In Liebe, Helsinki - Madita Tietgen - E-Book

In Liebe, Helsinki E-Book

Madita Tietgen

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Beschreibung

Eine zweite Chance für die erste große Liebe inmitten des finnischen Winters.
Kurz vor Weihnachten kehrt Annikki Peltola für ein Klassentreffen in ihre Heimatstadt Helsinki zurück. Dort begegnet sie unweigerlich ihrer ersten großen Liebe Birger. Ihn ließ sie einst hinter sich, um ihre politische Karriere voranzutreiben. Doch schnell wird das Wiedersehen zweitrangig. Von heute auf morgen ist Nikki in einen Skandal verwickelt: Sie wird beschuldigt, Bestechungsgelder angenommen zu haben.
Während Nikki versucht, ihre Unschuld zu beweisen und herauszufinden, wer hinter den Anschuldigungen steckt, stellt sich Birger als unerwartete Unterstützung heraus. Alte Gefühle erwachen, doch Nikkis berufliche Probleme und Birgers gescheiterte Ehe stehen zwischen ihnen.
Nikki hat schon einmal die Liebe für ihre Ambitionen geopfert. Nun steht sie vor einer Entscheidung: Wird sie es dieses Mal wagen, ihrem Herzen zu folgen, obwohl alles auf dem Spiel steht, für das sie so hart gearbeitet hat?
 
In ihrer neuen Liebesroman-Reihe “In Liebe, Europa” erzählt Madita Tietgen von emotionalen Liebesgeschichten, die in den schönsten Städten Europas aufleben.

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In Liebe, Helsinki

IN LIEBE, EUROPA

BAND 1

MADITA TIETGEN

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

_____________________

Texte: Madita Tietgen

Cover: Grit Bomhauer

Korrektorat: Dr. Andreas Fischer

Satz: Zeilenfluss

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

_____________________

ISBN: 978-3-96714-306-5

Für Annika.

Weil dein finnischer Kosename für die Schutzpatronin der Waldtiere steht und es niemand Besseren gibt, der ein Auge auf Eichhörnchen haben könnte, während die Welt um uns herum ins Wanken gerät.

Uns verbindet mehr als das Schwesternsein. Schwer verständlich für andere, ein unbezahlbares Geschenk für uns. Du bist mein Halt, mein Schutzengel und mein Antrieb, die Dinge besser zu machen.

Ich hab dich lieb.

Triggerwarnung

In diesem Roman wird ein Thema behandelt, das manche triggern könnte.

Um an dieser Stelle nicht zu viel von der Handlung vorwegzunehmen, kannst du unter zeilenfluss.de/trigger einsehen, um welches Thema es sich handelt.

Vorwort

Ich liebe dich.

In Finnland wird dieser Satz nicht so schnell mit anderen geteilt. Das gemeinhin etwas kühlere Volk trägt das Herz nicht unbedingt auf der Zunge, und so wird das finnische Pendant zu Ich liebe dich oftmals erst dann ausgesprochen, wenn sich eine wahrhaftig tiefgreifende Beziehung entwickelt hat.

Es ist ein aufrichtiges Bekenntnis.

Einmal gesagt, gilt es so lange, bis man es wieder zurücknimmt. Aufgrund dessen wird es auch nicht ständig wiederholt. Zwar gibt es die verkürzte Version Liebe dich!, doch auch die wird nicht von jedem Paar verwendet. Insofern gilt für diesen Roman: Wenn jemand sagt, er oder sie liebe jemanden – dann liebt er oder sie die andere Person wirklich. Also so richtig.

(Und weil man in einem Liebesroman diese drei Worte unbedingt lesen sollte, kommen sie womöglich häufiger vor, als es in Finnland üblich ist.)

Eins

Vertrauen. Es konnte Jahre dauern, bis man es sich erarbeitet hatte. Gleichzeitig war es mitunter möglich, es binnen Sekunden für immer zu zerstören. Dabei war Vertrauen die Grundlage für jegliche Art von Beziehung. Zwischen Familienmitgliedern, Freunden und Arbeitskollegen. Zwischen Geschäftspartnern und sogar Nationen. Vertrauen zu fassen war manchmal unheimlich schwer und erforderte eine Menge Mut. Denn dieses fragile Konstrukt beruhte auf Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit. Wenn beides nicht gegeben war, entzog man dem Vertrauen jegliche Grundlage.

Dessen war Nikki sich nur allzu bewusst, während vor ihren Augen unzählige goldene Schimmer in Form von Herzen, Schneeflocken und Sternen tanzten. An den Straßenlaternen schlängelten sich lange Lichterketten nach oben, und überall wuselten Menschen geschäftig durch die dunklen Straßen. Bei genauerem Hinsehen erkannte Nikki die eisigen Kristalle, wenn warmer Atem auf kalte Winterluft traf.

Nikki zog die Schultern hoch, vergrub die Nase tiefer in ihrem weißen Wollschal, der auf der Innenseite mit weichem Merino-Fleece versehen war, und schob die Finger in die Taschen ihrer himmelblauen Winterjacke, die bis über ihre Hüften reichte. Wie gut, dass sie sich letztes Jahr ein neues Modell gegönnt hatte. Obwohl sie das Apartment erst vor zwei Minuten verlassen hatte, wäre sie in ihrem alten Mantel vermutlich bereits erfroren. Wenngleich der Kalender Mitte Dezember verzeichnete, lag noch kein Schnee, zumindest nicht hier in Helsinki. Dennoch hatten die Minustemperaturen ihre finnische Heimat fest im Griff. Nikki war sich ziemlich sicher, dass sie nicht mehr lange auf die zarten Flocken würde warten müssen.

Sie hoffte, der Zauber, den die weißen Kristalle stets auf sie ausübten, würde auch dieses Jahr seinen Dienst tun. Sie konnte wahrlich ein wenig Zuspruch brauchen, sei es auch nur durch die zerbrechliche Schönheit einer weißen Schneelandschaft. Eigentlich durfte sie sich nicht beschweren, ihr ging es gut. Sehr gut sogar. Und doch spürte sie die innere Anspannung, die sich seit einigen Wochen wie ein Korsett um ihren Brustkorb gelegt hatte.

Obwohl die Wege gestreut waren, blitzte vereinzelt glattes Eis auf. Deshalb setzte Nikki vorsichtig einen Fuß vor den anderen und achtete darauf, nicht zu stürzen. Das konnte sie so kurz vor Ende des Jahres nämlich überhaupt nicht gebrauchen. Auf ihrem Tisch lag massenhaft Arbeit, von deren Ergebnissen gewissermaßen ihre Zukunft abhing. Eilig schob Nikki den Gedanken an den Druck, der sich aufbaute, beiseite und lief weiter durch die nächtlichen Straßen.

Es war noch gar nicht so spät, aber zur Winterzeit ging in Helsinki bereits gegen drei Uhr nachmittags die Sonne unter. Jetzt war es halb acht abends, und das Gefühl absoluter Nacht hing über der Stadt. Die Straßenlaternen und die vielen weihnachtlichen Dekorationen in den Schaufenstern tauchten die Gassen in warmes Licht und hüllten die eisige Luft in einen goldenen Nebel. Es wirkte auf eine eigenartig realistische Art magisch.

Mit einem Lächeln musste Nikki an ihre Schwester denken. Aliisa liebte die Weihnachtszeit. Ginge es nach ihr, könnte das ganze Jahr über Winter sein. Inklusive Eis und Schnee. Nikki mochte die besondere Zeit des Jahres ebenso, nur war sie nach Silvester in der Regel froh, wenn endlich der Frühling einzog und sich die kalte Jahreszeit bis zum nächsten Weihnachtsfest verabschiedete.

Jetzt sog Nikki den kalten Sauerstoff in ihre Lungen und atmete tief durch. Gleichzeitig versuchte sie sich zu motivieren. Der Gedanke an ihre Schwester half ihr dabei. Sie hatten sich schon eine ganze Weile nicht mehr getroffen, doch das Event, zu dem Nikki unterwegs war, sorgte endlich für ein längst überfälliges Wiedersehen. Gerade als Nikkis Stimmung an Aufwind gewann, klingelte ihr Smartphone. Sie zog es aus der Jackentasche und nahm den eingehenden Anruf an.

»Hei!«, rief Nikki fröhlich und positionierte das Smartphone zwischen der schneeweißen Wollmütze und ihrem Ohr.

»Hei! Anni, ich habe schlechte Nachrichten.« Nur ihre Schwester nannte sie Anni. Tatsächlich hieß Nikki nämlich Annikki. Aber auf internationalem Parkett war eine Abkürzung meistens einfacher auszusprechen, weshalb Nikki sich während des Studiums schließlich daran gewöhnt hatte, sich lediglich als Nikki vorzustellen. Ihren alten Kosenamen zu hören, der engen Vertrauten vorbehalten war, erwärmte ihr Herz in der klaren Dezemberluft für einen Augenblick, bevor es aufgrund von Aliisas Ankündigung beunruhigt ins Stocken geriet.

»Was ist denn los?«

Nikki vernahm Aliisas zerknirschte Stimme, die ehrliches Bedauern ausdrückte. »Eigentlich sollte ich in diesem Moment in Helsinki landen. Doch hier wütet ein Sturm, sodass ich zwei Stunden im Flieger saß und am Boden trotzdem nichts voranging.« Sie seufzte. »Jetzt haben sie alle Passagiere wieder aussteigen lassen, und ich konnte meinen Handy-Akku endlich laden. Deshalb melde ich mich auch jetzt erst. Aber wie es aussieht, komme ich hier heute nicht mehr weg.«

»Oh …«, hauchte Nikki und spürte Enttäuschung in sich aufsteigen. »Dann wirst du heute Abend nicht –«

»Es tut mir so leid! Ehrlich! Ich habe mich so darauf gefreut, die anderen und allen voran dich wiederzusehen.«

Nikki unterdrückte die spontane Traurigkeit und bemühte sich um einen liebevollen Ton. »Da kannst du doch nichts für. Wenn das Wetter dazwischenkommt, sind wir machtlos.«

»Versprich mir, dass du dich trotzdem amüsierst, hörst du?«

»Natürlich«, murmelte Nikki und nickte pflichtschuldig.

