Mondpalast - Armando A. Simon-Thielen - E-Book

Mondpalast E-Book

Armando A. Simon-Thielen

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Beschreibung

Hier wird eine Frage intensiv erörtert: Kann Chatbot mit Hilfe eingegebener Stichworte und mit seinen selbst entwickelten Textbausteinen zu Inhalten gelangen, die mit den hier niedergelegten Gedankenführungen vergleichbar sind? Kann er also in der Weise kreativ arbeiten, die das Ergebnis so er-scheinen lässt, dass der Unterschied zwischen künstlicher (KI) und natürlicher Intelligenz nicht erkennbar ist? Oder provokativ gefragt: Könnten sich Leser und Leserinnen vorstellen, dass ein Teil oder das Ganze des hier Angebotenen das Ergebnis einer Chatbot -Produktion darstellt? Oder kann es sein, dass sie beim Lesen zu dem Schluss kommen: diese Darstellung, ausgehend von vorgegeben Texten und mit zusätzlich eingegebenen Schlüsselworten, kann Chatbot nicht leisten. Sie ist einzig menschlichem, also natürlichem Denken entsprungen? Die geneigten Leser und Leserinnen sind zu einem Test eingeladen.

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Seitenzahl: 190

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Hinführung

Eröffnung

Adé zur guten Nacht

Am Brunnen vor dem Tore

Auf einem Baum ein Kuckuck

Der Frühling hat sich eingestellt

Der kleine Trompeter

Der Mai ist gekommen

Der Winter ist vergangen

Drei Lilien die pflanzt` ich auf mein Grab

Ein Jäger aus Kurpfalz

Ein Männlein steht im Walde

Es ging ein wacker Mädchen

Es klappert die Mühle am rauschenden Bach

Es saß ein klein wild Vögelein

Es saß ein klein wild Vögelein

Heideröslein – Sah ein Knab ein Röslein steh Heldin

Im schönsten Wiesengrunde

Muss i denn zum Städtele hinaus

Und in dem Schneegebirge

Was macht der Fuhrmann?

Wenn alle Brünnlein fließen

Wenn ich ein Vöglein wär`

Zogen einst fünft wilde Schwäne

Zwei in der virtuellen Realität

Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal

Anmerkungen/Verweise

Vorwort

Nach „Atlantis“ und „Mauritia“ liegt nun mit „Mondpalast“ der dritte Band der Trilogie vor.

Gemeinsam wollen Zusammenleben und einige seiner spezifischen Konflikte und kulturellen Besonderheiten in der zweiten Hälfte des zwanzigsten und am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts in Mitteleuropa beschreiben.

In allen ist auch Suche nach Sinn des Unerträglichen zu finden. In allen drückt sich der Schmerz über unsägliches Leid aus. In allen sollen Widersprüchen menschlichen Lebens nachgespürt werden.

Alle versuchen, Verständnis für die tiefe innere Diastase zwischen Freude am Leben und Protest gegen die Endlichkeit des Lebens auszudrücken. Vielleicht wird erkennbar, dass dieses Verständnis nicht immer zu einem Ziel gelangen kann.

Doch eventuell gelingt es zudem, Interesse an traditionellen und experimentellen sprachlichen Stilelementen weiterzugeben und die Dankbarkeit für unsere Sprache ausstrahlen zu lassen.

Mein herzlicher Dank gilt meiner Frau Heike und unseren Kindern Jonathan und Constanze. Ohne sie gäbe es diese Versuche nicht.

Dem Glauben an Frieden und Gerechtigkeit

Einleitung

Jedes Zeitalter hat seine die Zukunft bewegenden Aufgaben. Grundlegende Fragen müssen wir daher klären:

Auf welchen Grundlagen stehen unsere Errungenschaften; welche Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht weiterentwickeln; welche aktuellen Entdeckungen bestimmen wesentlich zukünftiges Leben, und welche ihrer potenziellen Fehlentwicklungen sollten vermieden werden?

Entdeckung und Beherrschung der Atomspaltung waren ohne Zweifel eine Zäsur unseres Zeitalters, mit der sich diese Fragen stellten.

