Moment mal! - Marion  Brasch - E-Book

Moment mal! E-Book

Marion Brasch

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Beschreibung

Früher ging heute nicht so schnell vorbei: Was macht die Zeit denn so? Das Phänomen Zeit hat die Menschen immer schon fasziniert. Sie bestimmt unser Leben, mal hat man zu viel Zeit, mal zu wenig, häufig läuft sie uns davon, und wir wissen nicht, wo sie schon wieder geblieben ist. Es gibt unvergessliche Sekunden, die eine Ewigkeit währen, und ganze Jahre, die schnell vorbei und vollständig vergessen sind. Und das alles, obwohl die Zeit – da sind sich Physiker und Philosophen einig – eigentlich gar nicht existiert, sie ist nur dazu da, um die Ereignisse unseres Lebens zu sortieren. Diese rätselhafte Zeit wird in «Moment mal!» von prominenten Autoren beleuchtet wie u. a. Jörg Thadeusz, Horst Evers, Thea Dorn, Harald Martenstein, Wladimir Kaminer, Marion Brasch, Adriana Altaras oder Dietmar Wischmeyer. So vielfältig, abwechslungsreich und unterschiedlich wie die Zeit selbst sind die Blickwinkel, die sie wählen. Von heiter bis hintergründig, aber immer unterhaltsam schreiben sie über den Moment, der alles ändert, über die berüchtigte «Quality Time», über heilsame Langeweile und darüber, wie man Zeit totschlägt, wenn es sein muss. Was wäre, wenn ich mal richtig Zeit hätte, fragen sie, und denken darüber nach, ob man mit 50 länger als eine halbe Stunde am Tag 20 sein kann.

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Seitenzahl: 298

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Marion Brasch • Horst Evers • Robert Skuppin u.a.

radioeins (Hg.)

Moment mal!

Was die Zeit mit uns macht

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Früher ging heute nicht so schnell vorbei: Was macht die Zeit denn so?

 

Das Phänomen Zeit hat die Menschen immer schon fasziniert. Sie bestimmt unser Leben, mal hat man zu viel Zeit, mal zu wenig, häufig läuft sie uns davon, und wir wissen nicht, wo sie schon wieder geblieben ist. Es gibt unvergessliche Sekunden, die eine Ewigkeit währen, und ganze Jahre, die schnell vorbei und vollständig vergessen sind. Und das alles, obwohl die Zeit – da sind sich Physiker und Philosophen einig – eigentlich gar nicht existiert, sie ist nur dazu da, um die Ereignisse unseres Lebens zu sortieren.

Diese rätselhafte Zeit wird in «Moment mal!» von prominenten Autoren beleuchtet wie u.a. Jörg Thadeusz, Horst Evers, Thea Dorn, Harald Martenstein, Wladimir Kaminer, Marion Brasch, Adriana Altaras oder Dietmar Wischmeyer. So vielfältig, abwechslungsreich und unterschiedlich wie die Zeit selbst sind die Blickwinkel, die sie wählen. Von heiter bis hintergründig, aber immer unterhaltsam schreiben sie über den Moment, der alles ändert, über die berüchtigte «Quality Time», über heilsame Langeweile und darüber, wie man Zeit totschlägt, wenn es sein muss. Was wäre, wenn ich mal richtig Zeit hätte, fragen sie, und denken darüber nach, ob man mit 50 länger als eine halbe Stunde am Tag 20 sein kann.

Über Marion Brasch • Horst Evers • Robert Skuppin u.a.

radioeins vom rbb feiert 2017 seinen 20. Geburtstag – und ist auch als Twen der aufregendste Sender in der Hauptstadt und weit darüber hinaus. Dieses Jubiläum ist Grund genug, die besten Autoren von radioeins in einem Band zu versammeln, der den Themenschwerpunkt «Vergänglichkeit» begleitet. Hier denken sie über die Zeit in all ihren Facetten nach – so kurzweilig war es selten, sich mit ihr zu beschäftigen.

Einleitung

Jeder weiß, was die Zeit ist. Eigentlich. Jedenfalls dann, wenn er nicht erklären muss, was es mit ihr auf sich hat. Denn nur weil man eine Uhr lesen kann, weiß man noch lange nicht, was es wirklich bedeutet, wenn der Zeiger vorrückt. Leider hat die Wissenschaft zum Thema Zeit nur Paradoxes beizutragen. Denn zum einen behaupten Physiker: Doch, es gibt die Zeit – die ganze Relativitätstheorie handelt davon. Gleichzeitig bezweifelt die Wissenschaft aber, dass die Zeit fließt, und sieht sie eher als ein rätselhaftes Bewusstseinsphänomen, das sich physikalischen Beschreibungen entzieht. Es könnte also sein, dass das Vergehen der Zeit, so wie wir sie wahrnehmen, überhaupt nur in unserer Wahrnehmung stattfindet. Das birgt die ein oder andere Gefahr, die ein oder andere Unwägbarkeit, die sich politisch instrumentalisieren ließe. Was sind schon die vieldiskutierten Fake-News verglichen mit Fake-Time? Wird es bald eine populistische politische Bewegung geben, die den Kalender, die Uhrzeit und die Arbeitszeit als globalisierte Verschwörung bezeichnet? Warum sollten wir für andere fast vierzig Stunden in der Woche arbeiten, wenn es den Verlauf von Stunden nur in der eigenen Wahrnehmung gibt? Selbst das Älterwerden ist vielleicht nur eine Verschwörung der Jüngeren, denn mit abgelaufener Zeit hat es wissenschaftlich betrachtet rein gar nichts zu tun. Wieso also tun wir uns so schwer mit der Vergänglichkeit und deren Vermessung in Jahren, Monaten, Wochen, Stunden, Minuten und Sekunden? Wahrscheinlich nur, weil jedem irgendwann die Stunde schlägt. Was macht die Zeit bis dahin mit uns, und was machen wir mit der Zeit?

