Monstertörtchen - Susanne Friedrich - E-Book

Monstertörtchen E-Book

Susanne Friedrich

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Beschreibung

Jojo sucht händeringend nach einer Lösung für sein konzeptloses Café im Kiez der Bergmannstraße. Er steht kurz vor dem Aus. Die vom Erfolg verwöhnte Viktoria wird eiskalt von einer Bruchlandung erwischt und verschanzt sich in einer Kreuzberger Mansarde. Als sie auf Jojo trifft, entsteht eine explosive Mischung, die schnell zündet. Nur mit Tommy hat sie nicht gerechnet ...

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Auf das Leben – und alle, die wir lieben!

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

©2016 Susanne Friedrich

Korrektur und Buchsatz: Ka & Jott, Prenzlau

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN Paperback: 978-3-7345-0119-7

ISBN Hardcover: 978-3-7345-0120-3

ISBN E-Book: 978-3-7345-0121-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Susanne Friedrich

Monstertörtchen

Eine Bruchlandung in Berlin

– 1 –

In den Straßen von Kreuzberg herrschte Stille, kein Mensch war zu sehen. In vereinzelten Wohnungen brannte Licht. Eine laute Nacht lag hinter dem Kiez und die Anwohner versuchten Schlaf zu finden, nachdem die Partyritter abgezogen waren.

Ein streunender Hund schnüffelte an Flaschenleichen und Plastikmüll, der in Hauseingängen und unter zahlreichen Mülleimern verstreut lag. Noch blieb ihm Zeit, die BSR hatte ihren Beutezug noch nicht angetreten. Ab und an hob er das Bein, markierte sein Revier und zog weiter.

Jonas Richter, von allen nur Jojo genannt, saß zu dieser frühen Stunde in seinem Café. Eine Seltenheit und etwas, das er gerne vermied. Als pensionierter Nachtschwärmer stand er mit dem Vormittag weiterhin auf Kriegsfuß. Aber heute blieb ihm keine andere Wahl. Die Zahlen zeigten deutlich, dass Handlungsbedarf bestand. Die schwierige finanzielle Situation spitzte sich zu, er musste eine Lösung finden. Eine einzige Frage beschäftigte ihn: Wie lange würde er noch durchhalten? Er senkte den Kopf, raufte die Locken und hätte vor Wut schreien können.

Ein grölender Mann riss ihn aus seinen Gedanken und unterbrach die friedliche Stille. Sternhagelvoll torkelte er den Gehweg entlang.

»Highway to Hell«, grölte der Nachtschwärmer. »I’m on a Highway to Hell!«

»Nicht nur du.«

Jojo beobachtete, wie der Betrunkene das Straßenschild verfehlte. Krachend ging er zu Boden. Die leere Flasche rollte langsam vom Gehweg auf die Straße und blieb im Rinnstein liegen. Der Mann lag ausgestreckt auf dem Bürgersteig und machte es sich in seinem Rausch gemütlich. Ein letztes Mal grölte er »Highway to Hell!«, danach hörte man nur noch lautes Schnarchen. Jojo zögerte einen Moment, bevor er aufstand und aus dem Abstellraum eine alte Decke holte. Er trat hinaus, legte sie behutsam über den Schlafenden und kehrte ins Café zurück. Dort wählte er die Nummer der Polizeistation. Eine Stimme meldete sich kurz darauf in der Leitung.

»Kundschaft in der Friesenstraße. Ist noch eine Ausnüchterungszelle frei?«

»Irgendein Plätzchen finden wir immer. Ein bisschen Geduld wird er mitbringen müssen.«

»Denke, das lässt sich einrichten. Schläft tief und fest.«

»Na dann, danke für die Info! Schönen Tach auch!«

Jojo setzte sich und zog die Zahlen erneut zu Rate. Max würde sie später mit ihm durchgehen. Wenn es einen Fehler gab, würde er ihn sofort erkennen. Jojo hoffte, dass Max sich vielleicht verrechnet hatte. Aber sein Bauch sagte ihm etwas anderes. Max verrechnete sich eigentlich nie.

Um Punkt acht Uhr ging die Tür auf. Jojo sah nicht auf. Er liebte das bevorstehende tägliche Ritual.

»Einen wunderschönen guten Morgen!«

»Alter, was geht?« Immer noch schaute er auf die Berechnungen.

»Ich bin nicht alt!«

»Tommy, du weißt doch, dass es etwas ganz anderes bedeutet!« Jojo sah ihn an und lächelte. Er liebte dieses Spiel. Tommy stand vor ihm, die Arme verschränkt und bemüht, nicht zu lachen.

»Du bist mein Kumpel, mein Held!«

»Ich bin Super-Service-Man!«

»Da hast du recht, komm schlag ein!«

Sie klatschten ab und drückten einander. Tommy gluckste vor Aufregung und hob begeistert die Hände.

»Ich hab nicht nachgegeben!« Sein Gesicht strahlte, die Wangen glühten. Wie so oft, wenn etwas ihn erfreute. Tommy freute sich eigentlich immer. Er lächelte das Leben und die Menschen an. Alle, ausnahmslos.

An ihre erste Begegnung konnte Jojo sich noch gut erinnern. Ein Betreuer hatte Tommy begleitet, um ihm mit der Bewerbung für die ausgeschriebene Stelle zu helfen. Jojo hatte händeringend nach einem verlässlichen Mitarbeiter gesucht. Eine hoffnungslose Aufgabe, wie sich bald herausstellte – bis Tommy auf der Bildfläche erschienen war. Ein Blick genügte und Jojo hatte sich entschieden. Solch einem Lächeln konnte niemand widerstehen. Tommy war geistig zurückgeblieben. Ein Geschenk seiner alkoholkranken Mutter. Mehr als drei Jahre arbeitete er jetzt für Jojo und wuchs jedem ans Herz, der ihm begegnete.

»Was macht Jojo da?«

»Ich schau mir die Umsatzzahlen an.«

»Zahlen mag ich nicht, da wird mir immer schwindelig.«

»Mir gerade auch!«

»Oh! Dann braucht Jojo einen Kaffee von Super-Service-Man!« Tommy machte sich sofort an die Arbeit. Er summte eine Melodie. Musik gehörte zu seinem Alltag wie für andere die Luft zum Atmen.

»Den kann ich gut gebrauchen. Max hat mit den Berechnungen ganze Arbeit geleistet.«

»Max ist schwindelfrei, Zahlen machen ihm keine Angst!« Jojo lächelte. Max arbeitete seit ein paar Jahren als Aushilfe im Laden und kümmerte sich um die Umsatzzahlen. Ein Mathematikstudent mit einem gemessenen IQ von einhundertsiebenundachtzig.

»Stimmt! Ich leider nicht. Wenn ich die Zahlen sehe, wird mir schlecht!« Er trank einen Schluck Kaffee. »Alter, der ist dir heute extrem gut gelungen.«

Tommy setzte sich zu Jojo und sah ihn fragend an.

