Wortwahl.«

Sie liefen durch die geräumige Eingangshalle, die ebenfalls mit teurem Marmor ausgestattet war. Eine seitliche Treppe führte hinauf in den ersten Stock, während neben dem großen Durchbruch zum Wohnzimmer diverse unauffällige Türen von der Halle ins umliegende Erdgeschoss abzweigten. Dunkelgrüne Tapeten zierten die Wände, und wertvolle Gemälde mit einer ganzen Reihe an Jagdszenen hingen in akkurat ausgemessenen Abständen nebeneinander.

David griff nach dem kleinen Koffer, den Hope bei ihrer Ankunft neben einem dunklen Holztisch im Foyer abgestellt hatte. Dann erklomm er die Stufen ins Obergeschoss. Hope tat es ihm nach und bewunderte im Vorbeigehen ein großes, weißes Rosenbouquet auf dem runden Tisch, das sicherlich mit Blüten aus dem Garten zusammengestellt worden war.

»Sie müssen sich nicht für ihn entschuldigen«, bemerkte Hope freundlich. Vermutlich erinnerte ihre Anwesenheit daran, dass es ein Problem gab, um das man sich zwangsläufig kümmern musste. Ob man nun wollte oder nicht.

Sie erreichten den ersten Stock und gelangten direkt in ein weiteres offenes Wohnzimmer. Nur wesentlich kleiner als das im Erdgeschoss. Zwischen gemütlichen Ohrensesseln, deren blauer Stoff mit goldenen Hirschköpfen bestickt war, befand sich ein weiterer Kamin. Wie unten gab es seitlich der Sessel diverse Bücherregale mit allerhand alten Werken. Anders als im Erdgeschoss waren in diesem Bereich jedoch keine Fenster, die den Blick auf den Garten oder den Atlantik ermöglichten. Rechts und links zweigte jeweils ein langgezogener Flur ab. Ebenfalls in dunkelgrünen Tapeten, mit Gemälden bestückt und in regelmäßigen Abständen von weißen Holztüren unterbrochen.

David deutete in den linken Teil des Hauses. »Hier entlang, bitte.«

Hope folgte ihm durch den schier endlosen Gang bis zum letzten Zimmer. Der Butler öffnete die Tür rechter Hand und ließ Hope den Vortritt. Helle Sonnenstrahlen fluteten den Raum, der für die kommenden Wochen also ihr Rückzugsort sein sollte. Nicht ihr Zuhause, das hatte ihr Patient ja bereits klargestellt. Neugierig musterte Hope die Einrichtung. Linker Hand und geradeaus zogen sich einige hohe Fenster entlang der Mauer. Sie hatte das Eckzimmer erhalten. Vermutlich lag das am weitesten von ihrem Arbeitgeber entfernt, dachte sie unwillkürlich und war beinahe froh darüber.

Rechts von ihr befand sich ein Doppelbett mit einer cremefarbenen Tagesdecke darauf. In der Ecke zwischen zwei großen Fenstern, die durch schmale Holzstreben in viele kleine Quadrate unterteilt wurden, stand ein moderner Sessel in hellem Gelb mit einem weißen Deko-Kissen. Daneben, an der Wand gegenüber dem Bett, befand sich eine weiße Kommode, in der Hope ihre wenigen Habseligkeiten würde unterbringen können. Es gab keinen Schreibtisch oder etwas Ähnliches, aber das war für Hope in Ordnung. Ihre Ansprüche waren nicht besonders hoch, und dieses Zimmer übertraf ihre Erwartungen um Längen. Schräg gegenüber auf der anderen Raumseite führte eine weißlasierte Tür in ein privates Bad, wie Hope feststellte, als sie einen schnellen Blick hineinwarf. Helle Keramiken, dunkle Fliesen und ein Fenster neben dem Waschbecken, sodass sie beim Zähneputzen hinaus in den Garten schauen konnte.

Überhaupt waren die Fenster das eigentliche Highlight dieses Gästezimmers. Geradeaus sah Hope direkt über den grünen Rasen und die Rosenbüsche hinweg auf das blaue Meer. Ließ sie die Augen nur ein bisschen weiter nach links schweifen, so erkannte sie die eindrucksvollen Klippen. Die Cliffs of Moher. Sie waren ihr vorhin bereits aufgefallen, und wieder konnte sie sich dem fantastischen Anblick nicht entziehen. Wie konnte die Natur nur so rau und trotzdem so magisch wirken?

Ein Räuspern ließ sie aufschrecken.

»Das Haus mag schon etwas älter sein, aber wir setzen hier auf ein modernes System.« David, der Butler, deutete auf ein Tablet, das direkt an der Wand neben der Zimmertür angebracht war. »Hierauf finden Sie Ihre Termine sowie die Essenszeiten für das Personal. Sie essen mit uns in der Küche, sofern Sie nicht aushäusig zu Tisch sind. Marlis, das Hausmädchen, wird sich einmal pro Woche um Ihr Zimmer kümmern und Ihnen den Waschkeller zeigen. Wenn Sie sich eingerichtet haben, zeige ich Ihnen zudem gerne den Fitnessraum. Wir haben ihn nach Ihren Anforderungen anpassen lassen. Ihre Termine werden also dort stattfinden. Bitte geben Sie mir Bescheid, falls Sie dafür noch etwas benötigen. Ich kümmere mich umgehend darum.«

Seine ausgesucht höfliche Ausdrucksweise und das adrette Erscheinungsbild erinnerten Hope an die alten Filme, in denen der Landadel den Ton angab und fleißige Angestellte diesem aufs Wort folgten. Der Mann in schwarzem Anzug und gestärktem weißem Hemd besaß schwarzgraues, kurz geschnittenes Haar und ein rundes, freundliches Gesicht. Hope schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Dankbar nickte sie ihm zu.

»Das ist sehr freundlich. Ich hoffe, ich mache Ihnen nicht zu viele Umstände.«

»Gewiss nicht. Wir hoffen alle, dass Ihre Anwesenheit dem gewünschten Ziel förderlich ist.«

»Ich gebe mein Bestes.« Hope wehrte sich gegen das heftige Ziehen, das sich auf einmal an ihrer Magenwand bemerkbar machte. Rasch schluckte sie und deutete auf die Fenster. »Es ist wunderschön hier.«

David nickte ein weiteres Mal. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt, Miss Molloy.«

»Hope!«, rief sie schnell und lächelte dann zurückhaltend. »Bitte, nennen Sie mich Hope.«

»Natürlich.« Mit der bereits bekannten Butler-Seriosität stellte er ihren Koffer neben das Bett. »Wenn Sie fertig sind, rufen Sie mich einfach über das Tablet. Dann zeige ich Ihnen den Rest des Hauses.«

»Vielen Dank.« Hope nickte, und gleich darauf schloss der Butler die Tür hinter sich. Sie hörte, wie sich seine kaum wahrnehmbaren Schritte entfernten, und ließ ihre Augen ein weiteres Mal durch das Zimmer schweifen.

Sechs Wochen. So lange würde sie hier bleiben. Voraussichtlich. Sie griff in die Handtasche, die sie die ganze Zeit über bei sich getragen hatte. Mit zwei Fingern zog sie einen blauen Hefter heraus und schlug ihn auf, während sie sich mit der Hüfte an die Kommode lehnte. Die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut spürend, überflog sie die Diagnose und den Plan, den die Ärzte für ihren neuen Patienten vorsahen. Sie überging die medizinischen Fachbegriffe und warf einen Blick auf die Krankenhausberichte, die ihr irgendwie unvollständig vorkamen. Soweit sie diesen entnehmen konnte, war ihr Patient, abgesehen von den aktuellen Einschränkungen, wohl in einer relativ guten körperlichen Verfassung. Das würde helfen, um ihn wieder zu mobilisieren. Er schien mit den Krücken einigermaßen gut zurechtzukommen, aber Hope würde ihn zu Beginn lieber nochmal dafür sensibilisieren, wie er die Belastung richtig verteilte.