Bis vor wenigen Jahren hörte man überall Klagen darüber, dass alles immer hektischer wird. Die Digitalisierung hat alle Lebensbereiche beschleunigt. Inzwischen haben offenbar die meisten Zeitgenossen diesen Befund akzeptiert. Nun geht es darum, über die Zeit zu triumphieren und mit cleveren Mitteln dem Diktat des Terminkalenders zu entrinnen. Meister der Zeit ist derjenige, der beim Joggen Podcasts hört und die lange Sommerpause auf wenige Tage Qualitätsurlaub im tropischen Fünf-Sterne-Resort eindampfen kann. Oder aber dem digitalen Suchtverhalten mit terminiertem Offlinefasten begegnet, um sich persönlich eine Atempause zu genehmigen.

Vielleicht aber sind die wahren Bezwinger der Zeit die Menschen, die noch wissen, was es heißt, Langeweile und Wartezeiten auszuhalten, und die es schaffen, sogar unproduktive Zeiten als Mußestunden zu genießen. Das müssen sie auch, als Teil einer kreativ, aber auch prekär lebenden Bildungselite mit unsicheren Zukunftsaussichten und flexiblen Arbeitszeiten, die mit Familien- und Freizeiten verschwimmen. Während früher auf den Feldern die Kirchturmuhr den Takt vorgab, fühlen wir uns heute selbst verantwortlich dafür, was wir aus unserer Lebenszeit machen. Projekte zur Selbstoptimierung bestimmen unser Leben. Wenn das Feintuning durch Fettabbau, Faszientraining und Fengshui gegen das Gerümpel im Alltag erfolgt ist, nehmen wir kühn unser Umfeld ins Visier. Crowdfunding fürs Klima, Benefizkonzert für Flüchtlinge, Onlinepetition gegen Trump. Jede Krise lässt sich lösen, mit dem richtigen Personal, ausreichend Ressourcen und ausgefeiltem Prozessmanagement. Beziehungen sind mehr oder weniger abgeschlossene Projekte mit Renditeerwartung. Scheinbar haben wir alles im Griff, bis die Erkenntnis einsetzt, dass all das ein Ende hat. Und wie bezwingt man das Grauen vor der Vergänglichkeit? Wie schlägt man dem «schwarzen Mann», wie der Tod in einem Text dieser Anthologie bezeichnet wird, ein Schnippchen?

Indem man sich und das eigene Leben nicht ganz so ernst nimmt und zugleich nicht davor zurückschreckt, sich selbst zu hinterfragen. Indem man schneller trödelt, Lebkuchen auf Halde kauft und mit fünfzig noch Vater wird. Indem man einen Text über die Zeit gar nicht erst schreibt, den 123. Geburtstag plant und sich eingesteht, dass es nicht schlimm ist, wenn man die neunziger Jahre verpasst hat.

Dieses Buch ist zum zwanzigsten Geburtstag von radioeins entstanden, den Kollegen, Mitarbeiter und Freunde des Senders zum Anlass genommen haben, Texte zur Zeit und zur Vergänglichkeit zu schreiben. Manchmal lohnt es sich, Zeit mit einem schönen Projekt zu verbringen, denn jetzt ist aus unserer Geburtstagsidee wirklich ein Buch geworden. Nehmen Sie sich die Zeit zum Lesen.

 

Dorothee Hackenberg und Robert Skuppin

1. Für Eile fehlt mir die Zeit – Leben in der Rushhour

«Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei.» (George Orwell)

Martin «Gotti» Gottschild

Nur noch schnell trödeln

«Entschuldige die Verspätung, dieser starke Gegenwind auf der Oberbaumbrücke, darüber wird in der Lügenpresse ja nie berichtet.» «Entschuldige die Verspätung, es hat diesmal ein wenig länger gedauert, die Drohne abzuhängen.» «Entschuldige die Verspätung, ich musste noch zum Tierarzt, unser Wasser ist so hart, da hat sich der Goldfisch beim Schwimmen die Flossen gebrochen.»

Ich weiß nicht genau, wann sie angefangen hat, meine zuverlässige Unpünktlichkeit. Vermutlich in dem Moment, als mich meine Eltern nicht mehr angezogen, ins Auto verfrachtet und vor der Zieltür ausgesetzt haben.

Mittlerweile bin ich immerhin schon so weit, auf die Minute genau exakt eine Stunde zu spät zu kommen. Das ringt dem Wartenden eine Melange aus unbeschreiblicher Wut und Bewunderung ab.

Ein optimaler Ausgangspunkt für ein angeregtes Gespräch.

«Ich lass mir doch von dir nicht meine Zeit stehlen!» Das kriege ich immer wieder zu hören. Lächerlich. Ich stehle niemandem die Zeit. Wenn, dann schenke ich Leuten Zeit. Zeit für die eigenen Gedanken. Einen unverhofften Ruheraum zwischen all den Terminen, eine Oase der Selbsterkenntnis.

Es ist ja auch nicht so, dass mir das Zuspätkommen Spaß macht. Und ich gehe ja auch jedes Mal pünktlich los. Zumindest nehme ich mir das fest vor. Aber dann ist da auf einmal die Wäsche fertig und will aufgehängt werden, um nicht zu muffeln. Oder die Katze guckt so niedlich. Oder ich entdecke einen interessanten Krümel auf der Kommode. Oder ich beschließe spontan, mein Russisch aufzufrischen. Oder ich habe mich schlichtweg auf Toilette festgeschissen. Das ist doch jedem schon mal passiert. Da will man nur schnell ein paar Abfangjäger in die Schüssel schicken, und dann folgt da auf einmal gleich das ganze Mutterschiff. Zugegeben, das ist jetzt vielleicht kein Thema für die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin, dennoch ist es ein Thema, das viele Menschen bewegt. Wenn auch nur in Richtung Toilette. Ich meine, warum sonst sieht man denn selbst die schlankesten Damen mit wackelndem Dutt und ’ner Zwölferpackung Klopapier nach Hause spurten, als wäre gerade Fliegeralarm.

