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Der junge Fernsehjournalist Tom Becker hat sich in die Serviererin Lisa verliebt. Als er vor dem Münchner Sternerestaurant »Odeon« auf sie wartet, torkelt ein Restauranttester aus dem Lokal und bricht auf der Motorhaube von Toms Wagen zusammen. Er wurde vergiftet. Tom will wissen, wer und welches Motiv hinter dieser Tat stecken. Ist womöglich Lisa darin verwickelt? Bei der Spurensuche stößt er auf einen Konkurrenten des Odeon-Küchenchefs und muss sich gegen einen brutalen Rocker zur Wehr setzen. Außerdem macht ihm sein gefühlskalter Chef die Hölle heiß …
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Seitenzahl: 354
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Jörg Lösel
Mord à la carte in Schwabing
Kriminalroman
Tödliche Speisen Der junge, sensible aber ehrgeizige TV-Journalist Tom Becker hat aktuell zwei Ziele: Er möchte einen festen Job bei dem Münchner Fernsehsender TV 1, und er wünscht sich Lisa als Freundin, die im Zwei-Sterne-Restaurant »Odeon« serviert. Als er vor dem Restaurant auf sie wartet, kommt ein Mann aus dem Lokal getorkelt und bricht ohnmächtig auf Toms Wagen zusammen. Zunächst denkt Tom, der Mann habe nur sein Spitzenmenü nicht vertragen, doch dann stellt sich heraus, dass er ermordet wurde. Im Fernsehen berichtet Tom über einen Prozess, bei dem der Sternekoch des »Odeon« angeklagt ist. Bei seinen Recherchen stößt er auf den Chefkoch Marc Wissler, der mit dem »Odeon« um einen dritten Stern konkurriert. Bald gibt es einen zweiten Toten, und plötzlich wird es auch für Tom gefährlich. Doch das ist nicht sein einziges Problem. Sein gefühlskalter Redaktionsleiter schränkt sein Potenzial eher ein, als dass er es fördert, und seine Beziehung zu Lisa ist einem großen Auf und Ab unterworfen. Ist sie vielleicht selbst in den Mord verwickelt?
Jörg Lösel, 1948 in Erlangen geboren, lebt seit 50 Jahren in München. Nach dem Studium der Sinologie, Soziologie und Kommunikationswissenschaften führte er Reiseleitungen nach Asien durch und war als freier Mitarbeiter beim Bayerischen Rundfunk/Fernsehen tätig. Ab 1983 arbeitete er als Redakteur im Fernsehbereich des BR, zuletzt als stellvertretender Leiter und Redaktionsleiter der Programmredaktion von BR-alpha. Er betreute fiktionale Fernsehserien sowie Sendereihen aus dem Bildungsbereich mit Prof. Harald Lesch und Prof. Manfred Spitzer. Als Gegengewicht zum Fernsehgeschäft verlegte er sich privat auf das Schreiben von Geschichten und Romanen. Jörg Lösel ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder, kocht gerne und reist viel.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Katja Ernst
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © magdal3na / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6766-0
Für Tine, Corinna und Philipp
Tom ließ das Seitenfenster herunter, um den Rauch nach draußen zu blasen. Frauen hatten oft so feine Nasen und mochten es nicht, wenn es im Auto nach Zigaretten roch. Ob das bei Lisa der Fall war, wusste er noch nicht. Er wartete in seinem roten Dacia Logan, der schon ein paar Roststellen hatte, um sie abzupassen. Es sollte eine Überraschung werden.
Er hatte Lisa beim Taekwondo kennengelernt, und sie hatte ihm gleich gefallen: die schwarze Kurzhaarfrisur, die grünen Augen und der volle, rot geschminkte Mund. Nach der Trainingsstunde waren sie auf einen Drink in eine Schwabinger Eckkneipe gegangen, und da hatte sie ihm erzählt, dass sie im Odeon als Bedienung arbeitete.
Er war froh, direkt vor dem Restaurant einen Parkplatz bekommen zu haben. Die Fallmerayerstraße, in der das Odeon lag, war eine ruhige Schwabinger Wohnstraße. Mal lief ein nächtlicher Jogger den Gehsteig entlang, mal rauschte ein PKW durch die Stille, immer wieder sah Tom fröhlich lachende Paare aus dem dezent beleuchteten Gourmet-Tempel kommen, allesamt gestylt und in Abendgarderobe. Ansonsten war es sehr still für eine Großstadt. Im Eingangsbereich des Odeon stand eine Skulptur mit dem bärtigen Kopf des antiken Philosophen Epikur, der als Botschafter des guten Geschmacks den Weg wies.
Tom knurrte der Magen, er dachte an die teuren kulinarischen Leckereien, warf die Zigarettenkippe aus dem Fenster und biss in seine Wurstsemmel, die er sich an einem Brotzeit-Stand besorgt hatte. Er steckte seinen Musik-Stick in die Hi-Fi-Soundanlage, und hörte »Wicked Game« von Chris Isaak, in dem die Zeile vorkommt: »Ich hätte nie gedacht, dass ich jemandem wie dir begegnen würde.«
Schön. Schnulzig. Tom lächelte träumerisch vor sich hin. Ihm kam die MeToo-Debatte in den Sinn, die weltweit Sexismus und Gewalt von Männern gegen Frauen in den Mittelpunkt gestellt und das Kennenlernen und Zusammenleben zwischen den Geschlechtern verändert hat.
Er dachte wieder an Lisa, an ihren weißen Teint im Kontrast zum schwarzen Haar und an ihren exotischen Duft.
Automatisch drängte sich ihm der nächste Gedankensplitter auf: wie er seine Ex Franziska mit seinem besten Freund Gregor vor einem Jahr im Bett erwischt hatte. Es war ein Gefühl, als würden seine Beine nachgeben und er in sich zusammenklappen wie eine Ziehharmonika beim Schlussakkord. Sein Kopf war voll von Leere, und vor den Augen schwirrten rote Flecken. Mit Franziska und Gregor hatte er seither kein Wort mehr gesprochen. Gegenüber Frauen hatte er sich in der Folgezeit sehr reserviert verhalten, die Angst vor einer erneuten Enttäuschung hatte ihn verschlossen gemacht. Doch Lisa hatte ihn auf den ersten Blick angezogen. Wäre es nicht schön, wenn er sie näher kennenlernen könnte – und sie vielleicht sogar seine feste Freundin werden würde?
