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Ihr Leben könnte so süß sein wie reife Himbeeren – wenn Lilly es schafft, ihre Dämonen endgültig abzuschütteln … Es ist die Chance ihres Lebens: Völlig überraschend unterschreibt der derzeit erfolgreichste und gefragteste Musiker einen Vertrag mit Lillys Künstleragentur in Dublin. Doch die Euphorie, die diese Nachricht in ihr auslöst, hält nicht lange an. Sean O'Sullivan fordert von Lilly Unmögliches: die Lösung seiner Probleme. Allerdings ist er nicht gewillt, ihr zu verraten, welche das sind. Nach außen sprudelt Sean vor Lebenslust, doch innerlich scheint er von seinen Ängsten und Sorgen zerfressen zu werden. Lillys Kämpfernatur lässt sie diese Herausforderung trotzdem annehmen. Doch so ansteckend Seans vermeintliche Unbeschwertheit auch ist – sie hilft Lilly nicht gerade dabei, professionell zu bleiben. Zu allem Überfluss streckt plötzlich auch noch ihre Vergangenheit die Finger nach ihr aus und droht Lillys Leben aus der Bahn zu werfen. Sowohl Sean als auch Lilly müssen sich ihren Problemen stellen, bevor sie herausfinden können, ob das zwischen ihnen mehr ist als die Flucht vor der Realität. Der fünfte Band der Bestseller-Reihe "Irland - Von Cider bis Liebe" von Madita Tietgen. Alle Bände sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Für Anke und Claudia.
Weil wir im Blondie-Buch-Club irgendwie nie Bücher lesen, aber ich mit kaum jemandem so philosophische und inspirierende Gespräche führen kann wie mit euch. Und weil ihr immer für mich da seid.
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Sean O’Sullivans »Raspberry Love« und »A Wild Girls Heart«.
Viertel nach drei. Genervt schaute Lilly auf ihr Smartphone. Sie leerte ihren zweiten Cappuccino und löffelte den übrig gebliebenen Milchschaum vom Boden der Tasse. Klirrend legte sie den kleinen Löffel auf den Unterteller. Drei Uhr siebzehn.
Sean O’Sullivan mochte vielleicht als der neue Ed Sheeran betitelt werden, und ja, er war vor Kurzem von einer Welttournee zurückgekehrt, aber diese Star-Allüren musste sie ihm dringend austreiben. Sofern er ihr überhaupt die Möglichkeit dafür geben würde. Das sah aktuell nämlich nicht danach aus. Seit über einer Stunde ließ er sie im The Winding Stair, einer Mischung aus Buchladen im Erd- und edlem Restaurant im Obergeschoss, sitzen. Eigentlich waren sie für zwei Uhr verabredet gewesen. Ein erneuter Blick auf ihr Smartphone. Drei Uhr achtzehn. Keine Nachricht von Sean. Dafür aber von ihrer Mom.
Wir wünschen dir ein schönes Wochenende, Liebes! Bis hoffentlich bald, Mom xoxo
Ein Gefühl der Sehnsucht überfiel Lilly, doch sie schob es beiseite und konzentrierte sich auf ihren nicht anwesenden Potenzial-Kandidaten. Lilly fragte sich, warum sie überhaupt noch hier war. Frustriert blinzelte sie. Sie wusste es ganz genau. Natürlich. Es war ihr eigener Ehrgeiz, der sie ihre Zeit verplempern ließ. Und ihre Loyalität zu Aeryn Fitzgerald O’Sullivan.
Wie es in guten Restaurants nun mal war, hatte der Kellner längst Lillys leere Tasse bemerkt. Geschäftig kam er an ihren Tisch.
»Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«
Lilly seufzte und bewunderte einmal mehr den Ausblick von den hohen alten Fenstern hinaus auf den Liffey, den Fluss, der sich durch Dublin zog, sowie auf das dahinterliegende Viertel, Temple Bar. Wie lange wollte sie sich zum Affen machen? Die Zeiger an der großen Bahnhofsuhr, die zu Dekorationszwecken in dem Lokal hing, tickten unaufhörlich auf halb vier zu. Nein, sie würde nicht noch länger bleiben. So schön es in diesen historischen Gemäuern auch war, sie hatte Besseres zu tun. Was für eine verpasste Chance! Sie schluckte ihren Ärger hinunter und lächelte dem Kellner freundlich zu.
»Die Rechnung, bitte.«
»Natürlich.« Er nickte und verschwand.
Lilly griff nach ihrer Handtasche und zückte einen kleinen Spiegel. Kritisch beäugte sie ihr dezentes Make-up und die blonden Korkenzieherlocken, die schon wieder nicht dort saßen, wo sie sein sollten. Entnervt klappte sie den Spiegel zu und ließ ihren Blick ein weiteres Mal hinausgleiten. Sie war noch nicht sehr oft hier gewesen, dennoch hatte sie sich bereits in diesen Ort verliebt. Er war geschichtsträchtig. Etwas, das sie besonders mochte. Der Name führte nicht nur auf die windigen Stufen des Cafés zurück, sondern war auch eine Anlehnung an den Gedichtband The Winding Stair and Other Poems des irischen Poeten William Butler Yeats. In den Siebziger- und Achtzigerjahren hatten sich hier allerhand Schriftsteller, Musiker und Künstler getroffen. Außerdem war es der Geburtsort für spannende Diskussionen und eine enorme Kreativität, die sich in zahlreichen Gedichten, Romanen und sogar in Filmen widerspiegelte. Kurzum: Lilly mochte den Hauch von Altbackenheit, der den unverputzten Wänden, den unbequemen Stühlen, den einfachen Holztischen und den weißen Stabkerzen innewohnte. Das konnte jedoch nicht ihren Ärger über den immer noch fehlenden Sean O’Sullivan legen. Entnervt fuhr sie sich durch die Haare und zückte ihr Smartphone, als der Kellner mit der Rechnung und einem Kartenlesegerät zurückkehrte.
»Wurde zufällig eine Nachricht für mich hinterlassen? Lilly McCarthy.«
»Ich bedaure, nein.« Der Kellner schüttelte den Kopf und bedachte sie mit diesem mitleidigen Blick, den alleinstehende Frauen über dreißig so häufig zugeworfen bekamen. Lilly hasste es. Sie war erst zweiunddreißig. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Ihr ging es hervorragend. Auch ohne Mann. In Gedanken strich sie das Wörtchen auch. Das klang, als könnte man nur mit Mann glücklich werden. Von wegen.
»Kein Problem. Danke.« Lilly lächelte und hielt ihr Smartphone mit Bezahlfunktion an das Lesegerät. Als ihr Handy vibrierte, um die erfolgreiche Transaktion zu vermelden, hörte sie plötzlich eine tiefe männliche Stimme hinter sich.
»Du willst doch nicht etwa aufbrechen?«
Ärgerlich drehte sie sich um, nur um von der gut aussehenden Erscheinung des zweitältesten O’Sullivan-Sprosses geblendet zu werden. Sean O’Sullivan lief mit einem strahlenden Lächeln, das bis hinauf in seine irisch grünen Augen reichte, auf sie zu. In seinen Haaren verfing sich ein Strahl der Nachmittagssonne und übertünchte sein eigentlich honig- bis haselnussbraunes Haar mit einem rötlichen Schimmer. Lilly kam nicht umhin, die Augen zu verdrehen. Typisch, dass diesem Kerl auch noch ein Auftritt vonseiten der Sonne geschenkt wurde, während sie seit über einer Stunde auf ihn wartete.
Lilly ließ ihren Blick unauffällig über den heraneilenden Mann gleiten. Die Ärmel seines dunkelblauen Hemds hatte er bis über die Ellbogen aufgekrempelt, und seine hellgraue Chino-Hose endete bereits kurz über seinen Knöcheln, die in weißen Sneakern steckten. An einem seiner Handgelenke trug er eine Smartwatch, natürlich ein teures Modell von Apple. Das andere wurde von einem abgegriffenen schmalen Lederarmband geziert. Lillys Blick wanderte hinauf zu seinem Gesicht. Anders als bei seinen Konzertauftritten saß heute eine moderne Brille mit runden Gläsern und schmalem silbernen Rand aus Metall auf seiner Nase. Sie ließ ihn ziemlich intelligent aussehen. Und doch, Lilly kam nicht umhin, ihn unwillkürlich in die Hipster-Schublade stecken zu wollen. Durfte er mit fast Mitte dreißig überhaupt noch so aussehen?