»Es reicht hinten und vorne nicht.« Jojo bereute den Satz, als er Tommys besorgtes Gesicht sah.

»Dann brauchen wir ein Wunder«, entschied Tommy. »Ein Wunder, mehr nicht!«

Die Tür ging auf und Max schlappte in seiner typisch lethargischen Art ins Café.

»Bist du aus dem Bett gefallen?«

»Nee, hab Hunger und muss noch ’ne Klausur schreiben. Und mit knurrendem Magen geht’s nur halb so gut.«

Tommy sprang sofort auf und verschwand hinter dem Tresen. Kurz darauf ertönte das Geräusch der Kaffeemaschine, begleitet von klapperndem Besteck und Geschirr.

»Sieht nicht gut aus«, bemerkte Max mit einem Blick auf die Zahlen, »egal wie man es dreht, am Ende bleibt kaum was übrig.«

Jojo schob die Unterlagen beiseite. Er rieb sein Gesicht und stieß einen Seufzer aus. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Leise trommelte er mit den Fingern auf den Tisch und dachte fieberhaft über eine Lösung nach. Tommy kam triumphierend mit einem Frühstück für Max zurück. Freudestrahlend platzierte er das Tablett auf dem Tisch.

»Alter, du bist echt der Knüller! Danke Mann!«

»Ich bin nicht alt. Ich bin Super-Service-Man!« Strahlend riss er die Arme in Siegerpose hoch.

Der Regen wurde heftiger. Dicke Tropfen klatschten gegen die Scheibe. In kürzester Zeit stand der Gehweg unter Wasser. Sogar der Betrunkene beschloss, keine Minute länger zu bleiben. Benommen kam er auf die Füße, fluchte lauthals und torkelte ziellos weiter.

»Wir brauchen ein Wunder«, entschied Tommy mit Nachdruck.

»Mathematisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit gering. Versuchs mit Lotto, da ist sie im Vergleich höher! Ich glaube nicht an Wunder.« Max nahm einen Schluck Kaffee, dann noch einen. »Alter, der ist echt der Hammer!«

»Ich bin ein kleines Wunder!« Tommy nahm Platz und verschränkte die Arme. Jojo und Max sahen ihn fragend an.

»Das musst du mir erklären«, entschied Max.

»Meine Oma hat immer gesagt: Tommy, du bist ein kleines Wunder! Also«, schlussfolgerte er, »wenn ich eins bin, gibt es sicher noch mehr, oder?« Zufrieden lächelte er die beiden an.

»Verstehe«, sagte Max, »und ich gebe deiner Oma recht. Aber –« wollte er fortfahren, doch für Tommy gab es nichts mehr zu bereden.

»Wir brauchen ein Wunder, mehr nicht!« Er stand auf und ließ die beiden zurück. »Ein Wunder!« Seelenruhig setzte Tommy hinter dem Tresen seine Arbeit fort.

»Das wäre dann wohl geklärt«, schmunzelte Max. »Noch Fragen?«

Jojo zog erneut die Zahlen zu Rate, während Tommys fröhliches Summen erklang. Er schaute nach draußen, wo es weiterhin in Strömen regnete. Mit Kundschaft war heute nicht zu rechnen. Bei dem Wetter verließ niemand freiwillig das Haus.

»Mal ehrlich, hast du eine Lösung?«

Jojo wollte antworten, als die Tür aufging. Eine triefend nasse Rentnerin erschien im Türrahmen.

»Scheiß Wettervorhersage! Ick hasse diese Versager! Sonne und Wolken, aber keen Regen, det war die Vorhersage! Und bezahlt werden sie och noch für den Mist!«

Tommy eilte besorgt mit einem Handtuch hinter dem Tresen hervor. »Erna, du bist ja ganz nass, komm, ich helfe dir!« Ohne auf Ernas Murren zu achten, begann er sie abzutrocknen.

»Lass mal, meen Kleener! Mach mir mal ’nen Käffchen, ick brauch dringend eenen.« Sie lächelte ihm zu. Tommy gehörte zu den wenigen, denen Erna jemals zulächelte. Er verschwand sofort hinter dem Tresen.

»Na, ihr Pappnasen! Außem Bett jefallen?«

»Grüß dich Erna, wie ich sehe, bist du heute bestens gelaunt, wie immer.« Jojo grinste sie an, so wie jeden Tag, an dem Erna ihren Charme versprühte.

»Wat soll ick machen, bei dem Wetter?« Sie deutete nach draußen und warf den beiden einen abfälligen Blick zu.

»Schön, dass du uns trotzdem beehrst!«

»Ick werd wohl die einzije bleiben, wenn det so weiterjeht!« Wieder bedachte sie Jojo mit finsterer Miene und setzte sich auf ihren Stammplatz. Tommy eilte herbei und servierte Kaffee und Kekse. Erna strahlte. Binnen kürzester Zeit kicherten die beiden um die Wette.

»Wir brauchen ein Wunder.« Jojo rieb sich, noch während er sprach, das Gesicht.

»Hundert Ernas am Tag sind mathematisch gesehen die bessere Lösung.«

Jojo sah in ihre Richtungund verdrehte die Augen.

»Hundert Ernas brauche ich so dringend wie ein Loch im Kopf.«

»Kein Wunder und vollkommen nachvollziehbar!« Fürsorglich legte Max seinem Kumpel die Hand auf die Schulter. »Hey, bleib locker, Mann! Bisher hast du immer eine Lösung gefunden.« Er verschlang den Rest des Frühstücks und wischte den Mund mit der Handfläche ab. Den Kaffee leerte er im Stehen.

»Alter, ich muss los!«

Jojo winkte geistesabwesend. Einfacher gesagt als getan, dachte er. Bisher hat dieser Rettungsring aus einer Person bestanden. Wie lange das noch so funktioniert? Mutter wird nicht ewig den Geldbeutel zücken, um mir aus der Patsche zu helfen.

Der Familie hatte Jojo früh den Rücken gekehrt und ein eigenes Leben gewollt, fernab von Dahlem und dem dort ansässigen Spießertum. An die Erleichterung des Vaters über diese Entscheidung erinnerte er sich nur zu gut. Der rebellierende Sohn hatte ihn jahrelang den letzten Nerv gekostet. Beide sahen den Schnitt als endgültig an. Zu früh hatte Jojo angefangen, aus dem beschaulichen Dasein auszubrechen. Für seine Mutter war eine Welt zusammengebrochen. Als er nach geschmissenem Studium und etlichen Gelegenheitsjobs eine Starthilfe für das Café brauchte, hatte sie trotz der Tobsuchtsanfälle ihres Mannes eingewilligt. Aber die Vorstellung, sie jetzt erneut anzubetteln, bereitete ihm Magenschmerzen.