Tom zog seine Lederjacke enger und schloss das Fenster. Obwohl es Anfang Mai war, war es frisch, am Abend hatte es leicht geregnet, in den Pfützen spiegelten sich die Lichter der Straßenlampen.
Im Spiegel der Sonnenblende sah er seine hellbraunen Haare, die wirr über seine Ohren fielen und nach einem Haarschnitt verlangten. Mit ein paar Fingerstrichen brachte er sie halbwegs in Form, zu geleckt wollte er Lisa auch nicht gegenübertreten. Sein Dreitagebart verstärkte den lässigen Eindruck.
Die Tür des Odeon wurde aufgestoßen, und ein leicht korpulenter Mann trat unsicher ins Freie, sein dunkelblauer Trenchcoat stand offen, ebenso wie sein Jackett. Der Mann riss an seinem Krawattenknoten und an den Knöpfen seiner weißen Hemdbrust, versuchte sich Luft zu verschaffen. Torkelnd lief er auf die Straße zu, vorbei an der Skulptur, und presste die Hände in die Magengegend.
Der muss wohl ein paar Gläser Schampus zu viel getrunken haben, ging es Tom durch den Kopf. Das dunkelrote Gesicht, die weit aufgerissenen Augen, die Speichelfäden am Mund ließen Unheilvolles erahnen. Geradewegs auf den Dacia stakste der Mann zu, ging kurz davor leicht in die Knie, beugte sich mit dem Oberkörper nach vorn und spie im großen Bogen das unverdaute exklusive Abendessen der Gourmetküche auf die Windschutzscheibe. Auf der Motorhaube brach er zusammen.
Wie versteinert saß Tom auf dem Fahrersitz. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er riss die Autotür auf, der Kopf des Mannes, der nun rosa glänzte, lag reglos auf dem Blech des Wagens.
Tom rannte zum Eingang des Odeon, stürzte in das Restaurant und rief einem ergrauten Herren in schwarzem Livree zu, der für den Empfang der Gäste zuständig schien: »Schnell, rufen Sie den Notarzt. Da draußen ist jemand zusammengebrochen!«
»Ben Williams«, stand auf dem Schild, das am Revers der Anzugjacke des Herren befestigt war, und darunter »Chef de la réception«. Er musterte Tom von oben bis unten, legte seine Stirn in Falten und fragte mit starkem amerikanischem Akzent: »Wie schlimm ist es?«
»Der Mann liegt ohnmächtig auf meinem Auto!«
Tom warf einen Blick in den Innenraum des Restaurants. In seiner Jeans und der braunen Lederjacke fühlte er sich nicht adäquat gekleidet. Er schenkte wieder Williams seine Aufmerksamkeit und forderte ihn nachdrücklich auf: »Machen Sie schnell! Der Mann kam aus diesem Restaurant und ist zusammengebrochen. Sieht nicht gut aus!«
»Bitte, erregen Sie kein Aufsehen. Ich kümmere mich sofort!«
Wie durch einen Schleier nahm Tom das Interieur des Zwei-Sterne-Restaurants auf. Obwohl es schon nach 22 Uhr war, war noch die Hälfte der Tische mit schick gekleideten Menschen besetzt, die Bedienungen servierten erlesene Gerichte und Getränke, es herrschte ein heiteres Grundrauschen vor, in das sich immer wieder ein vornehmes Kichern mischte. Die Einrichtung war elegant, Ton in Ton gehalten mit hellbraunen Stühlen vor weiß gedeckten Tischen, die Wände braun marmoriert, der Boden aus dunklem Parkett. Das indirekte Licht sorgte zusammen mit den abgedeckten Kerzen auf den Tischen für eine stimmungsvolle, edle Atmosphäre. Tom nahm sie wahr, aber für ihn war es eine fremde Welt.
»Der Notarzt ist unterwegs, und mein Kollege fragt gerade einen Herren, der bei der Reservierung auf seinen Doktortitel verwiesen hat, ob er Arzt ist.«
Tom zupfte den »Chef de la réception« am Ärmel: »Kommen Sie, wir müssen dem Mann helfen!«
Während er eilig nach draußen lief, bemerkte er Lisa, die gerade in einer Nische servierte – mit weißen Stoffhandschuhen. Sie erinnerten ihn an die Hände einer Micky-Maus-Figur.
Als die beiden Männer auf die Straße traten, hörten sie in der Ferne die Sirene eines Krankenwagens. Der Ohnmächtige lag unverändert auf der Kühlerhaube. Angewidert blickte Tom auf die erbrochenen Speisen auf seinem Wagen. Sollten sie den Mann auf den Boden legen? In stabile Seitenlage? Eine Herzmassage machen? Oder vielleicht gar eine Mund-zu-Mund-Beatmung? Tom schüttelte es.
»Das Zwei-Sterne-Menü scheint Ihrem Gast nicht wirklich bekommen zu sein«, raunte Tom Mr. Williams zu, der dem Bewusstlosen unter die Achseln griff.
»Reden Sie nicht blöd, helfen Sie mir!«
Tom nahm die Beine des Mannes, und sie legten ihn auf den in Granitoptik gepflasterten Boden. Das Gesicht des Ohnmächtigen war kalkweiß, die Lippen blau, und es stank nach Erbrochenem. Der »Chef de la réception« versuchte die Halsschlagader zu ertasten, dann den Puls am Handgelenk.
Tom ging das alles viel zu langsam. »Wir müssen ihn in stabile Seitenlage drehen, sonst verschluckt er vielleicht seine Zunge.«
»Ich spüre keinen Puls, vielleicht braucht er eine Herzmassage!« Williams zerrte am Hemd des Mannes und riss es auseinander. Fest und rhythmisch drückte er mit beiden Händen auf die Brust des Ohnmächtigen.