Nun beschäftigen wir uns mit der Künstlichen Intelligenz, die in unser tägliches Leben – mikro- und makrokosmisch - Einzug hält, in die Welt von Wort und Schrift in Form von Chatbot. Ist es wie mit der Beherrschung der Atomspaltung: darf Alles, was möglich ist, ausprobiert werden? Wenn ja, sind die

Auswirkungen auf unser Zusammenlebeben abschätzbar? Müssen sie eingehegt werden, und wer bestimmt darüber?

Hinter den folgenden Seiten steht eine Frage: Kann Chatbot mit Hilfe eingegebener Stichworte und mit seinen selbst entwickelten Textbausteinen zu Inhalten gelangen, die mit den hier niedergelegten Gedankenführungen identisch sind?

Kann er also in der Weise kreativ arbeiten, die das Ergebnis so erscheinen lässt, dass künstliche und natürliche Intelligenz nicht unterscheidbar sind? Oder provokativ gefragt: Könnten sich Leser und Leserinnen vorstellen, dass ein Teil oder das Ganze des hier Angebotenen das Ergebnis einer Chatbot-Produktion darstellt?

Oder kann es sein, dass sie zu dem Schluss kommen: diese Darstellung, ausgehend von vorgegeben Texten und mit zusätzlich eingegebenen Schlüsselwörtern, kann Chatbot nicht leisten – sie ist einzig menschlichem, also natürlichem Denken entsprungen?

Die geneigten Leser und Leserinnen sind zu einem Test eingeladen.

Mondpalast

Rumpelstilzchen und die Künstliche Intelligenz

Als der Knabe die Rose brach und die Rose den Knaben stach

Neue Gedanken zu alten Liedern

Hinführung

Es war an einem Sonntagnachmittag, der langweilig zu werden drohte. Die Eltern waren mit Freunden zu einem langen Spaziergang weggegangen. Und wir? Wir relaxten im Garten. Komm, lass uns in Opas altem Schuppen kramen. Bisher fanden wir da immer etwas Verstaubtes, was lustig ist. Eine gute Idee. Der Schlüssel steckte. Er ließ sich schwer drehen. Aber da standen wir auch schon im Halbdunkel. Der Bewegungssensor ließ altertümliche Deckenleuchten aufflackern. Unsere Eltern nannten sie Kaltstrahler. Keine Ahnung, was sie damit meinten.

Jeder suchte sich eine Ecke aus, und wir beförderten das Unterste zuoberst. Schaut mal, ein USB-Stick. So ein Ding habe ich lange nicht mehr gesehen. Was mag da wohl zusammengetragen worden sein? Auf dem verstaubten Arbeitstisch stand noch ein alter Rechner, mit dem der Stick zum Leben erweckt werden konnte und sein Inneres preisgab Tatsächlich: es war eine etwas umfangreichere Textdatei.

Mondpalast -— Als der Knabe die Rose brach, und die Rose den Knaben stach - Rumpelstilzchen und die künstliche Intelligenz lasen wir auf dem ersten Blatt. Was mag das wohl heißen? Im Untertitel wurde erklärt: Neue Gedanken zu alten Liedern Also, klar war da gar nichts. Komm, lass uns hineinschauen. Opa ist immer für eine Überraschung gut. Am Ende lernen wir noch ein bisschen von alten Zeiten. Viel erzählen konnte er uns nicht, als er noch lebte. Wir waren zu jung, er war zu alt für lange Erzählabende, bevor er starb.

Als wir uns ein bisschen eingelesen hatten, verstanden wir zumindest den Titel etwas besser: Es handelte sich, paraphrasiert, um die Zusammenfassung der ersten Strophe eines alten Liedes zu damaliger Zeit, also als Opa noch jung war: Sah ein Knab ein Röslein stehn, Röslein auf der Heiden Das ganze Lied trug den Titel Heideröslein. Im Ganzen wurden alte Texte mit modernen – modern in Opas jungen Jahren - unter anderen mit sozialen Fragestellungen konfrontiert. Ein für ihn wohl interessanter Versuch, kulturelle Epochen miteinander in Beziehung zu bringen. Für Opa schien diese Adaption spannend genug zu sein, um darüber zu schreiben. Wir beschlossen, hin und wieder einen Textabschnitt zu lesen, um uns ein wenig seiner Gedanken- und Erlebniswelt nähern zu können.