»Sach mal, meen Kleener, wie lange willst du in dieser Schabracke eigentlich noch vor dich hindümpeln?« Gestärkt durch Tommys köstlichen Kaffee und weitgehend trocken, stand Erna angriffslustig vor ihm.

»Meine Gäste zählen auf mich Erna, ich kann sie nicht enttäuschen.« Einen Schlagabtausch mit der schrulligen Alten konnte er in diesem Moment nicht gebrauchen.

»Ha! Dat ick nich lache! Wat ’n für Kunden?« Vielsagend schaute sie sich in dem leeren Raum um. »Stammkunden, so wie icke? Die kommen wegen Tommy und seinem Kaffee«, mit der Tasse prostete sie Jojo zu, »det is aber auch allet!« Erna nahm unvermittelt neben ihm Platz. »Ick sach dir jetzt mal wat, meen Süßer. Dass die Nummer sich nich rechnet, dazu brauch ick keenen Abschluss. Det kann man an fünf Fingern ausrechnen«, sie lächelte spöttisch, während sie mit ihrer freien Hand eine ausschweifende Bewegung machte. »Ick mach mir Sorgen um Tommy. Der wär am Boden zerstört, wenn det hier zu Ende jeht. Lange wird det nich mehr jut jehen, hab ick recht?«

Wortlos schauten sie einander an. Erna nahm einen letzten Schluck Kaffee, bevor sie aufstand. Missbilligend sah sie auf Jojo herab.

»Weeste meen Kleener, unsereins kann et sich nich aussuchen, wie er zu Jeld kommt. Da jeht nur eens, Klappe halten und arbeiten! Leute wie dich kann ick nich verknusen! Bekommen von kleen auf allet in den Arsch jeblasen und kriegen trotzdem nüschd uff de Reihe. Janz großet Kino!« Mit Schwung stellte sie die Tasse ab und wandte sich zu Tommy, der hinter dem Tresen arbeitete. »Tommy meen Süßer, ick mach los! Wir sehen uns!« Sie winkte ihm zu, lächelte und verließ grußlos das Lokal.

Jojo hätte Erna am liebsten eigenhändig vor die Tür gesetzt. Sein Blick folgte ihr, bis sie um die Ecke verschwand. Der Regen hatte aufgehört, der Himmel klarte langsam auf. Jojos Stimmung nicht.

Entnervt räumte er die Papiere zusammen und feuerte sie hinter den Tresen. Tommys strafender Blick folgte umgehend.

»Ich weiß, Tommy! Ich räum sie gleich weg. Ich muss kurz an die frische Luft.«

Ein paar Häuserblöcke weiter ging es ihm besser. Auf der Gneisenaustraße herrschte reger Verkehr. Jojo blieb stehen und sah gedankenverloren den vorbeifahrenden Autos nach. Das ist mein Pflaster, dachte er. Hier bin ich zur Ruhe gekommen. Die Idee, alles zu verlieren, schnürte ihm die Kehle zu.

Mit den Händen tief in den Taschen vergraben trat Jojo den Rückweg an. Die Straßen füllten sich zunehmend mit Fußgängern, die meisten auf dem Weg zur Arbeit. Zahlreiche Mütter mit Kleinkindern in Richtung Kita, oder Schüler, die an ihren Smartphones klebten, belagerten die Gehwege. Rentner mit Einkaufstaschen straften jeden, der ihnen in die Quere kam. Beim türkischen Gemüsehändler herrschte reges Palaver. Die ersten Coffeeto-go-Bestellungen verließen die Läden, Händler ordneten die Auslagen neu. Der Tag hatte die Stille der frühen Morgenstunden verdrängt.

In Jojos Café schwatzten zahlreiche Stammkunden mit Tommy, der strahlend Kaffeebestellungen servierte und von jedem ein dankbares Lächeln erntete.

»Auf einmal waren alle da«, rief er, als Jojo hinter dem Tresen erschien, »kaum warst du aus der Tür, kamen sie hereingeschneit!« Er gluckste erfreut. »Aber Super-Service-Man hat alles im Griff!«

»Alter, was würde ich nur ohne dich tun?« Dankbar klopfte er Tommy auf die Schulter. »Ich geh mal schauen, was noch an Vorräten da ist.«

Die Vorratskammer empfing ihn im üblichen Durcheinander. Die Dinge standen dort, wo Platz war. Lustlos begann Jojo, Ordnung zu schaffen. In der anliegenden kleinen Küche sah es nicht anders aus, sie wurde kaum genutzt. Toter Raum, der für die Kühlstellung angelieferter Lebensmittel genutzt wurde. Die Palette war ebenso bunt wie gemischt. Jojo kritzelte die nötigen Einkäufe auf einen Zettel, verstaute ihn zusammengeknüllt in der Hosentasche und ging zurück in den Laden.

Eine Gruppe Kleinkinder hüpfte aufgeregt herum und rief: »Tommy, Tommy!« Ihre Betreuerinnen konnten sie kaum im Zaum halten. Tommy strahlte und stellte die Getränkebestellung zusammen. Wortlos ging Jojo ihm zur Hand.

»Tommy schafft das, Tommy ist Super-Service-Man!« Er gluckste und summte eine Melodie. Wenig später griff er zum Tablett und eilte zu den jubelnden Kindern.

Jojo sammelte leere Tassen und Teller ein und stellte sie in die Spülmaschine. Der plötzliche Trubel hatte seine schlechte Laune in den Wind geschlagen. Ich habe bisher immer einen Weg gefunden, sagte er sich. Ich werde auch jetzt eine Lösung finden! Die Vorstellung, Tommy und Max zu verlieren, war unerträglich.

Mit diesen Gedanken schob er den letzten Zweifel beiseite. Der Trubel der Geschäftigkeit riss ihn mit. Das Lachen der Kinder, die Gespräche der Gäste und das Klappern der Tassen bildeten die Melodie seines Alltags. Er klammerte sich daran wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz, in der Hoffnung, Land zu sichten.

– 2 –

Der Wagen steuerte im freien Sturzflug auf einen Abgrund zu. Die Lider der Frau flatterten unruhig im Schlaf, der Traum wurde immer bedrohlicher. Ihr Herz raste. Durch dichten Qualm sah sie, wie ein Riese ihren Mann schüttelte, der vor Schmerz aufschrie. Die Schlafende wälzte sich im Bett und drehte den Kopf hektisch von einer Seite zur anderen. Der Albtraum hielt sie wie ein Schraubstock gefangen. Aus der Ferne wuchs ein Bild heran. Die Träumende brach in Schweiß aus. Ein Gesicht nahm quälend langsam Gestalt an. Sie rang nach Luft, ihr Herz hämmerte wie verrückt. Aus dem Nichts zerriss ein markerschütternder Schrei die Stille.