»Du bist Lilly, nicht?« Er stellte die Frage, ohne auf eine Antwort zu warten. Stattdessen ließ er den Kellner, bei dem Lilly eben bezahlt hatte, vorbei und setzte sich dann ihr gegenüber an den Tisch. Als wären sie alte Freunde, hob er entschuldigend die Hände und lachte. »Ich fürchte, ich bin ein bisschen spät dran.«
»Ein bisschen?« Spitz wiederholte sie Seans Einschätzung der Situation. Wollte er sie auf den Arm nehmen? Er war fast eineinhalb Stunden zu spät! Wie würde er es bezeichnen, würde er bloß eine halbe Stunde zu spät kommen? Lief das bei ihm noch unter ›pünktlich‹?
Sean nickte schuldbewusst und lächelte sogleich wieder.
»Ich weiß, ich weiß. Aber ich gelobe Besserung, versprochen.«
Der Kellner kehrte zu ihnen zurück, und Sean bestellte einen Kilikanoon, einen Riesling, der scheinbar irgendwo aus Australien stammte und – wie Lilly nach einem unauffälligen Blick auf die Weinkarte bemerkte – rund vierundfünfzig Euro pro Flasche kostete.
»Ich bin es gewohnt, mit arroganten, selbstüberschätzenden und ja, manchmal auch exzentrischen Menschen zu arbeiten, aber wenn ich eines dabei gelernt habe, dann, dass sich niemand davon an das Versprechen hält, sich in Bezug auf Pünktlichkeit zu bessern. Wirklich niemand.« Lilly lehnte sich zurück, überschlug die Beine unter dem Tisch und funkelte Sean herausfordernd an.
Sie sollte froh sein, dass er noch aufgetaucht war, doch im Moment überwog ihre Anspannung. Und dieser musste sie Luft machen. Außerdem sollte der Weltstar, der sich gerade entspannt durch die Haare fuhr, von Beginn an wissen, dass sie sich nicht herumschubsen ließ. Sie hatte Prinzipien.
»Ich insistiere. Ich bin nicht exzentrisch!« Sean grinste schelmisch.
»Aber arrogant«, erwiderte Lilly sachlich. Meine Güte, was tat sie hier? Sie wollte für diesen Mann arbeiten, und statt sich von ihrer besten Seite zu zeigen, beleidigte sie ihn? Wie sollte sie das ihrer Freundin Aeryn später erklären?
Aeryn Fitzgerald O’Sullivan war mit Seans älterem Bruder Cillian verheiratet. Die beiden waren zusammengekommen, gerade als Aeryn, Star-Tänzerin im Irish Dance, ihren Vater als Agenten entlassen hatte. Aeryns Tourmanager, ein guter Bekannter von Lilly, hatte sie ihr daraufhin als neue Agentin empfohlen. Ein Segen für Lilly. Denn sie fing gerade an, sich als Agentin für Tänzer einen Namen zu machen. Dass ein Star wie Aeryn Fitzgerald auf ihre Dienste zurückgriff, verschaffte ihr einen enormen Aufwind im Geschäft. Seitdem hatte sich viel getan, und Lilly arbeitete inzwischen für zahlreiche Stars und Sternchen der Irish-Dance-Branche. Vor nur einem Jahr waren es schließlich so viele geworden, dass sie eine Agentur gegründet hatte und nicht mehr nur als selbständige Agentin tätig war, sondern Mitarbeiter mit diesen Aufgaben betraute.
Sie hätte es bei den Tänzerinnen und Tänzern belassen können, doch ihr innerer Ehrgeiz trieb sie weiter. Lilly wollte mehr erreichen. Und so war sie dabei, die Agentur auszubauen und neue Geschäftszweige zu gründen. Der erste sollte nun also das Musikbusiness sein. Die Wahl war unwillkürlich gefallen.
Als Lilly mit Aeryn über ihre Expansionspläne gesprochen hatte, hatten die Augen ihrer inzwischen engen Freundin geleuchtet. Sofort hatte sie Lilly von ihrem Schwager berichtet, der derzeit auf der Suche nach einem Agenten war. Es war kaum zu glauben, aber bisher hatte dieser unverbesserliche Weltstar stets selbst mit den Plattenfirmen verhandelt und ihnen einen großen Spielraum überlassen. Kein Wunder, dass ihm das langsam über den Kopf wuchs. Er war ja nur ein Kerl, der sich nach gerade mal vier Jahren mit Stars wie Ed Sheeran, Taylor Swift oder Harry Styles messen konnte. Er brauchte dringend jemanden, der sich um seine Karriere kümmerte und ihm einen vernünftigen Rahmen dafür schuf. Und dieser Jemand wollte Lilly sein.
Es war verrückt, sich anzumaßen, einen Musiker wie Sean O’Sullivan als Agentin vertreten zu wollen. Insbesondere da sie noch keinerlei Erfahrung in der Musikbranche besaß. Aber Lilly liebte die Musik. Sie hatte sich durch die Arbeit mit den Tänzern die verschiedensten Zugänge gesichert und ein breites Netzwerk aufgebaut. Sicher, in der Musikindustrie ging es hart zu, aber sie war dem gewachsen. Sie wollte es unbedingt!
Also was zur Hölle war in sie gefahren?
Lilly vermied es, nervös mit den Fingern auf der Tischplatte herumzutrommeln, und verschränkte ihre Hände stattdessen in ihrem Schoß.
Sean schien ihre provozierende Antwort nicht zu kümmern. Er lachte. »Ja, das habe ich wohl verdient.« Dann wurde er ernst und blickte sie mit seinen grünen Augen an, den Hauch eines schlechten Gewissens darin. »Es tut mir ehrlich leid, dass ich zu spät bin. Mein vorheriger Termin hat unerwartet länger gedauert, und es war mir nicht möglich, Bescheid zu geben. Ehrlich, es kommt nicht wieder vor.«
Lilly musterte ihn kritisch, beschloss jedoch seine Entschuldigung anzunehmen. Sie würde ihn künftig an dieser Aussage messen, würde er wieder einmal zu spät dran sein.
Sie nickte. »Also gut. Vergessen wir das vorerst.«
Erleichtert lehnte Sean sich zurück und musterte Lilly. »Also, Aeryn sagt, du bist die beste Agentin, die ich in Irland finden kann. Stimmt das?«
Lilly lächelte. Ihre Freundin war zu großzügig. Aber das musste sie Sean ja nicht wissen lassen. »Das stimmt.«
»Schön.« Er nickte. »Aber ich kann nicht annähernd so gut tanzen wie Aeryn. Insofern …« Er ließ seine Augen über sie gleiten. »Soweit ich weiß, vertrittst du bisher keine Musiker. Warum sollte ich also auf dich setzen?«
Berechtigte Frage. Aber Lilly war darauf vorbereitet. Sie setzte ein charmantes Lächeln auf und fokussierte sich auf Sean.
»Ich weiß, worauf es ankommt. Meine Tänzerinnen und Tänzer erwarten von mir Bestleistungen, und die kriegen sie. Jederzeit. Ich bin da, wenn sie Erfolge feiern, wenn sie Liebeskummer haben, wenn sie mehr Geld verdienen wollen, wenn sie für ihre Traumrolle vortanzen, und ich bin diejenige, die sie aus persönlichen Krisen holt.« Lilly lehnte sich leicht nach vorne. »Ich weiß, was sie brauchen, bevor sie es selbst wissen.«
Der Kellner erschien an ihrem Tisch und stellte zwei Weingläser hin. Dann ließ er sie wieder allein.
Von der Unterbrechung unbeeindruckt sprach Lilly weiter. »Die Tanzbranche ist mindestens genauso anspruchsvoll wie das Musikbusiness. Ja, es mag Unterschiede geben. Andere Dinge, auf die es zu achten gilt. Andere Herausforderungen. Aber im Grunde geht es nur um zwei Dinge: den Erfolg und vor allem das Wohlbefinden meiner Klienten. Egal, welcher Branche sie angehören.«
»Ich brauche keinen Lebenscoach.«
»Das womöglich nicht. Aber jemanden, der sich um deine Interessen kümmert, wenn du vielleicht noch gar nicht weißt, was du eigentlich willst.« Lilly lehnte sich wieder zurück. »Du brauchst eine Agentin, die deinem gewinnenden Lächeln widersteht und dir auch mal in den Hintern tritt, wenn es nötig ist. Eine Agentin, die die besten Bedingungen für dich aushandelt und sich nicht über den Tisch ziehen lässt. Du brauchst eine Agentin, der es um den Menschen hinter dem Star geht.« Lilly betrachtete ihn ernst. »Du brauchst mich.«
Schweigend musterte Sean sie.