Immer wieder wagten wir also „Expeditionen“ in diese eigenartigen Texte. Zum Teil vordergründig fremdartig erscheinende Abschnitte zogen wir heraus und fügten sie neu zusammen. Hin und wieder fragten wir die Eltern nach diesem oder jenem Begriff, der uns gänzlich unbekannt daherkam. Wir „bissen uns also durch“ und präsentieren nun das Ergebnis. Verwunderlich wirkt sein Unternehmen auf uns, da es doch so lange vor sich hinschlummerte. Scheint er es selbst nicht ganz ernst genommen zu haben? Unseres Wissens gab es keine Veröffentlichung. Hätte er es nicht mit Freunden oder seinen Kindern diskutieren können? Seine Kinder, also unsere Mutter und ihre Geschwister konnten sich daran nicht erinnern. Oder schienen ihm seine Gedanken und sein Konzept für seine Zeit etwa, sagen wir einmal, ungebührlich „verwegen“? Immerhin versuchte er, sich der Kommunikation mit der in seinen späten Tagen zu Furore und mitunter sehr kritisch beurteilten, neu bekannt werdenden KI zu stellen. „ChatGPT“ hieß das Zauberwort. Ob er „seine“ KI herausfordern wollte? Wir können dieses Problem heute nicht mehr lösen, weil wir die ihm zur Verfügung stehenden Versionen des ChatGPT nicht kennen. Sie sind in der Vergangenheit verschollen und mit unserer KI nicht mehr zu vergleichen. Es bleibt ein merkwürdiges Zeitdokument, das uns zeigt, wie er aus für ihn wichtige, also in seiner Erinnerung bewahrte Texte, ihre Ideen herauszuschälen versuchte, die wiederum ihm als Zeugnisse ihrer Geschichte, also als Vergangenes, vorlagen, und mit seinen und den Ansichten seiner Zeit konfrontierte. Unsere Auswahl dieser Sammlung legen wir hier vor. Es ist kein fortlaufender Text. Man kann sich einem Abschnitt widmen, meist ohne notwendige

Kenntnis der anderen. Die Titel der vorgestellten historischen Texte bilden die von Opa übernommenen Kapitelüberschriften und sind meist identisch mit den Abschnittüberschriften.

Mondpalast

Rumpelstilzchen und die

künstliche Intelligenz

Als der Knabe die Rose brach

und die Rose den Knaben stach

Neue Gedanken zu alten Liedern

Eröffnung

Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß`.

murmelte es verträumt in sich hinein. Es saß in seinem alten Schaukelstuhl, ein Erbstück seines Großvaters, und wiegte sich in seinen Mittagsschlaf. Ja, lange war es her. Da hüpfte es als junger ungestümer Abenteurer um ein Lagerfeuer auf einer Lichtung herum und schmiedete dunkle Pläne. Endlich wollte es einmal etwas ganz Großes wagen. In das Schloss des Königs würde es sich wagen und das Königskind rauben. Ganz „legal“, wie es meinte. Es hatte der Königin in schwerer Stunde geholfen, Stroh zu Gold zu spinnen. Der Preis dafür war ihr erstes Kind. Es hätte ein lustiges Abenteuer werden können… Doch es kam anders als erwünscht. Sein schemenhaftes Leben geriet aus den doch so vergnüglich chaotischen Fugen. Die ach so vornehme höfische heile Welt wollte es schockieren, dieses blasierte auf Ängstlichkeit gebaute Luftschloss mit einem einzigen „Hui“ zum Wanken bringen. Nicht umstürzen, nein, nur ein bisschen schockieren. Es hätte ihr das Baby bestimmt zurückgebracht. Es war doch kein Unmensch, nur ein bisschen teuflisch-schalkhaft. Doch dann geschahen unvorhergesehene Wendungen.

Statt dass Rumpelstilzchen gehen wollte, von der Königin das Kind zu fordern, ereignete sich ein Paukenschlag: In seiner bescheidenen Behausung erschien eine Dame in einem langen Mantel mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze. Sie gab sich als Kammerzofe der Königin zu erkennen. In ihren Armen hielt sie ein Bündel, in dem ein Säugling gewickelt war, eben das Kind, das Rumpelstilzchen im Begriff war, von der Königin zu fordern. Laut Bericht der Dame hatte es eine Palastrevolte gegeben. Die Königin war in ein Verließ gekommen, der König auf eine ferne Insel verbannt. Die Dame hatte nun das Kind in ihrer Obhut, und sie wusste sich nicht anders zu helfen, als Rumpelstilzchen um Hilfe zu bitten, denn das Kind war als Thronfolger verständlicherweise in großer Gefahr. Unerwartet war Rumpelstilzchen am Ziel seines erdachten Geniestreiches, doch auf anderem Wege als von ihm geplant. Woher konnte sie denn von seinem Domizil gewusst haben? Sie sei ihm nach seinem ersten „Besuch“ im Schloss auf Geheiß ihrer Herrin nachgeschlichen. Die Dame verschwand so schnell, wie sie erschienen war. Nun war es mit dem Kind allein. Da erst wurde ihm klar: Ein Kind zu rauben erschien ihm ein Leichtes, es zu behalten, alles andere als einfach.