»He, das klingt nicht, als würdest du dich amüsieren wollen!«, rief Aliisa neckend, und Nikki konnte das strenge Gesicht ihrer gleichaltrigen Schwester vor sich sehen. Lächelnd musste sie daran denken, dass sie zusammen stets aufgefallen waren. Nicht nur, weil sie sich als zweieiige Zwillinge immer noch extrem ähnlich sahen, sondern auch wegen ihrer Größe. Wenngleich sie sich den Platz im Bauch ihrer Mutter hatten teilen müssen und deshalb bei der Geburt noch recht klein gewesen waren, so hatten sie das über die Jahre ihrer Kindheit schnell aufgeholt. Bereits mit sechzehn hatten Aliisa und Nikki an der Marke von einem Meter achtzig gekratzt. Statt niedlichen achtunddreißig trugen sie Schuhgröße zweiundvierzig. Sie waren beide recht sportlich, und ihnen waren die blonden Haare und die blauen Augen gemein, die sie von ihrem Vater geerbt hatten.

Aufgrund ihrer nicht zu verachtenden Größe verzichtete Nikki meistens auf hohe Schuhe. Aliisa ließ sich das Vergnügen hingegen nicht nehmen und überragte in ihren High Heels zahlreiche Männer. Aber Nikkis zwei Minuten jüngere Schwester besaß das Selbstvertrauen, sich davon nicht beirren zu lassen, und zog damit nur noch mehr Blicke auf sich.

Eine Eigenschaft, um die Nikki sie so manches Mal beneidete. Denn auch wenn Nikki nach außen häufig stark wirkte, so fühlte sie sich innerlich oftmals nicht mal halb so tough. Sie hatte jedoch gelernt, das zu überspielen. In ihrem Job musste sie das. Denn als stilles Mauerblümchen kam man in der Politik nicht weit. Besonders nicht, wenn man eine der jüngsten Abgeordneten im EU-Parlament war und sich entsprechend behaupten musste.

Nikki verdrängte den Gedanken an die Arbeit, um die sie sich kümmern musste, wenn sie übermorgen von ihrem Ausflug in die Heimat nach Brüssel zurückkehren würde. Eilig widmete sie sich wieder ihrer Schwester am Telefon.

»Doch, ich schaffe das schon«, erwiderte sie und wünschte, sie würde selbst glauben, was sie sagte.

»Süße, ich weiß, wenn du versuchst, mir etwas vorzumachen. Vergiss das nicht.«

Wie könnte sie, dachte Nikki und blinzelte.

Währenddessen setzte ihre Schwester zu einer energischen Ansprache an. »Es werden so viele Leute da sein, die du lange nicht gesehen hast.«

Sie zählte allerhand Namen auf und fügte zu jedem einen Halbsatz hinzu, der an gemeinsame alte Zeiten erinnerte. Langsam schlich sich ein Lächeln auf Nikkis Lippen.

Nach einigen Minuten kam Aliisa zum Ende ihres Monologs.

»Es wird großartig! Und richte allen Grüße von mir aus! Es ist so ärgerlich, dass ich nicht dabei sein kann«, rief sie resigniert.

»Sehen wir uns trotzdem noch vor Weihnachten?«, fragte Nikki und spürte, wie sehr sie ihre Schwester vermisste. Während Nikki sich in Brüssel ihren Hauptwohnsitz eingerichtet hatte, hatte es Aliisa ins nicht weit entfernte Amsterdam gezogen. Sie sahen sich mindestens jedes dritte Wochenende, aber in den letzten zwei Monaten war ihnen immer wieder etwas dazwischengekommen. Nikki fehlte der persönliche Kontakt zu ihrer Schwester.

»Ich fürchte nicht. Ich habe mit der Ausstellung alle Hände voll zu tun und wäre morgen ja bereits wieder zurückgeflogen. Aber ich verspreche dir, an Weihnachten hält mich kein Sturm zurück. Und wenn ich persönlich mit Ukko ein ernstes Wort reden muss.« Aliisas melodisches Lachen ertönte, als sie den Gott des Himmels, Wetters und Gewitters aus der finnischen Mythologie ins Spiel brachte, und auch Nikki musste erneut schmunzeln. Es tat gut, die unbeschwerte Stimme ihrer Schwester zu hören.

»Wie läuft es mit Mika?«, fragte Aliisa auf einmal behutsam, und Nikki presste sogleich die Lippen aufeinander. Ein ganz blödes Thema. Womöglich beruhte ihre Anspannung auch darauf und nicht nur auf dem Druck, den sie sich wegen der Arbeit machte.

»Ganz okay«, wich sie aus. Nikki wusste allerdings, dass sie damit nicht durchkommen würde. Nach und nach verlangsamte sie ihre Schritte, da sie nur noch wenige Meter von ihrem Zielort entfernt war. Sie konnte es bereits sehen. Ein edles Hotel mit aufwendigen Außenverzierungen an Wänden und Fenstern sowie zahlreichen goldenen Weihnachtslichtern, die sich um Girlanden aus grünen Tannenzweigen schlangen. Rote Markisen wölbten sich in Halbkreisen in Richtung Straße und verliehen dem Gebäude einen machtvollen Ausdruck. Wie bei einem Grandhotel, dachte Nikki und ließ ihren Blick über die Fassade gleiten. Sie wirkte so herrschaftlich und modern zugleich, dass Nikki schließlich ganz stehen blieb, um es in seiner Gesamterscheinung zu betrachten, während sie darauf hoffte, dass Aliisa sie ohne viele Worte und Zugeständnisse das Gespräch beenden ließ.

»Hast du mit ihm geredet?«

»Ich habe es versucht, aber die letzten Wochen waren ziemlich vollgepackt mit Terminen. Bei uns beiden.«

Aliisa hielt liebevoll dagegen. »Du schiebst es vor dir her.«

»Nein, ich weiß nur nicht, wie ich es begründen soll.«

»Ich finde, er hat dir ziemlich viele Gründe geliefert. Leider.«

»Ich weiß …«, murmelte Nikki. Sie dachte an ihren Noch-Freund. Es gefiel ihr nicht, zugeben zu müssen, dass sie sich in diesem Mann getäuscht hatte. Und noch weniger war sie davon begeistert, zu gestehen, dass sie seit drei Monaten vorhatte, sich von ihm zu trennen, und es immer noch nicht durchgezogen hatte.

»Anni, er hat –«

»Ich weiß!«, unterbrach Nikki ihre Schwester, bevor sie laut aussprechen konnte, was Nikki längst viel zu oft in ihrer Vorstellung zu sehen pflegte. Es war wie ein immer wiederkehrender Alptraum, dessen sie nicht Herr wurde. Allein bei dem Gedanken daran wurde ihr bereits schlecht.

»Du musst einen Schlussstrich darunterziehen und endlich neu anfangen.« Aliisas Ton drückte aufrichtige Sorge aus. »Ist er nach Helsinki mitgekommen?«

»Ja, er trifft sich mit ein paar wichtigen Partnern, bevor wir übermorgen nach Brüssel zurückfliegen. Wir wohnen bei ihm im Loft.« Nikki biss sich auf die Unterlippe und schob diese nervös hin und her. Ihr Noch-Freund Mika war zwar kein Abgeordneter, fungierte allerdings als Berater für ebenjene in der Europäischen Union. Mit Schwerpunkt Wirtschaft setzte er sich nicht nur mit Politikern, sondern vor allem auch mit lokalen Firmen zusammen und sorgte in den Mühlen der europäischen Bürokratie für den richtigen Rückhalt und die Förderung finnischer Unternehmen. Seine Arbeit war genauso komplex, wie sie sich anhörte, und so stellte er sich in der Regel nur als Berater vor, ohne seine Tätigkeit im Detail auszuführen.

Nikki war ihm erstmals kurz nach ihrer Wahl ins Europaparlament begegnet. Da sie sich vorrangig um Themen wie Nachhaltigkeit, Umwelt und erneuerbare Energien kümmerte, hatten sie an einem gemeinsamen Gipfel zur Energiewende in Europa teilgenommen. Nikki hatte sich zunächst gegen ihre Zuneigung gewehrt, da sie es für unprofessionell hielt, sich auf jemanden einzulassen, mit dem sie berufliche Überschneidungen hatte. Gleichzeitig hatte sie feststellen müssen, dass es in Brüssel kaum möglich war, andere Männer kennenzulernen. Erstens verbrachte sie zu viel Zeit mit ihrer Arbeit, und zweitens bestand ganz Brüssel gefühlt nur aus Menschen, die auf irgendeine Weise für die Europäische Union tätig waren. Zudem besaß Mika eine herrlich forsche Art und war ebenso hartnäckig wie gentlemanlike drangeblieben, um sie von sich zu überzeugen.

Als Nikki seinem Charme und dem guten Aussehen sowie den vorbildlichen Manieren nicht mehr widerstehen konnte, hatte sie allerdings nicht geahnt, dass Mika ein schreckliches Klischee verkörperte. Nämlich das eines attraktiven, wohlhabenden, mächtigen Mannes, der dachte, er könnte sich alles erlauben, weil die Welt nur für ihn gemacht war. Er benahm sich wie ein kleiner Junge, der sich im Süßigkeitenladen mit charmantem Lächeln bediente, obwohl er die Taschen längst voller Rosinen hatte.