Ob er sich von ihr sagen lassen würde, was er zu tun hatte? Hope machte seine Art zu schaffen. Der Mann wirkte wie jemand, der keine Kompromisse einging und sich nichts vorschreiben ließ. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als würde er nicht zu den geduldigsten Menschen gehören. Und das würde er zwangsweise werden müssen. Sie ahnte, dass er ihr das Leben schwer machen würde. Schon jetzt. Andererseits hatte sie sich geschworen, alles zu tun, um ihre Patienten bei der Genesung zu unterstützen. Dieses Mal würde sie alles richtig machen.

Das Gesicht eines jungen Mädchens mit schwarzen Locken tauchte plötzlich vor Hopes innerem Auge auf, und der Hefter glitt ihr aus den Fingern. Wieder spürte sie das schmerzhafte Ziehen in ihrem Magen. Mühsam verdrängte sie die Erinnerungen, die Scham und die Selbstzweifel und hob den schmalen Ordner auf. Sie schaute auf den oberen Rand der Arztberichte. Das hier war die Gegenwart, und darauf würde sie sich konzentrieren. Sie hatte einen neuen Patienten, eine neue Chance und war an einem neuen Ort. Sie würde es schaffen. Sie würde alles richtig machen und sich vorübergehend retten. Egal, wie schwer es werden würde. Hope würde durchhalten. Ihr Blick blieb an dem Namen ihres künftigen Patienten hängen. Angus O’Neill.

Eine unwillkürliche Gänsehaut breitete sich auf ihrem Rücken aus, aber Hope schüttelte sich sogleich. Dieser Mann mochte im ersten Kontakt schwierig wirken. Aber davon würde sie sich nicht aufhalten lassen. Rasch legte sie die Berichte beiseite und machte sich ans Auspacken. Sie war hier vielleicht nicht zuhause, aber ein bisschen Ankommen konnte trotzdem nicht schaden.

»Es heißt immer, Schwangere strahlen so ein Leuchten aus. Sie seien automatisch so viel hübscher. Aber das stimmt nicht. Das ist eine Lüge«, meinte Brittany mit einem Seufzen, ließ sich enttäuscht auf den nächstbesten Sessel im Wohnzimmer ihres Hauses fallen und strich sich mit der Hand über ihren dicker werdenden Bauch. Eine hochgewachsene Kentia-Palme, die sich gleich daneben befand, kitzelte die blonden Haare der trüblich dreinblickenden Frau.

Dylan musterte seine Schwester amüsiert. »Was willst du von mir hören?«

»Ich ruiniere meine Figur! Schau mich an! Ich musste gestern schon wieder neue Klamotten shoppen gehen.« Gequält sah sie zu ihm und ignorierte seine zuvor gestellte Frage.

»Seit wann hast du etwas dagegen, einkaufen zu gehen?« Dylan grinste und erhob sich von der weißen Sofagarnitur, die den Großteil des Wohnzimmers einnahm. Er war noch gar nicht richtig in Ardwellheart angekommen, und schon begann seine Schwester die Leidende zu spielen. Lächelnd umrundete er den quadratischen Couchtisch aus Glas, durchquerte den Raum und hockte sich vor den Sessel, auf dem seine Schwester immer noch über ihren Bauch strich und einen Schmollmund zog. Der passte perfekt zu dem hübschen Gesicht, der aufwendigen Hochsteckfrisur und dem eleganten Make-up. In den schwarzen Umstands-Jeans und der weiten Bluse sah sie wie eine werdende Mutter aus, die eben noch ein wichtiges Quartalsmeeting abgehalten hatte. Was vermutlich sogar der Fall gewesen war, überlegte Dylan schmunzelnd und dachte für einen kurzen Augenblick an die Whiskeydestillerie, die seiner Familie gehörte. Doch so schnell wie der Gedanke an einen von Irlands erfolgreichsten Whiskeys aufgetaucht war, so schnell schob Dylan ihn wieder beiseite. Er würde sonst nur schlechte Laune bekommen.

Dylan griff nach der freien Hand seiner Schwester und drückte sie sanft. »Du hast dich freiwillig entschieden, Mutter zu werden. Du wusstest doch, dass das anders funktioniert, als sich eine neue Chanel-Handtasche zu kaufen.«

Dylan blitzte sie spitzbübisch an. Seine zwei Jahre ältere Schwester mochte das Gegenteil behaupten, aber sie war so hübsch wie eh und je. Ein bisschen kräftiger vielleicht, aber das würde Dylan ihr nicht sagen. Die Fünfunddreißigjährige war bekannt dafür, dass ihr Äußerlichkeiten wichtig waren. Manchmal ein bisschen zu wichtig. Aber der Fairness halber musste Dylan ihr lassen, dass sie sich in den letzten zweieinhalb Jahren gebessert hatte. Sie war längst nicht mehr die überhebliche, arrogante Frau, die auf alle anderen herabblickte und sich hinter einer Mauer aus Kälte versteckte.

Einer der Gründe für diese Veränderung betrat in diesem Moment das helle, lichtdurchflutete Wohnzimmer. Bryan, Dylans Schwager, kam mit einem Tablett auf die Geschwister zu, und Dylan erhaschte einen Blick auf drei große Gläser gefüllt mit einer orangegelben Flüssigkeit, Eiswürfeln, Zitronenscheiben und einem Zweig Minze. Es sah aus wie ein flüssiger Sommer in Gläsern.

»Was ist denn los?«, fragte Bryan, als er das Tablett abstellte und die Getränke verteilte.

Dylan hauchte seiner Schwester einen Kuss auf die Wange. Dann begab er sich an die Seite seines Schwagers.

Brittany seufzte theatralisch. »Nur weil ich mich habe breitschlagen lassen, die nächste Generation der O’Neills in die Welt zu setzen, bedeutet das nicht, dass ich jeden Aspekt dieser Operation gut finden muss.«

Sie schälte sich aus dem Sessel und kam zu den beiden Männern.

»Operation?« Bryan griff lachend nach einem der Drinks und reichte ihn seiner Frau. »Gestern meintest du noch, du würdest am liebsten ewig schwanger bleiben.«

Brittany strafte ihren Mann mit einem liebevollen und dennoch erhabenen Blick ab. Gedehnt erwiderte sie: »Ja, weil ich gestern noch nicht wusste, dass meine Füße bald so geschwollen sein werden, dass ich nicht mehr in meine Lieblingsschuhe reinpasse. Das sind Unikate von Louis Vuitton. Und ich werde sie diese Saison nicht tragen können! Das gleicht einem Skandal.«

Sie stöhnte und verdrehte die blauen Augen.

Dylan nahm einen Schluck von dem Erfrischungsgetränk und schmeckte die spritzige Zitronennote, gefolgt von einem Hauch Minze und einer Spur Ingwer. Er beobachtete, wie Bryan seine schwangere Gattin in den Arm nahm, ihr einen Kuss auf das blonde Haar drückte und ihr lächelnd etwas ins Ohr flüsterte.

Um den beiden einen Augenblick Privatsphäre zu gönnen, wandte Dylan sich ab und trat hinaus auf die Terrasse. Das Haus seiner Schwester und ihres Mannes lag nur einen Steinwurf von dem kleinen Ort Ardwellheart entfernt. Es punktete durch seine herrliche Lage umgeben von grünen Wiesen. Der moderne graue Bau fügte sich überraschend angenehm in die raue Landschaft ein. Der Garten selbst war schlicht und elegant gehalten. Eine Terrasse aus Terrakottafliesen bot Platz für einen langen Esstisch mit gemütlichen Stühlen, während rechts und links weißblühende Rhododendronbüsche in großen grauen Kübeln um Aufmerksamkeit warben. Unweit des Hauses befand sich zudem eine Grillecke sowie gegenüber auf der anderen Seite eine Ansammlung eleganter Outdoor-Sessel mit beigefarbenen Sitzkissen.

Abgesehen davon gab es nicht viel, womit man den Garten hätte beschreiben können. Doch Dylans Meinung nach brauchte es gar nicht mehr. Ihm gefiel, dass der Rasen einfach in die umliegenden Weiden überging und sich an die Natur rundherum anglich. Eine Brise wehte über die grünen Halme hinweg, und Dylan bemerkte den typischen Meergeruch, den der Wind herübertrug. Es waren nur wenige Meilen bis zur Westküste Irlands.