Das anschließende Duschen bricht mir allerdings jedes Mal zeitlich das Genick. Ich bade ja nicht mehr, um Wasser zu sparen. Auf meine Schaumkrone, die Schaumaugenbrauen und den Schaumvollbart möchte ich aber dennoch nicht verzichten. Das separate Aufschäumen im Waschbecken dauert ewig. Und dann soll es natürlich auch ordentlich sitzen. Ich will ja nicht unter der Dusche stehen wie ein Hampelmann.

Wenn dann die ersten warmen Strahlen aus dem billardtischgroßen Regenwaldduschkopf meine Haut berühren, stöhne ich immer kurz auf, um gleich darauf zu weinen, weil ich daran denken muss, dass ich im Leben von mehr Wasser gestreichelt wurde als von Menschen. Und dann stehe ich da, starre ins Leere und denke unwillkürlich an alle möglichen Leute.

Zum Beispiel an Michael Dudikoff. Hat er eigentlich jemals einen guten Film gemacht? Was er wohl in diesem Moment grade tut? Vielleicht dehnt er sich, oder er wirft mit Zimtsternen nach seinem japanischen Gärtner.

Ich denke auch oft an meinen Kumpel Rocco, der als Matrose auf hoher See nach erfolgreicher Selbstbefriedigung sein Ejakulat direkt aus der Faust geschlürft hat, um nicht nochmal extra zum Saubermachen an allen schlafenden Kameraden vorbei durch die Mannschaftskabine zu müssen. Schrrrl. Schrrrl ist seitdem ein Geräusch, das in unserem Freundeskreis für Angst und Schrecken sorgt. Selbst beim sonntäglichen Suppelöffeln im Kreis der Familie stellt sich ein ungutes Gefühl ein. Schrrrl, schrrrl.

Ich versuche das Geräusch unter der Dusche nachzumachen. Schrrrl, schrrrll. Klappt auf Anhieb. Jetzt muss ich es allerdings fünf Mal wiederholen. Sonst wird es ein ganz schlechter Tag. «Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl.» Mist! Das eine Mal war genuschelt, noch mal von vorn. Wenn es beim ersten Mal nicht geklappt hat, muss ich das Ganze dreimal hintereinander machen, sonst stirbt der nächste Mensch, der mir in die Augen schaut, innerhalb einer Woche durch einen Hamsterbiss.

«Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl.» «Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl.» «Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl. Schrrrl, schrrrl.» Damit der Fluch nicht auf mich selber überspringt, ist es mir jetzt nur noch erlaubt, die Dusche im Hockstrecksprung zu verlassen und mich auf die gleiche Weise zum Kleiderschrank zu bewegen. Ziel ist es nun, mit jeweils nur einem Hüpfer in Schlüpfer und Hose zu landen, wenn das nicht gelingt, muss ich noch mal von vorne anfangen. Zu duschen.

Was das Verlassen des Hauses aber besonders erschwert, ist, dass ich seit meiner Kindheit unter der höllischen Angst leide, den Gasherd nicht angemacht zu haben. Kaum ist die Wohnungstür ins Schloss gefallen, überkommt mich so ein ungutes Gefühl. Hatte ich vorhin wirklich richtig nachgeschaut, oder war ich mit den Gedanken schon ganz woanders? Also Tür noch mal auf, rein in die Küche, Gott sei Dank, der Herd ist an, also Tür wieder zu.

Moment mal, als ich eben in der Küche war, um nach dem Herd zu schauen, da habe ich die Wohnungstür aufgelassen. Theoretisch hätte also ein Dieb hinter mir vorbei ins Schlafzimmer schleichen und sich da unter dem Bett verstecken können. Also Tür noch mal auf und mit dem Besenstiel wie wild unterm Bett rumstochern. Etwas Weiches … aha! Wusst ich’s doch!

Oh, ganz vergessen, die arme Katze. Wie niedlich die guckt. Nanü, was ist denn das hier für ein Krümel auf der Kommode?

«Eta Kroshka!»

Entschuldige bitte die Verspätung, ich musste nur noch schnell trödeln.

Schrrrl. Schrrrl.

Adriana Altaras

Tempo, Tempo

Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.

(Woody Allen)

Das Komplizierteste an Zeit ist, dass sie alles andere als allgemeingültig ist.

Natürlich werden jetzt einige Schlaumeier behaupten, es gäbe Uhren, die die genaue Zeit angeben würden. Es bräuchte dazu gar keine teure Rolex, sogar einfachere Modelle könnten das schon. Außerdem gäbe es zur Orientierung «GMT», also die «Greenwich Mean Time», nach der wir uns alle richten müssten. Aber da geht es ja schon los: Die einen in Europa stellen die Uhren immer mal wieder vor oder nach, je nach Wetterlage. Aber in Island oder Grönland mögen sie das nicht, sie machen beim Zeitumstellen nicht mit, obwohl gerade bei ihnen erst sechs Monate lang kaum Licht durchkommt und dafür dann sechs Monate lang die Sonne nicht untergeht. Wie bitte soll man da wissen, wann es zum Beispiel Zeit ist fürs Schlafen?

Also, worauf ich hinauswill: Zeit ist so was von relativ, wie kaum etwas Anderes. Es gibt nicht nur eine, es gibt viele Zeiten. Das ist keine ganz frische Erkenntnis. Eine Stunde beim Zahnarzt oder eine Stunde in der Gourmetabteilung des KaDeWe haben sehr unterschiedliche Längen.

Und selbst die Ewigkeit, wie Woody Allen richtig bemerkt hat, ist nicht immer gleich lang. Ich habe mit einem Gefangenen gesprochen, der zu lebenslanger Haft verurteilt war und resümierte, die Zeit sei wie im Flug vergangen. Nun, das möchte ich nicht unbedingt überprüfen.

 

Was mich allerdings seit Jahren mürbe macht, ist, dass so ziemlich alle anderen um mich herum zu langsam sind. Und mit alle meine ich wirklich: ALLE.

Sie denken und sprechen im Schneckentempo. Wo bitte soll das hinführen? Meine Lebenszeit ist begrenzt, ihre etwa nicht?