Schmerzhaft dachte Nikki an den Moment der Erkenntnis zurück. Sie hatte eine Ewigkeit gebraucht, um die rosarote Brille abzusetzen und der Realität ins Auge zu blicken. Beschämend, wenn man berücksichtigte, dass sie den Ruf einer nüchternen und gewissenhaften Nachwuchspolitikerin besaß. Natürlich hatte sie schon lange mitbekommen, dass Mika bei jeder hübschen Frau seinen Charme spielen ließ. Ein Lächeln hier, ein Kompliment dort, ein Zwinkern zu viel und vielleicht ein abendlicher Drink nach einem gemeinsamen Geschäftstermin. Nikki hatte sich eingeredet, eine moderne Frau zu sein, die ihren Freund nicht an der kurzen Leine hielt, ihm seine Freiheiten gewährte und ihm dadurch ihr Vertrauen bewies. Doch inzwischen wusste sie, dass sie schlichtweg naiv gewesen war.

Sie waren zwei Jahre zusammen gewesen, als ihr das erste Mal aufgefallen war, dass er sie offensichtlich betrogen hatte. Am Boden zerstört hatte sie ihn damit konfrontiert, doch er hatte den reumütigen Typen zu spielen gewusst. Sie war darauf reingefallen und hatte ihm eine zweite Chance gegeben. Womöglich lag es an ihrer Gutmütigkeit, aber auch an dem Stress, den sie zu jener Zeit zu bewältigen gehabt hatte. In ihrer ersten Amtszeit als eine der jüngsten Abgeordneten des Parlaments wollte sie sich beweisen. Sie repräsentierte mit Finnland eines der führenden Länder in Sachen Energiewende, aber darauf konnte und durfte sie sich nicht ausruhen. Es gab so viel zu tun, um für eine lebenswerte Zukunft zu sorgen.

In den Wochen nach dem Zwischenfall hatte sich Mika ungewöhnlich viel Zeit für Nikki genommen und offensichtlich versucht, seinen Fehler wiedergutzumachen. Obwohl er Nikkis Vertrauen aufs Höchste missbraucht hatte, war ihr verletztes Herz zu groß, als dass sie diese Bemühungen hätte übersehen können. Im Nachhinein fragte sie sich jedoch, ob es nicht besser gewesen wäre, damals schon einen Schlussstrich zu ziehen. Aber nein, sie hatte sich an die Hoffnung, den Charme und das vielversprechende Lächeln geklammert, das Mika ihr schenkte.

Heute, weitere zweieinhalb Jahre später wusste sie es endlich besser. Viel zu spät, wenn es nach Aliisa – und Nikki – ging. Aber anders als in der Politik schaffte Nikki es im Privatleben nur selten, sich zu behaupten. Es war absurd. Unter ihren Kollegen galt sie als harte Verhandlungspartnerin, die sich mit nichts weniger zufriedenstellen ließ als der Erfüllung ihrer Forderungen. Sie gab alles und noch mehr, wenn es sich um die Zukunft Finnlands und Europas drehte. Ging es aber einen kurzen Moment um sie als Privatperson, vergaß sie, wie man konsequent seine Interessen vertrat und für sich einstand.

In den nun insgesamt viereinhalb Jahren Beziehung war Mika mindestens drei Mal fremdgegangen. Das waren zumindest die Ausrutscher, von denen Nikki wusste und die man längst nicht mehr als solche bezeichnen konnte. Es tat weh, sich einzugestehen, nicht genug gewesen zu sein. Denn offensichtlich hatte Mika in ihrer Partnerschaft etwas gefehlt, sonst hätte er es sich nicht woanders geholt. Ärgerlich atmete Nikki ein und wünschte, sie hätte viel früher die Bremse gezogen. Sie fühlte sich wie eine Versagerin, weil sie es nicht mal hinbekam, einen offensichtlich miesen Typen von sich zu stoßen.

Die behutsame Stimme ihrer Schwester erklang in ihrem Ohr, und Nikki besann sich wieder auf die Gegenwart. Ihr Blick glitt zu den Bäumen, die den Eingang des angrenzenden Esplanadi-Parks, umgangssprachlich auch einfach nur ›Espa‹ genannt, markierten und mit hellblauen Lichterketten umschlungen waren. Elegant reckten sie ihre knorrigen Äste in den dunklen Abendhimmel.

»Klär es bald, Anni. Und dann startest du nächstes Jahr mit einem ungebundenen, durchgelüfteten Herzen und lässt es dir gutgehen. Konzentrier dich auf deine Arbeit und deine Ziele, und wenn du den Kopf dafür hast, such dir jemanden, der dich wirklich zu schätzen weiß.«

»Wo findet man solche Menschen noch gleich?«, fragte Nikki mit ironischem Unterton und vergrub die Nase einmal mehr in ihrem dicken Schal, der sich in mehreren Schlaufen um ihren Hals wickelte.

Frech lachend erwiderte Aliisa: »Du könntest heute Abend Ausschau nach so jemandem halten. Wird Birger nicht auch da sein?«

»Das ist keine Option!« Nikki schüttelte entsetzt den Kopf und ging mit Absicht nicht auf die Erwähnung des Mannes ein, dem sie zu Schulzeiten ihr Herz geschenkt hatte. Nur um es sich selbst und ihm ebenso ein Jahr später zu brechen. »Ich lasse das mit den Männern lieber. Es reicht, wenn ich die letzten Jahre an einen Kerl verschwendet habe, der auf den ersten Blick wie der perfekte Schwiegersohn gewirkt hat.«

»Apropos …«, begann Aliisa. »Hast du von Mama und Papa gehört?«

»Sind die nicht gerade in London bei irgendeinem Diplomatentreffen?«

»Ja, aber Mama rief gestern an und wollte sichergehen, ob ich an Weihnachten wirklich nach Hause komme.«

»Und?« Nikki war ehrlicherweise froh, dass ihre Eltern derzeit nicht in Helsinki weilten und sie damit nicht verpflichtet war, bei ihnen vorbeizuschauen. Sie liebte ihre Eltern, aber die anstehende Trennung von Mika, die sie endlich durchziehen musste, wäre der falsche Rahmen für einen Besuch gewesen. Denn dummerweise verstand Mika sich bestens mit ihrem Vater, und auch Nikkis Mutter war in ihrer englischen Reserviertheit ein großer Fan von Mikas vermeintlicher Ehe-Tauglichkeit. Nikki graute bereits davor, ihnen zu Weihnachten erklären zu müssen, dass sie sich von dem doch nicht ganz so perfekten Schwiegersohn in spe getrennt hatte.

In diesem Moment nahm Nikki sich fest vor, der Aufforderung ihrer Schwester nachzukommen. Sie würde es noch vor Weihnachten erledigen. Sobald sie zurück in Brüssel waren. Ja, das wäre der richtige Zeitpunkt. Sie unterdrückte ein Stöhnen. Diese Trennung zog so viel nach sich. Zuallererst würde sie sich nach einer neuen Wohnung umsehen müssen. Sie konnte kaum in dem noblen Apartment von Mika bleiben, wenn sich ihre Wege schieden.

»Ich habe das Gefühl, sie wollte mir irgendetwas sagen, sie wirkte beunruhigt«, überlegte Aliisa, und Nikki richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Telefonat mit ihrer Schwester.

»Mom macht bestimmt nur wieder im Voraus eine detaillierte Einkaufsliste für das Dinner. Du kennst sie doch. Sie will immer perfekt auf alles vorbereitet sein.«

»Vielleicht hast du recht.« Aliisa lachte. »Also denk dran, hab heute Abend ein bisschen Spaß! Grüß mir die anderen – auch Birger!«

»Wenn ich heute Abend jemandem aus dem Weg gehen werde, dann ihm«, rief Nikki und verabschiedete sich. Sie sah auf die Uhranzeige ihres Smartphones und steckte es dann zurück in ihre Jackentasche. Kurz vor acht. Sie sollte endlich in das vornehme Hotel gehen und sich diesem Abend stellen. Was würde sie dafür geben, ihn an der Seite ihrer Schwester zu bestreiten. Mit ihr fühlte Nikki sich viel stärker und weniger verletzlich. Aber ohne sie konnte sie sich womöglich früher davonstehlen.

Tief einatmend hob Nikki den Blick und straffte die Schultern. Ihr Leben war großartig. Sie war eine ambitionierte Politikerin, die mit Herzblut für die Zukunft der Menschen in Finnland und Europa kämpfte und dabei keine Kompromisse einging. In der nun bald endenden ersten Amtszeit hatte sie bereits viel erreicht. Sie musste sich all diese Dinge nur immer wieder oft genug sagen, dann würde sie das gleich gewiss auch nach außen ausstrahlen.

Energischen Schrittes steuerte sie auf den Eingang des eleganten Gebäudes an der berühmten Flaniermeile von Helsinki zu und trat in die strahlende Lobby. Ihr Blick glitt links über dunkelblaue Sessel, kleine schwarze Tischchen und einen großen duftenden Tannenbaum mit Strohsternen sowie matten blauen und goldenen Kugeln rechts davon. Hinten links befand sich eine gemütliche Bar, die mit anthrazitfarbenem Tresen und indirekter Beleuchtung für Wohlfühlatmosphäre sorgte. Rechts von Nikki erstreckte sich eine im gleichen Stil gehaltene Rezeption, an deren Seiten jeweils ein aufwendiges weihnachtliches Blumengesteck in die Höhe ragte. Wenn man draußen noch nicht in festliche Stimmung gekommen war, würde man es spätestens in dieser stilvollen Umgebung tun.