»Und du willst wirklich nicht bei uns wohnen?« Die helle Stimme seiner Schwester ertönte plötzlich neben ihm. Sie und Bryan kamen gerade auf die Terrasse, immer noch die Arme um die Taille des anderen geschlungen.

Lächelnd schüttelte Dylan den Kopf und deutete mit seinem Glas auf den Bauch seiner Schwester. »Ich liebe dich, das weißt du. Aber nicht genug, als dass ich mir die Launen einer schwangeren Brittany tagtäglich zumuten könnte.«

»Du hast bloß Angst, dass sie dich noch vor der Geburt zum Babysitten verpflichtet«, erwiderte Bryan lachend und gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange. Unwillkürlich beobachtete Dylan das glückliche Paar vor sich. Er erinnerte sich noch gut daran, dass die beiden vor drei Jahren weit davon entfernt gewesen waren, eine gemeinsame Familie zu gründen. Dankbar dachte er an seine Cousine Rachel.

Sie war vor zweieinhalb Jahren plötzlich aufgetaucht und hatte nicht nur das kleine Dorf Ardwellheart auf den Kopf gestellt, sondern nebenbei auch noch dafür gesorgt, dass Brittany sich aus ihrem distanzierten Kokon befreite. Nach fast zwanzig Jahren hatte Dylan endlich wieder einen guten Draht zu seiner Schwester, während die sich auf einmal getraut hatte, sich auf Bryans bedingungslose Liebe einzulassen. Der sympathische Pubbesitzer, der mit den roten Haaren, den Sommersprossen im Gesicht und den fröhlichen Grübchen schon zu Schulzeiten ein Auge auf Dylans Schwester geworfen, aber nie eine Chance erhalten hatte, war endlich zu ihr durchgedrungen. Kurz darauf hatten die beiden Reißaus genommen, in New York geheiratet und nun war Brittany doch wirklich im sechsten Monat schwanger.

Ausgerechnet seine Schwester, die streng auf ihre Figur achtete, stets die aktuelle Saison trug und es niemals auch nur wagen würde, ihren Stil abzulegen. Auch nicht für so eine Nebensächlichkeit wie eine Schwangerschaft, wie sie es ausdrückte. Brittany mochte menschlicher geworden sein, aber sie war eben immer noch eine O’Neill, dachte Dylan.

Was das bedeutete, wusste er nur zu gut. Sein Name stand für eine alteingesessene Familie, die nicht nur einen von Irlands besten Whiskeys produzierte, sondern auch eine Menge Land im Westen der Insel verpachtete. Seit Jahrhunderten schon. Dadurch hatte sich die Familie nicht nur einen nicht zu verachtenden Reichtum erarbeitet, sondern auch eine gewisse gesellschaftliche Stellung. Im Gegensatz zu Dylan hatte seine Schwester das stets im Kopf. Trotzdem liebte er sie. Und er war jeden Tag dankbar, dass sie beide endlich wieder an einem Strang zogen.

Dylan schüttelte den Gedanken an die Vergangenheit ab und konzentrierte sich wieder auf das Glück, das ihm entgegenstrahlte.

Die drei begaben sich an den langen Tisch auf der Terrasse, und Bryan fuhr die cremefarbene Markise über ihren Köpfen aus. Die Julisonne schien überraschend warm herab, dafür, dass sie sich in Irland befanden.

Dylan setzte sich, lehnte sich entspannt zurück und ließ seine ebenfalls blauen Augen über seine Schwester gleiten. Sie sah gut aus. Glücklich und zufrieden. Er wusste, dass ihr Genörgel nur eine andere Art und Weise war, ihr Glück zu teilen. Für Fremde mochte es eigenartig wirken, aber das war nun mal Brittanys eigenwilliges Wesen.

»Ehrlich, ich weiß zu schätzen, dass ich bei euch wohnen darf. Aber ich habe ein Haus. Und ich sollte mich dringend mal wieder darum kümmern.« Eigentlich wollte er gar nicht darüber nachdenken, doch jetzt musste er es wohl oder übel. Er war nach seiner Ankunft in Ardwellheart direkt zu Brittany und Bryan gefahren, sodass er noch gar nicht bei sich gewesen war. Er zögerte es hinaus. Wie immer, wenn er herkam.

Brittany fuchtelte mit der Hand vor ihrem Bauch herum. »Ach was, du hättest es längst verkaufen sollen. Es wird viel zu klein für dich.«

»Zu klein? Ich lebe dort allein. Inzwischen nur wenige Wochen im Jahr. Was sollte an einem Haus mit sechs Zimmern und drei Bädern zu klein werden?«, fragte Dylan amüsiert.

Bryan setzte sich indes ans Kopfende des Tisches und streckte seine sportlichen Beine von sich. »Wie lange wirst du bleiben?«

»Auf alle Fälle bis Weihnachten. Ich kümmere mich für Rachel um das Camp und schreibe währenddessen meine Bachelorarbeit. Die muss ich im Februar abgeben.«

»Also fängst du sowieso erst im Januar an zu schreiben«, befand seine Schwester, die ihr Studium schon vor Jahren erfolgreich abgeschlossen hatte und stellvertretend für ihre gemeinsame Cousine die Anteile an der Familiendestillerie verwaltete. Deshalb vermutlich auch das Quartalsmeeting, das sie mit Sicherheit heute Morgen abgehalten hatte.

»Brittany …« Zärtlich rügend wandte Bryan sich an seine Frau.

Sie stieß Luft aus ihren Lungen. »Schon gut. Vielleicht fängt er auch schon im Dezember an.«

Dylan zuckte mit den Schultern. »Recht hat sie, Bryan.«

Grinsend blitzte Brittany ihren Mann an, der daraufhin nur amüsiert den Kopf schüttelte. Dann richtete sie ihren Blick mit einem gewissen Stolz in den Augen auf Dylan.

»Bist du weiterhin zufrieden mit deiner Fachwahl?«

Dylan griff nach seinem Drink und begutachtete den grünen Strunk Minze zwischen den klobigen Eiswürfeln und den gelben Zitronenscheiben. Langsam nickte er. »Ja, ich will etwas bewegen. So wie Rachel.«

Leise gab seine Schwester zu bedenken: »Es ist nicht unsere Aufgabe, Dads Fehler wiedergutzumachen, Dylan.«

Ein kalter Schauer überlief ihn, und er richtete sich eilig auf. Während Dylan das Glas zurück auf den Tisch stellte, murmelte er: »Das weiß ich.«

»Dann benimm dich nicht so, als wäre es dir nicht bewusst.« Dylan hörte die Liebe seiner Schwester aus deren ehrlicher Stimme heraus. »Es ist schön, wenn du etwas Gutes tun willst. Aber du solltest es aus den richtigen Gründen tun. Nicht aus Schuldgefühlen«, fuhr sie fort.

Dylan setzte ein charmantes Lächeln auf. »Ich bin dreiunddreißig. Alt genug, das selbst zu entscheiden, oder nicht?«

Ebenso charmant erwiderte Brittany mit einem herzlichen Augenaufschlag: »Sicher. Aber offensichtlich bekommst du es nicht hin, also müssen wir dich daran erinnern. Du bist ein Mann der Extreme. Erst machst du rein gar nichts. Dann willst du auf einmal die Menschheit retten. Du musst dir realistische Ziele setzen.« Streng wiederholte sie: »Du musst bei niemandem etwas gutmachen.«

Dylan schwieg und gab vor, sich mit einem Fussel auf seiner Hose zu beschäftigen. Er wusste genau, worauf seine Schwester anspielte. Zu lange hatte er sich auf dem Erbe seiner Mutter ausgeruht. Das Auftauchen seiner Cousine Rachel hatte schließlich alles durcheinandergebracht und ihn ins andere Extrem umschwenken lassen. Gewissermaßen war das gut. Denn Dylan hatte sich mit Anfang dreißig endlich für ein sinnvolles Studium entschieden, nachdem er zuvor nur mal in dieses oder jenes Fach hineingeschnuppert und vor sich hingelebt hatte. Genügend Geld hatte er ja besessen, wozu sich die Mühe machen, nach einem richtigen Job zu suchen?