Ich weiß nicht, warum der Mensch so lange braucht, um einen Satz zu formulieren. Ich zumindest weiß schon beim ersten Wort, wie er enden wird. Wenn ich eingreifen will, um den Sprechvorgang meines Gegenübers etwas zu beschleunigen, wird mir immer vorgeworfen: «Hetz mich nicht, lass mich doch mal ausreden.» Wozu? Es ist doch schon längst alles klar! Aber nein, es wird eine einzelne These bis zur Unkenntlichkeit wiederholt und überstrapaziert, ich zähle bis tausend, aber noch immer kein Ende in Sicht. Das ist furchtbar und enorm schmerzhaft, jedenfalls für mich.

Beim Denken ist es eigentlich noch grausamer: Stille im ganzen Raum, hier wird gedacht. Hm. Geht gründliches Nachdenken nur langsam und in Ruhe? Was ist mit dem Geistesblitz? Es gibt Länder, da reden und denken alle gleichzeitig, das können die Menschen dort. Sofort heißt es hierzulande, sie würden nicht zuhören. Schon mal was von Multitasking gehört?

Manchmal wirft man mir auch vor, «du bist zu früh für deine Zeit».

Besser als zu spät – möchte ich erwidern. Aber ehrlich gesagt, es ist zum Weinen, und das folgende Thema gar nicht lustig:

Wenn man nämlich zu früh fragt, wo die Touristen essen werden, wenn sie das «Mahnmal für die ermordeten Juden» besuchen, dann geht ein Aufschrei durch die Öffentlichkeit und man bekommt wie aus einem Munde die Antwort: «Essen? Bei einem Mahnmal für die ermordeten Juden?» Sofort ist man der Spielverderber, hat in der heiligen, pathetischen Stimmung etwas sehr Unpassendes gesagt. Jetzt steht bei dem Mahnmal eine 1A funktionierende Fressmeile, und alle schlagen sich den Magen voll, während sie an die Shoah denken. Sag ich doch …

Oder wenn ich dezent nachfrage, wie denn die «unverzichtbare Gedenk- oder Erinnerungskultur» fortgeführt werden soll, wenn alle Holocaustüberlebenden tot sind?

«Das hat noch Zeit! Schauen wir mal!» Na gut, jetzt ist es so weit; fast alle Überlebenden sind tot, und wieder ist der Aufschrei groß: «Was wird nun mit unserer Pflicht des Gedenkens, mit unserer Erinnerung? Jetzt, wo alle tot sind, wer soll denn da am 9.November noch ordentlich mahnen?» «Vergessen wäre eine Alternative», denke ich ironisch, schweige aber tapfer, denn die Rolle des Rechthabers, wie die des Spielverderbers, ist undankbar.

 

Ich weiß wirklich nicht, wie ich alle auf Tempo bringen könnte. Selbstverständlich habe ich bereits versucht, langsamer zu werden. Habe mich autosuggestiv beeinflusst, tagelang «Eile mit Weile» als Mantra vor mich hin gesprochen. Habe meditiert. Als ich den Meditationslehrer von 20 auf 17 Minuten heruntergehandelt hatte, war uns beiden klar, es hat keinen Sinn.

Mit der Musik ist es am absurdesten, bei Wagner zum Beispiel. Er verlangt von seinen Zuhörern Überstunden. Er kann sich nicht kurzfassen, seine Werke gehen über viele lange, lange Stunden. Da muss man schon sehr viel Anbetung an den Meister mitbringen, um das auszuhalten. Immer wieder stellt sich ein Sänger ins Portal und schmettert endlose Soli gegen das Orchester. Ich vermute, dass sich auch der glühendste Jünger zwischendurch ein Schläfchen gönnt.

Für mich ist das nichts. Da lob ich mir Rossini, den schnellsten unter den Komponisten. Bei ihm singen viele gleichzeitig, übereinander, gegeneinander, wie bei uns zu Hause, das ist lebensnah und dabei auch noch enorm zeitsparend.

Ich würde nach Andechs pilgern und in Lourdes Kerzen anzünden, wenn ich endlich die Fast-Forward-Taste finden könnte für die Paketausgabe der Post, meine Reinigung, meinen Mann. Wenn alles um mich herum in Bewegung wäre, Gespräche, Gedanken, Gleichzeitigkeit, ein einziger Wirbel – dann käme ich endlich zur Ruhe und könnte mich um die Ewigkeit kümmern.

Harald Martenstein

Wir, die Gehetzten

Es ist Zeitverschwendung, etwas Mittelmäßiges zu machen.

(Madonna)

Als ich den Satz von Madonna las, war mein erster Gedanke: Blödsinn. Wäre es wirklich schön, wenn unser Leben nur aus Höhepunkten bestünde, aus herausragenden Meisterwerken, die wir schaffen, aus wunderbaren Menschen und berückend schönen Augenblicken? Wir würden die Höhepunkte gar nicht mehr genießen können, weil wir uns zu sehr daran gewöhnt haben. Fast alles wird normal und ein bisschen langweilig, wenn es zum Alltag gehört. Und wer nie etwas Mittelmäßiges macht, immer nur Großartiges, der erlebt nicht das Glück, sich zu steigern, über die eigenen Möglichkeiten hinauszuwachsen.

Fast alle, die ich kenne, singen das Loblied der Muße. Nichts tun, wunderbar. Oder etwas tun, für das man sich viel zu selten Zeit nimmt. Einfach nur ein paar Wochen entspannt herumzuhängen und zu lesen – das ist eine meine Lieblingsphantasien. Radtouren, Wanderungen, Museumsbesuche, Kochen, das sind Tätigkeiten, die ich liebe, aber ich tue das wirklich nur selten. Warum eigentlich? Wer hindert mich?

Es gibt angeblich ein paar objektive Gründe, bei uns allen. Man muss Geld verdienen. Man möchte vielleicht mehr Geld haben als nur das nötigste, dazu muss man sich reinhängen, und vielleicht will man auch nicht ganz unten stehen in der Berufshierarchie. Vielleicht hat man Kinder, die Zeit mit Kindern ist oft schön, manchmal kann sie auch anstrengend sein. Andere müssen dringend die Wohnung renovieren. Es gibt immer einen Grund, es gibt immer was zu tun.