Nikki öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und entdeckte das unübersehbare Schild, das auf eine private Veranstaltung in einem der oberen Stockwerke hinwies. Mit klopfendem Herzen begab sie sich zum Fahrstuhl und drückte in der Kabine auf den entsprechenden Etagen-Knopf. Innerlich sprach sie sich gute Laune zu. Es würde bestimmt schön sein, alte Bekannte und sogar manche Freunde wiederzutreffen. Mit Sicherheit. Es würde toll werden. Gemütlich. Witzig. Vermutlich auch entspannt. Sie waren nämlich genau das gewesen, ein entspannter Jahrgang.

Die Türen des Aufzugs begannen sich zu schließen, und Nikki lehnte sich an die Wand der Kabine. Als sie sich stirnrunzelnd in dem perfekt ausgeleuchteten Spiegel musterte, griff plötzlich eine starke Hand in den gerade noch offenen Spalt, und die Fahrstuhltüren schoben sich augenblicklich wieder auseinander. Überrascht stieß Nikki sich von der Wand ab und stellte sich gerade hin. Ein Mann, kaum größer als sie, mit dunklem Haar, grünen Augen, einer modernen Brille und schmalem Gesicht trat ein. Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd, dessen obere zwei Knöpfe offen standen, und schwarze Anzugschuhe.

Nikki betrachtete ihn unauffällig, und just als er sich mit einem stummen Lächeln für sein Eindringen entschuldigte, erkannte sie ihn. Ihr Herz stolperte mehrfach, bevor es in einen unruhigen Rhythmus verfiel. Schnell wandte sie das Gesicht gen Boden und starrte auf ihre Schuhe. Nervös tippten Nikkis Fingerspitzen in den Jackentaschen aneinander, und sie widerstand dem Drang, ihre Haare unter der Mütze zu richten. Das konnte doch nicht wahr sein, dachte Nikki und wünschte, sie wäre nach Aliisas Anruf direkt umgekehrt, statt weiter auf das Hotel zuzugehen.

Trotz des zuvorkommenden Schmunzelns, das der Mann ihr schenkte, bevor er auf den gleichen Knopf drückte wie Nikki zuvor, schien er nicht zu wissen, wer sie war. Nichts an seiner Mimik, seiner Gestik oder seinem Verhalten sprach dafür, als er sein Smartphone hervorzog und den Blick darauf richtete. Wunderbar.

Nikki zwang sich, ruhig zu atmen und nicht die Augen zu verdrehen. Dieser Abend fing ja wirklich ganz hervorragend an. Ihre Schwester ließ sie im Stich, ihr fremdgehender Partner nahm immer noch zu viel Raum in ihrem Leben ein, und nun stand ihr Ex-Freund aus Schulzeiten vor ihr und erkannte sie offensichtlich nicht wieder. Ex-Freund. Nikki unterdrückte ein gequältes Schnauben. Er war nicht irgendein Verflossener aus Schulzeiten. Er war … Er war damals so viel mehr für sie gewesen.

Sollte sie etwas sagen? Nein. Oder doch? Wollte sie überhaupt etwas sagen? Nein. Definitiv nicht. Sie waren ein knappes Jahr zusammen gewesen, ganz zum Schluss ihrer gemeinsamen Schulzeit. Doch dieses Dutzend Monate hatte sich so intensiv angefühlt, als hätte ihre Zweisamkeit weit mehr Jahre angedauert. Das Ende war schmerzhaft gewesen. Furchtbar schmerzhaft. Und das war ihre Schuld. Nikki presste die Lippen aufeinander und dachte daran, wie schlecht sie sich nach der Trennung gefühlt hatte. Es hatte fast zehn Monate und viele Abende in irgendwelchen Studentenkneipen mit einer Handvoll Freundinnen gebraucht, bis sie diesen Jungen aus dem Kopf bekommen hatte. Ihn und ihr schlechtes Gewissen, weil sie ihn trotz der innigen Liebe für ihn verlassen hatte.

Es war ihre Entscheidung gewesen, und doch hatte es sich nicht wie eine Wahl angefühlt. Vielmehr war es ihr wie die einzige Möglichkeit vorgekommen, um ihnen beiden die Zukunft nicht zu verbauen. Sie waren so jung gewesen. Gerade achtzehn und mit der Schule fertig. Wie hätte sie wissen sollen, ob das, was sie gehabt hatten, überhaupt von Dauer sein konnte? Nikki wollte die Welt verändern. Birger hingegen sollte sich im Unternehmen seiner Familie engagieren. Sein Weg war, ohne ihn danach zu fragen, vorgezeichnet, und er war nicht bereit gewesen, aus diesem Gefüge auszubrechen.

Nikki hatte sich entscheiden müssen. Zwischen ihrem Streben nach internationaler Politik und einem jungen Mann, der ihr jeden Tag ein Lächeln auf die Lippen gezaubert, ihr jedoch deutlich gemacht hatte, sich stets den Ansprüchen seines Vaters zu fügen. Sie hatte ihn so geliebt. Trotzdem war Nikki gegangen. Schweren Herzens. Sie hatte in London und Amsterdam studiert, war dann einige Jahre zurück nach Finnland gekommen und hatte den Grundstein für ihre Wahl zur Europaabgeordneten gelegt. Es war mühsam gewesen, aber sie hatte es schließlich geschafft. Als eine der jüngsten Frauen war sie vor viereinhalb Jahren ins Europäische Parlament eingezogen. Sie war dort, wo sie immer hingewollt hatte. Am Puls der politischen Zeit.

Eilig schlug sie die Lider nieder und wiederholte im Geist ihr Mantra. Ihr Leben war großartig. Bis auf ein paar Ausnahmen, um die sie sich bald kümmern würde. Abgesehen davon war es super!

Als sie den Kopf langsam hob, fiel ihr Blick sogleich wieder auf den hochgewachsenen, gutaussehenden Mann. Birger. Birger Koskinen. Er hatte nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt. Im Gegenteil, er wirkte heute noch anziehender als vor fünfzehn Jahren, dachte Nikki unwillkürlich. Konzentriert tippte er eine Nachricht in sein Smartphone und schien sie kaum wahrzunehmen. Er hatte immer noch die kleine Narbe oberhalb seines linken Auges. Nikki erinnerte sich nur zu gut daran, wie es dazu gekommen war. Sie unterdrückte ein Lächeln und ignorierte das überraschende Hüpfen ihres Magens.

Warum musste sie an diesem Abend auch als Erstes ausgerechnet auf Birger treffen? Bei dem Gedanken an die bevorstehende Veranstaltung hatte sie dummerweise gehofft, dass sich diese Begegnung einfach nicht ergeben würde. Sie waren rund dreißig Leute, da sollte man es doch schaffen, jemandem absichtlich aus dem Weg zu gehen. Nikkis Schicksal hatte offenkundig anderes im Sinn gehabt. Jedoch nicht zu ihrem Vorteil. Ihr bereits beschädigtes Ego erlitt einen weiteren Kratzer wegen des Nichterkennens durch ihren Ex-Freund eineinhalb Meter von ihr entfernt.

Nikki wurde gegen ihren Willen ein wenig ärgerlich. Die berühmte Widersprüchlichkeit, die Frauen sich häufig nachsagen lassen mussten, machte sich nun auch bei ihr bemerkbar. Sie sollte erleichtert sein, dass Birger sie nicht erkannt hatte und es folglich auch nicht zu einer unangenehmen oder gar peinlichen Situation gekommen war. Gleichzeitig kratzte es an ihrem bröckeligen Selbstbewusstsein, dass man sie offensichtlich so leicht vergessen konnte.

Als sich die Türen endlich wieder öffneten, rauschte sie kurzerhand an Birger vorbei, ignorierte den Duft seines Aftershaves und schlug den Weg nach rechts ein. Mit langen Schritten durchquerte sie den mit Teppich ausgelegten Flur, nur um gleich darauf festzustellen, dass sie falsch abgebogen war. Sie hätte nach links gemusst. Natürlich.

Nikki verlangsamte ihre Schritte und hielt inne. Dann drehte sie sich zögerlich um und zupfte sich ihren Schal zurecht. Der Mann, den sie einst so gut gekannt hatte, stand vor den Aufzügen, tippte ein letztes Mal etwas auf sein Smartphone, steckte es dann weg und hob schließlich den Kopf. Sein Blick traf auf Nikki, und er überlegte einen Moment. Dann nickte er ihr zu und deutete in die entgegengesetzte Richtung.

»Bereit?« Die Stimme war tiefer geworden. Männlicher. Resoluter.

Nikki starrte ihn an und nickte ungelenk. Ihr Mund wurde trocken, und je länger sie diesen Mann ansah, desto deutlicher wurde ihr, dass sie heute Abend nicht hätte herkommen sollen. Nicht ohne Aliisa. Fünfzehn Jahre sollten eine unendlich lange Zeit darstellen. Doch in diesem Moment fühlte Nikki sich, als hätte sie sich erst gestern unter Tränen von Birger getrennt. Sie spürte den Schmerz und die Reue über das junge Mädchen von einst. Ein Mädchen, das sich und seine Träume wichtiger genommen hatte als den Jungen, in den es sich verliebt hatte. Und dann waren da die Wut und die Enttäuschung über den Jungen, der sich nicht getraut hatte, um sie zu kämpfen.

Nikkis Nerven vibrierten unter der aufflammenden Anspannung, und sie wünschte, sie könnte einfach frech grinsen und einen denkwürdigen Abgang hinlegen. Aber so war sie nicht. Aliisa hätte es so getan. Aber nicht sie.

Langsam ging sie zurück Richtung Fahrstuhl und zwang sich, den Blick abzuwenden. Dieser traf sogleich auf ein weiteres großes Schild, das die Veranstaltung ankündigte, zu der sie beide unterwegs waren.