Aber Rachel hatte dieses Denken verändert. Jetzt wollte er etwas tun. Etwas Wichtiges. Etwas Bedeutendes. Etwas, das ihn von dem Mann abhob, von dem er abstammte. Er wollte es besser machen. Er wollte gut genug sein. Also hatte er sich für Soziale Arbeit entschieden. Den Bachelor würde Dylan demnächst abschließen, und nach einiger Praxiserfahrung würde er den Master dranhängen und sich schließlich nach einer Möglichkeit umsehen, wo er etwas bewirken konnte.

Tat er es aus Schuldgefühlen, wie seine Schwester behauptete? Vielleicht. Aber machte das seine Beweggründe weniger wichtig?

Plötzlich ergriff Bryan das Wort und wandte sich an seinen Schwager. »Wirst du deinen Vater besuchen, während du hier bist?«

Zwei

Hope strich sich unbewusst mit den Fingerspitzen über die enganliegende schwarze Sporthose. Das dunkelblaue Top reichte bis zu ihren Oberschenkeln, darüber trug sie einen ebenfalls schwarzen, dünnen Pullover. Einen, den man im Sommer überzog, wenn es für einen kurzen Moment kühl wurde. So wie in dem Fitnessraum, in dem Hope sich befand. Ihre erste Einheit mit Angus O’Neill stand an, und sie wartete geduldig auf ihren Patienten.

Nachdem sie gestern angekommen war und Butler David ihr das Zimmer gezeigt hatte, war sie dem Angestellten kurz darauf einmal quer durch das Anwesen gefolgt. Von der Küche über den Dienstbotenbereich bis hin zur Bibliothek und dem umgebauten Fitnessraum hatte er sie in alle Besonderheiten des Hauses eingewiesen. Mehr und mehr hatte Hope das Gefühl gehabt, als würde sie sich in einer anderen Zeitrechnung befinden. Das Gebäude mochte modernisiert worden sein, die Technik in jedem noch so kleinen Winkel zeugte davon, dennoch fühlte es sich an, als hätte sie das Tor zu einer längst vergangenen Epoche durchschritten.

Alles war irgendwie so herrschaftlich, hochgestochen und in keinster Weise gewöhnlich. Hope wusste nicht, ob das etwas Gutes oder eher Schlechtes war. Es schüchterte sie einerseits ein, andererseits spürte sie einen gewissen Trotz in sich aufbegehren, sich eben davon nicht entmutigen zu lassen.

Auf Hopes neugierige Frage, wie alt das Anwesen sei, hatte David mit einem gewissen Stolz und einer Spur Ehrfurcht in der Stimme geantwortet: »O’Neill Craig zählt mehr als zweihundert Jahre.«

O’Neill Craig. Natürlich hatte das Anwesen einen Namen. Dieser Umstand überraschte Hope kein bisschen. Sie hatte sich schon über die Adresse gewundert, als sie die Zusage für ihren Job erhalten hatte. Jetzt erklärte es die seltsamen Zeilen, die man ihr hatte zukommen lassen.

Während der Führung durch das Haus, das für einen Menschen allein viel zu groß war, hatte David erklärt, wie Hope sich in den nächsten Wochen verhalten solle. Wäre es nicht so absurd gewesen, hätte sie vermutlich aus Versehen angefangen zu lachen. Doch der Butler hatte es ernst gemeint.

Die Wohnräume von Angus O’Neill hatte sie zu meiden. Sie durfte lediglich den Seiteneingang zur Küche benutzen und keinesfalls an die Haustür gehen, wenn es klingelte. Mahlzeiten konnte sie sich selbst zubereiten oder die Köchin bitten, für sie mitzukochen. Der Garten war tabu, und sollte sie in den Ort wollen, gäbe es ein Fahrrad, das sie sich ausleihen dürfte. Und das oberste Gebot: Was auf dem Anwesen passierte, blieb auf dem Anwesen. Beinahe hätte Hope gefragt, ob sie dafür auch eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen müsse. Doch sie hatte sich wohlweislich zurückgehalten.

Wenngleich David geflissentlich die Eigenschaften eines souveränen Butlers perfektionierte, so spürte Hope, dass dahinter ein herzlicher Mensch lauern musste. Sie nahm sich fest vor, diese Person ausfindig zu machen. Wenn sie sechs Wochen hier sein würde, brauchte sie irgendeinen menschlichen Anschluss, der nicht aus ihrem grimmigen Patienten bestand.

Mehr denn je musste sie zudem beweisen, dass sie ihren Beruf beherrschte. Nicht ihrem Patienten oder irgendwelchen Vorgesetzten, sondern sich selbst. Sie war unsicher geworden, hatte gezweifelt und musste dringend wieder Selbstvertrauen fassen. Hope war gut und verstand ihren Job, nur musste sie dieses rationale Wissen endlich wieder verinnerlichen. Abseits der Blicke, des Getuschels und der Scham, die sie in den letzten Wochen immerzu begleitet hatten. Ihre Eltern versuchten ihr beständig zu versichern, dass sie es nicht hätten besser machen können. Aber Hope sah das anders. Sie hatte es richtig machen wollen, doch stattdessen hatte sie etwas übersehen. Und die Scham darüber reichte ins Unermessliche. So weit, dass sie ans andere Ende der Grünen Insel gereist war, um ihre Zweifel mit einem aufreibenden Auftrag zu erpressen.

Nun war sie also bei dem schwerreichen und griesgrämigen Angus O’Neill gestrandet und stellte sich und ihr Können auf die Probe.

Ein ärgerliches Brummen drang an Hopes Ohren, und sie sah auf. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und zupfte ihren Pferdeschwanz fest. Im nächsten Augenblick kam Angus O’Neill an seinen Krücken in den umfunktionierten Raum geschlurft. Wie David ihr erklärt hatte, war dieses Zimmer ursprünglich eine Art begehbare Garderobe gewesen. Angrenzend an die Empfangshalle waren hier bislang Mäntel, Jacken und allerlei Schuhe für jede Jahreszeit verräumt gewesen. Da Angus O’Neill aufgrund seiner Verletzung derzeit allerdings nicht in das obere Stockwerk kam, hatte man umdisponieren müssen.

Jetzt war der quadratische Raum mit einer Spiegelwand, verschiedenen Matten, allerlei Sportgeräten sowie einer Liege ausgestattet. Überrascht hatte Hope festgestellt, dass das Zimmer etwa doppelt so groß war wie jenes, in dem sie die kommenden Wochen schlafen würde. Wie viele Jacken konnte ein einziger Mann besitzen, um eine Garderobe in dieser Größe zu benötigen? Sie überlegte es sich lieber nicht.

Freundlich kam sie auf Angus zu. »Wie geht es Ihnen heute?«

»Sparen Sie sich das. Ich verzichte auf Small Talk. Machen Sie das, wofür Sie bezahlt werden.«

Hope schluckte ihren sarkastischen Kommentar herunter und hielt an ihrer Freundlichkeit fest. Dennoch verschränkte sie bei den nächsten Worten die Arme vor der Brust. »Mister O’Neill, ich kann mir vorstellen, dass die Situation für Sie alles andere als einfach ist. Aber so funktioniert das nicht.«

Missmutig starrte er sie an und stützte sich mühsam auf die Gehhilfen. »Ich wüsste nicht, warum Small Talk –«

»Vergessen Sie den Small Talk«, unterbrach Hope ihn immer noch freundlich, aber nachdrücklich. »Wenn Sie wieder mobil werden wollen, müssen Sie machen.« Sie spielte auf seine vorherige Formulierung an. »Ich bin nur hier, um Ihnen hilfreich zur Seite zu stehen. Ob Sie Ihr Ziel erreichen, hängt allein von Ihnen ab.«

Würde sie doch selbst nur glauben, was sie da behauptete. Sie musste sich selbst beweisen, dass sie es schaffen konnte, diesen Mann wieder zu mobilisieren. Nur dann hatte sie einen vorzeigbaren Erfolg, nachdem … Sie schluckte und verbot sich weitere Gedanken in diese Richtung.