Im nächsten Moment kamen zwei Männer aus dem Odeon angelaufen. Tom erkannte den Sternekoch Steineberg sofort – einen gut aussehenden blonden Mann, der häufig charmant aus den Münchner Boulevardzeitungen lächelte. Er hielt eine weiße Serviette über dem Arm, als müsste er ständig und überall Staubflusen und Schmutz abwischen. Der andere Mann trug einen Bleistiftbart auf der Oberlippe und eine silberne Fliege um den Kragen. Sein Gang mit durchgedrücktem Kreuz und geschwellter Brust ließ seine subjektiv empfundene Bedeutung erahnen. Er schien der Arzt zu sein. »Lassen Sie mich da mal ran.«
Er drängte Mr. Williams zur Seite, hob die Lider des Mannes an, versuchte zu hören, ob er atmete, fühlte seinen Puls, dann wandte er sich den Umstehenden mit einem Seufzer zu. »Exitus.«
Tom stutzte. »Ist er tot?« Er spürte sein Herz rasen und seine Haut begann zu prickeln. Aus der Ferne hörte er den Klang des Martinshorns näher kommen.
Sofort schien Steineberg die mögliche gastronomische Katastrophe für das Odeon zu erfassen. Sein Gesicht trat kantig hervor, und seine hellblauen Augen leuchteten stählern. »Es muss wohl ein Herzinfarkt gewesen sein.«
Ein paar Schritte neben ihnen hielten zwei Rettungsfahrzeuge. Als der Lärm der Sirenen verstummt war, hörte Tom Türen-Schlagen, kurze Zurufe, Getrampel.
»Notarzt«, las er auf der roten Jacke, als sich ein stattlicher Mann mit Vollbart über den Bewusstlosen beugte. »Kennt jemand diesen Mann?«, fragte er in die Runde, die sich durch ein paar neugierige Spaziergänger vergrößert hatte.
»Ich denke, er ist ein Franzose. Er hatte als Monsieur Lalonge bei uns reserviert«, sagte Ben Williams.
»Er hat sich über meinem Auto erbrochen«, ergänzte Tom.
»Wurde er angefahren?«, fragte der Notarzt.
»Nein, er kam direkt aus dem Restaurant. Ich stand auf dem Parkplatz, und er torkelte schon auf dem Weg hierher.«
Der Notarzt nickte, zog die Geldbörse aus der hinteren Hosentasche des Bewusstlosen und gab sie einem Kollegen. »Sieh nach, ob du Infos zu Krankheiten und Medikamenten darin findest!«
»Dafür ist es zu spät, der Mann ist tot«, schaltete sich die Person mit dem dünnen Oberlippenbart ein und stemmte die Hände in die Hüften.
Der Notarzt wandte ihm den Kopf zu. »Sind Sie ein Kollege?«
»Nicht direkt, ich bin Zahnarzt.«
Der Notarzt sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Überlassen Sie bitte uns die Diagnose, mein Herr. Wir schauen, was wir tun können.«
Ungehalten räusperte sich der Zahnarzt und ging eiligen Schrittes zurück ins Restaurant.
Der Notarzt wies seine Kollegen an, die Krankenwagen-Liege zu holen und Monsieur Lalonge in den Rettungswagen zu bringen.
Kurze Zeit danach stand Tom hilflos vor seinem Dacia. Er wusste nicht, ob Monsieur Lalonge nun tot war oder nicht. Rettungswagen und Notarzt waren abgefahren, ohne dass sich der Arzt noch einmal geäußert hatte. Und eigentlich war Tom wegen Lisa hier. Da kam es sicher nicht so gut, wenn er sie in dem vollgekotzten Auto nach Hause fahren wollte. Aber immerhin hatte er eine gute Geschichte zu erzählen.
Im Odeon ließ sich Tom zwei Eimer mit Wasser geben und schüttete sie über der Motorhaube seines Wagens aus. Mit einem Fensterwischer reinigte er die Scheibe von den verbliebenen Speiseresten. Dabei verspannte sich sein Magen, er würgte, hielt die Hand vor den Mund und konnte gerade noch den Kopf drehen, damit die Fontäne nicht wieder auf dem Dacia landete. Am Boden breitete sich ein Brei aus halb verdauten Burgern und Brötchen aus. Jetzt stank er auch noch selbst nach Kotze.
Genau in diesem Augenblick kam Lisa aus dem Hintereingang des Odeon – gefolgt von einem Typen ganz in Schwarz: schwarz glänzende, nach hinten gekämmte Haare, schwarze Hose aus glattem Leder und schwarzer Kurzmantel über dem Bierbauch. Der Typ war kaum größer als Lisa.
»Hi, Tom. Was machst du denn hier?«
»Ich wasche mein Auto«, sagte er mit einem Zwinkern und deutete er auf die zwei Eimer.
»Mitten in der Nacht – vor dem Odeon?«
»Ich wollte dich abholen, aber dann ist hier was passiert. Hast du die Sirenen nicht gehört?«
Kurz zeigte Lisa eine Reihe weißer Zähne zwischen ihren weinroten Lippen. »Doch, doch, Ben sagte, da wäre ein Gast zusammengebrochen.«
»Der ist direkt auf mein Auto zugelaufen und hat sich dann erbrochen.«
»Und da-hann … hast duu auch ge-gekotzt«, kam es von dem Typen in Schwarz.
»Halt dich zurück, Edgar!«, wies ihn Lisa zurecht. »Ach ja, das ist mein Kollege Edgar aus der Küche, und das ist Tom«, machte sie die Männer bekannt. Händeschütteln wollte keiner von beiden.
»Ich würde noch gerne was trinken gehen«, sagte Tom zu Lisa, wobei er sich mit dem Rücken vor Edgar stellte und ihn mit seinem Blick definitiv ausschloss.