Lillys Herz raste, und sie hoffte inständig, dass er es nicht hören konnte. Sie hatte ewig an dieser Formulierung gefeilt. Natürlich hatte sie furchtbar dick aufgetragen, aber sie musste selbstbewusst und überzeugend auftreten, egal, wie unsicher sie sich im Herzen fühlte. Er hatte schließlich recht, wenn er sie darauf aufmerksam machte, dass sie sich bisher nur mit Tänzern umgeben hatte. Umso mehr musste sie ihm zeigen, dass sie bereit für etwas Neues war. Dass sie stark genug war und dieser Herausforderung mehr als gewachsen.
Sean nippte an seinem Riesling. Dann musterte er sie erneut. »Wenn du sagst, deine Tänzer bekommen jederzeit deine Bestleistung, wie weit fasst du da den Rahmen?«
Für einen Moment begegnete Lilly verwirrt seinem Blick. Dann blinzelte sie kurz und nickte bekräftigend. »Wenn ich sage ›jederzeit‹, meine ich jederzeit. Es ist nicht unüblich, dass mich jemand mitten in der Nacht anruft, wenn es ein Problem gibt, für das es eine schnelle Lösung braucht. Das ist mein Job. Und der meiner Mitarbeitenden.«
Sean nickte wissend und ignorierte das Aufleuchten seiner Smartwatch. Nach einem Moment der Stille lehnte er sich mit den Ellbogen nach vorne und stützte sich auf der Tischplatte ab.
»Und wenn du ›jederzeit‹ sagst, gibt es wirklich keine zeitliche Begrenzung?«
Worauf wollte er hinaus? Lilly bekam ein ungutes Gefühl. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich bin da, wenn meine Klienten mich brauchen.«
Sean schien die Antwort zu gefallen, denn er strahlte. »Großartig!«
Er lehnte sich wieder zurück und winkte den Kellner heran. Mit Blick auf Lilly sagte er: »Wunderbar, du bist engagiert. Dann können wir ja jetzt zu den wichtigen Dingen kommen und endlich etwas zu essen bestellen.«
Sprachlos starrte Lilly ihn an. Aeryn hatte sie vorgewarnt, dass Sean das Leben leichtnahm. Manchmal zu leicht. Aber was war das? Lilly schielte auf ihre Uhr. Er kam fast eineinhalb Stunden zu spät zu ihrem Treffen, und dann engagierte er sie bereits nach nicht mal zehn Minuten? Ohne mehr über sie zu wissen, oder über ihre Vertragsbedingungen? Gar nichts?
»Sean, ich weiß das zu schätzen, aber –«
Doch Sean unterbrach sie. Seine irisch grünen Augen nahmen sie fest in den Blick, und er schlug im Gegensatz zu dem vorher lockeren einen nun sehr ernsten Ton an.
»Aeryn vertraut dir. Und sie vertraut nur wenigen. Also bist du mehr als integer. Damit hat sich das für mich geklärt.« An den Kellner gewandt, fragte er: »Was können Sie uns empfehlen?«
Lilly wusste nicht, ob sie Freudensprünge oder sich Sorgen machen sollte. Das war zu leicht. Das ging zu schnell. Oder meinte das Schicksal es überraschend gut mit ihr? Misstrauisch musterte Lilly ihren neuen Klienten und nahm sich vor, ihn umso strenger im Auge zu behalten. Zu viel hing von seinem und damit ihrem Erfolg ab.
Sean wich Lillys kritischem Blick aus, indem er vorgab sich umzudrehen und die Aussicht auf den Liffey und die Ha’Penny Bridge zu genießen, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten. Seine Schwägerin hatte nicht gelogen, als sie ihre Agentin als energisch und durchsetzungsstark beschrieb. Ob Lilly McCarthy aber so kreativ und lösungsorientiert war, wie Aeryn behauptete, würde sich in den nächsten Wochen herausstellen.
Unauffällig atmete Sean aus und wandte seiner frisch engagierten Agentin das Gesicht zu. Sie war vielleicht Anfang dreißig, trug eine rote Carmenbluse, die ihre Schultern freilegte, und an ihren Ohren baumelten kleine goldene Reifohrringe. Viel bekam er von ihnen allerdings nicht zu sehen, denn Lillys blonde, lockige Mähne schummelte sich davor und umrahmte ihr eher rundliches Gesicht. Helle, aufmerksame Augen in einer Mischung aus Ozeanblau und Apfelgrün wanderten über das vor ihr stehende Weinglas, das er ihr aufgezwungen hatte. Sie trug nur ein dezentes Make-up, das ihre Wangenknochen und das filigrane Kinn unterstrich. Ihre langen Wimpern verliehen ihrem Gesicht einen beinahe malerischen Ausdruck. Dieser wurde einzig von der großen Sorgenfalte auf ihrer Stirn gestört.
Sean konnte es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, aber er hätte schwören können, dass er für diese Falte verantwortlich war. Oh Lilly, dachte er, wenn du wüsstest, wie viele Sorgenfalten in den nächsten Wochen dazukommen werden. Während Sean an seinem überteuerten Wein nippte, fragte er sich, ob sein Plan wohl aufgehen würde. Er brauchte Hilfe. Dringend. Aber konnte Lilly ihm geben, was er benötigte?
Du brauchst eine Agentin, die deinem gewinnenden Lächeln widersteht und dir auch mal in den Hintern tritt, wenn es nötig ist. So hatte sie es vor wenigen Augenblicken formuliert. Wenn sie doch nur ahnen würde, wie recht sie damit hatte – sie hätte ihn niemals unter Vertrag genommen. Im Gegenteil.
Missmutig schluckte Sean die fruchtige Flüssigkeit hinunter und wünschte sich, etwas Stärkeres in seinem Glas zu haben als Wein. Vor wenigen Wochen war er von seiner ersten Welttournee zurückgekehrt. Es fühlte sich immer noch so surreal an, wenn er die letzten Jahre Revue passieren ließ. Vor bald fünf Jahren hatte er seinen ersten Plattenvertrag unterschrieben. Seitdem hatte er zwei Nummer-Eins-Alben veröffentlicht, zahlreiche Preise eingeheimst, war erst auf Europa-Tour und schließlich auf eine mehrmonatige Welttournee gegangen. Egal, in welcher Stadt er Halt machte, die Hallen und Stadien waren jedes Mal restlos ausverkauft. Die Einnahmen sprudelten nur so, das Plattenlabel und die Presse feierten ihn als den neuen Star am Himmel, und Legenden wie Elton John, Eminem und Beyoncé klopften an seine Tür, um nach einer Zusammenarbeit zu fragen.
Es war absurd. Vor gut fünf Jahren war er ein Niemand gewesen. Sean O’Sullivan. Er hatte Songs geschrieben, in Pubs gespielt und seiner Familie bei der Apfelernte geholfen. Und jetzt? Er besaß mehr Geld, als er je würde ausgeben können, spielte vor Millionen von Menschen, und im Radio liefen seine Songs rauf und runter. Wenn er nur daran dachte, drehte sich ihm der Magen um. Sean hatte erreicht, wovon so viele träumten. Und doch war er alles andere als glücklich oder zufrieden. Denn er hatte ein gewaltiges Problem.
Seans Augen wanderten von seinem Weinglas zurück zu Lillys blonden Locken und den langen Wimpern, die nervös blinzelten. Vermutlich versuchte sie immer noch zu verstehen, wie er sie so schnell hatte engagieren können. Inständig hoffte Sean, die richtige Entscheidung gefällt zu haben. Er brauchte ein Wunder. Und Lilly war diejenige, die es würde vollbringen müssen. Wenn sie es nicht schaffte, dann konnte er seine Karriere an den Nagel hängen. Für immer.
Lilly beobachtete die grauen Möwen, die über den Liffey hinwegflogen, und atmete tief durch. Nachdem Sean sie in Rekordzeit zu seiner neuen Agentin gemacht hatte, hatten sie gemeinsam gegessen und die Flasche Kilikanoon geleert. Wobei Lilly wohlweislich nicht viel getrunken hatte. Sie vertrug Alkohol nicht besonders gut, zu schnell stieg er ihr zu Kopf.
