Mondsplitter - Heide Fichte-Nelsen - E-Book

Mondsplitter E-Book

Heide Fichte-Nelsen

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Beschreibung

Waren Sie schon mal zur Kur? Dann sind auch Sie eingetaucht in eine Parallelwelt, in einen Kosmos mit eitlen Madonnas, grauen Mäusen und knallbunten Parias. Heide Fichte-Nelsen beobachtet sie alle und beschreibt die gemeinsamen Kur-Abenteuer mit viel Sinn für absurden Humor, ebenso gnadenlos wie liebevoll.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 57

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Inhalt

Gutachten

Pfefferminz

Sechzig Hosen

Stress

Komm lieber Mai und mache

Lila Geheimnis

Mondsplitter

Der Wasserschatten

Ein Brief

Lui der Jüngere

Sozialer Abstieg

Die Insider

Glückstag

Carla

Gutachten

„Guten Tag.“

„Guten Tag.“

„Haben Sie eine Checkkarte?“

„Ja.“

Ich reiche meine Checkkarte herüber und schiebe hinterher:

„Ich habe einen Untersuchungstermin.“

Sie sagt nichts, arbeitet blitzschnell am Computer, hämmert mit ihren schlanken Fingern Codeschlüssel in die Tastatur, der Blick geht flink von der Tastatur zum Bildschirm.

Ich bin plötzlich froh, eine Checkkarte zu besitzen, einen festen Wohnsitz und in meinem polizeilichen Führungszeugnis „keinen Eintrag“ zu haben.

Andere weißgekleidete Bienchen fliegen ein und aus, schnell die Last abladen, Flügel in Bewegung halten, damit der neue Start nicht so viel Zeit kostet, ein paar Codeworte von einer zur anderen, werkeln an Schubladen und Karteien und wieder ab, immer der Duftspur der nächsten Aufgabe nach.

Keine lächelt. Die Lage hier muss entsetzlich ernst sein. Ferngelenkte Augen und Gesichter wie aus Stein gemeißelt beherrschen den Raum.

Die automatische Gliederpuppe zieht blitzschnell meine Checkkarte aus dem Computer, legt sie auf den Thresen und sagt ohne hochzuschauen: „Warten sie bitte im Wartezimmer rechts“ Warten sie im Wartezimmer. Sterben sie im Sterbezimmer. Spielen sie im Spielzimmer und geben sie immer ihre Checkkarte ab.

Ich setze mich auf einen der bunten Stühle, die, „wir gehen mit der Zeit“ signalisieren, und entdecke an der Wand einen großen, violetten Bilderrahmen, der ein intensives Farbgewimmel festhält. Kleine drachenähnliche Gestalten mit menschlichem Unterleib und klobigen Füßen, die gierig ihre bunten Mäuler in eine Richtung aufreißen. Da mischt sich Okkerfarben-Grau zu tiefdunklem Khaki mit mintgrünem Rand, beleuchtet von einer pink-orange zerfließenden Sonne.

Auf dem Fußboden liegen große Kinderbücher mit riesigen Buchstaben. Die Teppich-Auslegeware hat das Muster der Schürze meiner Tante aus den 50er Jahren. Ich konnte meine Tante nicht leiden, sie zog nie ihre Schürzen aus. Ich kriege den hintertupfigen Teppich mit den bunten Fortschrittsstühlen nicht zusammen. Man könnte mir hier Diamanten hinstreuen, ich würde sie zu Kieselsteinen erklären.

In der offenen Tür erscheint kurz der medizinische Gutachter. Er schaut mir in die Augen und sagt zu seinen Bienchen: „Räumt das Wartezimmer auf.“

Meint er mich oder die großen Kinderbücher?

Eine Mutter findet nach verzweifelter Suche ihre Checkkarte im Babykorb. Ein junger Mann trägt seinen eingegipsten Arm wie einen Berechtigungsausweis drohend vor sich her. Aus einem Behandlungsraum ist lautes Jammern zu hören. Ich schaue auf meine Uhr und möchte das hier schnell hinter mich bringen. Eine halbe Stunde vergeht, nichts geschieht. Meine Gedanken drehen sich im Kreis.

Mein Name wird aufgerufen. Vom Warten eingerostet stakse ich los, vorbei an kreuz- und querhuschenden Weißgestalten. Eine sagt noch schnell zu mir: „Ziehen sie sich aus bis auf die Unterwäsche!“

Piff, paff. Die Tür ist zu und ich schaue auf den gipsbekrümelten Fußboden, denke an meine Fußsohlen und ziehe die Zehen ein.

Schwarze Liege, Chromgestell, kein Kleiderhaken, weiße Anrichten, viele Schubfächer, verschlossen.

Großes Regal, Spiegel dahinter, Medikamente, Medikamente, verschlossen.

Ich sitze in einem verschlossenen Raum. Ich friere. Zehn Minuten, nur in Unterwäsche und von Chrom umgeben.