15 Jahre – Klassentreffen

der Europäischen Schule Helsinki

Sie fuhr mit den Lippen übereinander, zog ihre Mütze vom Kopf und nickte. »Dann wollen wir mal.«

Ohne ihn noch einmal anzusehen, fuhr sie sich durch den frisch geschnittenen lockigen Bob und lief an ihm vorbei. Zielstrebig steuerte sie auf den schmalen Empfangstresen zu, an dem sich das Hotelpersonal um den Einlass kümmerte. Während die eingängige Melodie von Dreams von The Cranberriesaus dem Veranstaltungsraum herausdrang, reichte Nikki ihre Winterjacke samt Schal und Mütze einem der Mitarbeiter. Dann wandte sie sich an den Tisch neben dem Empfang. Ihr fielen die Namensschilder ins Auge. Sie wollte bereits nach ihrem Anstecker greifen, als sie mitten in der Bewegung innehielt.

Abgesehen von dem Mann im Aufzug, der sie eigentlich ziemlich gut kennen sollte, waren gewiss ein paar alte Bekannte hier, denen sie lange nicht begegnet war. Die Wichtigste, neben ihrer Schwester, würde allerdings fehlen. Giulia. Ihre beste Freundin aus Schulzeiten hatte aus familiären Gründen absagen müssen. Sehr zu Nikkis Leidwesen, doch wusste sie, wie schwer es ihre gute Freundin derzeit hatte. Sie wäre in diesen Wochen wohl kaum in der Lage, sich um Belanglosigkeiten wie ein Klassentreffen zu kümmern. Sie hatte Schlimmeres zu bewältigen, sodass sie momentan weder telefonisch noch auf andere Art erreichbar war.

Nikki unterdrückte die Wehmut, die sich deshalb in ihrem Herzen ausbreitete, griff endlich nach dem Namensschild und seufzte. Sie starrte auf die großen schwarzen Buchstaben hinab und entschied, dass es heute Abend mal so sein durfte. Anders, unbedeutend und ein wenig unehrlich. Ein Experiment, mit dem Nikki sich einen Abend lang von ihren eigenen Problemen ablenken würde. Das war nur fair, oder? Schließlich musste sie sich dieser Zusammenführung allein stellen. Ohne ihre Schwester, ohne ihre beste Freundin und mit einem Ex-Freund, der sie nicht mal aus kürzester Distanz im Fahrstuhl erkannt hatte.

Trotz regte sich in ihr. Sie kratzte ihr Ego zusammen und stellte sich gerader hin. Dieses Klassentreffen würde ein Klacks sein im Vergleich zu den Diskussionen, die sie mit so manchen EU-Kollegen führen musste. Nikki steckte sich ihr Namensschild an, reckte das Kinn in die Höhe und nahm einen prickelnden Hugo von dem Tablett, das ein Kellner ihr an der Tür anbot. Während sie einen großen Schluck davon herunterspülte, spürte sie, wie besagter Mann aus dem Aufzug neben sie trat und sich ebenfalls ein Glas nahm. Sie schielte auf sein Namensschild. Wie zur Bestätigung dessen, was sie längst wusste. Birger Koskinen. Kein Zweifel.

Kaum merklich schüttelte Nikki den Kopf. Ein paar Stunden. Das würde sie hinbekommen, und dann konnte sie leise und klanglos verschwinden. Vorsichtig führte sie das Glas an die Lippen und nahm einen weiteren Schluck der fruchtig süßen Flüssigkeit. Bevor Birger auf die Idee kommen konnte, das Wort überraschend an sie zu richten, ließ Nikki ihren Ex-Freund kommentarlos stehen und stürzte sich sehenden Auges ins Getümmel.

Die Ausrichtung dieses Klassentreffens war überladen. Goldene und silberne Ballons, opulente Blumenarrangements und runde Tische, eingedeckt mit weißen Tafeltüchern und dem besten Geschirr, das das Hotel zu bieten hatte. Birger hatte diesen Prunk eigentlich vermeiden wollen, aber er war von dem kleinen Komitee, das sich um die Organisation gekümmert hatte, überstimmt worden. Und so glich dieses Event eher einer Zurschaustellung von Eleganz und Nobles anstatt einer gemütlichen Runde, die sich an alte Zeiten erinnern wollte. Wenigstens hatte man sich die Weihnachtsdeko gespart, davon gab es außerhalb dieses Raumes nun wirklich genug.

Nachdenklich schaute Birger der blonden Frau in dem eleganten schwarzen Hosenanzug hinterher, der sich perfekt an ihre sportliche Figur schmiegte. Statt einer langweiligen Bluse trug sie unter dem Blazer ein funkelndes Top, das an einen sternenklaren Nachthimmel erinnerte. Ihm hätte bereits im Aufzug auffallen müssen, dass sie beide zu dem Klassentreffen wollten. Doch er war gedanklich noch im Büro gewesen und hatte mehr oder weniger seinen morgigen Tagesablauf an einen unaufschiebbaren Termin angepasst. Deshalb hatte er unter dem dicken Schal und der gestrickten Mütze zunächst kaum bemerkt, wer da vor ihm gestanden hatte. Allerdings hätte ihm der Duft von Maiglöckchen einen klaren Hinweis liefern müssen.

Jetzt warf Birger einen schnellen Seitenblick auf die noch verbliebenen vier Namensschilder auf dem Tisch hinter sich. Irritiert schüttelte er den Kopf. Er hätte schwören können, dass Annikki Peltola ihn soeben neben einer seichten Duftwolke aus Maiglöckchen stehen gelassen hatte. Doch ihr Name lag noch immer auf den verzierten Platten aus hellbraunem Kork. Stattdessen fehlte Aliisas Schild.

Früher hatte er die Zwillinge immer auseinanderhalten können. Sie waren äußerlich nie identisch gewesen wie so manches Zwillingspärchen. Außerdem hatte er sich in eine der beiden verliebt. Er sollte wohl erkennen, mit wem er zusammen gewesen war. Auch wenn es nur knapp zwölf Monate gehalten hatte.

Ein mildes Lächeln huschte über seine Lippen, gefolgt von einem schmerzenden Stich in seiner Brust. Es war ein gutes Jahr gewesen. Das Abschlussjahr. Zumindest bevor es zu Ende gegangen war.

Aus den Lautsprechern ertönte der Auftakt von Ed Sheerans American Town, und ehe Birger sich versah, stürmte Fabrice auf ihn zu. Mit einem breiten Grinsen schlug dieser ihm freundschaftlich auf die Schulter. Ohne den Hauch eines Akzents erklärte er in bestem Finnisch: »Sag mir, dass wir nachher noch in eine Spelunke gehen und den Champagner gegen etwas Richtiges eintauschen!«

Lachend erwiderte Birger die Begrüßung seines langjährigen Freundes. »Sag bloß, dir gefällt es nicht. Wir haben uns so viel Mühe gegeben.«

Er verzog spöttisch die Lippen.

»Du weißt, ich mache mir nichts aus Champagner und Glitzer. Ich brauche etwas Bodenständiges.«

»Lass das deine Mutter nicht hören. Sie würde sich was schämen.«

»Verrate mich nicht! Ich bin morgen bei ihnen zum Essen eingeladen. Sie hat mich extra darauf hingewiesen, einen ordentlichen Anzug anzuziehen.« Fabrice schüttelte ungläubig den Kopf. »Wenn ich es recht einschätze, wird sie mir wieder eine Frau vorstellen, von der sie überzeugt ist, dass ich sie heiraten sollte.«

»Wann sagst du ihr, dass du nicht vorhast, jemals zu heiraten?« Birger betrachtete seinen Freund, den er aufgrund der Entfernung nach Südfrankreich, wo Fabrice inzwischen lebte, nur selten sah. Er war ebenso groß wie Birger, besaß das typische schwarze Haar eines Südländers und verwaschene karamellfarbene Augen, die immerzu frech aufblitzten. Sein dunkler Teint zeugte von vielen warmen Sonnenstrahlen in seiner Wahlheimat. Sein Kleidungsstil war gewöhnungsbedürftig, denn er liebte es, modisch ein wenig zu provozieren. Dementsprechend trug er heute vermutlich das ausgefallenste Outfit aller Anwesenden. Einen taubenblauen Anzug mit beerenfarbenem Hemd und Einstecktuch sowie farbgleichen Anzugschuhen. Es war Birger ein Rätsel, wo er die Dinger aufgetrieben haben mochte.

Fabrice zuckte unter Birgers Musterung die breiten Schultern. »Sie glaubt es mir ja doch nicht, also brauche ich mir die Mühe gar nicht erst zu machen.« Er nahm einen Schluck von seinem Drink. »Wie schaut’s bei dir aus?« Sofort schüttelte Fabrice den Kopf und erinnerte sich zu Birgers Erleichterung an die ›aktuelle Situation‹, wie er es vorzugsweise bezeichnete. Fabrice setzte einen entschuldigenden Gesichtsausdruck auf. »Schlechtes Thema! Ich weiß. Dann lieber das andere heiße Eisen in deinem Leben: Bist du bereit, in die obere Chefetage aufzusteigen?«

Birger holte tief Luft, sagte jedoch nichts, und sogleich spürte sein Freund dem nach.

»Hat dein Vater es sich anders überlegt?« Fabrice zog seine Stirn in Falten.