»Wie bitte?! Was erlauben Sie sich?« Angus’ Stimme schwoll bedrohlich an, aber Hope ließ sich davon nicht einschüchtern. Sie musste das von Anfang an klarstellen, sonst wäre sowieso alles verloren, bevor es richtig angefangen hätte. Und das konnte sie sich um ihretwillen schlichtweg nicht leisten.

»Bei dieser Art von Verletzung können Sie sich nicht hinlegen, ich massiere Sie ein bisschen, und dann hat sich das in ein paar Wochen. Es geht jetzt um die Balance zwischen abschwellender Lymphdrainage und hartem Training sowie dem Willen, das wirklich durchzuhalten. Wenn Sie den nicht selbst aufbringen, kann ich Ihnen auch in sechs Monaten Behandlung kaum weiterhelfen.« Sie schaute ihm direkt in die Augen. »Sie müssen das wollen. Nicht ich.«

Abgesehen von dem Leistungsdruck, der auf Hope lag, hatte sie hiermit ebenso recht. Wenn der Patient nicht mitmachte, konnte sie als Therapeutin noch so gut sein. Sie würden das Ziel nicht erreichen.

Unwirsch schnaubte Angus. »Ich bin nicht hier, um mir von Ihnen sagen zu lassen –«

»Doch. Sind Sie.« Hope hasste diese direkten Ansagen, aber ihr war klar, dass sie hier sonst vergebliche Liebesmühe reinstecken würde. Sie musste es richtig machen. Also riss sie sich zusammen und behauptete sich mit klopfendem Herzen. Sie deutete auf die Tür. »Ich kann auch gerne wieder abreisen, und Sie suchen sich einen Masseur. Gar kein Problem. Aber wenn Sie die«, sie deutete auf die Krücken, »in einigen Wochen los sein wollen, dann hören Sie auf mich und strengen sich an.« Sie lächelte. »Das ist Ihr Haus, Ihre Regeln.« Hopes Fingerspitzen zeigten auf den Boden unter ihren Füßen. »Aber in diesem Raum gelten meine Vorgaben. Und die besagen, dass Sie sich in die Therapie einbringen und Ihr Bestes geben, damit wir zu einem vorzeigbaren Ergebnis kommen und Sie mich baldmöglichst wieder los sind.«

Puh. Hope ging die Luft aus. Unauffällig atmete sie tief ein und wartete angespannt ab. Angus O’Neill schien ihr nicht der Typ zu sein, der sich sagen ließ, wie es zu laufen hatte. Umso wichtiger war es, dass sie ihm von der ersten Stunde an deutlich machte, wie sich die Machtverhältnisse bei der Physiotherapie verteilten. Machtverhältnisse. Ein unpassender Begriff. Aber wenn Hope in das überhebliche Gesicht ihres Patienten blickte, fiel ihr nichts anderes ein, das wohl besser ausdrücken könnte, worum es hier ging.

Nach Sekunden der absoluten Stille rümpfte Angus schließlich die Nase. »Glauben Sie, ich will an diesen Dingern kleben bleiben?« Scharf sah er zu ihr auf. Er schüttelte angewidert den Kopf. »Machen Sie Ihren Job, und ich mache meinen.« Er stützte die Hände auf die Gehhilfen, unternahm einen Schritt nach vorn und versuchte sich auf die Liege zu setzen.

Sofort eilte Hope an seine Seite und griff ihm haltgebend um die Taille, als er die Krücken ablegte.

Ärgerlich rief Angus: »Und nächstes Mal achten Sie gefälligst auf Ihren Ton!«

Während Hope dem grummelnden Mann half, sich auf der Liege niederzulassen, verbarg sie ihr siegessicheres Schmunzeln hinter einem höflichen »Natürlich!«.

Wenig später tastete sie Angus’ Hüftregion ab und glich ihren Eindruck mit den vorhandenen Arztberichten ab. Wieder überkam sie der Verdacht, dass Dokumente fehlen mussten. Sie musterte die Narben und die OP-bedingten Schwellungen.

»Wie kam es zu der Verletzung?«, fragte sie automatisch, wie sie es bei jedem neuen Patienten tat.

»Haben Sie die Unterlagen nicht gelesen?«, brummte Angus genervt.

»Doch, aber ich höre das trotzdem gern nochmal von meinen Patienten.«

Angus schnaubte. Während sie sich weiter mit seiner Hüfte auseinandersetzte, meinte er schließlich: »Ein Autounfall.«

»Und der wurde wie verursacht?«

Harsch erwiderte Angus: »Inwieweit ist das relevant? Sie kennen das Ergebnis. Arbeiten Sie damit.«

Hope seufzte leise und fragte dennoch: »Wann war der Unfall?«

»Herrgott, das steht doch im –«

»… Bericht. Schon gut.« Hope nickte. Angus hatte es wahrlich ernst gemeint, als er sagte, er halte nichts von Small Talk. Nun gut. Sie rief sich die Details selbst noch einmal ins Gedächtnis. Soweit ihr bekannt war, war Angus vor knapp eineinhalb Wochen bei starken Regenfällen von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Dabei hatte er eine sogenannte Dashboard-Injury erlitten, eine Verletzung, die für Unfälle dieser Art sehr typisch war. Durch den enormen Druck, der beim Aufprall des Armaturenbretts gegen die unteren Extremitäten wirkt, kann beispielsweise das Kreuzband reißen oder es können Brüche im Bereich der Kniescheibe entstehen. In Angus’ Fall war die Verletzung weiter oben angesiedelt. Eines seiner Beine war so weit nach hinten gedrückt worden, dass es zu einer Acetabulumfraktur gekommen war. Ein Bruch im Bereich der Hüftgelenkspfanne.

Nach einem operativen Eingriff, bei dem die Knochen mit diversen Einsätzen stabilisiert wurden, war er noch eine Woche in der Klinik geblieben. Dortige Physiotherapeuten hatten ihm bereits gezeigt, wie er mit den Krücken umgehen sollte. Nun, eineinhalb Wochen nach der Operation, war es Hopes Job, ihn mit einer zielgerichteten Physiotherapie wieder fit zu machen.

Angus schien, soweit Hope das beurteilen konnte, seine bisherigen Hausaufgaben gut gemacht zu haben. Hope würde nun mit einer ausgewogenen Mischung loslegen. Mit der Lymphdrainage, einer Art Massage verschiedener Knotenpunkte, aktivierte sie die körpereigene Fähigkeit, eingelagerte Flüssigkeit abfließen und damit Schwellungen zurückgehen zu lassen. Zudem würde sie zu Beginn viel passive Bewegungsarbeit leisten. Insofern war ihre vorherige Ansage nicht ganz zutreffend gewesen. Anfangs würde wesentlich mehr Arbeit bei Hope liegen als bei Angus. Aber es schadete trotzdem nicht, ihm klarzumachen, dass es ohne seinen Einsatz nicht gehen würde. Denn parallel dazu würden sie am Muskelaufbau arbeiten. Nicht nur in der verletzten Region, sondern gerade auch in allen anderen Bereichen. Insbesondere die gesunde Seite musste gestärkt werden, da diese nun unter einer höheren Belastung stand.

»Also schön. Dann wollen wir mal«, murmelte Hope, stellte sich ans Kopfende der Liege und begann mit streichenden Bewegungen in der Halsregion.

In der folgenden Stunde widmete sie sich vorrangig der Lymphdrainage und einigen passiven Bewegungstests. Im Anschluss daran ging sie mit Angus noch einmal die vorübergehende Teilbelastung durch. Mit maximal zwanzig Kilo durfte er das Bein belasten, doch dafür musste man erst mal ein Gefühl bekommen. Erstaunt stellte Hope fest, dass er das ziemlich schnell raushatte. Ebenso wie die Technik, mit der er fortan besser auf den Krücken zurechtkommen würde.