Ihren Versuch, das Gespräch in offizielle Bahnen zu lenken und über ihre künftige Zusammenarbeit und Vertragsinhalte zu reden, hatte Sean im Keim erstickt. Lilly hatte es vorerst zugelassen. Sie musste Sean kennenlernen, um ihm eine gute Agentin zu sein. Also hatten sie stattdessen über das Essen gesprochen, den Wein, den Ausblick auf Temple Bar und seine Wurzeln. Am Ende hatte er darauf bestanden, die Rechnung zu übernehmen. Lilly kam nicht umhin, festzustellen, dass Sean ein durchaus angenehmer Gesprächspartner war. Er erzählte auf unterhaltsame Art und Weise, erkundigte sich gleichermaßen nach ihrer Arbeit und lachte viel. Ihre Bewertung, er sei arrogant, musste sie vermutlich revidieren. Dennoch … Sie blieb misstrauisch.
Vor wenigen Minuten hatten sie sich schließlich verabschiedet, und nun stand Lilly am Ufer des Liffey und hätte überglücklich sein sollen. Aber irgendetwas an diesem Meeting störte sie. Sie zog ihre Stirn kraus und ließ ihren Blick über die Mauern von Temple Bar schweifen, die an den Liffey grenzten. Die grauen Backsteingebäude, die braun verputzten Fassaden, die windschiefen Fenster, die blühenden Geranien in den Fenstern – Lilly liebte diesen Anblick. Besonders jetzt im Sommer. Machte sie sich vielleicht einfach wieder zu viele negative Gedanken? Darin war sie wirklich gut.
Plötzlich vibrierte ihr Smartphone. Lilly zog es aus der Gesäßtasche ihrer weißen Jeans, die sie heute trug, und lächelte, als sie den Namen ihrer Freundin auf dem Display aufleuchten sah.
»Aeryn! Was kann ich für dich tun?«
»Was wohl, meine Liebe? Ich will wissen, wie dein Treffen mit Sean war!« Aeryn lachte, und Lilly konnte die strahlenden blauen Augen ihrer Freundin wahrlich vor sich sehen.
»Es war … gut.«
»Das klingt nach einem Fragezeichen am Ende, statt eines Ausrufezeichens«, bemerkte Aeryn überrascht.
Lilly seufzte und fuhr sich mit der freien Hand durch die offenen Haare. Noch während sie überlegte, was sie Aeryn sagen sollte, hakte diese bereits aufgeregt nach.
»Hat er dich etwa abgelehnt? Das kann er nicht –«
»Nein!«, rief Lilly. »Nein, im Gegenteil.«
»Was ist dann das Problem?«
Lilly gab nach. Ihrer Freundin konnte sie sowieso nichts vormachen. »Es war viel zu einfach, Aeryn. Ich habe noch gar nicht richtig angefangen, und er hat mich bereits engagiert.«
Aeryn lachte unbekümmert auf. »Ich habe dir doch gesagt, Sean nimmt das Leben nicht so schwer. Warum also so eine Entscheidung auf die lange Bank schieben?« Sie jubelte am anderen Ende der Leitung. »Ich wusste, dass er dich will. Ich wusste es!«
Lilly überkam ein schlechtes Gewissen. Sie sollte sich freuen und ihrer Freundin danken. Stattdessen hob sie skeptisch die Augenbrauen und verfiel in Zweifel.
»Lilly«, Aeryns Stimme nahm einen liebevollen Ton an, »du bist großartig in dem, was du tust. Sean weiß, wie selten ich in Lobeshymnen über andere verfalle. Aber über dich rede ich ständig. Einfach weil du mir nicht nur die beste Agentin der Welt bist, sondern weil du inzwischen eine sehr enge Freundin geworden bist. Sean weiß, was dieses Siegel in meiner Welt bedeutet.«
Lilly lächelte.
»Sean hatte sich vermutlich schon für dich entschieden, als ich ihm das erste Mal vorschlug, er solle zu dir gehen«, ergänzte Aeryn. »Gewöhn dich dran, dass sich dieser Mann immer anders verhält, als du es erwartest.«
Vielleicht hatte ihre Freundin recht. Lilly hatte heute ihren ersten Musiker unter Vertrag genommen. Und nicht irgendeinen. Nein, sie hatte Sean O’Sullivan, die Nummer eins am Pophimmel, in ihre Finger bekommen, und sie würde alles geben, um daraus eine Erfolgsgeschichte zu machen. Ihr Optimismus kehrte zurück und übertünchte die vorherigen Unsicherheiten.
»Danke, Aeryn. Danke, dass du das möglich gemacht hast.« Lilly lächelte und verfolgte eine waghalsige Möwe über ihrem Kopf.
»Du wirst mich noch verfluchen, dass ich dir diesen Chaoten angedreht habe.« Aeryn lachte, und Lilly hoffte, dass ihre Freundin in schwägerlicher Manier übertrieb.
Sie plauderten noch ein wenig, dann verabschiedeten sie sich, und Lilly ließ ihren Blick ein letztes Mal über die Uferpromenade schweifen. Voller Dankbarkeit dachte sie an ihre Freundin und Klientin. Aeryn hatte sich in einem Lebensabschnitt an Lilly gewandt, der es in sich hatte. Doch die wohl größte Krise ihres Lebens und ihrer Karriere hatte sich für Aeryn schließlich als der wohl schönste Wink des Schicksals erwiesen. Denn mitten im Chaos war Aeryn auf Cillian O’Sullivan und dessen damals fünfjährigen Sohn getroffen. Heute bildeten diese wunderbaren Menschen eine Familie und gehörten zu Lillys engsten Freunden.
Dass Aeryn in jener Zeit entschieden hatte, ihren Vater als Agenten zu feuern und Lilly anzuheuern, war der Grundstein für eine überaus erfolgreiche Zusammenarbeit und vor allem für eine innige Freundschaft gewesen. Normalerweise legte Lilly viel Wert auf eine gewisse berufliche Distanz zu ihren Klienten. Doch bei Aeryn war es etwas anderes. Schon als sie das erste Mal persönlich aufeinandergetroffen waren, hatten sie eine Verbindung zueinander gespürt. Dass sie Aeryn gemeinsam aus ihrer beruflichen Krise hinausgehoben hatten, trug vielleicht auch seinen Teil dazu bei. Lilly erinnerte sich noch gut daran, wie verschlossen Aeryn zunächst auf sie gewirkt hatte, doch schon bald hatte Lilly ihr bewiesen, dass die Star-Tänzerin nicht nur auf ihre Diskretion, sondern auch auf ihre Loyalität und ihr Vertrauen setzen konnte. Der Nährboden für eine aufrichtige und ungemein herzliche Freundschaft.
Zudem verhalf Aeryn Lilly zu zahlreichen neuen Klienten. Dass Lilly überhaupt hatte erwägen können, eine Agentur zu gründen, verdankte sie vermutlich Aeryn. Und jetzt schuldete sie ihr schon wieder ihren Dank.
Lilly dachte an Aeryns charmanten Schwager und Weltstar. Sie freute sich auf die neue Herausforderung. Sean O’Sullivan war ihr Klient. Ihre Fahrkarte ins Musikbusiness. Wenn sie es geschickt anstellte, war der heutige Tag der Start eines ganz neuen Kapitels in ihrem Leben. Wenn da nicht der nervige Restzweifel wäre. Lilly musste dringend an ihrer Einstellung arbeiten. Sie war gut in ihrem Job. Warum sollte Sean also nicht auf sie setzen?
Sie straffte sich, wandte ihr Gesicht noch einmal der spätnachmittäglichen Sonne entgegen und lief dann in die entgegengesetzte Richtung, nämlich gen Osten zum Grand Canal Square. Es ging bereits auf sechs Uhr zu, und ihre Mitarbeitenden würden an diesem sommerlichen Freitag vermutlich längst im Feierabend sein. Lilly würde ihnen die gute Nachricht am Montag mitteilen. Statt ebenfalls ins Wochenende zu starten, wollte Lilly noch einmal ins Büro und sich um die unzähligen Mails und Nachrichten kümmern, die in den letzten drei Stunden eingetroffen waren. Denn nur weil sie fortan für Sean arbeiten würde, durfte sie ihre anderen Klienten nicht vernachlässigen. Sie hatte es ernst gemeint, als sie sagte, sie sei jederzeit für ihre Tänzer da. Daran würde sich nichts ändern.
Eine halbe Stunde später verließ Lilly den Liffey und zweigte nach rechts ins Grand Canal Dock ab. Das alte Hafenviertel im Osten der Stadt war Anfang der Zweitausenderjahre generalüberholt worden und entwickelte sich seither zu einem der modernsten Neubauviertel Dublins. Da sich Unternehmen wie Facebook, Google, LinkedIn und Airbnb hier niederließen, hatte es schon bald den Titel Silicon Docks verpasst bekommen – in Anlehnung an die Ideen- und Tech-Schmiede in den USA.