»Nicht direkt.«

»Soll heißen?« Wie gewöhnlich ließ Fabrice sich nicht so leicht abwimmeln. Besonders nicht, wenn es um seine engsten Freunde ging. Oder in diesem Fall seinen besten Freund. Nach der Schule hatten Birger und Fabrice zusammen studiert, waren dann jedoch in unterschiedliche Richtungen abgebogen. Diese hatten den Franzosen schließlich wieder in das Heimatland seiner Eltern geführt, sodass er seit einigen Jahren an der sonnigen Côte d’Azur wohnte und das süße Leben genoss, während er sich beständig einen renommierten Ruf als Restaurantbesitzer erarbeitete. Sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die ihn abseits dessen viel lieber in der Planung etwaiger Enkelkinder sehen würde. Doch davon war Fabrice weit entfernt. Seine Freundinnen wechselten beinahe so regelmäßig wie seine Bettwäsche. Er hielt nicht viel von der Suche nach der Einen. Aber, und das musste Birger seinem Freund zugutekommen lassen, er war immer fair und tat nie, als würde er einer Frau mehr versprechen, als er bereit war zu geben.

Birger zuckte mit den Schultern und schob eine Hand in die Tasche seiner dunklen Anzughose. Er ließ den Blick über die Anwesenden schweifen und erkannte zahlreiche Gesichter wieder. An einem bestimmten blieb er unwillkürlich hängen. Während er gedanklich wieder bei der Frau mit den blonden Locken und dem modernen Blazer war, die sich inzwischen lächelnd mit ein paar anderen Frauen unterhielt, meinte er zu seinem besten Freund: »Mein Vater hat Schwierigkeiten damit, Jüngeren das Ruder zu überlassen.«

»Du bist dreiunddreißig. So jung bist du nun auch nicht mehr«, stichelte Fabrice.

»Zu jung, wenn es nach Vater geht.«

»Dann hält er dich hin?«

»Er überhäuft mich mit unlösbaren Aufgaben, um mir vor Augen zu führen, dass ich noch nicht so weit bin.«

»Ah.« Fabrice nickte verständnisvoll. »Wie schlägst du dich?«

In diesem Moment schaute die Frau auf, von der er gedacht hatte, es würde sich um Annikki handeln. Als ihre Blicke aufeinandertrafen, wandte sie sich sofort ab und schien über eine Bemerkung zu lachen. Sollte sie doch Aliisa sein, wirkte ihr Verhalten äußerst eigenartig. Sie und Birger hatten … Er schluckte und verdrängte die schrecklichen Erinnerungen an diesen einen Abend vor knapp vier Jahren.

Ohne Fabrice’ Frage zu beantworten, überlegte Birger auf einmal laut: »Wer ist das da vorne?«

Er deutete unauffällig in Richtung der Blondine.

Fabrice folgte der Geste und dachte nach. »Mariegold? Die Dänin?« Er sah sich um und schüttelte den Kopf. »Nein, die steht da drüben. Vielleicht Laura? Ihren Eltern gehörte doch dieses Holzunternehmen …« Plötzlich lachte er und wies auf die Runde. »Herrje, manche von denen habe ich tatsächlich fünfzehn Jahre nicht gesehen!«

Birger nickte zustimmend und beobachtete die hochgewachsene Frau. Sie stach aus der Menge heraus, denn zumindest die weiblichen Gäste waren alle kleiner als sie. Birger wandte sich erneut an seinen Freund. »Findest du nicht, sie sieht aus wie Anni?«

»Anni?«

»Nikki.« Birger erinnerte sich, dass sie zu Schulzeiten mehrere Spitznamen gehabt hatte.

Fabrice beobachtete, wie sich die blonde Frau mit der Hand durch die offenen Locken fuhr, und erwiderte nachdenklich: »Sicher? Ist es nicht vielleicht Aliisa?« Er ließ sein Glas sinken. »Ah, das waren doch Zwillinge! Warst du nicht mit einer von beiden –«

»War ich«, schnitt Birger seinem Freund das Wort ab und brachte ihn damit zum Schweigen. Allerdings hielt der Zustand nicht lange an.

»War sie nicht diejenige, die dich so richtig ins –«

Rüde nickte Birger, und sein Freund schien sich an die eher unleidliche Zeit nach dem Abschluss zu erinnern.

Ungeachtet der brisanten Entdeckung blitzte der Franzose ihn an. »Und du erkennst sie nicht?«

»Natürlich«, widersprach Birger nachdrücklich. Dann gab er zu: »Ich bin mir vielleicht nicht hundertprozentig sicher.«

Augenblicklich setzte Fabrice sich in Bewegung. »Dann sollten wir das unbedingt aufklären.«

»Fabrice! Nicht, das ist doch …« Birger wehrte sich, doch sein Schulfreund war nicht aufzuhalten, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Nur wenige Meter von der Gruppe ehemaliger Schulkameradinnen entfernt, wurde er jedoch von zwei alten Freunden angesprochen. Erleichtert kam Birger dazu und widmete sich dem sicheren Small Talk, während er immer wieder zu der blonden Frau hinüberblinzelte.

Etwas in ihm wünschte sich, es wäre Anni. Doch er hatte das Schild an ihrem Blazer entdeckt. Darauf stand eindeutig ›Aliisa‹. Und so wie es schien, war sie allein hier. Ungewöhnlich, wenn Birger daran dachte, wie unzertrennlich die Zwillinge zu Schulzeiten gewesen waren. Ebenso war es eigenartig, dass Aliisa ihm zur Begrüßung nicht um den Hals gefallen war. Sie verband etwas, an das Birger nur ungern zurückdachte. Doch sie hatten das geklärt und waren in Kontakt geblieben. Sie hätte ihn begrüßt und wäre nicht einfach davongestöckelt. Etwas stimmte hier nicht.

Eilig schob er den Überlegungen einen Riegel vor. Er hatte genügend offene Enden, um die er sich kümmern musste, als dass er auf eine Begegnung mit Anni hoffen oder sich über Aliisas Verhalten wundern sollte. Womöglich ergab sich demnächst noch eine Gelegenheit, das zu klären.

Zwei

Nikki hatte sich einen Orden verdient. So viel stand fest. Dass sie sich ihn auf unehrliche Weise erschlichen hätte, ließ sie aus Gewissensgründen lieber außen vor. In den vergangenen zweieinhalb Stunden hatte sie sich fröhlich lachend und in Erinnerungen schwelgend mit beinahe allen Anwesenden ihrer Abschlussklasse unterhalten und überzeugend die Rolle der Aliisa gespielt. Zwischendurch hatte sie beinahe vergessen, dass sie den Deckmantel ihrer Schwester über sich gestülpt hatte. So entspannt hatte sie sich zuweilen gefühlt.

Bisher war es zu Nikkis eigenem Erstaunen niemandem aufgefallen, dass sie sich für ihre Zwillingsschwester ausgab. Fragte man sie nach sich selbst, also nach Annikki, gab sie vor, wichtige Projekte hätten es leider unmöglich gemacht, Brüssel so kurz vor der Weihnachtspause zu verlassen.

Es war von Vorteil, dass sie und ihre Schwester früher schon unzertrennlich gewesen waren und damit alles gemeinsam gemacht hatten. Es hatte zu Schulzeiten kaum etwas gegeben, das eine von beiden allein bestritten hatte. Kam so etwas doch mal zur Sprache, so schaffte Nikki es, sich mit Gegenfragen herauszureden oder schnell jemanden begrüßen zu müssen, der am anderen Ende des Raumes stand. Wenn sie etwas in ihrer Zeit als Politikerin gelernt hatte, dann, wie man unangenehmen Fragen aus dem Weg ging und sein Gegenüber davon ablenkte.

Unwillkürlich musste sie an ein Buch denken, das sie in der Schule einmal im Deutschunterricht gelesen hatten. Das doppelte Lottchen von dem deutschen Schriftsteller Erich Kästner. Es passte wie die Faust aufs Auge zu dem, was Nikki hier gerade spielte. Sollte sie sich deswegen schlecht fühlen? Nein. Sie benötigte eine kurze Pause, und Aliisa würde es ihr bestimmt nicht übelnehmen. Und unter den Anwesenden waren zwar alte Freunde, doch auch die hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen und war nur mit wenigen von ihnen in spärlichem Kontakt geblieben. Ein Fehler, wie sie inzwischen fand. Die Europäische Schule war ein Pool aus internationalen Menschen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich nach dem Abschluss alle in unterschiedlichste Himmelsrichtungen verteilt hatten. Doch manche hatten solch spannende Wege zurückgelegt, es war eine wahre Freude, ihren Berichten zuzuhören.

Nachdem Nikki beim zehnjährigen Treffen mitten in ihrem ersten Wahlkampf gesteckt hatte, war sie damals nicht zugegen gewesen. Umso mehr hatte sie sich verpflichtet gefühlt, heute Abend zu kommen, obwohl es um ihre verfügbare Zeit nicht viel besser stand als damals. Ein Grund mehr, weshalb sie dieses Spiel mit den Namensschildern getrieben hatte.

Sie wollte nicht über sich sprechen, nicht über ihre desolate Beziehung mit Mika und noch weniger über die anstehenden Wahlen, die darüber entschieden, ob sie einen guten Job gemacht hatte und ob sie ihn weiterführen durfte. Sie hasste das. Wahlkampf. Sie wollte ihre Arbeit machen, nicht sich den Menschen anbiedern. Schlichte Programme und ein überzeugendes Lächeln waren den Menschen heute nur leider nicht mehr genug. Also würde Nikki sich in den kommenden Monaten ordentlich ins Zeug legen müssen.

Jetzt wusch sie sich die Hände und betrachtete ihr dezent geschminktes Gesicht im Spiegel, bevor sie auf die Uhr ihres Smartphones sah. Es war halb elf. Der richtige Moment, um sich zu verabschieden. Nachdem sie sich die Hände abgetrocknet hatte, begab sie sich von der Toilette zurück zur Veranstaltung. Während sie sich dem Saal näherte, in dem das Klassentreffen stattfand, hörte sie eine Frauenstimme in ein Mikrofon sprechen.