Kurz vor Ende ihrer ersten Einheit, die nun täglich stattfinden würde, meinte Hope: »Das war ein guter Anfang. Ich schlage vor, dass wir zusätzlich zu den morgendlichen Terminen abends eine halbe Stunde zusammenkommen, damit wir die Flüssigkeit möglichst schnell aus dem Gewebe abfließen lassen können und uns dann langsam auf den Muskelaufbau konzentrieren. Ich –«

»Langsam? Keinesfalls! Ich bin bereits seit bald zwei Wochen auf diese Dinger angewiesen. Ich will mein Haus endlich wieder bewohnen.« Er funkelte sie aufgebracht an, als er mit einer Hand nach seinen Krücken griff. Anklagend richtete er den Zeigefinger der freien Hand auf sie. »Sie haben mir versprochen, in spätestens sechs Wochen wieder einwandfrei laufen zu können. Sie sollten gefälligst zusehen, dass es dabei bleibt. Sonst haben wir beide ein ernstes Problem. Und mit mir wollen Sie es sich nicht verscherzen.«

Hope wich kaum merklich zurück und schnappte nach Luft. »Es liegt nicht allein in meiner –«

»Hören Sie auf, sich Ausreden zurechtzulegen. Entweder Sie können Ihren Job oder ich suche mir jemand anderen.« Er stützte sich auf die Gehhilfen und begab sich in Richtung Tür.

Sie sollte die Klappe halten und einfach ihr Bestes geben. Ihr Job und ihr Können waren jetzt ausschlaggebend. Nichts anderes. Und doch ließ sie sich verleiten. Natürlich ging es um sie, aber darauf allein durfte Angus sich nicht verlassen. Wenn sie es richtig machen wollte, musste sie ihn darauf hinweisen. Nur leider schien er auf eine normale Erklärung nicht zu reagieren, und so musste Hope energischer werden.

Sachlich erwiderte sie: »Dann suchen Sie sich jemand anderen.«

Mit klopfendem Herzen sah sie, wie Angus sich erstaunt und mit gerunzelter Stirn zu ihr umwandte. Mit den wachsamen Augen eines Adlers musterte er sie. »Was haben Sie gesagt?«

Hope machte zwei Schritte auf ihn zu und hoffte, er würde ihr Zittern nicht bemerken. Sie war auf gewisse Art und Weise auf diesen Mann und seine Genesung angewiesen. Ob sie wollte oder nicht. Aber sie würde sich nicht alles gefallen lassen. Keinesfalls.

Sie schaute Angus eindringlich an, und während sie sich wünschte, der echte George Clooney wäre ihr prominenter Patient, war ihr klar, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Sie setzte alles auf eine Karte und wusste, dass sie damit vielleicht gerade ihr Schicksal besiegelte.

Unerwartet nüchtern erklärte sie: »Wenn es Ihnen nicht passt, wie ich arbeite, dann suchen Sie sich jemand anderen. Aber ich verspreche Ihnen, andere werden es hier nicht lange aushalten. Und wenn, dann machen Sie mit denen keine Fortschritte, weil sie sich zu sehr vor Ihnen fürchten.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir ist es egal, wie viel Geld Sie haben oder wie laut Sie mich versuchen zurechtzuweisen. Ich bin gut in meinem Job. Also machen wir es entweder auf meine Art oder Sie suchen sich jemand anderen, der an diesem Theater teilnimmt.«

Sie war eine Heuchlerin! Keines ihrer Worte glaubte sie selbst.

Sprachlos starrte Angus sie an. Immer stärker zitterten Hopes Hände. Sie hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt. Durfte sie das? Konnte sie das? Natürlich war sie gut in ihrem Job, aber womöglich sollte sie lieber kleine Brötchen backen, statt die große Torte an sich zu reißen. Sie hatte einmal versagt. Das durfte ihr bei Angus nicht passieren.

Energisch zwang Hope sich, dem verachtenden Blick von Angus standzuhalten. Leise ging sie aufs Ganze: »In sechs Wochen laufen Sie wieder. Sofern Sie sich an meine Anweisungen halten und Sie mit mir arbeiten, statt gegen mich.«

Kritisch zog Angus noch immer seine Stirn in Falten und blickte sie von oben herab an. Nach einigen Sekunden zischte er endlich: »Also schön. Sie sind die Physiotherapeutin. Wir folgen Ihrem Plan. Aber wenn Sie zu hoch gepokert haben, kommt Sie das teuer zu stehen.«

Umständlich drehte sich der schlecht gelaunte Mann um und verließ auf Krücken, aber wesentlich eleganter als noch beim Reinkommen vor einer Stunde, den Fitnessraum.

Angespannt ließ Hope die Luft aus ihren Lungen entweichen. Wenngleich sie nicht sicher war, inwieweit Angus seine Drohung ihr gegenüber umsetzen wollte, war es vermutlich besser, sie ernst zu nehmen. Sie musste sich beweisen, wenn sie eine berufliche Zukunft haben wollte. Irgendwo in Irland. Nicht zuhause. Aber an einem anderen Ort auf dieser großen Insel. Vielleicht sollte sie sich auf private Patienten spezialisieren. Es gab genügend betuchte Leute, die nach einem Unfall oder einer Operation nicht in eine Reha-Klinik wollten. Ja, vielleicht wäre das ein Modell, mit dem sie künftig würde arbeiten können.

Sie seufzte. Diese Perspektivlosigkeit raubte ihr neben all dem anderen den letzten Nerv.

In Gedanken versunken räumte Hope den Fitnessraum auf, als plötzlich eine freundliche Stimme hinter ihr ertönte.

»Hope?«

Sie wandte sich um. »Ja?«

Eine junge Frau, etwa in ihrem Alter, kam mit einem breiten Lächeln auf sie zu. »Hi, ich bin Marlis.«

Erfreut nickte Hope, als sie sich an den Namen erinnerte. »Das Hausmädchen, oder?«

Unter kupferfarbenen Locken nickte Marlis. »Genau. Ich wollte nicht lauschen, aber ich habe den letzten Teil eures Gesprächs gehört.« Sie lachte und setzte einen verschwörerischen Ausdruck auf, während sie laut flüsterte: »Du legst dich doch nicht schon an deinem zweiten Tag mit dem Hausherrn an?«

Verwegen blitzte die junge Frau sie an, und Hope konnte nicht anders, als sie zu mögen.

Ein erleichtertes Seufzen entfuhr ihr, während sie mit den Schultern zuckte. »Was soll ich machen? Irgendwie müssen wir ja zu einem Konsens kommen.«

»Konsens?« Marlis schlug sich die zarte Hand vor den großen Mund. »Du hast ihm eine Ansage gemacht!« Sie ließ die Finger wieder sinken und biss sich auf die Unterlippe. »Ich hoffe, du schaffst das. Wenn Angus O’Neill eines nicht ausstehen kann, dann, wenn man sich nicht an sein Wort hält.« Marlis überlegte einen Moment und schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich ist das falsch. Am meisten hasst er es, wenn man ihm sagt, was er zu tun hat. Das ist nämlich sonst immer umgekehrt.«

Obwohl Hope sich über eine lockere Unterhaltung in diesem seltsamen Haus freute, so wollte sie trotzdem nicht schlecht über ihren Patienten reden. Noch nicht. Und schon gar nicht, wenn jederzeit jemand zur offenen Tür hereinkommen konnte. Deshalb wechselte sie lieber auf sicheres Terrain.

»Wie lange arbeitest du schon auf O’Neill Craig?« Hope fand es immer noch eigenartig, dass das Anwesen einen eigenen Namen besaß.

»Puh, ich glaube, das dürften jetzt bald sechs Jahre sein.« Marlis fuhr mit den Handflächen über ihre Hausmädchenuniform, die aus einer schwarzen Hose und einer weißen Bluse bestand. Sie war etwa so groß wie Hope, besaß ein schmales Gesicht mit blasser Haut voller Sommersprossen und eine schlanke Figur. Sie war keine klassische Schönheit, aber ihre Ausstrahlung hatte etwas fröhlich Einnehmendes. Vielleicht fand Hope in dieser Frau eine motivierende Verbündete.

»Aber du lebst nicht hier, oder?« Hope hatte vom Butler erfahren, dass dieser ein Zimmer auf O’Neill Craig bewohnte. Die Köchin allerdings lebte im Ort, ebenso wohl auch Marlis, was David jedoch unerwähnt gelassen hatte.