Zuerst musste ein neues Domizil gefunden werden. Die Häscher des Usurpators waren nicht weit. Eilig nahm Rumpelstilzchen Kontakt zu einem Cousin auf, der brachte es in einer Kate in seinem Dorf unter. Natürlich brauchte das Kind auch eine Amme. Die war schnell ausfindig gemacht. Und so wuchs das einst kleine Bündel Mensch bei Rumpelstilzchen heran. Seine Herkunft blieb geheim, gemeinhin als Findelkind gesehen. Mit dem zwölften Lebensjahr weihte Rumpelstilzchen es in ihr gemeinsames Geheimnis ein. Immerwährende Dankbarkeit verband beide, und sie hüteten es wohl.

Jahre waren ins Land gegangen. Das Kind sollte etwas lernen. Vielfältig und anspruchsvoll sollte das Kind – übrigens ein prächtiges Mädchen, das in der beginnenden Pubertät dem Rumpelstilzchenordentlich auf Geduldsproben stellen konnte – auf ein selbstständiges Leben vorbereitet werden. Rumpelstilzchen wäre nie in seinem bisherigen Leben auf den Gedanken verfallen, Lernmaterial für ein Kind zu brauchen. Nun aber war es wohl unumgänglich - das sah es ein. Sein eigenes Wissen schätzte es für diese Aufgabe als zu gering. Es konnte ein Lagerfeuer machen oder Stroh zu Gold spinnen. Das waren keine Schwierigkeiten. Aber für ein aufgewecktes Kind war das keineswegs ausreichend. Etwas Aufregendes, Spannendes war nötig! Klar, eine Tafel aufstellen und Rechenaufgaben mit Kreideanschrieb lösen oder auf einer ausgerollten Landkarte die Flüsse der Heimat suchen und benennen lassen, das war doch Pädagogik von gestern!

Eines Nachmittags saßen sie vorm Haus in der warmen Sonne. Rumpelstilzchen summte eine alte Melodie vor sich hin. Was es da singe, wollte sie wissen. Es war ein altes Lied, das es aus Kindertagen kannte. Es sang ihr das Lied mit Text vor. Warum will ein Junge eine Rose abbrechen, und warum reden die beiden miteinander, wunderte sie sich. Wie gesagt, sie war ein aufgewecktes Kind. Rumpelstilzchen hatte sich diese Fragen nie gestellt. Ein altes Lied aus dem Liedschatz seiner Familie eben. Niemand hatte es ihm jemals erklärt, und es hatte nicht gefragt. Also konnte es nicht angemessen antworten. Aber kann man denn der Jugend eine Antwort schuldig bleiben? Nein, das sollte nicht sein! Rumpelstilzchen brauchte eine Lösung. Und weil es gern alte Liedchen, deren Sinn es eigentlich nicht erklären konnte, aus seinen Kindertagen sang, beschloss es, mit der Suche nach Antworten mit ihnen zu beginnen. Diese Suche gestaltete sich schwieriger als vermutet. Erhoffte Quellen aus seinem Bekannten- und Freundeskreis fielen komplett aus. Wohin sollte es sich noch wenden?

Da kam ihm eine, wie es hoffte, vielversprechende Idee: wie wäre es mit einer V/A-R-Brille? Natürlich musste sie auf große Datenmengen zugreifen können. Bevor sie mit dem Kind zur Anwendung kam, wollte es die Brille allein ausprobieren. Zwei von Nutzerplattformen als gut befundene Exemplare waren schnell erstanden. Aufgeregt nahm es sie aus dem Versandpaket. Der Empfang der Sendung war so gelegt, dass es sie allein testen konnte.

Das Abenteuer konnte beginnen!