Lisa checkte auf dem Display ihres Handys die Uhrzeit. »Okay, ich bin zwar tierisch müde, aber die Geschichte höre ich mir noch gerne an.«
»Ich mö-möchte sie au-auuch hören«, drängte sich Edgar stotternd zwischen die beiden. In seinen eng stehenden Augen erkannte Tom den Ausdruck eines geprügelten Hundes.
»Lisa erzählt sie dir morgen.« Tom war genervt, packte Lisa am Arm und zog sie zu seinem Wagen.
Weit nach Mitternacht hatte Tom Lisa nach Hause gefahren, und sie hatten sich mit Wangenküsschen verabschiedet. Lisa hatte ihm von ihrer Haustür aus noch mal zugewinkt. Mit Flugzeugen im Bauch hatte Tom seinen Dacia Richtung Schopenhauerstraße gelenkt.
Am nächsten Morgen nun sah er Bilder der Momente mit Lisa vor sich, als er auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz war: wie sie lächelte, wie sich ihr Mund beim Sprechen bewegte, welche Gesten sie mit den Händen machte, wie sie aufrecht und mit festem Schritt ging.
Da war eine Parklücke! Ein harter gedanklicher Schnitt. Tom parkte ein.
Es war der dritte Tag seiner Hospitanz beim Fernsehsender TV 1. Gleich nach dem Abschluss der Journalistenschule hatte es geklappt mit der Stelle. Er hatte sich bei mehreren Hörfunk- und Fernsehanstalten beworben und war sehr skeptisch gewesen, ob er eine Zusage bekommen würde.
Sein großes Berufsziel war eine redaktionelle Tätigkeit beim Fernsehen, und er hoffte, mit der Hospitanz diesem Ziel ein Stück näher zu kommen. Ihm war aufgefallen, dass die meisten Typen beim Fernsehen deutlich mehr gestylt waren als er, aber er fühlte sich nicht als Außenseiter. Die gemeinsame Arbeit in der medialen Branche würde gewiss Verbindungen mit den Kollegen entstehen lassen. Eigentlich sah alles nach einer fetten Glückssträhne aus: Er arbeitete beim Fernsehen, und vielleicht hatte er bald eine Freundin.
Stolz zeigte er seinen Dienstausweis dem Pförtner beim Einlass in das Betriebsgelände. Dann machte er sich auf den Weg zur Sitzung der Aktuellen Redaktion von TV 1, die am Standort München für die Berichterstattung aller tagesaktuellen Ereignisse zuständig war, die in Bayern medial von Interesse waren.
Das Redaktionszimmer wirkte kalt und nüchtern, es gab noch nicht einmal Plakate an den weißen Wänden, in einer Ecke stand ein Flipchart auf Rollen.
Um einen einfachen Resopaltisch saßen insgesamt zehn Leute – Redakteure, Planer, eine Sekretärin und ein Studio-Regisseur. Tom stand zwischen zwei Reportern eingekeilt an der Wand. Der Redaktionsleiter Walter Neuwirt, als Einziger in der Runde mit Anzug und Krawatte, zog seine Armbanduhr vom Handgelenk und legte sie vor sich auf den Tisch. In einem kernig gutturalen Bayerisch rief er die tagesaktuellen Storys auf und ließ deren Autoren über den Stand ihrer Recherchen berichten.
»Haben wir heute etwas übersehen?«, fragte Neuwirt mit einem hinterhältigen Lächeln.
Ein rothaariger Planer namens Brandt, der alle Programmentscheidungen eifrig mitgeschrieben hatte, meldete sich zu Wort. »Den Prozessauftakt gegen Steineberg haben wir nicht.«
»Und wieso sagt du das nicht früher? Der steht doch seit Wochen fest. Und die anderen Planer haben das nicht gemerkt? Gratulation zu so viel Übersicht.«
Augenblicklich war es in dem Raum zehn Grad kälter, und es wurde sehr still.
»Was machen wir jetzt? Wer hat Zeit?«
Niemand meldete sich. Die Autoren blätterten in ihren Unterlagen oder guckten ins Leere.
»Also sind alle gut beschäftigt, produzieren für heute, oder? Karen, was ist mit dir?«
Karen warf ihre langen blonden Haare über die Schulter und drückte die Brust gegen ihre weiße Ralph-Lauren-Bluse:
»Wenn jemand für meine morgige Story ins Archiv geht, könnte ich schon.«
Tom war hin- und hergerissen. Einerseits störte ihn der rüde Ton von Neuwirt und die eingeschüchterte Reaktion des gesamten Teams, andererseits sah er es als Chance, um auf sich aufmerksam zu machen. »Ich kann gerne helfen, Herr Neuwirt.«
Die Augenpaare aller Kollegen richteten sich auf ihn, viele mit einem spöttischen Ausdruck im Gesicht. Er kam sich anbiedernd vor und schämte sich.
»Er kann mit mir zum Drehen, die Suche im Archiv sollte lieber jemand übernehmen, der Bescheid weiß«, warf Karen ein.
Tom wurde rot.
»Wer geht für Karen ins Archiv?«, fragte Neuwirt.
Stille im Raum.
»Soll ich selber das alte Filmmaterial im Archiv heraussuchen? Stellt euch nicht so an. Wir müssen alle immer noch etwas mehr arbeiten. Brandt, du darfst dich freuen, hast ja auch den Termin verschusselt.«
Der Planer gab sich kleinlaut. »Verschusselt hab ich ihn nicht, aber ich helfe Karen gerne.«
Als der Name Steineberg gefallen war, war Tom hellhörig geworden. Steineberg war angeklagt, weil der Verdacht bestand, in seinem Restaurant wäre Haschisch in die Sterne-Menüs gemischt worden. Das war ein gefundenes Fressen für die Presse, und die Zeitungen würden sicher am nächsten Tag ausführlich über den Prozess informieren.
Sollte Tom von seinem gestrigen Erlebnis vor dem Odeon berichten? Vielleicht hatte der Franzose auch irgendwelches Rauschgift im Essen gehabt? Oder hatte er etwas mit dem Prozess gegen Steineberg zu tun?