»Ich wohne drüben in Ardwellheart. Ich komme morgens und bleibe meist bis zur Mittagszeit.«

Es war ein altes Haus, aber überraschenderweise schien es neben Tablets an den Wänden auch eine moderne Arbeitsplatzgestaltung zuzulassen. Einen Moment lang wünschte Hope, sie würde ebenfalls im Dorf wohnen. Sie mochte einen herrlichen Ausblick genießen, aber viel mehr konnte sie mit diesem Gebäude nicht anfangen. Da wäre es ein wenig zentraler vielleicht schöner gewesen. Besonders da sie tagsüber nur einige Stunden mit Angus’ Therapie verbrachte.

Gemeinsam mit Marlis verließ Hope den Fitnessraum und trat in die Empfangshalle hinaus. Marlis rieb die Handflächen aneinander, als wäre ihr kalt. Mit einem strahlenden Lächeln erklärte sie: »Ich muss jetzt noch ein paar Dinge im Haus erledigen. Hast du Lust, im Anschluss nach Ardwellheart zu fahren? Ich könnte dir dein neues Zuhause zeigen, wenn du magst.«

»Gern!« Erfreut nickte Hope. Der Begriff ›Zuhause‹ mochte nicht zutreffen, trotzdem wollte sie unbedingt raus aus diesem goldenen Käfig. Es konnte nicht schaden, eine Ortskundige dabei an ihrer Seite zu wissen.

»Super!« Marlis warf einen Blick auf die schmale Armbanduhr unter dem Ärmel ihrer weißen Bluse. »Dann treffen wir uns in vier Stunden draußen?«

»Perfekt.« Hope lächelte dankbar und spürte, wie ihr nervöses Herz ein bisschen ruhiger wurde. Es war irgendwie erleichternd zu wissen, dass eine herzliche Person wie Marlis hier zugegen war, wenn Hope schon für einen Kotzbrocken wie Angus O’Neill arbeiten musste. Besonders, wenn die eigene berufliche Zukunft von diesem Auftrag abhing.

Marlis winkte Hope zu, griff nach einem Korb mit Laken, den sie in der Halle hatte stehen lassen, und verschwand in den ersten Stock. Hope schaute ihr kurz nach, dann atmete sie tief durch und überlegte, wie sie die kommenden Stunden am sinnvollsten verbringen konnte.

Drei

Dylan war auf der Suche nach Gesellschaft, die nicht ausschließlich aus seiner schwangeren Schwester bestand. Er war gerne mit Brittany zusammen, liebte sie und freute sich ehrlich über den baldigen Nachwuchs. Trotzdem … Ein leichter Schauer überzog seine Unterarme, und er bemühte sich, das aufkommende Gefühl eilig zu unterdrücken. Er hatte keinen Nerv, sich damit auseinanderzusetzen. Ab morgen würde er endlich wieder eine konkrete Aufgabe haben und sich allein darauf konzentrieren. Das würde ihm bestimmt helfen, seine Rückkehr an die Westküste zu ertragen. Er hatte es sich selbst ausgesucht, und doch zweifelte er seit seiner Ankunft gestern, ob die Entscheidung richtig gewesen war. Sein großes, leeres Haus machte die Situation nicht besser. In das Gästezimmer seiner Schwester wollte er trotzdem nicht ziehen.

Sich mit einer Hand durch die Haare fahrend, stieß Dylan die alte Holztür auf, und sofort hüllte ihn der vertraute Duft von Guinness, gutem Essen und Whiskey ein. Es war ein gewöhnlicher Dienstagabend, dennoch saßen viele Einwohner von Ardwellheart bereits an einem Tisch, ein Pint in der Hand oder eine Portion Fish&Chips vor sich. Das Old Moher’s war Dreh- und Angelpunkt der gemütlichen Gemeinde nahe den berühmten Cliffs of Moher.

Breite Fenster neben dem Eingang ließen eine Menge des letzten Tageslichts in den Pub fallen, lediglich für den hinteren Bereich genügte es nicht mehr ganz, sodass alte rustikale Lampen für den nötigen Schimmer sorgten. Beherrscht wurde der Raum vor allem durch die quadratisch angelegte Bar, in deren Mitte ein riesiges Regal mit allerhand Flaschen stand, um das zwei Mitarbeiter immerzu herumschwirrten.

Über der Theke hingen auf allen vier Seiten der Bar große Fernseher, die diverse Sportereignisse übertrugen. Neben Tischen und Stühlen fanden sich an den Wänden auch einige tiefe Sessel mit kleinen Beistelltischchen. Dylan schmunzelte bei dem Anblick. Bryan, sein Schwager, hatte den Pub vor einigen Jahren gekauft und ordentlich aufgemotzt. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes ein heimeliges Wohnzimmer aus dem alten Laden gemacht.

An den Wänden hingen, wie wohl in jedem irischen Pub, zahlreiche Metallschilder, die in vergangenen Jahrzehnten für das dunkle landestypische Bier oder verschiedene Whiskeysorten geworben hatten. Auf manchen war auch nur ein freundlicher Segen zu lesen. Ein paar Fotos in schwarzen Rahmen zeigten den Pub sowie einige Häuser von Ardwellheart, wie sie früher einmal ausgesehen hatten.

Dylan lief zielstrebig durch die größer werdende Menschenmenge auf die Bar zu. Sich auf einen der wenigen freien Hocker schiebend, nickte er ein paar bekannten Gesichtern zu und bestellte ein Pint. Automatisch griff er nach seinem Smartphone, checkte die eingegangenen Nachrichten und sah auf, als Bryan vor ihm hinter der Theke auftauchte. Sein Schwager stützte sich mit den Händen auf der Bar ab und musterte ihn freundlich.

»Verabredet?«

Dylan schüttelte den Kopf und setzte ein Lächeln auf. »Nicht verabredet. Aber wie lange kann man in diesem Pub schon allein sein?« Er lachte. »In spätestens drei Minuten sitzt hier jemand neben mir, der mir von der Katze seiner Tante, den Hausaufgaben seiner Enkel oder dem Garten seiner Mutter erzählt. Womöglich beschwert sich auch jemand über die vielen Sommer-Touristen, während sich fünf Minuten später jemand beklagt, dass dieses Jahr viel weniger Leute zu den Klippen reisen würden als sonst.« Dylan grinste. »Irgendetwas haben sie mir doch alle zu erzählen. In ihren Augen war ich viel zu lange weg.«

»Das stimmt.« Bryan lachte herzlich und nickte. »Gib mir ein Zeichen, wenn ich dich vor irgendwem retten soll.«

Kaum hörbar murmelte Dylan: »Warne mich rechtzeitig vor, falls Dad plötzlich auftaucht.«

Bryan wurde ernst und betrachtete seinen Freund und Schwager. »Ich weiß, er ist nicht der angenehmste Zeitgenosse, aber –«

Unwillkürlich amüsiert blickte Dylan auf. »Nicht der angenehmste Zeitgenosse? Reden wir von der gleichen Person?«

Bryan verdrehte die Augen. »Brittany hat sich doch auch mit ihm arrangiert.«

»Weil sie dich hat«, rutschte Dylan heraus. Wieder überspielte er das aufkeimende Gefühl mit einem breiten Lachen. »Also, wer hat heute Abend etwas Spannendes zu erzählen? Ich bin seit vier Monaten nicht mehr in Ardwellheart gewesen. Was ist hier passiert, während ich weg war?«

Bryan tat ihm den Gefallen und ließ das Thema ruhen. Mit einem Schmunzeln deutete er auf eine ältere Frau, deren graues Haar zu einem feinen Dutt hochgesteckt war und die eine rote Bluse zu schwarzen Stoffhosen trug.

»Ellie hat sich ein paar Hühner angeschafft. Angeblich sollen die sich aber nicht mit Brandon verstehen.«

Sofort schlug Dylans angespannte Stimmung um, und ein ehrliches Lachen erfasste ihn. Kopfschüttelnd wandte er sich in die entsprechende Richtung. »Wie kann man sich nicht mit Brandon gut stellen? Er ist der netteste Golden Retriever, den es an der Westküste gibt.«

Bryan grinste. »Das musst du dann wohl Ellie fragen.«

Dylan nickte, griff nach seinem Pint und machte sich auf den Weg zu der siebzigjährigen Dame, die er schon seit Kindertagen kannte. Ihr von hinten einen Arm um die Schultern legend, beugte er sich zu der kleinen Frau hinunter und sah in ein blitzendes Paar Augen, als sie ihm das Gesicht zuwandte.