Ruckartig setzte Viktoria sich auf und saß hellwach im Bett. Dicke Haarsträhnen fielen ihr wirr vor die Stirn, das Nachthemd klebte an ihrem schweißgebadeten Körper. Erschöpft ließ sie den Kopf auf das angewinkelte Knie sinken, doch die ersehnte Ruhe blieb aus. Die verstörten Augen des Albtraums verfolgten sie. Lautstark schrien sie voller Entsetzen und Verzweiflung. Sie hasste es, wenn Träume wie dieser ihr mühsam erkämpftes Selbstvertrauen ins Wanken brachten.

Benommen zog Viktoria eine Strähne aus dem Gesicht. Ihr Atem ging unregelmäßig. Sie sah zur Seite und erkannte in der Dunkelheit Sven, der laut schnarchte. Entnervt schob sie die Decke beiseite und setzte die Füße auf den Boden.

Quälende Minuten vergingen, bis das Klopfen in der Brust nachließ. Vorsichtig suchte sie den Weg zum Badezimmer ohne dabei den geringsten Lärm zu verursachen. Ihr Mann hasste es, im Schlaf gestört zu werden. Er war danach für den Rest des Tages ungenießbar. Mit zaghaften Schritten bahnte sich Viktoria einen Weg in der Dunkelheit. Sie erkannte den Türrahmen und tastete nach dem Lichtschalter. Lautlos öffnete sie die Tür und trat unbeholfen ein.

Das Licht blendete sie. Für einen Moment blieb Viktoria mit den Armen schützend vor den Augen ausgebreitet stehen. Schließlich sah sie wieder in den Raum. Das edle Badezimmer strahlte wie so oft ein Versprechen der Ruhe aus. Sie ging zum Spiegel und suchte Halt am Waschbeckenrand. Ihr Kopf schmerzte höllisch. Bestürzt betrachtete sie ihr Spiegelbild.

Aschfahl, die Haare verklebt und das Negligé völlig verschwitzt, stand Viktoria wie erstarrt. Sie beugte sich dicht an das Glas. Vorsichtig streifte sie mit dem Finger über die Haut. Jeden Millimeter der feinen Konturen nahm ihr prüfender Blick in Augenschein, suchend und nervös. Die innere Unruhe ließ sie nicht los.

Sie wusch sich mit eiskaltem Wasser und spülte ausgiebig den Mund. Der bittere Geschmack blieb. Dann band sie die Haare zusammen und prüfte erneut ihr Aussehen. Regungslos starrte sie in den Spiegel, gedankenverloren und verängstigt.

Deutlich erschien das Bild des Schreckens wieder vor ihr, der markerschütternde Schrei zerriss die Stille. Das Antlitz vor Augen überkam Viktoria ein schleichendes Gefühl. Der verzweifelte Blick schnitt ihr die Luft ab. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Ihr Herz schlug wieder heftiger, die Angst lag auf ihr wie eine Kältedecke. Erfolglos versuchte sie, die nagende Unsicherheit zu verdrängen, die sie sonst so gut im Griff hatte. Jahrelange Übung der Selbstbeherrschung, aus den Fugen geraten durch diesen Albtraum.

Nachdem heißer Dampf die Sicht in der Duschkabine verhüllte, streifte Viktoria ihr Nachthemd ab und trat unter den Wasserstrahl. Genüsslich stand sie und sog die Wärme in sich auf. Erst als die Hitze übermächtig wurde, verließ sie die Dusche.

In ein Handtuch gehüllt, die Haare in einem Turban drapiert, trat Viktoria kurze Zeit später wieder vor den Spiegel. Minutiös verteilte sie Creme im Gesicht. Sorgfältig kreisten die Finger behutsam auf den Wangen, der Stirn und um den Mund. Die kastanienbraunen Augen verfolgten angespannt jede einzelne Bewegung. Zufrieden stellte sie den Spender zurück an den gewohnten Platz und betrachtete erneut ihr Aussehen. Die Haut hatte eine zarte Rötung, sie strahlte Frische aus.

Ein Albtraum, mehr nicht, entschied sie, nahm einen flauschigen Bademantel und prüfte mit geschultem Blick, ob keinerlei Unordnung die erlesene Ausstattung des Badezimmers störte. Zufrieden kehrte sie zurück ins Schlafzimmer. Svens Schnarchen tönte durch den Raum. Behutsam ging sie Richtung Tür und drückte vorsichtig die Klinke runter. Katzenhaft schlich Viktoria in den Flur und atmete auf der Treppe erleichtert auf.

Im Wohnzimmer kam sie vor dem Panoramafenster zum Stehen. Zartes Morgenrot krönte die Dächer Berlins. Die Stadt schlief noch, auf den Straßen sah man nur vereinzelte Autos. Nirgends lief ein Fußgänger, die Bürgersteige leergefegt. Viktoria ließ den Blick zum nahegelegenen Kurfürstendamm schweifen, wo die Schaufenster der Nobelboutiquen kleine Farbexplosionen lieferten. Sie liebte diesen Ausblick. Die Belohnung jahrelanger harter Arbeit und Selbstgeißelung.

Viktoria ging zur offenen Wohnküche. Moderne Kunst schmückte die Wände der Wohnung, die perfekt arrangiert stand. Kein Detail der Einrichtung war dem Zufall überlassen worden. Höchste Zeit für einen Kaffee, entschied sie. Geübte Griffe lieferten zügig das gewünschte Ergebnis. Herrlicher Kaffeeduft zog durch den Raum. Als sie die Tasse an den Mund führte, entglitt ihr der Henkel. Der Inhalt des Bechers landete auf der Front des Bademantels.

»Verdammter Mist!« Entnervt stellte Viktoria ihn ab und betrachte den Fleck, der großzügig den Morgenmantel zierte. »Na toll!«

In diesem Moment summte ihr Smartphone. Verwirrt sah sie sich um. Es lag auf dem Küchentisch neben der Handtasche, wo sie es am Vorabend liegen gelassen hatte. Viktoria nahm es und las die Nachricht.

»Na, schon aufgeregt?« Viktoria prüfte die Uhrzeit. Fünf Uhr dreißig, auf Cora war Verlass. Kurzentschlossen textete sie zurück: »Völlig entnervt! Erst ein Albtraum und jetzt Kaffee auf dem Bademantel, ein schlechter Start!«

Viktoria legte das Telefon auf die Arbeitsplatte. Geistesabwesend strich sie mit den Fingern über die Oberfläche. Der kühle Granitstein beruhigte ihre angespannten Nerven. Sie drückte die Programmtaste für eine weitere Tasse. Noch während das Getränk zubereitet wurde, klingelte das Smartphone erneut. Viktoria lächelte, sie hatte mit Coras Anruf gerechnet.

»Du und Albträume? Ausgerechnet jetzt? Heute ist dein Tag!« Cora klang irritiert. Der Tagesplan sah keine Pannen vor.