Eigentlich waren die Mieten in diesem Teil der Stadt unbezahlbar. Die Gentrifizierung ließ grüßen. Doch Lilly hatte es geschafft, sich im Bürogebäude No. 2 Grand Canal Square eine Ecke in dem dort untergebrachten Co-Working-Space zu angeln.
Während Lilly das große von Glasfassaden umgebene Gebäude betrat und in den dritten Stock hinauflief, dachte sie dankbar an ihre Tänzer. Einer von ihnen, Aaron Gallagher, hatte für sie seine Beziehungen spielen lassen, und so hatte man ihr in diesem fantastischen Großraumbüro direkt neben dem Bord Gáis Energy Theatre, Irlands größtem Theater, zu einem zwar immer noch stattlichen, aber halbwegs hinnehmbaren Preis Zugang gewährt. Das Prinzip war einfach. Eine Etage mit den unterschiedlichsten Möglichkeiten – vom Schreibtisch, über verglaste Meetingräume bis hin zu Couchlandschaften und Hängematten. Hier fand jeder einen bequemen Platz. Ähnlich wie Lilly und ihre Kollegen nutzten Selbstständige, Kleinunternehmen und Freiberufler, die zwischendurch die Gesellschaft anderer suchten, das Gemeinschaftsbüro. Manchmal entstand daraus sogar eine gewinnbringende Zusammenarbeit. Seit gut einem Jahr war Lilly mit ihren drei Angestellten in dem Co-Working-Space, und sie liebte es.
Die Docks versprühten eine magische Energie. Kreativität, Kultur und das Leben pulsierten auf jedem Quadratzentimeter des Viertels. Lillys Arbeitsplatz war umgeben von den modernen Büros der Tech-Giganten, dem schon erwähnten Bord Gáis Energy Theatre, und dann waren da noch die Räumlichkeiten des Irish Film and Television Network und die zahlreichen mit Architekturpreisen ausgezeichneten umliegenden Gebäude, in denen sich Restaurants, Apartments und ein Hotel befanden.
Lilly arbeitete inmitten der kreativsten und kulturreichsten Gegend der Stadt – hier war sie mit ihrer Agentur genau richtig. Das wiederholte sie sich jeden Monat mantramäßig, wenn die dann doch recht saftige Rechnung für die Miete fällig wurde. Egal, sagte sie sich immer wieder. Sie zahlte weniger als üblich, und dafür erhielt sie eine ganze Menge Gegenleistungen. Nein, sie würde sich nicht beschweren. Das war es wert.
Sie verließ die weitläufige Treppe und warf noch einen letzten Blick über die Balustrade hinab in den Lounge-Bereich des Gebäudes, in dem sich eine moderne Sitzecke mit kunterbunten Sesseln und der hauseigene Baristastand befanden. Ja, genau. Der professionelle Coffee-Shop gehörte nämlich zum Gebäude. Für ihren allmorgendlichen Cappuccino musste Lilly nichts extra zahlen. Einer der vielen Vorzüge der teuren Miete. Sie zeigte einfach ihren Gebäudeausweis, und schon ratterte die Kaffeemaschine für sie, ohne dass sie den Geldbeutel zücken musste. Schmunzelnd dachte Lilly an ihren Kaffeekonsum. So hoch, wie der an manchen Tagen war, zahlte sich das durchaus aus.
Lillys Absätze versanken in dem weichen Teppich, und kurz darauf erreichte sie ihre Lieblingsecke. Sie stellte ihre große schwarze Handtasche auf den Boden und setzte sich in einen riesigen hellblauen Sessel, der direkt an der Glasfassade stand. Flink schaute Lilly sich in dem modernen Raum um und stellte fest, dass außer ihr heute Abend fast niemand mehr da war. Also streifte sie ihre Pumps von den Füßen, kuschelte sich im Schneidersitz in den Sessel und platzierte ihren Laptop auf dem Schoß. Noch ein Vorteil des Co-Working-Space – sie konnte ihn an jedem Wochentag zu jeder Uhrzeit nutzen.
Bevor sie das Mailprogramm auf ihrem Rechner öffnete, hob sie den Blick und sah hinaus auf das Wasser des Grand Canal, die flanierenden Passanten an den Docks und den Abendhimmel, der sich darauf vorbereitete, über die Stadt zu ziehen. Die Sonne schien noch immer und strahlte die gegenüberliegenden Gebäude an. Lilly hatte verdammt viel Glück, dass sie an diesem Ort arbeiten durfte.
Seufzend steckte sie sich die kabellosen Kopfhörer in die Ohren, wählte Seans letztes Album auf ihrem Smartphone aus und ließ sich von seiner weichen wie rockigen Popstimme bei der Arbeit begleiten. Recherche.
Während sie eine Mail nach der anderen durchging und sich Notizen machte, schweiften ihre Gedanken zu dem Mann in ihrem Ohr. Sie musste Sean kennenlernen, den Mann hinter der Star-Fassade. Das oberflächliche Gespräch heute Nachmittag bewies ihr, dass er nach nur wenigen Jahren im Business bereits gekonnt verbarg, was er wirklich dachte. Wenn sie seine Agentin werden wollte, musste sie ihn besser kennen als jeder andere. Sie musste wissen, was ihn beschäftigte, worum er sich Sorgen machte, was er mochte, was er hasste, welche Launen ihn umtrieben.
Wenn Lilly eines im Umgang mit ihren Tänzern gelernt hatte, dann, dass hinter einer kargen SMS meist viel mehr steckte als ein schlechter Tag. Und nur, wenn sie wusste, was das war, konnte sie dafür sorgen, dass sich das Problem löste. Sie verlangte von ihren Klienten Transparenz – anders konnte sie nicht mit ihnen arbeiten. Und jeder, der das akzeptierte, lernte schnell, dass Lilly für alles eine Lösung fand. Sie war stolz darauf, dass die Tänzer und Tänzerinnen, die sie vertrat, allesamt auf der Karriereleiter nach oben geklettert waren, seit sie mit Lilly zusammenarbeiteten. Sicher, sie trainierten hart dafür, aber Lilly wusste, dass ein Teil des Erfolgs ihr zuzuschreiben war. Sie gab alles für ihre Schützlinge.
›Wann fängst du endlich an zu leben, Lilly?‹ Die Stimme ihrer Mutter ertönte in ihrem Kopf. Wenn es nach ihr ging, war Lilly ein Workaholic, und statt ihr eigenes Leben zu leben, kümmerte sie sich nur um ihre Klienten. Sicher, jederzeit da zu sein bedeutete nämlich genau das. Lillys Tag begann früh am Morgen und endete meist erst gegen Mitternacht. Sie war viel unterwegs, reiste durch das ganze Land, manchmal auch nach Übersee, um sich um die Belange ihrer Tänzer zu kümmern. Aber sie liebte es. Jeder Erfolg ihrer Tänzer war auch ihr Erfolg. Wenn ihre Tänzer sie dankbar anstrahlten und Lilly sicherstellte, dass ihre Klienten perfekt für die nächste Show oder den nächsten Wettbewerb vorbereitet waren, dann spürte Lilly das Leben in sich. Und mit nichts Geringerem gab sie sich zufrieden.
Der eingängige Refrain von Seans letzter Single schwirrte durch Lillys Kopf, während sie einige Anrufe tätigte und ihren Tänzern viel Erfolg für den heutigen Auftritt wünschte. Sie hatte es sich zur Regel gemacht, zu wissen, wann wer wo auftrat, und sich vorher kurz zu melden. Je nach Spielzeit nahm das einige Zeit in Anspruch, aber Lilly war es wichtig, für alle da zu sein.
In die Arbeit versunken, merkte Lilly zunächst nicht, wie die Sonne unterging und die dunkle Nacht begann, sich über Dublin zu legen. Erst als ihr Smartphone vibrierte – sie hatte es immer im Lautlosmodus – hob sie ihren Blick vom Laptop und wurde der Uhrzeit gewahr. Kurz vor zehn. Ihre Klienten meldeten sich schon mal zu solch einer Zeit, aber es war doch eher eine Ausnahme. Überrascht über den späten Anruf nahm Lilly das Telefonat an, ohne den Namen auf dem Display richtig zu lesen.
»Hallo?«
Im Hintergrund hörte sie laute Musik und Menschen, die durcheinanderredeten.
»Lilly? Hörst du mich?«
Irritiert konzentrierte sie sich auf die männliche Stimme in der Leitung.