Wenn herauskam, dass es einen kriminellen Hintergrund zu dem Vorfall gab, Tom vor Ort war und davon nichts erzählt hatte, dann stünde er ganz schnell auf der Versagerseite – kein guter Start ins Berufsleben.
Es kam die Frage, auf die Tom gewartet hatte: »Gibt es sonst noch etwas, was wir machen sollten?«
Tom meldete sich.
»Bitte schön, Herr Kollege.« Tom sah die Überheblichkeit im Gesichtsausdruck des Redaktionsleiters.
Er schluckte, räusperte sich und begann: »Einmal weiß ich, dass nächste Woche in Niederbayern ein neues Geothermie-Projekt begonnen wird …«
Neuwirt unterbrach ihn. »Sie sind wohl Umweltaktivist? Schauen auch ein bisschen so aus mit Ihren langen Haaren und der Lederjacke … Über Geothermie-Projekte haben wir doch schon mehrfach berichtet. Was haben Sie noch?«
»Ich weiß, dass gestern ein Mann, der aus Steinebergs Odeon kam, bewusstlos zusammengebrochen ist. Ich weiß nicht, ob das irgendetwas mit Rauschgift zu tun hatte, aber ich wollte das einfach mitteilen.«
»Und woher wissen Sie das?«
»Ich war zufällig vor Ort.«
»Oh, unser Redaktionsneuling ist Umweltaktivist und speist im Zwei-Sterne-Restaurant. Respekt.«
Tom war wieder rot geworden. »Nein, ich habe da nicht gegessen, ich war zufällig dort.«
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Ich wusste nicht, ob das wichtig ist.«
Bei diesen Worten sah Neuwirt auf seine Uhr, streifte sie über das Handgelenk und erhob sich.
»Das kann es schon sein. Recherchier das mal, Brandt, und sag mir Bescheid, aber nicht erst heute Nachmittag!«
Damit war die Sitzung beendet, Tom konnte es sich nicht verkneifen, seinem Nachbarn in der Zimmerecke zuzuraunen: »Ist der immer so?«
»Meistens. Aber er hat auch seine netten Tage. – Wir haben uns noch nicht kennengelernt. Ich bin Eike.«
»Ich bin Tom«, sagte er und sah sich Eike genauer an. Der Autor trug hautenge Jeans, rote Sneaker, ein enges weißes T-Shirt und darüber eine kurze graublaue Lederjacke. Seine dunkelbraunen Haare waren exakt gescheitelt, und Tom glaubte, auf den Wangen eine Spur von Rouge zu entdecken.
»Freut mich, Tom. Lass uns in die Kantine gehen und einen Kaffee trinken. Dann kann ich dir was über unser Redaktionsleben erzählen.«
In diesem Moment fuhr Karen dazwischen: »Komm, junger Mann, wir müssen was tun. Mit der Quatschkanone kannst du ein andermal plaudern.«
Sie drehte sich um und verließ das Redaktionszimmer. Tom nickte Eike entschuldigend zu und beeilte sich, Karen zu folgen, die mit vorgestrecktem Kinn energisch in das Mikro eines In-Ear-Headsets sprechend voranstürmte und dabei einen blumigen Duft hinter sich herzog.
Tom kannte den Justizpalast nur vom Vorbeifahren in der Tram am Stachus oder vom Biergarten des Parkcafés beim Alten Botanischen Garten aus, drinnen war er noch nie gewesen. Bombastisch wie ein absolutistisches Schloss stand das neobarocke Gebäude zwischen dem Münchner Hauptbahnhof und dem Karlsplatz, signalisierte die Macht der Justiz und des Staates, wobei die Staatsformen über die Jahrzehnte variierten. Da der größte Saal im Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße belegt war und beim Steineberg-Prozess ein Ansturm von Presse- und TV-Journalisten erwartet wurde, hatte man diesen Prozess ausnahmsweise hierher verlegt.
Als der Tonmann, der den Ford Kombi fuhr, endlich in der Nähe des Gerichtsgebäudes eine Lücke zum Parken gefunden hatte, stand schon ein Pulk von Fotografen, Zeitungs- und Hörfunkjournalisten sowie Kamerateams anderer Fernsehsender vor dem Haupteingang. Karen sprach noch immer in ihr Headset, um irgendetwas zu organisieren. Dabei hatte sie sich auf ihrem Schoß eine beträchtliche Anzahl von Notizzetteln nebst Rouge-Döschen und Lippenstift angehäuft, was sie in ihre rostbraune Business-Ledertasche einzuräumen versuchte. Sie wies das Team an, es solle vor dem Hauptportal die Kamera aufbauen, den Aufsager im On würde sie später machen, und Tom solle den Kollegen beim Tragen helfen. Zwischendrin sprach sie wegen der Terminierung ihres Videoschnittes ins Headset, wollte aussteigen, verschätzte sich aber bei der Höhe des Türrahmens und knallte mit der Stirn geräuschvoll gegen die Kante. Ein lauter Schrei. Tom, der bereits draußen auf der Straße stand, sah, wie langsam Blut aus einer Wunde über ihrer rechten Augenbraue zwischen Nase und Wangenknochen nach unten lief und auf die weiße Designerbluse tropfte. Karen war blass geworden und hatte ihre offene Ledertasche auf den Fahrzeugboden fallen lassen. Dorthin hatte sich auch ein Teil des Tascheninhalts ergossen. Tom fischte ein sauberes Papiertaschentuch aus der Hosentasche und drückte es ihr auf die Stirn.
»Ist nur ein kleiner Riss!«, versuchte er sie zu trösten.
Karen atmete heftig, saß aber völlig apathisch auf dem Beifahrersitz.
»Ich hol schnell aus dem Café da drüben etwas Eis, dann schwillt die Wunde nicht so an.«
Als Tom mit zerstoßenem Eis in einem durchsichtigen Plastikbeutel zurückkam, war Karen fast wieder die Alte.
Sie gab dem Team und auch Tom Anweisungen: »Hilf den Kollegen beim Einfangen der O-Töne!«
Dabei presste sie den Eisbeutel auf ihre Stirn.