»Ich weiß … aber dieser Traum«, nervös rieb sie ihre Handfläche über die Stirn. »Cora, er war so verdammt echt.«

»Red ihn dir von der Seele, dann ist er weg! Also, raus mit der Sprache!«

Viktoria schwieg. Erneut sah sie das Bild des Albtraums, wieder zerriss der markerschütternde Schrei die Stille. Ihr Magen verkrampfte sich bei der Vorstellung. Das Leuchten der Lampe erinnerte sie daran, dass der Kaffee auf sie wartete. Behutsam hob sie die Tasse und genoss den Duft.

»Viktoria?«

Viktoria atmete tief durch. »Ich bin noch dran.« Gemächlich ging sie zum Panoramafenster, nahm in ihrem Lieblingssessel Platz und trank einen kräftigen Schluck.

»Mein Gesicht war in diesem Traum, Cora!«

»Das ist alles andere als ein Albtraum.«

»Ich …« Viktoria geriet ins Stocken.

»Na los, raus mit der Sprache!«

»Diese Augen, ich …«

»Entspann dich, was war mit den Augen?«

»Sie starrten mich entsetzt an, völlig verzweifelt! Und dann der Schrei …«, wieder brach sie ab. »Cora, es war einfach grauenvoll!«

»So ein Schwachsinn! Vergiss das alles, reine Zeitverschwendung! Außerdem musst du früher ins Büro als geplant. Jason ist bereits in der Stadt. Er ist gestern Abend angereist. Immer für eine Überraschung gut.«

Viktoria sprang auf. »Er ist so verdammt unberechenbar!«

»Offensichtlich hat er besonderen Spaß daran. Um Punkt neun Uhr plant er ein Meeting mit uns beiden. Sei pünktlich! Nicht gerade der passende Tag, um ihn zu verärgern.«

»Er bringt es fertig und überlegt es sich anders.«

»Wohl kaum! Also, bis nachher.«

Viktoria legte das Telefon beiseite, prüfte die Uhrzeit und sank wieder in die Kissen. Ihr blieben knapp drei Stunden Zeit. In der Hoffnung, Ruhe zu finden, atmete sie tief durch, doch die innere Anspannung ließ sich nicht abschütteln. Entnervt griff sie nach der neuesten Ausgabe der Vogue und begann lustlos darin zu blättern. Eine Werbung fiel dabei zu Boden. Viktoria hob sie auf und sah genauer hin. Perfekte Körper und makellose Gesichter strahlten auf Hochglanzpapier um die Wette. Die Broschüre stammte von einem Besuch in einem Schönheitssalon. Die Kosmetikerin hatte die Klinik wärmstens empfohlen. An das Gespräch entsann sie sich bestens.

Die junge Frau, deren Können ihrem fabelhaften Aussehen in nichts nachstand, hatte diese Adresse wiederholt gepriesen.

»Vorausplanen ist die halbe Miete«, hatte sie gezirpt. »Natürlich sind Sie noch weit davon entfernt, so etwas auch nur annähernd zu brauchen, Frau Neufeld! Ich behandle solche Informationen selbstverständlich streng vertraulich. Sie wissen ja, Diskretion ist alles!«

Viktoria betrachtete die Broschüre genauer. Es gab eine Menge dieser Adressen, ein paar Straßen weiter begrüßte die Fensterscheibe eines Gewerbes Passanten mit den Worten Botox to go. Sie schauderte bei dem Gedanken.

Aber ganz ohne Hilfe werde ich mein strahlendes Aussehen nicht halten können, ermahnte Viktoria sich. Der Vierzigste steht förmlich bevor. Vier Jahre vergehen wie im Flug! Erneut betrachtete sie die Werbung, las den Text und musste schmunzeln: Unsere Anwendungen sind einzigartig und maßgeschneidert. Ein hoch professionelles Team ebnet den Weg zu einer strahlenden Erscheinung. Wir beraten Sie gerne.

Ewige Schönheit für hochkarätige Preise, wie einfallsreich! Sie verstaute die Broschüre in der Zeitschrift und durchblätterte hektisch die Seiten. Schließlich legte sie das Magazin beiseite und erhob sich. Viktoria nahm einen letzten Schluck aus der Tasse. Das Getränk war lauwarm.

»Bäh! Kalter Kaffee, was für eine Zumutung!« Mit diesen Worten stand sie auf, ging zum Fenster und sah hinaus. Mittlerweile herrschte etwas mehr Betrieb auf den Straßen. Vereinzelt eilten Passanten auf den Bürgersteigen umher, manche mit Zeitungen unter den Armen, einige mit Schirmen bewaffnet. Viktoria hob den Blick. Dicke Wolken zogen mit hohem Tempo über den Himmel. Sie prüfte die Wettervorhersage auf dem Display des Smartphones: sonnig bewölkt.

»Passt mal wieder gar nicht!« Sie schnürte den Morgenmantel enger. Der große Kaffeefleck triumphierte hartnäckig auf der Front. Viktoria überlegte kurz und eilte in das obere Stockwerk. Vorsichtig öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer.

»Komm ruhig rein«, Sven gähnte verschlafen, »so wie du die Treppe hochtrampelst, ist an Schlaf kaum noch zu denken.«

»Ich trample nicht!«

»Doch mein Schatz, das tust du! Wie die meisten Frauen. Aber sei unbesorgt, ich liebe dich trotzdem.«

Genervt ging Viktoria zum Fenster und öffnete die Gardinen.

»Es ist sowieso an der Zeit aufzustehen, Jason ist bereits in der Stadt und hat für neun Uhr ein Meeting angesetzt.«

»Ich hasse diesen Mistkerl!« Sven raufte sich gähnend die Haare. »Wenn er keine Aufmerksamkeit bekommt, ist er nicht zufrieden.«

»Sind alle Multimillionäre so?«

»Der Typ hat keine Hobbys, das ist das Problem.«

Viktoria öffnete das Fenster. Immer dichtere Wolken füllten den Himmel.

»Hey! Ich bin noch im Bett! Es ist verdammt kalt da draußen!«

»Schatz, es ist Spätsommer! Du übertreibst maßlos.«

»Weil ich so unsanft geweckt wurde. Komm her meine Schöne, mach es wieder gut!« Mit ausgestreckten Armen lag er im Bett. Viktoria betrachtete ihn aufmerksam. Sven sah aus wie ein großer Junge. Die zerzausten Haare, das verknautschte Gesicht, das unrasierte Kinn. Lächelnd ging sie auf ihn zu.

»Wie siehst du denn aus?«, fragte er beim Anblick des Morgenmantels. Sein leicht angewiderter Gesichtsausdruck ließ ihr Lächeln schwinden.