Zuerst ziehe ich meine Schuhe wieder an, nach weiteren fünf Minuten lege ich meinen Pullover stolaartig um meine Schultern und überlege, wie das wohl wirkt. Noch einmal 5 Minuten und ich falte meine lange Hose kunstvoll um meine kalten Beine.

Zweimal saust eine Chefstimme lautstark an der Türe vorbei. Ich nehme eine stramme Haltung an und überlege, ob ich mich meiner drapierten Kleider entledigen soll. Nur wohin soll ich sie legen? Kein Kleiderhaken und auf dem einzigen Hocker sitze ich.

Die Chefstimme nähert sich wieder. Es wird ernst. Die Tür geht auf und ich sehe den Förster vom Silberwald in weiß. Auch das noch, mir wäre der Quasimodo vom letzten Mal lieber gewesen. Dieser maßgeschneiderte Typ wird also ein Gutachten über mich fällen.

Er fragt mich nach meiner Schilddrüse, greift blitzschnell an meinen Hals, senkt den Blick und sagt der unter Strom stehenden Assistentin: „Senk- und Spreizfuß“.

Bevor ich es in meine Negativ-Schubladen legen kann, kurbelt er an meinem rechten, dann an meinem linken Bein herum und diktiert der Überschall-Tante: „Beiderseits,“ und es folgt eine mir unbekannte lateinische Bezeichnung.

Während ich über meine lateinischen Beine nachdenke, warte ich nur noch darauf, dass er mit einem Griff meinen Mund auseinanderquetscht, meine Zähne seiner Fachkenntnis unterordnet und dann den Versteigerungspreis für mich festsetzt.

Ich höre nicht mehr was er sonst noch sagt, sondern sehe mich auf einem Marktplatz, Hände auf dem Rücken, auf einem primitiven Holzpodium stehen, und ein Marktschreier schreit laut meinen Preis in die Menge. Leute kommen auf das Podium, gehen um mich herum, zupfen hier, zupfen da.

Plötzlich bin ich wieder da und kriege gerade noch mit, dass der Förster vom Silberwald mit einer leichten Verbeugung zu mir sagt: „Sie werden jetzt noch geröntgt.“

Zerröntgt hätte er sagen müssen, denn ich erlebe den Röntgen-Rekord meines Lebens. Auf den Hocker, rechts, links, mit der Stirn, mit dem Hinterkopf vor die Platte. Rücken, Seite, Hüfte, Beine, Arm ausstrecken. Zack, Bumm. – Nächste Platte. Laut, präzise, und mit ungeheurer Schnelligkeit.

Ich bin eine Kartoffel, werde hin- und her gerollt, meine Augen werden gezählt, es wird geprüft ob ich runzelig bin und nach grünen Stellen gesucht.

Dies alles geschieht schnell, sicher und ohne dass ich herunterfalle. Es muss schnell gehen, denn noch viele andere Kartoffeln liegen vor und hinter mir. Der Tisch, auf dem ich liege, wird hin und her geschoben.

Platte rein, Platte raus. „Hast du schon den Halswirbel?“ - „Ja, noch fünf.“

Alles über meinen Kopf hinweg. Drei Superflitzer an einem Röntgenobjekt. Röntgenplatten, Zahlen, Fragen, Antworten. Ich glaube ich bin tot, ich werde noch einmal vermessen, und dann?

Welches Geheimnis über mich haben sie in Sekundenschnelle auf schattenhaftem Celluloid konserviert? Geheimnisse, die einen lateinischen Status erreichen und derer ich zu gering bin, um sie zu erfahren.

Zuerst einmal werden sie meinem Rententräger übermittelt. Er hat das größte Anrecht, alles über mich zu erfahren. Dafür habe ich ihm ja schließlich lange genug jeden Monat eine nette Summe von meinem Gehalt überwiesen.

Jetzt haben sie alles im Kasten. Das letzte menschliche Wort: „Sie können sich anziehen,“ fällt noch und ich stehe wieder in dem engen Quadrat, verriegle die Tür, damit niemand mein Gesicht sieht.

Das Anziehen raubt mir den letzten Nerv. Ich stecke meinen Schmuck in die Tasche. Wozu noch Schmuck anlegen, wenn ich doch nur eine durchgeprüfte Kartoffel bin!

Voll auf der dramatischen Schiene riskiere ich trotzdem im Hinausgehen noch einen kurzen Blick in die Gesichter der vier hübschen Roboter.

Sie stehen abgeschlaucht, aber immer noch kerzengerade, hinter dem Thresen. Nur etwas an ihren Schultern lässt mich erkennen, dass sie diesen Job freiwillig aufgeben werden, bevor es ihren smarten Chef allzu sehr nach frischem Wind in seinen Fertighaus-Praxiswänden verlangt.

Pfefferminz