Toms Pulsschlag wurde schneller, und sein Magen zog sich zusammen. Plötzlich war er ein richtiger Reporter.
Mit seinem Arbeitsgerät auf der Schulter lief der Kameramann Richtung Haupteingang, der übergewichtige Tonmann schnaufte hinterher. Tom versuchte, etwas Platz für sein Team unter den wartenden Journalisten zu schaffen. Bei den Fotografen kam das nicht gut an. Einmal stieß ihm jemand mit dem Ellenbogen in den Rücken.
Unruhe und Hektik entstand unter den Medienleuten, als der Staatsanwalt ganz in Grau gekleidet und mit einer dicken Aktentasche in der Hand auf den Justizpalast zusteuerte. Tom, der den Namen des Mannes nicht kannte, rief: »Herr Staatsanwalt, können Sie fürs Fernsehen ein Statement abgeben?«
Aber der zwängte sich an den Reportern vorbei zum Eingang, und gab nur kopfschüttelnd »Kein Kommentar!« von sich.
Kurz danach erschien Steineberg mit seinem Anwalt. Fotoapparate klickten, Lichter blitzten auf, Hörfunkreporter hielten ihre Mikrofone in die Höhe. Toms Kameramann hievte seine Sony auf die Schulter. Jeder der Journalisten wollte zum Fall eine Erklärung von dem Sternekoch, aber er äußerte sich nicht – wie es alle auch erwartet hatten. Dafür stellte sich sein Anwalt medienerprobt vor die steinerne Pforte: »Wir sind sicher, dass Herr Steineberg freigesprochen und das Gericht als freier Mann verlassen wird.«
Das Team konnte noch ein paar Bilder im Gerichtssaal drehen, danach ließ der Richter keine Aufnahmen mehr zu.
Der Kameramann wollte sein Equipment schon in den Kombi packen, da stutzte er und fragte Karen, ob sie nun den Aufsager noch machen möchte.
»So gehe ich doch nicht vor die Kamera!«, fauchte sie und deutete dabei auf ihre Stirn und ihre Bluse. »Außerdem brummt mir der Schädel. – Was habt ihr denn jetzt? Vielleicht reicht’s ja für den Bericht?«
»Leider nicht sehr viel, der Staatsanwalt hat nichts gesagt, und Steineberg natürlich auch nicht. Sein Anwalt hat nur beteuert, dass sein Mandant freigesprochen wird«, berichtete Tom kleinlaut.
»Das hat uns noch gefehlt, dass ihr kaum etwas habt.«
»Dann soll’s der Hospitant halt mit dem Aufsager versuchen«, schaltete sich der Kameramann ein.
Karen verzog zweifelnd den Mund und wandte sich ab.
Sollte sein Gesicht am Abend in den Millionen von Fernsehern der gesamten Republik zu sehen sein, wie er den Fall kommentierte? – Genauso wie die Reporter, die in der Tagesschau oder den heute-Sendungen die Zuschauer über die Geschehnisse des Tages informieren?, ging es Tom durch den Kopf.
»Ich probier’s!«, sagte er. »Wir haben das auf der Journalistenschule geübt, aber ich brauch etwas Zeit, um mir einen Text zu überlegen.«
Im Schneideraum sah sich Tom das gedrehte Material und seine Versuche an, ein Statement im On zustande zu bringen. Auf dem Chip der Kamera war jede Zuckung in seinem Gesicht, jedes Flackern im Blick und jedes nicht klar artikulierte Wort unveränderbar gespeichert. Tom ahnte, dass die Sache mit seinem ersten Fernsehbericht nicht wirklich gut laufen würde. Er sollte einen 30 Sekunden langen Nachrichtenfilm produzieren sowie einen Zwei-Minüter als Bericht. Für Letzteren reichte aber sein Material kaum, obwohl der Cutter manche Schnittbilder etwas langsamer laufen ließ. Mit ihm hatte er alle Aufsager-Versuche durchgesehen, aber da war nur eine Version dabei, bei der Tom sich nicht versprochen oder die er nicht abgebrochen hatte. Allerdings sah er dabei nicht direkt in die Kamera, weil er von einem Zettel ein Stück unter dem Objektiv abgelesen hatte.
Tom war auf sich allein gestellt, Karen hatten sie auf ihren Wunsch hin ins Schwabinger Krankenhaus gebracht, Eike versorgte ihn ab und an mit Meldungen der Presseagenturen zu dem Fall, aber er musste seinen Bericht alleine stemmen. Immerhin hatte er darauf bestanden, dass das Team noch am Odeon vorbeigefahren und ein paar Schnittbilder gedreht hatte. Er hätte im Text noch viel mehr erzählen können, doch dafür reichten die Aufnahmen nicht aus.
Es folgte die Abnahme durch Neuwirt, der Beitrag sollte in 45 Minuten über den Sender gehen und war noch immer nicht gesprochen.
»So läuft das nicht!«, waren Neuwirts erste Worte, nachdem er Toms Film gesehen und seinen Textvorschlag gehört hatte.
»Das kann man reißerischer erzählen. Wo sind Bilder von Steineberg aus früheren Tagen? Und dass der Richter die Verhandlung mittags noch mal vertagt hat, haben Sie auch nicht im Bericht. Da müssen Sie umschneiden und umtexten, Herr Kollege.«
Drei Stunden später saß Tom im Atzinger und wartete auf Lisa. Die Tische des bayerischen Traditionswirtshauses waren alle besetzt – meist mit Studenten, die den Tag nach Vorlesungen in der nahen Universität mit einem oder mehreren Bieren ausklingen ließen. Das Lokal besaß einen zünftigen Charme: Stuck an den Decken, Holzverkleidung an den Wänden, der Rauch in den Pullovern der Gäste erinnerte an den Qualm in Kneipen vor dem Rauchverbot. Der Geräuschpegel lag deutlich über einer akzeptablen Zimmerlautstärke. Tom hörte nichts davon. Er hatte eine Tageszeitung vor sich liegen, starrte auf das Papier, aber er las keine Zeile.