»Ja, wer ist denn da?«
»Hi, hier ist Sean!«
»Sean!«, rief Lilly erstaunt. Sie hatte nicht so schnell mit seinem Anruf gerechnet. Sie wollte ihm heute Abend noch einen Entwurf für die Verträge zukommen lassen. Dieser Punkt stand als Nächstes auf ihrer To-do-Liste. »Was kann ich für dich tun?«
Der Lärm in Lillys Ohren wurde lauter, so als würde Sean sich inmitten einer feiernden Horde befinden. Seine gebrüllte Antwort bestätigte ihre Vermutung.
»Ich bin im Cassidy’s. In Temple Bar. Kannst du kurz vorbeikommen? Ist wirklich wichtig!«
Lilly sah auf die digitale Uhranzeige ihres Laptops. »Jetzt?«
»Jep.« Das Nächste, was Sean sagte, schien nicht an Lilly gerichtet zu sein. »So ein Quatsch, das musst du ganz anders machen! Warte, ich helf’ dir …«
»Sean?« Lilly fühlte sich bemüßigt nachzuhaken. »Was machst du?«
»Komm einfach kurz vorbei, ja? Ist wirklich dringend!« Und damit legte er auf.
Sprachlos starrte Lilly auf ihr Smartphone. Nach einer kurzen Schocksekunde klappte sie ihren Laptop zu und schlüpfte in ihre roten Pumps. Das ging ja gut los. Hoffentlich gab es keine Schwierigkeiten. Überhaupt, was machte Sean in Temple Bar? Ein Star mit seinem Bekanntheitsgrad war äußerst schlecht beraten, sich an solch öffentlichen Plätzen aufzuhalten. Das ging nie gut. Irgendein verrückter Fan tummelte sich immer in der Menge, und generell flippten die Menschen heute sofort aus, wenn sich eine Berühmtheit unter ihnen befand. Jeder wollte ein Selfie. Kein Autogramm – nein, die Leute wollten immer ein Selfie. Was also trieb Sean nach Temple Bar, und dann auch noch zu einer Zeit, wenn die Pubs am vollsten waren? Lilly checkte ihren Kalender im Smartphone. Ach ja, Freitag. Oh Gott, in Temple Bar würde die Hölle los sein.
Schnell schmiss sie ihre Habseligkeiten in ihre Handtasche, versicherte sich, nichts liegen gelassen zu haben, und stürmte die Treppe hinunter und hinaus aus dem Gebäude. Lilly ignorierte die roten leuchtenden Streben, eine Kunstinstallation, die einem roten Teppich nachempfunden war und das Ufer der Docks in ein stimmungsvolles Licht hüllte, und eilte zur Pearse Street, Ecke Macken Street. Dort hatte sie Glück und winkte ein vorbeifahrendes Taxi heran, das sie in nur zehn Minuten nach Temple Bar brachte. Währenddessen versuchte sie Sean noch einmal zurückzurufen, doch der ging natürlich nicht ran.
Nervös fuhr Lilly sich durch die Haare und tippte unablässig auf ihrem Smartphone herum. Sie prüfte die gängigen Nachrichtendienste und sozialen Medien, ob etwas von Seans Anwesenheit in Dublins Pub-Viertel durchgesickert war, doch bisher konnte sie nichts finden. Ein Glück. Hoffentlich blieb es dabei.
Wenige Augenblicke später bezahlte Lilly das Taxi und eilte die Seitenstraße hinunter, drängte sich durch die feiernden Menschenmassen und stand kurz darauf vor dem Lokal, das Sean ihr genannt hatte. Das Cassidy’s. In goldenen Buchstaben prangte der Name des Pubs über der schwarzen Holzfassade.
Lilly atmete tief durch und stürzte sich ins Geschehen. Bereits auf dem Bürgersteig tummelten sich zahlreiche Menschen. Im Inneren sah es nicht viel anders aus. Live-Musik ertönte in Lillys Ohren, und sie nahm den typischen muffigen Geruch von Guinness, Whiskey und Frittiertem wahr. Der modern eingerichtete Laden war zum Bersten gefüllt. Deshalb steuerte Lilly die Bar auf der linken Seite des Raumes an, um sich – sofern möglich – einen Überblick zu verschaffen. Es konnte doch nicht so schwer sein, einen Weltstar unter den Gästen auszumachen.
Noch bevor sie an der Theke angekommen war, begann Lilly zu schwitzen. Die laue Sommernacht, gepaart mit den Menschentrauben um sie herum, trieb die Raumtemperatur des Pubs in die Höhe. An den Decken drehten sich Ventilatoren, doch bisher verspürte Lilly durch sie keine Linderung.
Mit viel Mühe und dem Einsatz ihrer Ellbogen erreichte Lilly nach einigen Minuten endlich den Tresen. Sie ergatterte einen Barhocker und stellte sich mit einem Fuß auf die Holzstrebe, um sich dann an der Theke abzudrücken und über die Gäste hinwegblicken zu können. Just in dieser Sekunde spielte die Band den letzten Refrain von Neil Diamonds Sweet Caroline,und die Menschen um sie herum rissen ihre Arme und Gläser in die Höhe und grölten aus vollem Hals mit. Sweeeeet Caroline. Good times never seemed so good. Sweeeeeet Caroline. I believed they never could.
Eine grauenhafte Idee, besonders wenn man sich, wie der Kerl neben Lilly, gerade erst ein neues Guinness bestellt hatte und das überschwappende Glas über den Köpfen anderer Gäste tanzen ließ. Natürlich landete ein Viertel der dunklen malzigen Flüssigkeit auf Lillys roter Carmenbluse.
»Echt jetzt?!«, rief sie genervt und funkelte den Typen böse an, während sie sich mit einer Serviette notdürftig sauber machte. Aber der hob bloß entschuldigend die Schultern und widmete sich dann wieder in schiefen Tönen der süßen Caroline.
Lilly hatte bereits jetzt die Nase voll. Für gewöhnlich mochte sie Pubs. Es war ganz nett, mit Freunden was trinken zu gehen und gemeinsam mit ein bisschen Musik eine gute Zeit zu haben. Aber sie achtete darauf, nicht in Temple Bar zu versacken. Hier waren ihr viel zu viele Touristen. Ja, es herrschte eine fantastische Stimmung. Jeden Abend. Aber für Lilly war das zu viel. Sie bevorzugte die echten irischen Pubs abseits der Touri-Ecken. Warum zum Teufel war Sean hier? Und was konnte so wichtig sein, dass sie extra herkommen musste?
Die Band beendete den Song und spielte sogleich eines der wohl berühmtesten Lieder, das man mit Irland in Verbindung brachte. Nein, nicht Galway Girl, wobei das sicher auch schon dran gewesen war oder noch bald folgen würde. Nein. Sie fingen mit The Lord of the Dance an. Bodhrán, eine spezielle irische Trommel, Banjo und die Fiddle, wie Geigen in Irland meist genannt wurden, waren nicht perfekt aufeinander abgestimmt, aber das tat der Begeisterung der Zuhörer keinen Abbruch. Einige britische Touristen versuchten sich im Irish Dance, versagten aber kläglich und fielen sich lachend in die Arme.
Für einen kurzen Moment schloss Lilly die Augen und nahm den Song in sich auf. Dance, then, wherever you may be, I am the Lord of the Dance, said he. And I’ll lead you all, wherever you may be, and I’ll lead you all in the Dance, said he.
Lilly war erst vier Jahre alt gewesen, als sie die gleichnamige irische Tanzshow zum ersten Mal im Fernsehen gesehen hatte. Sofort war sie hin und weg gewesen von der Präzision, der Lebhaftigkeit und der Leidenschaft, die die Tänzer und Tänzerinnen auf die Bühne gebracht hatten. Bald darauf hatte sie selbst mit Tanzen begonnen, war aber trotz ihrer Liebe für diesen Sport nie so gut gewesen, dass sie hätte in die Profi-Liga aufsteigen können.
Schnell hatte sie aber erkannt, dass es andere Möglichkeiten gab, ihre Leidenschaft für Irish Dance zu befriedigen. Und so hatte sie schon im Teenager-Alter gewusst, dass sie eines Tages für die Tänzer arbeiten wollte. Sie wollte deren Ansprechpartnerin für alle Belange sein und sich um sie kümmern, damit sie sich ganz auf ihre Tanzleistung konzentrieren konnten – um all den vierjährigen Mädchen und Jungen auf dieser Welt diese Magie näherzubringen. In ihrem teenagerhaften Chaos, das sie an den Tag gelegt hatte, war damals allerdings kaum daran zu denken gewesen, dass sie so viel Struktur würde aufbringen können.