Ich glaube, das sind Ausflüchte. Wir belügen uns selbst. Nichts hindert uns. Niemand zwingt uns zum Beispiel zur Karriere. Die Kinder können wir, mit etwas Mühe, gewiss, ins Berufsleben integrieren – wir könnten sie erst recht, wenn wir wollten, in ein entspannteres Leben mit Muße und schönem Zeitvertreib integrieren. In Wahrheit haben wir eine Entscheidung getroffen. Wir haben genau das Leben gewählt, das wir führen. Wir, die Gehetzten, die Leute, die nie oder selten das tun, was sie immer mal tun wollten, schielen manchmal sehnsuchtsvoll auf die andere Seite, wir jammern hin und wieder, aber wenn wir ehrlich zu uns sind, müssen wir zugeben: dies ist unser Leben, wir führen es, weil wir es so wollen. Warum? Dafür gibt es sicher mehrere Gründe. Ich nenne den, der mir der wichtigste zu sein scheint.

Die Dinge, die wir tun würden, wenn wir endlich mal Zeit hätten, bringen uns in der Regel keine Anerkennung. Sie befriedigen nicht unseren Ehrgeiz. Diese nutzlosen, schönen Sachen, das Wandern, das Segeln, was auch immer, steigern nicht unser Selbstwertgefühl, nur unser Wohlbefinden.

Im Idealfall tut man beruflich etwas, was man gerne tut. Insofern kann der Beruf durchaus etwas mit Wohlbefinden zu tun haben. Es ist eine Frage der Dosis. Ich bin von Beruf Autor. Schreibe ich gern? Ja. Habe ich das Gefühl, zu viel zu machen? Ja. Warum tue ich es dann? Nicht in erster Linie wegen des Geldes. Es ist irgendein Kick, den ich brauche und der mich immer wieder an den Schreibtisch treibt – ich will beweisen, dass ich es kann. Ich will Anerkennung.

Der Ehrgeiz frisst die Zeit auf, könnte man meinen. Dabei ist Ehrgeiz nicht schlecht. Eine Gesellschaft, in der es keinen Ehrgeiz gibt, wäre sehr wahrscheinlich ärmer und weniger komfortabel als unsere. Die großen Erfindungen, die Entdeckungen, die großen Kunstwerke, die großen Unternehmen, immer spielte dabei Ehrgeiz eine Rolle. Natürlich ist auch beim Ehrgeiz Übertreibung schlecht. Die Nachtseite des Ehrgeizes lässt den Spitzensportler zum Doping greifen oder den Bankmanager zum Betrug, indem er Bilanzen frisiert – gar nicht mal, um sich zu bereichern, nur, um gut dazustehen. Ehrgeizig sind Männer wie Donald Trump oder Wladimir Putin, aber ehrgeizig waren sicher auch Albert Einstein, Marlene Dietrich oder Nelson Mandela.

Ich kenne Menschen, die weniger Ehrgeiz besitzen als ich, und manchmal beneide ich sie. Sie haben Zeit, sie fahren viel öfter in Urlaub als ich, obwohl ich mehr Geld habe als sie. Sie tun Dinge, die ich auch gern tun würde. Wenn ein verlockender Auftrag kommt, überlegen sie, ob sie dafür ihr gewohntes Leben für einige Monate ändern müssten, wenn dies der Fall ist und sich eine Absage finanziell verkraften lässt, dann sagen sie ab.

Ich muss zugeben, dass es eine Art Sucht ist. In mir ist eine Stimme, die mich antreibt, die mich zu einem relativ erfolgreichen Autor gemacht hat und die ich manchmal hasse. Einerseits hat es mit Angst zu tun. Wenn der Erfolg eines Tages vorbei ist, und dieser Tag wird kommen, er kommt bei fast jedem – was dann? Die Angst ist irrational, ich kann nicht ins Bodenlose stürzen. Egal, was passiert, für die Grundbedürfnisse und ein bisschen mehr wird immer gesorgt sein.

Was treibt einen an? In einem Interview des Magazins der «Süddeutschen» wurde dem Sänger Peter Maffay diese Frage einmal gestellt. Maffay ist vermutlich Multimillionär, seit 45 Jahren produziere er Alben «wie ein Akkordarbeiter», sagte der Interviewer. Er gibt unermüdlich Konzerte, leitet Stiftungen und steht jeden Morgen um acht in seiner Firma, vierzig Angestellte. Er hätte das nicht nötig. Und es bringt auch karrieremäßig nicht mehr viel. Der Höhepunkt seiner Star-Karriere liegt mit ziemlicher Sicherheit hinter ihm. Seine alten Fans werden ihm immer die Treue halten, viele neue werden wohl nicht dazukommen. Maffay erzählte von seiner Kindheit in Rumänien, dem schwierigen Anfang in Deutschland, der Armut, dem Spott, weil er einen seltsamen Akzent hatte und klein war, dem Willen seiner Eltern, dass der Sohn es besser haben soll.

Der Interviewer zitierte den verstorbenen Schriftsteller Walter Kempowski: «Mit fünf Jahren half ich meiner Mutter beim Heissmangeln. Nachdem ich zum dritten Mal losgelassen hatte, schimpfte sie: Deinem Bruder Robert ist das nie passiert. That makes me tick.»

What makes Madonna tick? Ich kann nur darüber spekulieren. Sie ist eines von sechs Kindern, ihr Vater war Automechaniker, ihre Mutter starb, als sie fünf war. Der Vater heiratete die Haushälterin und zeugte mit ihr zwei weitere Kinder. Bei ihrer Firmung, mit neun Jahren, nahm Madonna den Vornamen ihrer Mutter an, Veronica.