Es war gerade noch gut gegangen, Neuwirt hatte die beiden Filme abgenickt, nachdem Tom sie geändert hatte, und sie waren dann im Programm von TV 1 gelaufen. Kurz vor der Ausstrahlung hatte Tom seine Eltern angerufen, und sie darauf aufmerksam gemacht. Er hatte etwas geleistet, worauf sie stolz sein konnten, das machte ihn zufrieden. Die Geschichte um das Zwei-Sterne-Restaurant, um Steineberg und das Rauschgift war das Thema des Tages in München. Alle Boulevardzeitungen hatten den Prozess in ihrer Abendausgabe auf der ersten Seite. Toms Name stand auf dem Bildschirm, als sein Kopf den Sachverhalt schildernd auf der Mattscheibe erschienen war: »Bericht: Tom Becker«.
Die Einschaltquoten bei den Nachrichtensendungen von TV 1 waren gut. Vielleicht bekamen das auch die Nachbarn seiner Eltern in Vaterstetten mit. War er für die nun der große Fernsehreporter?
Während er seinen Gedanken nachhing, tauchte plötzlich Lisa auf. »Du strahlst ja über das ganze Gesicht. Hast du im Lotto gewonnen oder was ist los?«
»Ich hab gar nicht gemerkt, dass du reingekommen bist.«
Lisa stand in einem petrolfarbenen Pulli mit einem blauen Schal um den Hals und einer engen Blue Jeans vor ihm, ihr Gesicht war wieder ziemlich hell gepudert, ihr Mund knallrot, aber etwas kleiner geschminkt, als er wirklich war, und in den Ohren trug sie große, silberne Creolen.
»Du siehst umwerfend aus!«
»Danke. Das ist nett«, sagte sie und zwinkerte ihm zu.
Tom grinste, stand auf und küsste sie auf beide Wangen. Mit einer geschmeidigen Bewegung setzte sich Lisa ihm gegenüber an den Tisch. Sie bestellten beide ein helles Bier, Tom noch einen Teller Schinkennudeln. Lisa wollte nichts essen.
»Weißt du was?«, platzte er heraus. »Ich habe heute über das Odeon und deinen Chef im Fernsehen berichtet. Was sagst du dazu?«
Augenblicklich verfinsterte sich Lisas Miene. »Für uns ist das nicht so toll.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, ständig werden wir befragt – von der Polizei, vom Gesundheitsamt, von der Presse, auch von Gästen. Und wenn’s richtig blöd läuft, sind meine Kollegen und ich unsere Arbeit los.«
Tom kratzte sich am Kopf. »Irgendjemand muss doch das Haschisch ins Essen geschmuggelt haben?«
Auf Lisas Stirn hatten sich Sorgenfalten gebildet, ein Mundwinkel zuckte. »Jetzt hörst du dich schon an wie alle Anderen.«
»Das fragst du dich doch auch. Hast du keine Vermutung?«
Unwillig rümpfte sie die Nase. »Ich will da drüber nicht reden.«
»Der Steineberg war’s doch eher nicht?«
»Das ist Quatsch. Er würde doch nicht den Ruf seines Sterne-Restaurants ruinieren. – Aber nun ist Schluss mit dem Thema«, sagte sie energisch, ihre Hände auf dem Tisch zu Fäusten geballt, und fügte leise hinzu: »Sonst gehe ich.«
»Sorry. Tut mir leid. Bin wohl etwas überdreht von meinem ersten Fernsehbericht.«
Tom hatte begonnen, Bierfilze zu zerpflücken, was ihm einen bösen Kommentar der Bedienung einbrachte. Er prostete Lisa zu, sie wirkte noch immer reserviert. Als seine Schinkennudeln kamen, legte sich langsam die Spannung zwischen ihnen.
»Magst du mal probieren? Ist sicher nicht das Niveau, das du gewöhnt bist.«
»Ich esse nicht jeden Tag Sterne-Menüs, aber manchmal bleibt schon etwas übrig.« Lisa stieg der Geruch der heißen Teigwaren in die Nase. »Einen Bissen nehm ich gerne.«
Tom reichte ihr Teller und Besteck, und Lisa spießte einige Spiralnudeln mit der Gabel auf und führte sie zum Mund.
»Schmeckt ganz gut, wirklich!«
Sie schob das Essen wieder zu Tom zurück.
»Kann man deinen Bericht noch sehen?«
»Er ist sicher in der Mediathek von TV 1. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Erzähl mal, wie macht man einen Fernsehbeitrag?«
Tom berichtete von seinem spannenden Tag: wie aufgeregt er war, als er plötzlich einspringen musste, wie angespannt die Atmosphäre bei der Redaktionssitzung gewesen war, wie schwierig es ist, einen guten Aufsager zu machen, weil man im Bild jede mimische Kleinigkeit sieht, und auch wie stolz er auf seinen Erfolg war, als der Bericht im Fernsehen gelaufen war.
Lisa hatte ihm aufmerksam und amüsiert über seine Begeisterung zugehört.
»Klingt doch recht aufregend, was du erlebt hast. Jetzt sind sicher deine Nudeln kalt.«
»Das macht nichts. Ist ein geiler Tag. Und bombig ist es auch, dass du bei mir sitzt.« Tom rückte ein Stückchen näher und nahm ihr Parfum wahr. »Du riechst gut.«
Lisas Teint schimmerte nun rosa unter dem hellen Puder.
Man hatte Tom in einem Großraumbüro einen kleinen Schreibtisch mit einem Dienstcomputer zugewiesen. Neonlicht, miese Luft und laute Telefonate sorgten bei ihm für das Gefühl, in einer Legebatterie gelandet zu sein. Er musste sich den PC mit anderen Autoren teilen, und da diese keine Frischlinge mehr waren und in den normalen Arbeitsalltag eingebunden, musste er sich hinten anstellen. Er hatte sich fest vorgenommen, am nächsten Tag sein Laptop mitzubringen. Da hatte er zwar keinen Zugang zu den Presseagenturen, die für die Themenfindung wichtig waren, aber er konnte wenigstens unkompliziert recherchieren und schreiben.