Unauffällig schob Nikki sich durch die Tür und trat in die hinteren Reihen des Publikums. Sie schaute zwischen den Köpfen und Schultern der anderen hindurch und erkannte Mariegold, eine jener Klassenkameradinnen, die stets die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen hatten. Die Frau mit dem honigbraunen Haar, dem schicken pinken Cocktailkleid und den perfekt gezupften Brauen hielt mit affektiertem Wimpernschlag eine Rede. Nikki gab sich Mühe, den Anschluss zu finden, während sie zuhörte.

»… lange her, aber wir freuen uns wahnsinnig, dass ihr es alle hergeschafft habt! Natürlich lassen wir euch heute Abend keine Sekunde früher gehen als nötig. Deshalb holt sich jetzt bitte jeder nochmal einen neuen Drink, und dann starten wir in wenigen Minuten mit unserem Karussell!«

Fragende Gesichter trafen auf neugierige, und Mariegold erklärte mit einem breiten Grinsen: »Richtig gehört! Wir wollen, dass jeder die Gelegenheit bekommt, sich mit jedem zu unterhalten. Wie oft geht man von solchen Veranstaltungen nach Hause und ärgert sich, weil man mit bestimmten Leuten gar nicht oder nur viel zu kurz gesprochen hat?« Sie deutete in die Menge. »Wir sind eine überschaubare Klasse, also geht es schön reihum. Wir bilden einen äußeren und einen inneren Kreis, sodass sich immer zwei Leute direkt gegenüberstehen. Dann stellen wir den Timer, und los geht’s! Ihr habt fünf Minuten mit jedem. Später wechseln wir die Positionen durch, damit auch hoffentlich wirklich niemand übrig bleibt, den ihr nicht durch die Mangel drehen konntet.«

Mariegolds kehliges Lachen ertönte, und Nikki fühlte sich einmal mehr bestätigt, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, unauffällig zu verschwinden.

»Also holt euch bitte alle etwas zu trinken, und dann legen wir los!«, rief die Dänin in ihr Mikro, und Nikki lief zu der kleinen Gruppe von Bekannten hinüber, um sich zu verabschieden. Es war ihre alte Clique, die sie trotz allem nicht übergehen wollte. Es war schön gewesen, sie wiederzusehen, wenngleich Nikki nach all den Gesprächen noch mehr Druck auf ihren Schultern verspürte. Die Ersten hatten geheiratet, Kinder in die Welt gesetzt oder eigene Firmen gegründet. Ob angestellt oder selbstständig, sie bedienten unterschiedlichste Branchen, aber jeder schien seinen Platz gefunden zu haben. Selbst jene, die nicht auf eine ambitionierte Karriere blickten, sondern sich auf das konzentrierten, was ihnen persönlich wichtig war. Nikki fragte sich unwillkürlich, wer von den Anwesenden vielleicht ebenso etwas vorspielte wie sie. Denn das war es doch, was auf Klassentreffen passierte. Man präsentierte sich von seiner besten Seite, weil man den anderen in nichts nachstehen wollte. Niemand würde zugeben, völlig am Boden zu sein und sich zu fragen, was er mit seinem Leben anfangen sollte.

Eilig schüttelte sie den Gedanken ab, verabschiedete sich mit Umarmungen, Wangenküsschen und dem Versprechen, sich unbedingt bald wiederzusehen, und begab sich unauffällig zur Tür.

Sie hatte Glück gehabt. Als EU-Politikerin mochte sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber nicht so viel, als dass sie bekannt wie ein bunter Hund wäre. Schon gar nicht, wenn man sich nicht speziell für Europapolitik interessierte. Auf nationaler Ebene wäre das vermutlich etwas anderes gewesen. So konnte sie sich heute Abend jedoch beinahe inkognito bewegen und für ihre Schwester ausgeben.

Nikki schlüpfte hinaus, ließ sich ihre Jacke von einem der Angestellten geben und lief zum Fahrstuhl. Obwohl es in der Tat ein recht lustiger Abend gewesen war, wollte sie einfach nur noch in ihr Bett. Allerdings drängte sich sofort der Gedanke an Mika und die bevorstehende Trennung auf. Es würde bald ein Ende haben, redete Nikki sich ein und nahm sich vor, im neuen Jahr nicht mehr auf unehrliche Männer hereinzufallen.

Im nächsten Moment glitten die Aufzugtüren auseinander. Doch statt in die Kabine zu treten, hob Nikki zunächst den Kopf und blieb wie angewurzelt stehen.

Vor ihr stand Birger. Er musste sich für eine Weile von der Party entfernt haben und nun auf dem Weg dorthin zurück sein. Sie starrten sich einen Moment lang an, dann zwang Nikki sich, zur Seite zu gehen und ihn aussteigen zu lassen. Nur einen halben Meter von ihr entfernt, wandte er sich zu ihr um und bedachte sie mit einem prüfenden Blick. Schließlich grüßte er sie mit einem freundlichen, aber zurückhaltenden Lächeln: »Aliisa.«

Nikki verspannte sich und griff unwillkürlich an das Namensschild, das unter der offenen Winterjacke hervorlugte. Jetzt hieß es, ihre Geschichte durchzuziehen. Sie bemühte sich um ein offenes Strahlen und tat, als würde sie einen Moment überlegen.

»Birger, nicht?«

Er nickte, und ihr Blick fiel auf die schwarzen Buchstaben, die sein Revers zierten.

»Du willst schon gehen?«, fragte er und ließ seine Augen unauffällig über ihre Jacke hinab zu Schal und Mütze in ihrer Hand gleiten.

Sie räusperte sich. »Ja, ich muss meinen Flug morgen rechtzeitig erwischen.«

»Wo geht es hin?«

»Amsterdam«, erwiderte Nikki einen Tick zu hastig und zügelte ihre nervöse Zunge. Die Anspannung in ihrem Körper wuchs, und sie bemühte sich, das Gespräch zu beenden, doch Birger schien andere Pläne zu haben.

»Nicht Brüssel?« Aufmerksam wanderten seine grünen Augen zurück zu Nikkis Gesicht. Hatte er sie durchschaut? Nein, unmöglich! Ihr Herz machte unsichere Sprünge und boxte gegen die umliegenden Rippen, die es zu bändigen versuchten. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Ein Verhör mit ihrem Ex-Freund aus Schulzeiten.

»Nein, Amsterdam. Wieso sollte es mich nach Brüssel ziehen?« Nikki hoffte, sie klang genauso unschuldig, wie sie es sich in den Kopf gesetzt hatte.

»Nun, ich dachte, du und deine Schwester seid unzertrennlich.«

Nikki erstarrte und fing sich binnen Sekunden wieder. Sie setzte ein herzliches Lächeln auf. »Das stimmt. Aber wir sind erwachsen geworden. Wir kommen inzwischen auch mit ein wenig Entfernung zwischen uns zurecht.«

Nachdenklich nickte Birger. Dann fragte er plötzlich: »Wie geht es Anni?«

Anni. Das zweite Mal an diesem Abend nannte sie jemand bei dieser vertrauten Abkürzung. Hatten die meisten sie zu Schulzeiten bereits Nikki gerufen, so hatte Birger von Anfang an Aliisas Anrede für ihre Schwester übernommen. Selbst als er und Nikki noch gar nicht zusammen gewesen waren und den Abschluss noch aus weiter Ferne betrachtet hatten. Nikki hatte es irgendwie gemocht, diesen Namen aus seinem Mund zu hören. Schon damals. Doch heute sollte er die intime Anrede nicht mehr nutzen. Es war, als würde er damit in einen Bereich eindringen, der ihm nicht länger zustand.

Nikki holte unauffällig Luft, meißelte sich das Lächeln fest in die Mundwinkel und bediente sich an ihrer politischen Rhetorik.

»Fabelhaft! Sie erklimmt die Karriereleiter. Aber wie geht es dir? Drückst du dich vor Mariegolds Karussell?« Sie deutete vorgeblich amüsiert hinter sich zu der verschlossenen Tür.

»Ich musste noch etwas klären.« Birger schmunzelte. »Und ja, vielleicht habe ich versucht, mich zu drücken.« Er musterte sie. »Lust, noch etwas zu trinken? Wir haben uns seit Nizza nicht mehr persönlich gesehen.«

Nizza? Wieso Nizza? Wann hatte Aliisa Birger gesehen? Ihre Schwester hatte ihr nichts davon erzählt, wie konnte Nikki denn ausgerechnet auf den letzten Metern über so etwas stolpern? Oh, verdammt! Nikki kramte in ihrem Hirn nach Erinnerungen, doch konnte sie sich keinen Reim auf seine Anspielung machen. Hatte ihre Schwester ihr etwa verschwiegen, dass sie und Birger sich in Südfrankreich getroffen hatten? Mühsam überspielte Nikki ihre Verwirrung mit einem Strahlen.

»Wie schon gesagt, ich muss einen frühen Flieger erwischen und sollte daher dringend ins Bett.« Sie drückte auf den Fahrstuhlknopf, damit sich die Türen wieder öffneten.

Bevor sie eintrat, nickte Birger ihr zu. »Schön, dich gesehen zu haben.«

Das konnte Nikki kaum bestätigen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie wünschte sich ganz weit weg an einen anderen Ort. Das war alles andere als erwachsen, und sie schämte sich gar ein bisschen. Jedoch fühlte sie sich an diesem Abend nicht in der Lage, sich Birger und der Wahrheit zu stellen. Nun musste sie es bis zum bitteren Ende durchziehen.

Nikki begab sich in den Aufzug und drückte auf das Zeichen, das die Lobby markierte.

Birger folgte ihr mit seinem Blick und betrachtete sie einige Sekunden lang. »Grüß Anni von mir.«

Immer noch um ein fröhliches Gesicht bemüht, nickte Nikki. »Ich richte es ihr aus.«

Die Türen wollten gerade schließen, als Birger ein weiteres Mal an diesem Abend seine Hand dazwischen streckte, um sie aufzuhalten. Kopfschüttelnd lachte er leise.