»Mir ist die Kaffeetasse aus der Hand gerutscht.«

»Was geisterst du auch in aller Herrgottsfrüh durchs Haus? Mein Schatz, du musst an diesem Tag fabelhaft aussehen! Heute ist dein großer Tag!«

Viktoria glaubte, einen Hauch von Zynismus in seiner Stimme zu erkennen. Sie überlegte kurz, den Albtraum der Nacht zu erwähnen, entschied sich aber kurzerhand dagegen.

»Dann mache ich mich am besten sofort an die Arbeit!« Mit einem kühlen Lächeln verschwand sie im Bad.

Wütend riss sie den Turban vom Kopf und feuerte ihn zu Boden. Der Morgenmantel folgte mit gleicher Wucht. Ihr schulterlanges Haar hing in goldbraunen Strähnen feucht und zerzaust auf einer Seite. Sie wickelte sich ein Handtuch um die Brust und sah prüfend in den Spiegel.

Eine knappe Stunde später kehrte Viktoria ins Schlafzimmer zurück. Sven las eine SMS und lächelte dabei süffisant. Als er aufblickte, erhellte ein Strahlen sein Gesicht.

»Ah, mein Engel, du siehst einfach bezaubernd aus! Bekomme ich einen Kuss?« Sie küsste ihn sanft auf die Lippen. »Mmh, jetzt kann der Tag beginnen!« Sven räkelte sich genüsslich.

Viktoria entging dabei nicht, dass er das Smartphone gekonnt unter der Decke versteckte. Argwöhnisch beobachtete sie, wie Sven ihr ein Unschuldslächeln schenkte.

»Los, aufstehen, Faultier! Ich mach uns Frühstück.« Sie ging zum Schrank und holte einen frischen Morgenmantel hervor.

»Willst du dich nicht gleich anziehen?«

»Ich hab Zeit. Den Luxus gönne ich mir heute! Beeilung, dann können wir gemeinsam einen Kaffee trinken.« Mit diesen Worten verließ sie den Raum.

Sven räkelte sich ein letztes Mal und holte das Smartphone hervor. Eine neue Bildnachricht erwartete ihn. Das Foto auf dem Display war die reinste Wonne. Genüsslich wickelte er die Decke um sich, schloss die Augen und sank noch einmal tief in die Kissen.

– 3 –

Sven konzentrierte sich darauf, die Butter perfekt auf dem Toast zu verteilen. Viktoria sah ihm irritiert zu. Sie fand seine Manie unerträglich. Ab und an blickte er fragend zu ihr auf, verschonte dabei aber keinen Quadratmillimeter der Toastscheibe von dieser Prozedur.

»Was wirst du anziehen?«, warf er beiläufig ein, ohne den Toast aus den Augen zu lassen.

»Ich hatte an den Hosenanzug von Saint Laurent gedacht.«

»Auf keinen Fall«, erwiderte er entschieden und sah kurz auf, »heute ist ein Prada-Tag! Das kleine Schwarze von Escada ginge noch. Aber Prada wäre perfekt.«

Die Marmelade war jetzt an der Reihe, die Sven peinlichst genau auf die Butter auftrug. Viktoria hätte ihm den Toast am liebsten aus der Hand geschlagen. Er lächelte kurz, ließ sich aber nicht weiter ablenken.

»Und dazu deine Lieblinge von Jimmy Choo. Darin«, beschloss er, »wirst du alle in den Schatten stellen.« Sven prüfte ein letztes Mal die Toastscheibe und biss mit Wonne ab.

Viktoria fragte sich immer, ob die Zubereitung ihn mehr befriedigte als der Geschmack. Um sich zu beruhigen, spielte sie mit dem Henkel ihrer Kaffeetasse.

»Die Kombination mag ich eigentlich nicht so. Ich finde sie zu verspielt.«

»Genau deswegen wirst du damit alle bezaubern! Die stahlharte Geschäftsfrau, gehüllt in zauberhaftes und unverwechselbares Design!«

Mit geschlossenen Augen nahm er den letzten Bissen Toast zu sich. Viktoria trank einen Schluck Kaffee und stand auf.

»Ich geh mich umziehen. Ich kann mir keine Verspätung erlauben.«

»Glaube mir mein Engel, es ist die beste Wahl! Heute ist ein Prada-Tag. Was passt besser zu solch einer Beförderung als dieses Design? Die Chefin trägt Prada.«

Sven lehnte sich zurück und lächelte süffisant. Viktoria warf ihm einen kühlen Blick zu und schwieg. Die unterschwellige Provokation schluckte sie wortlos, wenn auch mit Mühe.

Im begehbaren Kleiderschrank schaltete sie das Licht ein. Ein Universum der exklusivsten Designermarken begrüßte sie, fein säuberlich aufgehängt und strikt nach Farbe sortiert. Chanel, Escada, Gucci, Prada, Yves Saint Laurent, Hermès – keiner der großen Namen fehlte. Darunter aufgereiht stand eine Armee von Schuhen von ebenso berühmten Herstellern. Die Handtaschen der Designermarken bildeten in diesem Kleinod der Mode den krönenden Abschluss.

Mit wenigen Griffen hatte Viktoria Svens Auswahl für den Tag zusammengestellt. Mit den Armen verschränkt stand sie und musterte seinen Vorschlag. Sie fügte den passenden Schmuck und eine schwarze Birkin Bag von Hermès hinzu. Ungern gab sie Sven in diesem Fall recht, doch die Kombination versprach den perfekten Auftritt.

Im Handumdrehen stand Viktoria angezogen und betrachtete sich überkritisch im Spiegel. Sie wollte nichts dem Zufall überlassen, heute musste alles bis ins kleinste Detail sitzen.

Urplötzlich unterbrach der Albtraum der letzten Nacht ihre Aufmerksamkeit. Der Schrei zerriss die Stille, die entsetzten Augen ließen sie nicht mehr los.

»Na, was hab ich gesagt, heute ist ein Prada-Tag! Du siehst fabelhaft aus, mein Engel!«

Verschreckt drehte sich Viktoria um, kreidebleich starrte sie Sven an.

»Was ist denn mit dir passiert? Hast du einen Geist gesehen?« Alarmiert sah Sven seine Frau an.

»So ähnlich.« Fieberhaft versuchte sie, sich in den Griff zu kriegen. Viktoria hätte ihm zu gern vom Alptraum der letzten Nacht erzählt, aber die Zeit reichte nicht aus, noch ließen ihre angespannten Nerven es zu. Tapfer setzte sie ein Lächeln auf und ging zu ihm, küsste Sven auf die Wange und lief Richtung Tür.

»Viktoria!«

Irritiert blieb sie stehen, drehte sich genervt um und sah ihn an. Sven hielt ihr die Handtasche entgegen.

»Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Natürlich, ich bin nur in Eile, sonst nichts.«

»Wie du meinst«, prüfend schaute er seine Frau an, nahm sie bei den Armen und küsste Viktoria zärtlich auf den Mund. »Ich bin stolz auf dich. Das wollte ich dir nur sagen. Ich komme in einer halben Stunde nach. Und jetzt Beeilung, mein Schatz!«

Wenig später beobachtete Sven Viktoria, als sie in ihr Auto stieg. Noch während der Wagen aus der Parklücke manövrierte, wählte er eine Nummer. Er sah, wie der BMW Richtung Kantstraße fuhr, und lauschte einer quirligen Stimme.

»Du bist ein böses Mädchen, das muss ich schon sagen«, bemerkte Sven, ließ sich ins Bett fallen und räkelte sich genüsslich.

Der Verkehr Richtung Oberbaumbrücke raubte Viktoria den letzten Nerv. Das Schneckentempo sorgte dafür, dass sie nicht pünktlich im Büro eintraf. Die magischen zehn Minuten Spielraum, die sie gerne im Griff hatte, waren verpufft. Genervt manövrierte sie ihren Wagen in die Parklücke der Tiefgarage. Sie riss die Tür auf und knallte damit gegen den Pfeiler, der wie jeden Morgen am gleichen Platz stand.

»Scheiße!«, brüllte sie. »Scheiße, verdammt!« Viktoria stieg aus und begutachtete den Schaden. Als sie den Seitenspiegel berührte, mit dem sie den Beton gerammt hatte, verabschiedete sich dieser abwärts und hing frei baumelnd an einem Kabelsalat. Viktoria schloss die Augen, unterdrückte die Tränen der Wut und eilte zum Fahrstuhl.

»Guten Morgen, Frau Neufeld.« Die junge Mitarbeiterin am Empfang der Agentur begrüßte sie wie gewohnt mit einem nervösen Lächeln. »Herr Greenfield erwartet Sie bereits.«

Viktoria quittierte die Ansage mit einem kühlen Blick, nickte wortlos und lief unbeirrt zu ihrem Büro. Sie nahm von jedem Mitarbeiter auf dem Weg dorthin Notiz. Niemand ließ Viktoria passieren, ohne sie vorher mit einem gezwungen freudigen Gesichtsausdruck zu begrüßen. Hinter der Glasfassade des Büros sah sie Cora, die scheinbar eine charmante Unterhaltung mit Jason Greenfield führte. Viktoria kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass der Anblick täuschte.

»Guten Morgen, allerseits«, flötete Viktoria beim Eintreten. »Ich muss mich entschuldigen, ich hatte eine Autopanne auf dem Weg ins Büro.«

Jason Greenfield erhob sich bei Viktorias Anblick. Der maßgeschneiderte Anzug begleitete seine fließenden Bewegungen mit der Eleganz eines Raubtiers, das zum Sprung auf sein Opfer ansetzt. Jason bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln, während er theatralisch auf Viktoria zutrat.

»Viktoria, Darling! It’s always a pleasure! Sie sehen fabelhaft aus.« Jason Greenfields britischer Akzent war genauso dezent wie sein Auftreten. Er wartete, bis Viktoria Platz genommen hatte, und setzte sich. In einer eleganten Bewegung schlug er die Beine übereinander und sah sie aufmerksam an. Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte Schweigen.

»Wir sind noch einmal den Ablauf des heutigen Tages durchgegangen.« Cora lächelte bei dieser Aussage nervös.

»Ich habe ein paar Änderungen vorgenommen«, bemerkte Jason beiläufig.

»Die Ideen sind leicht umzusetzen, kleine Details mit großer Wirkung«, fügte Cora mit einem vollendeten Lächeln in seine Richtung hinzu. Ein Klopfen an der Tür unterbrach die Unterhaltung. Viktoria sah irritiert auf.

»Ja bitte!«

Nach dieser forschen Aufforderung öffnete sich zaghaft die Tür. Eine junge Frau erschien im Türrahmen. Cora schloss genervt die Augen. Jason Greenfield blickte zur Tür und schmunzelte süffisant. Viktoria sah den Störenfried versteinert an.

Monika Sommer war Svens rechte Hand, seitdem sie vor gut sechs Monaten den Posten bei der Green Field Agency angetreten hatte. Sie hatte alle anderen Kandidaten spielend ausgestochen, was auch daran lag, dass ihr Aussehen die hervorragenden beruflichen Qualifikationen noch übertrumpfte. Monika verstand es bestens, ein dralles Erscheinungsbild mit mädchenhaftem Charme zu unterstreichen. Für Männer ein Genuss, für jede Frau ein regelrechter Albtraum. Viktoria hatte getobt, als sie von der Anstellung erfahren hatte.

Mit geübten Schritten, die ihren üppigen Busen in einen kleinen Tanz versetzten, trat Monika an die Gruppe heran. Ein unschuldiges Lächeln begleitete sie auf dem Weg dorthin.

»Was gibt es?« Viktorias Stimme klang eisig. Innerhalb von Sekunden hatte sie Monikas Aufmachung gemustert. Die High Heels besaßen eine mörderische Höhe, eine eng anliegende Marlene-Dietrich-Hose betonte die runden Hüften und das einladende Hinterteil. Die schneeweiße Bluse saß einen Tick zu eng und forderte von den Knöpfen im oberen Bereich Höchsteinsatz.

»Ihr Mann hat mich gebeten, Ihnen die Präsentationsmappe zu bringen und auszurichten, dass er sich auf Grund des Verkehrs verspäten wird.«

Mit einer Unschuldsmiene reichte Monika Viktoria die Mappe, die niemand bei diesem Auftritt bemerkt hatte.

»Danke, wir werden die Zeit zu überbrücken wissen«, meldete sich Jason zu Wort. »Die kreative Ausführung der Jungmann-Kampagne hat mich übrigens sehr beeindruckt«, fügte er mit ernster Miene hinzu.

»Das freut mich, Herr Greenfield. Ich möchte die Besprechung jetzt nicht weiter stören.«

Monika nickte erst Viktoria, dann Cora mit einem souveränen Lächeln zu und schritt mit gekonnt betonten Hüftbewegungen zur Tür. Keiner der Anwesenden ließ sie dabei aus den Augen, bis die Tür sanft ins Schloss fiel.

Viktoria beobachtete Jason aufmerksam, während er den Blick zum Fenster richtete. Dunkles Grau zierte den Himmel über Berlin. Mit Regenwasser getränkte Wolken warfen Schatten auf die unruhige Spree, der bevorstehende Regenguss würde nicht lange auf sich warten lassen.

»Sieben Prozent«, bemerkte Jason so leise, dass die Aussage fast unbemerkt blieb. Sein Blick ruhte jetzt auf Viktoria. »Das ist machbar, meinen Sie nicht?«

Im Raum herrschte absolute Stille. Coras Versuch, Blickkontakt mit Viktoria aufzunehmen, scheiterte. Die beiden starrten einander schweigend an.

»Sieben Prozent Umsatzsteigerung«, wiederholte Jason.