»Ellie, was höre ich über deine neuen Hühner? Sie mögen Brandon nicht?«

Lachend warf die Seniorin die faltigen Hände in die Luft. »Dylan! Du bist wieder da!« Sie drückte ihre gebeugten Schultern sanft gegen seinen Brustkorb und nickte dann ernst und aufgeregt. »Es ist ganz schrecklich. Sie gehen regelmäßig aufeinander los …«

Mit einem Schmunzeln lauschte Dylan der alten Lady.

In den nächsten eineinhalb Stunden zog Dylan einmal quer durch das Old Moher’s. Er genoss es, die vielen bekannten Gesichter zu sehen und mit jedem ein wenig zu plaudern. Er erfuhr von einem alten Schulkameraden, der demnächst heiraten würde, von einem Touristenpaar aus Ungarn, das an den Klippen einen Rettungseinsatz der Küstenwache verursacht hatte, und von einem streunenden Kater, den niemand zu vermissen schien. Ebenso hörte er, dass die örtlichen Geschäfte diesen Sommer ordentlich an den Touristen verdienten und es viel wärmer war als in den vergangenen Jahren.

Dylan verstand es, die Menschen mit einem Lächeln zum Reden zu bringen und ihnen das Gefühl zu schenken, ihnen jederzeit achtsam zuzuhören. Mochte ihn manches Thema auch noch so wenig interessieren, er verfolgte das Gespräch aufmerksam und warf an den passenden Stellen die richtigen Kommentare ein.

Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen, als er mit seiner ersten Runde fast fertig war. Er befand sich wieder in der Nähe der Eingangstür. Draußen war es inzwischen dunkel, und die Menschen im Pub spiegelten sich in der großen Fensterscheibe, die hinaus zur Straße führte.

»Henry, willst du mir etwa erzählen, dass Lisa dich nicht ins Haus gelassen hat?«

Ein stämmiger Mann mittleren Alters mit großem Schnauzer und einer abgenutzten Schiebermütze auf dem Kopf nickte erzürnt. »Sie hat die Türen abgesperrt! Nicht mal durch den Hintereingang konnte ich rein.« Empört und doch lachend schüttelte er den Kopf. »Meine Lisa meint es nun mal ernst, wenn man über die Stränge schlägt.«

Dylan grinste. »Wohl wahr, mein Lieber. Nächstes Mal hörst du besser auf sie und belässt es bei einem Pint.«

Henry erwiderte noch etwas, und ein paar Männer ringsherum fielen in sein lautes Gelächter ein, als Dylan von der sich öffnenden Tür des Pubs abgelenkt wurde. Zwischen den Gästen tauchte ein roter lockiger Schopf auf, der ein blasses, sommersprossiges Gesicht umrahmte und zwei grüne Augen aufleuchten ließ. Lächelnd entschuldigte Dylan sich bei Henry und seinen Freunden und nahm Kurs auf die nur allzu bekannte junge Frau, die soeben das Old Moher’s betreten hatte.

Die war inzwischen an der Bar angelangt und wippte mit der rechten Ferse im Takt zu einem Song der Red Hot Chilli Peppers, der aus den Lautsprechern ertönte. Mit zwei großen Schritten kam Dylan an ihre Seite, stützte sich mit dem Ellbogen auf der Theke ab und musterte sie lächelnd.

»So spät noch unterwegs?«

Erschrocken fuhr die schlanke Frau zusammen und sah zu ihm auf. In der nächsten Sekunde legte sich ein aufrichtiges Strahlen auf ihre Lippen, und sie hüpfte vor Freude, bevor sie ihm um den Hals fiel.

»Dylan! Wieso sagst du denn nicht, dass du wieder hier bist?!« Sie drückte ihn herzlich an sich. Als sie sich wieder von ihm löste, musterte sie ihn streng und doch mit zuckenden Mundwinkeln. »Welche Entschuldigung hast du vorzubringen?«

Er setzte sein charmantestes Grinsen auf, hob unschuldig die Schultern und versuchte es mit einem »Ich hatte viel zu tun«.

Abschätzend glitt der Blick der jungen Frau über ihn, und schon musste sie erneut lachen. »Von wegen. Rar machen wolltest du dich!«

»Kannst du es mir verübeln?«, fragte Dylan in einem ironischen Tonfall und wünschte, seine langjährige Freundin würde ihn nicht so leicht durchschauen.

Gütig legte sie ihm die Hand auf die Brust. »Absolut nicht.« Dann wandte sie sich wieder zur Bar und warf ihm einen schalkhaften Seitenblick zu. »Es gibt Neuigkeiten.«

Interessiert sah Dylan auf. »Neuigkeiten?«

Marlis, wie die junge Dame neben ihm hieß, nickte verschwörerisch. Lächelnd lehnte sich Dylan zurück. Er hatte sie vermisst. Obwohl die Frau mit den kupferfarbenen Locken etwas jünger war als er, waren sie gute Freunde. Seit Jahren schon. Dylan war mit ihrem Bruder in dieselbe Klasse gegangen und mit Marlis während jener Zeit sogar ein paar Monate zusammen gewesen. Heimlich. Kaum jemand wusste davon. Und das grenzte an ein Wunder, schließlich lebten sie in Ardwellheart. Einer kleinen Gemeinde, bei der selbst die über alles Bescheid wussten, die ihr Haus kaum verließen und sich hinter grauen Gardinen versteckten.

Nur zu gern dachte Dylan daran zurück. Es war eine der wenigen guten Zeiten gewesen. Eine, in der er ehrlich und von Herzen kommend gelacht hatte. Doch trotz der schönen gemeinsamen Wochen hatten Marlis und er irgendwann bemerkt, dass sie sich zwar auf menschlicher Ebene unheimlich mochten, aber, obwohl beide zu dem gutaussehenden Teil der Gemeinde gehörten, nicht mehr genügend körperliche Anziehung füreinander verspürten. Wie sich herausgestellt hatte, sollten sie einfach kein Paar sein, sondern Freunde. Dylan war bis heute dankbar dafür, dass Marlis den Mut besessen hatte, dieses ehrliche Gespräch mit ihm zu führen.

Mit einem schlechten Gewissen wurde ihm an diesem Abend aber wieder einmal bewusst, dass er in Marlis zwar eine enge Freundin gefunden hatte, es aber häufig trotzdem vorzog, die Dinge mit sich selbst auszumachen. Marlis wusste um diese Schwäche und ließ ihn gewähren. Meistens. Sie war keine Frau, die sich ihren Freunden aufdrängte. Ihrer Meinung nach musste man selbst über etwas reden wollen, andernfalls brachte es gar nichts, die Dinge anzusprechen. Wie hatte sie es mal formuliert? ›Der Kopf macht zu, wenn du nicht bereit bist, darüber zu reden. Warum sollte ich dich dann dazu zwingen und mir nur blaue Flecken an deinen eisernen Türen einhandeln?‹ Marlis mochte erst achtundzwanzig sein und ihr ganzes Leben hier in Ardwellheart verbracht haben, aber sie war definitiv nicht auf den Kopf und schon gar nicht auf den Mund gefallen.

Einer von Bryans Mitarbeitern stellte zwei Drinks auf die Theke. Die goldgelbe Flüssigkeit war mit Eiswürfeln, Zitronenscheiben und einem Minzzweig versehen. Es sah aus wie das Getränk, das Dylan tags zuvor bei seiner Schwester serviert bekommen hatte.

»Was ist das?«, fragte er neugierig.

»Ein neuer Drink. Bryan hat ihn erfunden. Summer of Whiskey. Ingwerbier, O’Neill Whiskey und allerhand sommerliches Zeug, inklusive Zitronen und Minze. Er wollte den weihnachtlichen Hot Whiskey in einen Sommer-Cocktail umwandeln und hat ihn noch ein bisschen optimiert«, erklärte Marlis.