»Was ist so lustig?«, fragte Nikki nervös und klammerte sich an ihre Wollmütze.

Weitere Sekunden verstrichen, in denen Birger sie einfach nur ansah. Nikki war, als würde man ihr die Luft abschnüren. Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie hatte es in den letzten Stunden hervorragend gemeistert, ihm aus dem Weg zu gehen. Wieso musste er sie ausgerechnet jetzt und hier allein im Flur abpassen? In ihrem Magen rumorte es. Nervosität, Unsicherheit und noch etwas Undefinierbares lieferten sich einen unerwünschten Kampf, sodass Nikki bald schlecht werden würde.

»Vielleicht«, Birgers tiefe Stimme erklang, und Nikki bekam eine Gänsehaut, »richtest du die Grüße doch lieber Aliisa aus.« Er machte eine kurze Pause. »Wenn ihr euch das nächste Mal sprecht.« Dann nahm er seine Hand aus der Lichtschranke. »Guten Flug, Anni.« Er ließ die Türen zugleiten, und der Aufzug setzte sich in Bewegung.

Nikki schnappte nach Luft. Wie bitte?! Hatte er sie wahrhaftig durchschaut? Oder war es ein Schuss ins Blaue? Aber warum sollte er das tun, wenn er keinen Verdacht hegte? Und wieso ließ er sie so gehen? Mit dieser aufgedeckten Lüge? Nikki spürte, wie sich der Druck in ihrem Körper verstärkte. Lächerlich. Sie sollte nichts darauf geben. Das sagte sie sich immer wieder. Und wenn schon. Dann hatte er sie schlussendlich vielleicht doch erkannt. Es hatte ja nur drei Stunden gedauert …

Der Aufzug öffnete sich, und Nikki eilte durch die Lobby. Sie sollte dieses Hotel dringend verlassen und diesen Abend abschließen. Birger wiederzusehen und ihre vorgetäuschte Rolle als Aliisa hatten ihre Energiereserven beansprucht. Sie brauchte Abstand und freute sich auf einmal auf Brüssel, obwohl sie dort ein anstrengendes Tagesgeschäft in der letzten Woche vor Weihnachten erwartete. Sie würde Aliisa baldmöglichst beichten, was sie getan hatte. Nicht, dass sie womöglich Nachrichten erhielt, die sich auf das Klassentreffen bezogen, und ihre Schwester die Lüge unwissentlich auffliegen ließ.

Während Nikki durch das weihnachtlich dekorierte Foyer schritt und sich schließlich hinaus auf die dunklen Straßen begab, formte sich erneut ein Fragezeichen in ihren Gedanken. Nizza. Was hatte Birger damit gemeint?

Sie kramte das Smartphone aus ihrer Jackentasche und wählte eine Nummer aus ihren Favoriten aus. Doch dann besann sie sich auf die späte Uhrzeit. Zwar lag Amsterdam eine Stunde hinter Helsinki, trotzdem ging es auch dort bereits auf zehn Uhr zu. Nikki wusste, ihre Schwester würde immer rangehen, wenn sie anrief. Aber während sie die eisige Luft auf ihren Wangen spürte, entschied sie, ein Thema nach dem anderen anzugehen. Sie würde Birger nicht so bald wiedersehen, also konnte sie das getrost später klären. Falls sie es tatsächlich wissen wollte. Ihre Beziehung mit diesem Mann lag fünfzehn Jahre zurück. Sie sollte nicht so viel darauf geben, dass er sie heute nervös gemacht hatte, indem er ihr Spiel augenscheinlich durchschaut hatte. Übermorgen würde sie zurück nach Brüssel fliegen und tatkräftig ihre Projekte in Gang bringen, bevor sie sich dem Wahlkampf widmen würde.

Zwanzig Minuten später erreichte sie das Haus, in dem Mikas Loft lag. Sie zückte ihren Schlüssel und begab sich ins Innere. Mika hatte heute Abend einen geschäftlichen Termin gehabt, würde aber vermutlich schon zurück sein. Es war inzwischen kurz nach elf, aber wie sie Mika kannte, war er sicherlich noch wach und saß über irgendwelchen Mails oder Akten. Sie war früher zurück, als sie ihm angekündigt hatte, aber sie würde jetzt lieber noch ein Glas Wein auf dem Sofa trinken, als an Mariegolds Karussell teilzunehmen.

Kurz darauf kam sie in der obersten von fünf Etagen an und schloss die einzige Apartmenttür auf, die es hier gab. Gedimmtes Licht empfing sie, während sie leise aus ihren flachen Schuhen und der Winterjacke schlüpfte. Suchend lugte sie durch die offene Tür zum Wohnbereich. Wie erwartet, verteilten sich einige Dokumente über dem weitläufigen Sofa, während im Kamin ein kleines Feuer vor sich hin prasselte. Das moderne Apartment war von opulenter Größe, sodass im Wohnzimmer nicht nur eine riesige Couch stand, sondern auf der anderen Seite des länglichen Raumes ein teurer Billardtisch den Mittelpunkt geselliger Abende darstellte. Die Außenseite des Lofts wurde von bodentiefen Fenstern dominiert, sodass man einen herrlichen Blick auf die Hafengegend von Helsinki erhaschen konnte. Jetzt spiegelten sich in den dunklen Gläsern lediglich die dezenten Lichtschimmer der Wohnung.

Nikki fuhr sich durch die blonden Locken, zog ihren Blazer aus und hängte ihn über einen Stuhl, als sie an dem überdimensionalen Esstisch vorbeikam. Wohn- und Essbereich gingen fließend ineinander über und endeten schließlich in einer eleganten Küche, deren Ausstattung nichts vermissen ließ. Hochwertige deutsche Geräte, edle Oberflächen und dekadente, goldene Wasserhähne. Wieder einmal stellte Nikki fest, dass Mika mit einem ebenso goldenen Löffel im Mund geboren worden war. Seine Familie besaß kein eigenes Unternehmen, allerdings wussten sie, wie man erfolgreich in andere Firmen investierte. Das Vermögen, das aus vergangenen Zeiten überdauert hatte, wurde immerzu in neuen Beteiligungen angelegt, und als hätten sie ein Händchen dafür, schien es sich fortwährend zu vermehren. Nur selten gab es Verluste, die wirklich schmerzten.

Mikas Anstellung als politischer Berater war gut bezahlt, doch kam das meiste Geld weiterhin aus familiären Aktiengeschäften. Er hatte es Nikki mal erklärt, aber sie hatte nicht den Nerv besessen, ihm bis ins letzte Detail zu folgen, und so verbuchte sie es als gegeben, dass Mika in Geld schwamm und es stetig zu vermehren wusste.

Als Politikerin waren ihr Männer wie er ein Dorn im Auge. Als Frau war sie seinen Aufmerksamkeiten erlegen, die man eben nur mit viel Geld möglich machen konnte. Exquisite Restaurants, kurzweilige Trips übers Wochenende und ein modernes Apartment, das in einer teuren Netflix-Produktion als Kulisse hätte dienen können. Vielleicht hätte sie dieser Fakt bereits stutzig und vorsichtig werden lassen sollen. Aber die rosarote Brille hatte lange Zeit hartnäckig auf ihrer Nase gesessen. Jetzt fragte sie sich zunehmend, ob das Geld sie womöglich geblendet hatte. Falls ja, sprach das nicht unbedingt für ihren Charakter. Nikki verdrehte die Augen.

Mit einem leisen Seufzen goss sie sich ein Glas Wasser ein, nahm einen Schluck und stellte es auf die Anrichte aus weißem Marmor. Dann begab sie sich auf die Suche nach Mika. Sie kehrte zurück in den Flur und stieg eine enge Wendeltreppe in das darüberliegende Stockwerk hinauf. Oben angelangt vernahm sie leise Geräusche. Von dem schmalen Gang zweigten drei Türen ab. Eine führte in ein geräumiges Bad mit edlen cremefarbenen Fliesen, eine weitere auf der gleichen Seite barg ein kleines Gästezimmer, und die gegenüberliegende führte in das Hauptschlafzimmer. Je näher Nikki jener Tür kam, desto eindeutiger vernahm sie verräterische Laute. Ihr Magen krampfte sich in schrecklicher Vorahnung zusammen, und ihr Herz begann wütend gegen ihre Brust zu hämmern. Einen Meter vom Schlafzimmer entfernt zögerte sie plötzlich, doch dann holte sie tief Luft, machte einen letzten Schritt, stieß die angelehnte Tür leise auf und platzte mitten hinein in den Höhepunkt des Abends.

Sprachlos starrte sie in das Bett, in dem sie heute Morgen noch geschlafen hatte. Jetzt blickte sie in zerwühlte Laken, die sich um zwei gänzlich nackte Körper schlangen. Sie auf ihm. Mit dem Rücken zur Tür und im wahrsten Sinne des Wortes in einen wilden Ritt vertieft, der ihr und ihm zu gleichen Teilen ein sinnliches Stöhnen entlockte, gepaart mit ihrem Ruf nach Gott. Doch der würde sie mit diesem Verhalten wohl kaum eines Tages durch seine Pforte gehen lassen, dachte Nikki zynisch.

Keiner von beiden hatte sie bemerkt, was sie fast mehr kränkte als der Anblick ihres Freundes, der sich mit einer anderen Frau auf nicht jugendfreie Weise direkt vor ihren Augen vergnügte. Wieder ertönte ein heller Schrei der dunkelhaarigen Dame, die sich auf Mika aufbäumte und unter tiefem Stöhnen um Erlösung bettelte.