Wenn ich ein Vöglein wär` und auch zwei Flügel hätt`

Rumpelstilzchen richtete die Brille exakt wie vorgeschrieben ein. Sie war sowohl mit seinem lokalen Rechner verbunden wie auch durch das lokale Netzwerk mit den weltweiten digitalen Netzen. Auch war es möglich, zu verschiedenen Clouds Zugang zu erlangen, sodass man auf differenzierten Pools Zugriff auf Informationen bekam. Gut, alles war bereit. Es konnte seinen Testlauf beginnen.

Nun musste ihm aber ein Lied einfallen. Spontan fiel ihm ein, und es sang:

Wenn ich ein Vöglein wär` und auch zwei Flügel hätt`

Wenn ich ein Vöglein wär`

und auch zwei Flüglein hätt`,

flög` ich zu dir.

Weil's aber nicht kann sein,

weil's aber nicht kann sein,

bleib` ich all hier.

Bin ich gleich weit von dir,

bin doch im Traum bei dir

und red` mit dir;

wenn ich erwachen tu`,

wenn ich erwachen tu`,

bin ich allein.

Es geht kein' Stund' in der Nacht,

da nicht mein Herz erwacht

und an dich denkt,

daß du mir tausendmal,

daß du mir tausendmal

dein Herz geschenkt.

Denn es kam ihm vor, als könnte es in digitalen Sphären herumfliegen.

Sobald die ersten Töne seiner Stimme erklangen und die ersten Wörter formuliert waren, begann seine V/A-R-Reise. Die Phrase wurde wiederholt, um dann eine Geschichte daran anzuknüpfen:

„Wenn ich ein Vöglein wär` und auch zwei Flüglein hätt`, flög` ich zu dir.“

Ein Lied von Liebe und Leben

„Wenn ich ein Vöglein wär` und auch zwei Flüglein hätt`, flög` ich zu dir.

Weil`s aber nicht kann sein, weil`s aber nicht kann sein, bleib` ich allhier.“

Rumpelstilzchen stand auf einer Wiese mit Blumen. Insekten schwirrten umher, Bienen und Hummeln summten zwischen Blüten. Hoch über ihm flogen Vögel und schienen sich ihres Lebens zu freuen. Ach, wie ein Vogel sich in die Lüfte erheben zu können…

Wie ein Vogel fliegen – was für ein Traum, Traum diesseits des Schlafes! Dahingleiten mit den Schwingen, getragen von der Thermik in den Lüften, warme und kühlere, Balance des Körpers ohne festen Boden. Über den Flügeln unendliche Weiten ohne Grenzen. Von oben auf Häuser, Wege, Wiesen, Feld und Wald schauen.

Oder als kleiner Vogel, vielleicht ein Rotkehlchen oder Sperling, in einem Baum Ast für Ast erkunden, wie eine Lerche höher und höher steigen und ihr Lied erschallen lassen.

„Wenn ich ein Vöglein wär´…“klang es in der Brille.

Welche Bilder malen diese Worte in mir? In der Kindheit mochten sie Gefühle in mir ausgelöst haben, deren Bedeutungen mir diffus erschienen, weil ich ihnen keine Namen geben konnte.

Es erschien eine Laufschrift vor seinen Augen, und eine Stimme las sie vor:

Das Liedchen erzählt nicht vom Leben meiner von mir gern gesehenen gefiederten Freunde. Jeden einzelnen schließe ich immer wieder neu in mein Herz, sobald ich einen bemerke – höre oder sehe.

Habe ich es oft als Kind gesungen gehört, ist es dennoch kein Kinderlied, obwohl es mir scheinbar gesungen wurde, als wäre es für Kinder erdacht. Oder habe ich es nur deswegen so empfunden, weil es in meiner Gegenwart gesungen wurde?

Rumpelstilzchen überraschte diese Wendung der frohen Stimmung:

Die Worte und Töne lösen Melancholie aus, Melancholie entstehend aus Sehnsucht.

Was bringen Melancholie und Sehnsucht in mir zum Klingen? In welchen Kammern meines Herzens, meiner Seele, meines Gemütes lassen sie das, was in ihnen lebt, mich erinnern?

Die V/A-R-Brille führte weit ins Innere gesungener Worte.

Melancholie? Sehnsucht? Rumpelstilzchen fühlte plötzlich diese Empfindungen in sich und überlegte, ob oder wann es sie schon einmal in sich gespürt hätte.