»Völlig indiskutabel.« Viktoria räusperte sich und lächelte. Jason wich ihrem Blick aus und blieb wie so oft ein Rätsel.

»Sieben Prozent. Sie können es, Viktoria! Sonst sehe ich im heutigen Tag keinen Sinn. Zudem muss ich über sie Deutsche immer wieder lachen. Sie zetern unentwegt und behaupten rigoros, dass Steigerungen nicht machbar sind, um kurze Zeit später die Welt in den Schatten zu stellen.« Er lächelte und stand auf. Schweigend betrachtete er das Panorama zu seinen Füßen. Der Himmel hatte die Schleusen geöffnet. Fußgänger eilten die Gehwege entlang, der Verkehr verlangsamte sich deutlich.

»Sieben Prozent! Das ist mein letztes Wort und zudem keine Bitte.« Jason richtete den perfekt sitzenden Anzug. »Ich habe noch eine Verabredung. Wir sehen uns später.« Mit einem charmanten Lächeln ließ er sie zurück.

Viktoria starrte in die Luft. Cora spielte nervös mit ihrem Stift. Schweigend saßen sie und lauschten dem Unwetter. Schließlich erhob sich Viktoria und ging zum Fenster. Cora schwieg. Sie in solch einem Moment zu stören, hatte oft fatale Auswirkungen. Der Regen trommelte mit Wucht gegen die Glasfront, während eine kleine Ewigkeit verstrich. Schließlich kehrte Viktoria mit finsterer Miene zurück und nahm Platz am Tisch.

»Das war’s dann wohl mit meinem großen Tag! Mir ist die Laune zu feiern vergangen.« Viktoria schloss die Augen und rieb ihre Schläfen. »Sieben Prozent Umsatzsteigerung, das ist nicht zu machen, wie verdammt soll das gehen? «

»Fünf Prozent haben wir letztes Jahr geschafft, mit mehr Glück als Verstand! Jetzt sieben, und dann? Zehn, zwanzig? Was denkt er sich dabei?«

Wortlos sah Viktoria Cora an. Natürlich waren sieben Prozent zu schaffen, dachte sie, aber es wird Opfer kosten.

Sie kalkulierte bereits, wie viele Mitarbeiter sie verbrennen müsste, um dieses Ziel zu erreichen. Anders war das nicht zu machen.

»Für ihn ist es ein Spiel. Eines, das ihm höllischen Spaß bereitet. Das ist die einzig plausible Erklärung. Die Green Field Agency ist klein im Vergleich zu den zahlreichen Firmen, die er besitzt. Ein absoluter Witz, wenn du mich fragst. Die Agentur ist sein Steckenpferd. Seitdem ich mit ihm arbeite, kenne ich nur höher, weiter, besser, etwas anderes interessiert ihn nicht.« Viktoria ließ Cora bei dieser Aussage nicht aus den Augen.

»Der Typ ist ein Mistkerl.«

»Das habe ich heute schon einmal gehört.«

»Dass dein Mann so einen Durchblick hat, ist neu für mich. Er himmelt ihn doch förmlich an?«

Viktoria warf ihr einen scharfen Blick zu. Cora gab nicht viel auf Sven und machte keinen Hehl daraus. Sie verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Ein klares Zeichen, von Bemerkungen dieser Art abzusehen.

»Ich weiß nur zu gut, wie du über ihn denkst. Es ist unnötig, das Thema neu aufzurollen.« Gedankenverloren spielte Viktoria mit einem Kugelschreiber und schwieg. Die Stille im Raum war erdrückend.

»Viktoria, ich bin deine rechte Hand. Es ist meine Aufgabe, hinter dir zu stehen. Wir sind ein Team und ich liebe es, mit dir zu gewinnen. Und«, Cora hielt einen Augenblick inne und sah ihr in die Augen, –für manch anderen ein Ding der Unmöglichkeit, »Svens Verhalten wird langsam auffällig.«

Die Regentropfen trommelten stärker gegen das Fenster. Ein Schatten huschte über Viktorias Gesicht. Die Information traf einen wunden Punkt. Sie kam abrupt auf die Füße. Die Glasfront des Büros gab den Blick frei auf den Empfangsbereich. Sven plauderte mit Jason, während Monika mit einem zuckersüßen Lächeln neben ihm stand. Die Vertrautheit der beiden ließ sich nicht leugnen. Viktoria ballte die Hand zur Faust. In diesem Moment schaute Sven zu ihnen herüber und winkte übertrieben lässig.

»Du hast recht«, gab sie zu. »Wie verpacke ich es am besten? Ich leite die Agentur deutschlandweit. Den Erfolg ungetrübt genießen zu können, wird offensichtlich nicht passieren. Dafür sorgen mein Mann und die verfluchten sieben Prozent. Zu schade!« Viktoria drehte sich um und nahm wieder Platz.

Ohne Vorankündigung ging die Tür auf. Sven trat ein, mit Monika im Schlepptau. Cora verdrehte die Augen. Viktorias Miene verfinsterte sich beim Anblick der beiden.

»Ich hatte vorhin nicht die Möglichkeit, dir zu sagen, wie absolut fabelhaft du heute aussiehst!« Monika lächelte bewundernd, nachdem sie die Worte in den Raum gehaucht hatte.

»Danke, wie aufmerksam von dir! Wenn es die Bluse in der passenden Größe gegeben hätte, wäre deine Erscheinung ebenfalls einwandfrei. Dein Charme gleicht das zweifellos aus.«

Monikas Lächeln erstarb. Sven lief puterrot an, genau wie sie. Cora schaute zu Boden, um ihr Grinsen zu verbergen. Viktoria schwieg. Feindselig sah sie Monika an, die versuchte, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.

»Sven, ich möchte dich kurz unter vier Augen sprechen. Cora, ihr beiden entschuldigt uns bitte.« Sie stand auf, ging zum Fenster und wartete, bis die Tür ins Schloss fiel. Unschuldig sah Sven sie an, ging auf Viktoria zu und lächelte.

– 4 –

Jojo betrachtete sein T-Shirt, das er beim Säubern der Kaffeemaschine versaut hatte. »Na toll«, fluchte er. Ausgerechnet jetzt! Er feuerte den Lappen in die Spüle und überlegte, sich umziehen, als Tommy mit einem verzauberten Blick vor ihm stand.

»Deine Mama ist so schön!« Verträumt sah er Jojo an. »So schön!«, wiederholte er.

»Ja, das ist sie.«

Jojo sah Richtung Tür, durch die seine Mutter in diesem Moment kam. Helena Richter verstand den perfekten Auftritt wie keine andere Frau und strahlte eine natürliche Eleganz aus. Haltung, Mama hat Haltung, dachte Jojo. Unglaublich, was so etwas ausmacht! Ihr dezentes Parfüm versetzte Tommy in einen Zustand der Verzückung. Vor Begeisterung klatschte er laut in die Hände. Helena Richter lächelte höflich.