Die meisten, die nicht loslassen können, die nie oder selten tun, was sie eigentlich gern tun würden, wollen eine Urkränkung überwinden, einen Verlust, ein Defizit; sie wollen etwas beweisen, ihren Wert, und dieser Hunger nach Wertschätzung sitzt so tief in ihnen, dass er niemals gestillt wird. Ist das Küchenpsychologie? Vielleicht.

Meine Generation ist die Generation, die bald in Rente geht. Jetzt kann man noch ein letztes Mal im Leben Weichen stellen. Endlich können wir tun, was wir immer mal tun wollten, noch reicht die Kraft. Viele von uns werden einfach weitermachen wie bisher. Die meisten haben nicht mehr viel zu gewinnen, vielleicht können sie ihren Status quo eine Weile verteidigen. Ein Autor könnte immerhin noch sein bestes Buch schreiben, vielen gelingt das erst in den späten Jahren. Wäre es nicht sinnvoller, Rad zu fahren, zu wandern, zu lesen? Aber man bleibt, wer man war, die innere Stimme gibt keine Ruhe. Die Zeit, die so knapp geworden ist, ignoriert man, bis eines Tages endlich Ruhe und keine Zeit mehr übrig ist. Es kommt einem wie Zeitverschwendung vor, einfach nur mit sich und dem Leben zufrieden zu sein.

Horst Evers

Da hammse aber hoffentlich ordentlich Zeit mitgebracht

«Au, das kann dauern», sagt die Sprechstundenhilfe beim Hautarzt, als ich ohne Termin vorbeikomme. Ich bin ja dankbar. Dieser Hautarzt ist fast der letzte, der überhaupt noch mal offene Sprechstunden anbietet, die nicht schon mit Terminen vollgestopft sind.

«Da hammse hoffentlich ordentlich Zeit mitgebracht.»

«Na ja, geht so. Wie lange wird es denn ungefähr dauern?»

«Kann man nicht sagen. Kann lange dauern. Kann sich aber auch richtig ziehen. Aber gut, das letzte Mal, dass uns ein Patient im Wartezimmer wegen Altersschwäche weggestorben ist, ist nun auch schon wieder eine Weile her.»

«Bitte?»

«Kleiner Scherz. Höhö. Bei dem, was hier los ist, muss man auch mal einen Spaß machen. So sind wir hier. Wir machen Scherze. Anders hält man das hier ja sonst gar nicht aus. Können Sie glauben. Was hier los ist. Und selbst unsere Scherze sind ja nur mit Humor zu ertragen.»

«Hm, glaub ich wohl. Wo ist denn das Wartezimmer?»

«Na, gleich hier vorne. Der große erste Raum.»

«Der hier? Finden da nicht gerade Untersuchungen statt?»

«Nee, das sind nur andere wartende Patienten, die sich aus Langeweile schon mal gegenseitig ihre Leberflecken und Hautprobleme zeigen. Hier ist familiär. Sind aber auch einige Angeber dabei. Glauben Sie mal bloß nicht jeden Hautausschlag, den Sie sehen. Andererseits können Sie unseren Stammgästen aber auch ruhig schon mal Ihr Ding zeigen. Da sind Leute bei, die kommen schon seit Jahren sehr, sehr regelmäßig, um sich hier gegenseitig ihre neuesten Hautsensationen zu zeigen. Einige von denen kennen sich mittlerweile richtig gut aus. Die kommen und gehen hier längst, wie sie wollen …»

Die Sprechstundenhilfe stutzt kurz.

«… also ich nehme zumindest an, dass die zwischendrin auch immer mal wieder nach Hause gehen … Doch, ich glaube schon. Also ganz genau kann ich das aber nicht sagen, weil einige der Patienten nun auch quasi schon so lange warten, dass wir denen mittlerweile ihren eigenen Schlüssel zum Wartezimmer gegeben haben.»

«Bitte?»

«Höhö, noch ein Scherz. Ich hab doch gesagt, wir machen hier Scherze. Na, in Sachen Humor sind Sie aber nicht so weit vorne dabei, was?»

«Ja, so was höre ich tatsächlich häufiger.»

«Ach, machen Sie sich keine Gedanken. Sollense sehen, nach ein paar Stunden hier lachen Sie sicher auch über unsere Scherze. Macht jeder. Schon aus Notwehr.»

Ich setze mich ins Wartezimmer. Mit Ausnahme der sich offenkundig heimisch fühlenden Gruppe, in der sie ihre Hautausschläge vergleichen, wirkt es eigentlich doch alles in allem normal. Was allerdings tatsächlich auf eine häufig längere Wartezeit hindeutet, ist neben den Zeitschriften der wirklich große Stapel an Speisekarten von Pizzabringediensten.

Wie lange müssen da Leute gewartet haben? Also wie hungrig muss einer sein, um sich hier, umgeben von riesigen Bildern an der Wand mit gewaltigen, sehr farbigen Hautausschlägen, Ekzemen und Melanomen, eine Pizza zu bestellen und sie zu essen? Ein paar von den Bringediensten haben Fotos von ihren Speisen in den Karten. Vergleiche sie mit den Bildern der Hautausschläge. Das hätte ich nicht tun sollen. Die Ähnlichkeit. Durchaus frappierend. Sogar erschütternd. Es wird lange dauern, bis ich das nächste Mal ohne doofe Bilder im Kopf eine Pizza essen kann. Lasagne womöglich nie wieder.

Ich habe einen Freund, der bestellt sich gerne mal warmes Essen, um damit quasi gegen zu lange Wartezeiten zu protestieren. Er hat sich schon in Behördenwarteräumen, Supermarktkassenschlangen oder vor Postschaltern Pizzas bestellt. Mehr noch, einmal war ich dabei, wie er sich in einem recht schicken Restaurant, während wir ewig auf das Essen warteten, zur Überbrückung Spaghetti Carbonara liefern ließ. Der Höhepunkt war aber, als er, der selbst auch Bühnenkünstler ist, sich während eines wirklich endlosen Solos eines Kollegen auf offener Bühne eine Pizza bestellte. Die beiden haben seitdem ein schwieriges Verhältnis.