Lillys Fuß, der inzwischen wieder auf dem klebrigen Boden stand, wippte, sie sog die Energie des schneller werdenden Liedes in sich auf und atmete tief durch. Die ruinierte Bluse war vergessen, sie ignorierte den Geruch von verschüttetem Guinness, und für einen Moment war sie fast glücklich. Doch dann riss plötzlich eine Hand nach ihrem Arm, und jemand drückte ihr eine überschwängliche Umarmung auf. Irritiert und empört zugleich öffnete Lilly die Augen und erkannte einen strahlenden Sean O’Sullivan vor sich. Sofort grummelte es wieder in ihrem Magen.
»Lilly, da bist du ja endlich!«, rief Sean ausgelassen und zog sie sogleich in die Menge des Pubs hinein.
Verzweifelt versuchte sie sich zu wehren und ihn zum Stehenbleiben zu bewegen. »Sean! Was ist hier los?«
Auf ihren hohen Absätzen stolperte sie ihrem neuen Klienten mehr hinterher, als dass sie lief. Als es ihm endlich auffiel, waren sie bereits an seinem Ziel angekommen. Im hinteren Teil des Pubs hingen zwei Dartscheiben, und eine Gruppe Männer lieferte sich einen fröhlichen, aber erbitterten Wettkampf.
Einer von ihnen, er trug ein schwarzes Hemd und eine dazu passende Anzughose, klopfte Sean auf die Schulter und lachte. »Sean, ich dachte schon, du wolltest dich drücken. Los, du bist dran. Beweis uns, dass du es besser kannst!«
Der Rest der Gruppe stimmte ein und klatschte begeistert in die Hände. Sean drehte sich grinsend zu Lilly um. Über den Lärm hinweg rief er: »Lilly, ich brauche Unterstützung.«
Verdattert versuchte sie die Situation zu verstehen. Was ging hier vor sich?
Mit den Dartpfeilen in der Hand kehrte Sean zurück zu ihr und betrachtete sie bittend und amüsiert zugleich.
»Die Jungs wollen mich fertigmachen, dabei haben sie keine Ahnung von Dart. Sag mir, dass du es besser weißt und mich anfeuerst.« Er grinste sie an.
Bei Lilly fiel allmählich der nicht vorhandene Groschen. Es gab gar kein Problem, oder? Sean brauchte einfach nur ein kleines Fangirl. Das war alles. Er brauchte jemanden, der seinen Stolz befriedigte. Wohnte ihrer Einschätzung, ihn am Nachmittag als arrogant zu bezeichnen, etwa doch so viel Wahrheit inne? Ein Funken Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Lilly stemmte die Hände in die Hüften und funkelte Sean an.
»Deshalb hast du angerufen? Damit ich dich anfeuere?!«
Sean nickte und schüttelte sogleich den Kopf. »Nein, nicht direkt. Aber wo du schon mal hier bist, schadet es bestimmt nicht.«
Lilly hätte am liebsten gleichzeitig geschrien und gelacht, wäre sie nicht so müde gewesen. Es war bereits halb elf, und auf ihrem Laptop stapelte sich die Arbeit. Ja, sie war für ihre Klienten da. Aber dabei ging es um ernsthafte Probleme. Gut, manchmal auch darum, ihnen ein Taschentuch zu reichen. Aber sie konnte nicht für jeden das jubelnde Maskottchen spielen. Das würde sie Sean ganz schnell beibringen müssen.
»Sean«, begann sie und wappnete sich gegen die strahlenden grünen Augen, die humorvoll blitzten. »Ich bin nicht dein Fangirl.«
Sean musterte sie zweifelnd. »Sagtest du nicht, du bist jederzeit für mich da?«
»Ja, aber …«
»Dann war das also nicht ernst gemeint?«
Lilly fühlte sich in die Ecke gedrängt. »Doch, aber du wolltest keinen Lebenscoach.«
Sean nickte bekräftigend. »Aber ich habe nicht gesagt, dass ich kein Fangirl will.«
In einem Anflug von Ärger und Verzweiflung, weil er ihre eigenen Argumente gegen sie verwendete, zeigte Lilly mit einer ausladenden Geste in den Pub.
»Ich bin mir sicher, hier finden sich sofort mindestens zwanzig hübsche und gut gelaunte Fans, die dich nach Kräften bejubeln würden.«
Sean schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht das Gleiche. Es muss von Herzen kommen.«
Er sagte das in so einem ernsten Ton, dass Lilly Mühe hatte, ihren Mund wieder zu schließen. Aeryn hatte recht. Dieser Mann tat nie das, was man von ihm erwarten würde. Er hatte den Vertrag noch nicht einmal unterschrieben, und schon trieb er Lilly in den Wahnsinn.
»Also, bist du nun meine loyale Agentin, oder kneifst du und brichst dein Wort?« Sean ließ die Dartpfeile in seiner Hand auf und ab schwingen und betrachtete Lilly mit dem Anflug eines Schmunzelns.
Er hatte sie besiegt. Lilly konnte keinen Rückzieher machen, ohne sich selbst in den Rücken zu fallen. Bitte lass das nicht meine Zukunft sein, dachte sie entnervt und setzte ein professionelles Lächeln auf.
»Niemals würde ich mein Wort brechen.« Sie ballte die Faust und stupste ihn kräftiger als nötig gegen die Schulter. »Also los, zeig mir, was du kannst!«
Die Männer, die den Schlagabtausch der beiden grinsend beobachtet hatten, setzten zu einem Jubel an, und Sean ging an die Abwurflinie. Dann drehte er sich noch einmal zu ihr um.
»Glaubst du an mich, Lilly?« Frech musterte er sie.
Übertrieben freundlich erwiderte Lilly: »Oh Sean, wie könnte ich nicht? Du bist der Beste in allem, was du tust.« Zuckersüß fügte sie hinzu: »Außer im Dart. Das liegt dir einfach nicht.«
Sean lachte und feuerte seinen ersten Pfeil ab. Er traf oben in der Mitte auf das schwarze Feld. Einfache zwanzig Punkte.
Lilly schüttelte enttäuscht den Kopf. »Wirklich, Sean? Ist das alles?«
Ohne sich zu ihr umzudrehen, machte er einen auf empört. »Also, unter ›anfeuern‹ verstehe ich etwas anderes. Ich glaube, ich überleg mir das mit dem Vertrag nochmal.«
Der zweite Pfeil flog durch die Luft und landete mit einem harten Klock ein Stück über dem ersten Treffer, diesmal im roten Außenbereich. Zwei mal zwanzig, und damit vierzig Punkte für diesen Wurf.
Der Mann im schwarzen Hemd, der Sean zuvor provoziert hatte, verschränkte die Arme und hob eine Augenbraue in die Höhe.
»Lilly, nicht?« Er lächelte sie freundlich, aber bestimmt an. »Bring Sean dazu, zu verlieren, und du bekommst dein Leben lang Getränke aufs Haus.«
Aufgeregt drehte Sean sich zu ihnen um. »Hey, das ist meine Agentin! Verwende sie nicht gegen mich, Cliff.«
Er lachte und zielte mit dem dritten und letzten Pfeil auf die Dartscheibe.
»Wie viele Punkte fehlen ihm noch, um auf null zu kommen?«, fragte Lilly interessiert.
»Vierzig«, brummte Cliff.
Grinsend blinzelte Sean zu dem Mann hinüber. »Ein Klacks.«
»Hättest du wohl gerne«, entgegnete der. An Lilly gewandt, meinte er: »Ehrlich. Sean darf dieses Spiel nicht gewinnen.«
Lilly wurde misstrauisch. »Wieso nicht?«
Sean ließ seinen Arm sinken und schlenderte auf die beiden zu. »Weil ich sonst meine nächste Release Party hier im Cassidy’s abhalten darf.«
Irritiert schaute Lilly zwischen den beiden Männern hin und her. »Was ist daran denn so schlecht?«
War das für den Pub nicht eine großartige Gelegenheit, um Gewinne zu machen? Ein Popstar wie Sean O’Sullivan feierte sein neues Album in diesem Irish Pub – dieser Cliff müsste danach lechzen, sollte ihm der Pub gehören.
Stattdessen stöhnte er und fuhr sich durch die dunklen Haare. Dabei fielen Lilly die kleinen Fältchen auf, die sich um seine Augen bildeten und ihm einen äußerst attraktiven Touch verliehen.