Die Szene änderte sich. Es streifte durch ein dunkles Schloss, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Melancholie wirkte wie tiefe Ratlosigkeit, Sehnsucht wollte Gegenwärtiges verändern. Die Atmosphäre in dem Schloss wirkte auf Rumpelstilzchen, als würde es in Stücke zerteilt. Es schwebte durch Fluchten und über breite Treppen. Es sah, wie seine wie Mahre schwebenden Teile sich wieder vereinten.

„Weil`s aber nicht kann sein, bleib` ich allhier.“

klang und echote es in seinem Innern.

Ich bin an einem Ort, zugleich aber will ich anderswo sein. Die Töne der Stimme, die Melodie, die Worte wollen mich an einen anderen Ort tragen. Es ist nicht nur die Phantasie. Sie heben das Lied in eine Sphäre, in eine andere Wirklichkeit. Sie zeigen einen Ort (allhier) und einen Weg (flög` ich zur dir): einen Ort des Verharrens, wo ich singe, und einen Weg, den Melodie, Töne und Worte tragen.

Der Ort ist aufgeteilt in Kammern. Die sich darbietenden Kammern - Rumpelstilzchens Spannung zwischen in Fremdem gefangen sein und nach Vertrautem suchen.

„… flög` ich zu dir.“

Rumpelstilzchen hörte, wie ein vielfaches Echo lieblicher Melodien und entfernter liebevoll rufender Stimmen zu ihm getragen wurde. Es wollte loslaufen und die Quelle des Rufens erreichen. Aber die Dunkelheit des Schlosses hielt es gefangen. In ferner Weite schien ein Licht zu flackern.

Da ist die Kammer mit Bildern inniger Liebe und Zuhause-Seins. Zwang und Fremde halten mich von dieser Liebe und von diesem Heim entfernt. Doch ich halte in der Kammer meine Hoffnung aufrecht. Zwar bin ich kein Vogel. Aber dieser Zwang wird zu Ende gehen. Durch das Lied schläft sie nicht ein, wird nicht matt, verliert nicht ihre Farben. Sie hält mein Herz warm und stark, tönt wie sein Rhythmus, eingängig und sicher. Weder Flimmern noch Flackern stören. Wie ein starkes rauschendes Fließen, das sich durch das All unbeirrt trägt, nur seinen eigenen Gesetzen folgend.

„bleib` ich allhier.“

In der entgegengesetzten Zimmerflucht beherbergt eine andere Kammer das „allhier“. Verwirrt und ängstlich kauere ich in der Ecke. Sorgen und Ängste haben mich umringt. Dicht an dicht stehen sie und verwehren mir die Sicht.

schreibt die Laufschrift vor seine Augen.

Die Augen geschlossen traue ich mich nicht, ihren Ring zu durchbrechen, um die Tür hinaus zu finden. Ach, käme doch ein Vogel durch das zugezogene Fenster herein, durchbräche die Scheiben und diese schier undurchdringliche Mauer und trüge mich fort! Fort, hinaus ins zwar Ungewisse, aber weg aus dem grässlichen Dunkel. Mit dem Vogel käme eine Böe in die Kammer und bliese Ängste und Sorgen auseinander und sie zerstöben. Befreit auf seinen Schwingen ließe ich sie hinter mir.

Rumpelstilzchen atmete tief und erwartungsgespannt.

Das „bleib` ich allhier“ drängt so sehr zum „flög` ich zu dir“. Wer gewinnt die Oberhand in diesem Kampf: „allhier“ oder „zu dir“ – der dunkle tödlich-schummrige Vorhang des Kummers oder die lichtdurchflutete Seele hellen, hoffnungsfrohen Gemütes?

Rumpelstilzchen ließ diese Stimmungen in sich Raum gewinnen. Es wollte mehr vom Inneren dieses scheinbar arglosen Liedes erspüren.

Die temporale Bestimmung der Verbform in der ersten Strophe lässt keinen Zweifel: Es ist der Konjunktiv. Ich bin eben kein Vöglein, also kann ich leider nicht zu dir fliegen. Eine starke Macht hält mich fern. Es gibt dennoch Möglichkeiten, unüberbrückbare Ferne zu überwinden. Die Phantasie trägt mich zum geliebten Menschen, die Hoffnung auf ein Wiedersehen hält mich bei ihm trotz schmerzvoller Trennung.