Mit dem Lesen der Speisekarten vergeht die erste Stunde der Wartezeit wie im Flug. Dann überlege ich, was ich jetzt noch Sinnvolles machen könnte. Da das Handy nur drei Prozent Akku übrig hat, komme ich zu dem überraschenden Schluss: nichts. Spüre eine enorme Erleichterung und Freude. Hätte ich einen Termin, womöglich sogar einen online ausgemachten, müsste ich ja auch warten. Nur dass dabei das sonstige Leben natürlich ganz normal weiterlaufen würde. Ich würde tausend Sachen erledigen. Wie immer. Würde praktisch wahrscheinlich nicht mal bemerken, dass ich warte, und trotzdem das Gefühl haben, ich komme nicht voran. Würde denken: «Ich mache was falsch. Ganz sicher mache ich was falsch, denn wenn ich alles richtig machen würde, würde ich ja nicht denken, dass ich was falsch mache, das wäre ja dann nicht richtig.» Was man halt so denkt. Oder anderes unsinniges Zeug wie: «Ich verschlafe meinen freien Tag.» Wenn man verschläft, kann der Tag ja gar nicht wirklich frei gewesen sein. Kürzlich habe ich mich in den Ferien tatsächlich bei dem Gedanken ertappt: «Um Gottes willen, ich erhole mich nicht genug. Dieser Grad an Erholung reicht keinesfalls für die anstehenden Aufgaben. Ich muss mich mehr anstrengen, härter an meiner Erholung arbeiten.» Wer kennt das nicht?

Jetzt jedoch fühlt sich alles richtig an. Ich warte. Ausschließlich und aus gutem Grund. Mehr Quality-Freizeit geht praktisch gar nicht. Wenn demnächst alles perfekt funktioniert mit den vorher im Netz gebuchten Terminen allüberall und die ganze sinnlose Wartezeit wegfällt, wird mir wahrscheinlich was fehlen. Ich fürchte, gerade das Sinnlose am Warten habe ich eigentlich immer sehr gemocht. Denn erst durch das Sinnlose fangen wir doch überhaupt an, über den Sinn nachzudenken. Also ich zumindest. So wie jetzt.

 

Ein paar Tage später reißt mich die Frau vom Empfang aus meinen Gedanken und behauptet, ich sei jetzt dran. War dann auch so, wie ich kurze Zeit später im Behandlungszimmer feststelle.

«Was liegt an?», fragt der Hautarzt.

«Na, ich habe da so eine neue dunkle Stelle, in der Achselhöhle quasi.»

«Eine neue dunkle Stelle?»

«Ja, hier, das ist sie. Denken Sie, man sollte da was machen?»

Er schaut.

«Allerdings.»

Runzelt die Stirn, sagt:

«Waschen! Würde ich vorschlagen.»

«Sie meinen, das ist nur Dreck?»

«Nee, das ist schon ein neuer Leberfleck, aber harmlos. Was man über den Geruch unter Ihren Achseln nicht sagen kann.»

«Na ja, ich saß jetzt ’ne Weile im Wartezimmer.»

«Ich weiß, wir überlegen deshalb auch schon, demnächst möblierte Zimmer mit kleinem Bad in unserem Wartebereich anzubieten, Bed and Breakfast.»

«Echt?»

«Ja, Wartezimmertourismus. Das ist der nächste ganz große Markt.»

«Hm. Dann wäre auch ein Restaurant schön.»

«Nee, das mit den Pizzaservicen ist super. Das ernährt unsere Mitarbeiter.»

«Bitte?»

«Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Immer wenn was geliefert wird, worauf unsere Mitarbeiter große Lust haben, kommt der Patient praktisch genau in dem Moment dran. Er weiß dann nicht, wohin so plötzlich mit der Pizza, und schenkt sie in den meisten Fällen einfach unseren Sprechstundenhilfen. Davon ernähren die sich. Kleiner Tipp: Wenn Sie das nächste Mal hier ganz schnell drankommen wollen, bestellen Sie sich einfach beim guten Italiener nebenan Saltimbocca. Dann geht das ratzfatz!»

«Im Ernst?»

«Natürlich. Oder denken Sie etwa, wir machen hier Scherze?»

 

Wartezimmertourismus. Was für ein schönes, erholsames Ferienziel. Ich wäre dabei.

Jochen Distelmeyer

2016

21. Dezember

Heute letzte Besorgungen für Weihnachten. Kopfhörer für J. Noch Kleinigkeiten für C. und S. Am Alex bei Deiki vorbei und kurz geschnackt. Schlechte Geschäfte wohl auch wegen Breitscheidplatz. Überlegt, dieses Jahr früher abzubauen. Auf dem Rückweg dann Baum gekauft. Zu Hause Anruf von TB mit Anfrage wg. Text für radioeins-Anthologie. Beitrag zum 20. Jubiläum zum Thema «Zeit». Klang gut. Jahresrückblick? Hab mir Bedenkzeit ausgebeten. Deadline Ende Januar.

 

22. Dezember

Abends Besuch von Henning. Beim Musikhören – Young Thug, Bonnie Ryatt, Robin Pecknolds Fox Song, Little Jimmy Scott – noch mal über die Verstorbenen des Jahres gesprochen. Wie eine Epidemie. Aussterben des seelisch-(pop)musisch-dichterischen Knowhows des 20. Jahrhunderts. Bowie, Prince, Alan Vega, Claus Ogermann, Prince Buster, George Martin, Leon Russell, Ali, Cohen. U.s.v.a. Als würden die Herzen schlappmachen, nicht mehr dagegen ankommen, angesichts des Wahnsinns draußen. Wie Cohen sagt: Dear Friends, there are very few of us left … Auch Dylan-Nobelpreis, nicht nur Jahrzehnte verspätete Bankrotterklärung der literarischen Welterkenntnis, sondern eben auch wie ein Grabstein. Darum sein uncooles Rumdrucksen, nicht ran- und hingehen wollen. Natürlich ist er größer als der Preis. Trotzdem lame. Warum nicht absagen? Stattdessen Patti Smith vorschicken. Als Opferlamm. Folgerichtig ihr Hänger bei «I saw the babe that was just bleeding». Einer Zeile, die es gar nicht gibt im Song. Nur das «new born baby with wild wolves around it» am Anfang der Strophe. Freud’sche Fehlleistung als Richtigstellung. Versuch, sich einzuschreiben in den (Quell-)Text der Vaterfigur. Gleichzeitig Widerstand gegen das Ritual. Gebrochen vom wohlmeinenden Applaus des Komitees. Mit den Wölfen heulen. Später noch mal kurz gestockt und dann die Kurve gekriegt bei «… nobody was listening». Wahrheit der Toten.