»Wir hatten das bei seinem letzten Album. Ich mag den Jungen, echt. Aber dieser Aufwand! Und dann brauchst du diese ganze Security wegen seiner Fans. Das macht einfach keinen Spaß.« Cliff verdrehte die Augen.
Lilly wurde hellhörig.
»Ihr solltet euch geehrt fühlen, wenn Sean sich das Cassidy’s aussucht. Er bringt eine ganze Menge Aufmerksamkeit, die dem Geschäft mit Sicherheit nicht schaden dürfte«, hielt sie Cliff entgegen.
Sean lachte zufrieden. »Das klingt schon eher nach meiner Agentin.«
Doch Lilly meinte es ernst. »Sicher, der Aufwand ist nicht gerade gering, aber du kannst mir nicht erzählen, dass es sich nicht lohnen würde.«
Fragend betrachtete sie Cliff.
Der hob die Hände und zeigte auf Sean. »Ja, aber dieser Kerl hat einfach zu viele Fans!«
Lilly lächelte, das erste Mal, seit sie hier war. »Nun, das ist richtig.«
Sean nickte grinsend und wandte sich wieder der Abwurflinie zu. Lilly musterte ihn in seinen grauen Chinos, dem dunkelblauen Hemd und den weißen Sneakern. Er hob den Arm und zielte auf die gleiche Stelle wie bei seinem zweiten Wurf. Er musste nicht nur genau vierzig Punkte erreichen, sondern auch erneut ein Doppelfeld treffen, um 501, so hieß das Spiel, das sie spielten, zu gewinnen.
Sein Oberkörper spannte sich an, und Lilly erkannte die feinen Muskeln, die sich unter seinem Hemd abzeichneten. Seine Unterarme überzog eine leichte Bräune, und trotz des wenigen Lichts im Pub bemerkte Lilly die kleinen rötlichen Funken in seinem Haar. Lilly ließ ihren Blick über seinen Rücken, die schmalen Hüften und langen Beine gleiten. Sie würde lügen, würde sie behaupten, Sean wäre nicht attraktiv. Kein Wunder, dass er es an die Spitze geschafft hatte. Neben seiner einzigartigen Stimme besaß er ein fantastisches Aussehen. Etwas, das noch keinem Sänger geschadet hatte.
Sean rückte seine filigrane Brille zurecht und wollte gerade seinen Siegespfeil werfen, als Lilly sich räusperte und ihr unwillkürlich herausrutschte: »Für die nächste Release Party braucht es erst mal ein nächstes Album.«
Mitten in der Wurfbewegung versteifte Sean sich, was den Pfeil erheblich in seiner Richtung beeinflusste. Statt oben auf dem Doppelfeld der Zwanzig landete er weiter unten – genau in der Mitte der Dartscheibe. Was für den Laien wie ein Erfolg aussah, bedeutete für Sean in dieser Runde eine bittere Niederlage. Fünfzig Punkte. Damit hatte er überworfen und einen sogenannten No Score erzielt. Die Konsequenz: Er erhielt gar keine Punkte.
Die Männer buhten, und Cliff grinste zufrieden. Sean hingegen drehte sich mit wütendem Gesicht zu Lilly um und kam schnellen Schrittes auf sie zu, während Cliff ihr zuzwinkerte und meinte: »Gut zu wissen, dich auf unserer Seite zu haben.«
»Oh, so war das nicht ge–«, setzte Lilly an, doch Seans entrüstetes Gesicht brachte sie unerwartet zum Schweigen.
»Scheint, als müssten wir nochmal besprechen, was du unter ›anfeuern‹ verstehst«, presste er hervor und lief an Lilly vorbei. Grollend zog Irlands Liebling von dannen und verschwand unter den Gästen des Cassidy’s. Irritiert und mit einem großen Fragezeichen im Gesicht wandte Lilly sich Cliff zu.
»Was war das denn?«
Cliff schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Er hat verloren. Das ist er nicht gewöhnt.«
»Aber …« Lillys Augen wurden groß. »Das ist doch kindisch!«
Cliff nickte. »Ja, aber keine Sorge. In ein paar Minuten strahlt er wieder über das ganze Gesicht und fordert eine Revanche.«
Nun war Lilly es, die stöhnte und die Augen verdrehte. Was hatte sie sich da nur für einen Klienten geangelt?
Die Jungs beendeten ihre Partie in wenigen Minuten, und Cliff erschien wieder an Lillys Seite.
»Also, was willst du trinken?«
»Wie bitte?«
Er lachte. »Lebenslang Getränke aufs Haus. Ich halte meine Versprechen.«
Lilly erinnerte sich und unterdrückte ein Grinsen. »Ich fürchte, das wäre Sean gegenüber äußerst illoyal.«
Cliff zog seine Stirn in Falten, doch schnell legte sich ein Lachen auf seine Lippen. »Ach was, der Junge muss erwachsen werden. Fangen wir für ihn damit an.« Er musterte Lilly. »Du siehst außerdem nicht so aus, als würdest du dir von anderen sagen lassen, wie es zu laufen hat.«
Lilly freute sich über das Kompliment. Ja – sie sah es definitiv als Kompliment an. Sie lächelte und nickte. »Wohl wahr.« Dann drehte sie den Kopf Richtung Bar und überlegte einen Moment. »Also schön. Ein Byrnes Cider wäre super.«
Cliffs Gesichtszüge entgleisten ihm für einen Moment. Dann brach er in lautes Gelächter aus, legte den Arm um Lillys Schultern und führte sie zur Theke, während er verlauten ließ: »Byrnes? Kein O’Sullivan?«
Lilly wusste wohl, dass Seans Familie zu den einflussreichsten Cider-Brauereidynastien des Landes zählte, aber nur weil er ihr Klient war, würde sie ihrem Lieblings-Cider nicht abtrünnig werden.
»Ich vertrete Sean als Musiker, nicht als Sohn einer Brauerei. Ich nehme Byrnes.« Sie grinste.
Cliff lachte herzlich. »Das wird herrlich. Einfach nur herrlich!«
Sean beobachtete, wie Cliff seine neue Agentin zur Bar geleitete und ihr eine Flasche Cider servierte. Wenn er es richtig sah, dann gab sein Freund ihr einen verdammten Byrnes aus! Byrnes! Wie konnte Lilly die Agentin von Sean O’Sullivan sein, dem Sohn einer der größten irischen Brauereifamilien, und Byrnes Cider trinken? Die direkte Konkurrenz!
Mit Absicht überging er den Fakt, dass die beiden Brauereien freundschaftlich miteinander verbunden waren. Schließlich war Clare, Seans ältere Schwester, mit James Arthur Byrne, dem Besitzer von Byrnes Cider, verheiratet – und zwar überaus glücklich und mit zwei süßen Kindern gesegnet. Seans Nichte Kelly und seinem Neffen Ronan.
Sean nahm einen Schluck seines eigenen Ciders, natürlich O’Sullivans, und ärgerte sich. Nicht über Lillys Cider-Wahl. Nein, über sich selbst. Lillys Bemerkung hatte ihn überraschend aus dem Konzept gebracht. Es war ihm gleich, ob er das Dartspiel gewann oder nicht. So oder so würde die nächste Release Party wieder im Cassidy’s stattfinden. Das war längst gesetzt. Dafür waren Cliff und Sean zu eng miteinander verbunden. Von Beginn an hatte der beste Freund von Seans Schwester ihn bei seiner Musikkarriere unterstützt. Seinen ersten Auftritt in Dublin hatte Sean im Cassidy’s gehabt. Damals war er blutiger Anfänger gewesen und hatte sich glücklich schätzen können über Cliffs Einladung. Seitdem waren einige Jahre vergangen, doch Sean würde es seinem Freund nie vergessen, wie sehr er ihn gepusht hatte.
Es war Tradition, die Release Party in diesem Pub abzuhalten. Daran änderten auch die Frotzeleien von Cliff nichts. Die beiden Männer verband eine tiefe Freundschaft. Um nichts in der Welt würde Cliff ihm verwehren, die Party im Cassidy’s steigen zu lassen. Den damit verbundenen Aufwand nahm er gerne in Kauf. Das wusste Sean.
Insofern war es ziemlich egal, dass er den letzten Pfeil beim Dart ins Bull’s Eye gepfeffert hatte. Sprudelnde Magensäure stieg in Seans Speiseröhre auf und verätzte ihm die Innereien. Mühsam schluckte er.
Für die nächste Release Party braucht es erst mal ein nächstes Album.