Da wurden die dunklen Vorhänge zerrissen, und ein wohliges Licht erreichte Rumpelstilzchens Augen.

Eine Erinnerung hält uns beieinander über die Ferne hinweg. Während der gemeinsamen Zeit sangen wir es, seitdem wir von der drohenden und unvermeidlichen Trennung Kenntnis bekommen hatten, sangen wir es uns einander zu. Es ist nun unser Lied, das jeder von uns während der schweren Zeit singt - die Melodie, die Worte der Hoffnung auf die neue gemeinsame Zeit, die möglichst bald kommen soll.

„dass du mir tausendmal dein Herz hast geschenkt“

Nun klang das gesamte Lied im Raum der V/A-R-Brille und durchdrang durch die Ohren Rumpelstilzchens ganzen Leib. Ja, nun war das Lied in sein Herz gedrungen mit seinen Stimmungen von Freud und Leid.

Wenn ich ein Vöglein wär`

und auch zwei Flüglein hätt`,

flög` ich zu dir.

Weil's aber nicht kann sein,

weil's aber nicht kann sein,

bleib` ich all hier.

Bin ich gleich weit von dir,

bin doch im Traum bei dir

und red` mit dir;

wenn ich erwachen tu`,

wenn ich erwachen tu`,

bin ich allein.

Es geht kein' Stund' in der Nacht,

da nicht mein Herz erwacht

und an dich denkt,

daß du mir tausendmal,

daß du mir tausendmal

dein Herz geschenkt.

Eine Laufschrift erschien vor seinen Augen: Ich bin also eine V/A-R-Brille. Ich biete dir die Möglichkeit, mit V/A-R – Virtueller/Augmentierter Realität zu arbeiten. Du kannst deine eigenen Gedanken und Bilder einbringen und neue Konzepte entwickeln.

Rumpelstilzchen war erstaunt und begeistert: Gedanken und Empfindungen, die das Lied bietet, weiterdenken: ein wunderbares Experiment! Und es legte gleich los. Wie wäre es mit dem Begriffspaar „gescheiterte Beziehung“? Die Idee schoss ihm in den Kopf, denn die Beziehung zwischen ihm und der Königin war tatsächlich gescheitert. Es sprach diese Wörter aus, und sie erschienen in seiner Brille. Die Stimme der Brille sagte: „Gescheiterte Beziehung? Gut, lass es uns versuchen!“ Und schon begann vor Rumpelstilzchens Augen ein Reigen von Gedanken und Empfindungen: Ein Avatar seiner Person erschien wie in einer Videokonferenz, schaute ihn an und breitete sein Leben vor ihm aus.

Suche

Fern warst Du. So weit weg. Wer zog dich von mir weg in eine andere, eine unerreichbare Welt? Wie lang deine Arme waren, die mich von dir entfernt hielten! Wie lang waren sie und hielten dennoch mich nie fest! Sie waren starr wie Stahl. Keine Sehne, kein Muskel war in ihnen. Sie konnten sich nicht biegen und mich bergen, an dein Herz drücken. War ich je dein Vöglein? Hätte ich je zu dir fliegen können, und du hättest mich zu dir eingelassen?

Ja, du warst ein Vöglein und flogst zu mir. Aus dem Paradies kamst du mit Rauschen angeflogen. Wunderschön wie aus einem Hochglanzmodekatalog, den du, verborgen unter deinen Flügeln, hervorholtest und liegen ließest. Sein Geruch war wie du: fremd und sehnsuchtsstark. Du stärktest meine Sehnsucht nach dir, denn du bliebst nicht. Federn fielen aus deinem Gefieder, bunt und traumhaft schön. In einem Kästchen bewahrte ich sie auf. Über die Jahre verfielen sie zu Staub.

Das Kistchen verlor ich. Ja, du warst mein Vöglein. Oh, wie sehr sehnte ich mich danach, dass du mir einmal, nur einmal, dein Herz schenktest. Wenn du es damals nur einmal getan hättest, ich hätte es sofort bemerkt und es mit großem Dank empfangen. Zwar wärst du wieder davongeflogen und warst wiederum unerreichbar. Aber einmal hätte ich dein Geschenk gespürt. Vielleicht hätte meine Sehnsucht sich nicht so zerfressend in mich eingegraben.