 

23. Dezember

Letzte Vorbereitungen für morgen und allerletzte Besorgungen auf dem Markt. Jetzt doch Ente statt Gans. Kein Grünkohl. Baum steht. C. und J. wollen morgen schmücken. Chill your life! Geht klar. Freu mich. Nachmittags Lemon Twigs im Radio gehört! Albumsound sucks. Falsche Vintageproduktion. Nichts im Vergleich zu Liveclips auf YouTube. These Words (Live on 89.3 The Current) und Haroomata (Live at the Echo). Immer noch großer Spaß und Freude. Sieht aus wie Retro, klingt wie Retro, ist aber kein Retro. Noch mal über Facebook-Post mit YouTube-Link nachgedacht: Future of Rock ’n’ Roll, somebody? #Lichtblick2016. Dann doch nicht. Zu spät.

 

25. Dezember

George Michael gestorben. Herzversagen! Last Christmas. Bin ich zu erschöpft zum Traurigsein? Oder zu weit weg? Trotzdem Schock. Was für ein Jahr! Morgen nach Bielefeld. Vielleicht Treffen mit Markus. Ist schon seit letzter Woche da. Hab das erste Mal bei ihm Wham! auf BFBS gehört. Und nicht gemocht. Erst später. Careless Whispers. Praying for time. Jesus to a child. Ach, ach und ach. Doch traurig. Schöne Seele.

 

28. Dezember

Heute länger mit Markus telefoniert, nachdem Treffen in Bi nicht klappte, weil entweder er oder ich mit Familie unterwegs. Komisch, man ist in derselben Stadt und kommt trotzdem nicht zusammen. Man lebt eben nicht nur in anderen Welten, sondern auch in anderen Zeiten. Erzählte von Kinobesuch mit Alex vor Weihnachten. Toni Erdmann. Hatten gelesen, wie witzig, anrührend und tiefgründig der Film sei. War wohl eher das Gegenteil. Aber wieso dann Cannes und Europäischer Filmpreis in Polen? Seine These: Europa lacht ein letztes Mal über die hässlichen Deutschen. Notwehr der Abgehängten. Ob ich Dirty Grandpa schon gesehen hätte? Wen? «Dirty Grandpa!! Der wichtigste Film 2016.» Nein, nie gehört. Mit De Niro und Zac Efron. Zac Efron?! Ja, natürlich! Der mit Abstand lustigste und eleganteste Film des letzten Jahres. So geht Erdmann. Sehr stumpf, aber schlau. Musst du sehen! Na dann.

Über die Feiertage TBs Anfrage ganz vergessen und nicht drüber nachgedacht. Ob Text und wie? Muss mich mal melden.

 

29. Dezember

Silvester bei Bert und Rike steht. Wird wohl eher kleine Runde mit Kids. Fine mit mir! Muss Andrea und Ronald noch absagen! Baguettes und Berliner vorbestellen (morgen reicht) und Getränke besorgen. Würde gern auf Ballerei verzichten wg. letztem Jahr: Raketenquerschläger und brennende Nachbarwohnung später. Ganz vergessen! Schon so lange her? Kommt mir jetzt wie gestern vor. Aber J. ist schon voll bei der Sache und drängt auf Einkauf. Vielleicht lauf ich mit Helm auf?!

 

30. Dezember

«Otis» – Flashbacks wg. Darts-WM. Unerwarteter Taylor – Durchmarsch. Heute gegen Barney. Der Postbote. Trotzdem nicht interessiert. Mag Van Gerwen nicht. Soll aber nett sein. «Männer der Tat, die sich in ihr Schicksal gefügt und das Trauma ihrer Entwaffnung spielerisch hinter sich gelassen hatten. Im letzten Refugium wahrer Männlichkeit. Der Kneipe.» Nichts für Trump und seine Brüder im Geiste. Putin Erdogan. Pres. Elect wie Nero. Oder Caligula? Narzisstisch-perverser Borderliner. Geschichte als Farce? Schön wär’s.

 

2. Januar

Noch keine Idee/Zugang für Zeit-Text. Vielleicht naturzyklische Zeitwahrnehmung (Sonnenauf-/-untergang, Jahreszeitenwechsel, Geburt und Tod, aufgehoben sein im «Ewigen Kreislauf des Lebens»), Orientierung in und durch Zeit vs. Gefühl linear voranschreitender Zeit ab Erfindung mechanischer Uhren. Zeitenwende des Mittelalters. Taktung der Zeit. Kirchtürme wie Stechuhren. Zeit wird Geld. Planbarkeit der Zukunft und geregelte Arbeitszeiten als Bannungsversuche der Kontingenz. Messbarkeit der Zeit in immer kleineren, präziseren Einheiten als Beschleuniger. Zeit rast. Aus der Zeit fallen. Keine Zeit mehr.

 

3. Januar

Anspruch und Wunsch des Menschen, das eigene Leben planen, beherrschen und gegen alles Unvorhersehbare regeln zu können, galt in der Antike als Hybris gegen die Götter. Heldensagen und Mythen sind voll davon, wie die «Vermessenheit» der Menschen von den Göttern bestraft und schicksalhaft zum Scheitern verurteilt wird. Warum?

 

5. Januar

Draußen alles weiß! Der erste Schnee! Fällt und fällt. Schönster Anblick. Gleich raus.

 

6. Januar