Er saß verloren auf einem Stuhl neben dem kleinen Schreibtisch, Eike benötigte den Computer erst einmal für sich. Bei der morgendlichen Redaktionssitzung war keine Arbeit für Tom abgefallen. Karen war wieder mit im Redaktionsteam – auf der Stirn ein transparentes Pflaster und auf dem Gesicht eine Miene, als würde sie nun zu den hässlichen Entlein gehören und niemand, vor allem kein Vorgesetzter, würde noch ein Auge auf sie werfen.
Als Tom sie fragte, wie es ihr denn ginge, funkelten ihre blauen Augen vernichtend, und sie giftete ihn an: »Wegen dir musste ich mich von Neuwirt beschimpfen lassen. ›Wie kannst du so jemanden vor die Kamera lassen? Das wäre beinahe in die Hose gegangen‹, hat er gesagt. Und von meiner Verletzung wollte er gar nichts wissen.«
Mit diesen Worten warf sie die blonden Haare über die Schulter, drehte sich um, und ließ Tom geknickt zurück.
Während er dem Konflikt mit Karen noch in Gedanken nachhing, hörte er plötzlich von Eike: »Wow! Das ist ja ’n Ding!«
Eike druckte eine Meldung aus dem News-Portal aus.
»Was ist los?«, fragte Tom.
»Der Franzose ist tot, Monsieur Lalonge, der dein Auto vollgekotzt hat. Bei der Obduktion hat man Reste von Liquid Ecstasy gefunden, das für seinen Tod mitverantwortlich sein soll. Das ist doch ’ne Bombe! Und es kommt noch besser! Weißt du, was er von Beruf war? Tester vom Guide Michelin! Ausgerechnet so einer stirbt im Sterne-Restaurant an Rauschgift. Komm, wir gehen zum Chef!«
Neuwirt saß lässig, die Füße auf den Schreibtisch gelegt und mit einem Zahnstocher in Mund, in seinem Büro und sah sich eine Sendung vom Vorabend an. Flapsig fragte er: »Was wollt ihr denn schon wieder von mir?«
Eike setzte sich dem Redaktionsleiter gegenüber auf einen Stuhl, Tom blieb mit einem Sicherheitsabstand dahinter stehen. Als Neuwirt die Geschichte um den Tod des Testers von Eike gehört hatte, stimmte er einem Dreh sofort zu. »Setzt euch dran, bestellt bei der Kameradispo ein Team. Wir brauchen diese Story. Eike, Sie machen den Beitrag!«
Vorsichtig räusperte sich Tom. »Ich hätte da noch eine Idee.«
»Und welche?«
»Ich könnte als Augenzeuge interviewt werden. Ich war der Einzige, der Lalonge beim Verlassen des Lokals gesehen hat, ich habe ihn mit versorgt, und ich habe den Notarzt rufen lassen.«
Neuwirt nahm seine Füße vom Tisch, warf den Zahnstocher in einen Abfalleimer und rieb sich die Hände. »Sie sind wohl auf den Geschmack gekommen.« Er richtete sich in seinem Sessel auf und fixierte Tom. »An einem Tag Reporter im On, am nächsten Augenzeuge in derselben Sache, das ist merkwürdig, da kriegen wir ein Glaubwürdigkeitsproblem, Herr Kollege.«
Tom sah betroffen auf den Boden, Neuwirts Argumentation klang für ihn recht plausibel. Dass er da selbst nicht dran gedacht hatte …
Eike, der den Disput angespannt verfolgt hatte, rettete für ihn die Situation. »Ich könnte Tom aber gut für eine schnelle Recherche brauchen.«
»Natürlich, wenn Sie eine Verwendung für ihn haben.«
Kaum hatten die beiden Neuwirts Büro verlassen, sagte Eike zu Tom: »Ich finde deinen Vorschlag gar nicht schlecht. Sonst suchen wir immer Augenzeugen, jetzt hätten wir einen im Haus, und dann darf man ihn nicht nehmen.«
»Das Glaubwürdigkeitsproblem ist keins, meinst du das?«
»Genau. Du warst ja dort, du bist ein Zeuge.«
»Wahrscheinlich wollte er nach dem gestrigen Bericht nicht, dass ich noch mal im On erscheine.«
Eike klopfte Tom auf die Schulter. »So schlecht war das fürs erste Mal nicht.«
Als Tom und Eike mit dem Teamwagen beim Odeon ankamen, wimmelte es dort von Polizeifahrzeugen. Tom hatte recherchiert, dass der Einsatzleiter im Fall Lalonge autorisiert war, ein Statement abzugeben, und er machte sich auf die Suche nach dem Mann. Zunächst lief ihm Ben Williams über den Weg. Da er mitgeholfen hatte, Lalonge vor zwei Tagen vor dem Restaurant zu versorgen, fragte ihn Tom, ob er bereit wäre, etwas darüber in die Kamera zu sagen, aber das wies der »Chef de la réception« weit von sich: »Gehen Sie zur Polizei, die hat das Sagen.«
»Wo finden wir den Einsatzleiter?«
»Der ist sicher in der Küche. Die durchsuchen dort alles.«
Ben Williams drängte sich übellaunig an Tom vorbei Richtung Restaurant-Büro.
Tom und Eike sahen rund ein Dutzend Männer, die die Küche auf den Kopf stellten. Sie hatten zahlreiche schwarze und blaue Plastikkisten mitgebracht, sortierten Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch in kleine Plastikbeutel und beschrifteten sie. Schränke standen offen, auch Kühlschränke, und auf den Tischen lagen Berge von Rhabarber, Heidelbeeren, Salaten, Eiern, Mandeln, Gewürzen, Hummer, Morcheln, Spargel, Bohnen, Blumenkohl- und Wirsing-Köpfen, dazwischen Töpfe und Pfannen jeglicher Größe, Messer, Pfannenwender, Siebe und alle möglichen anderen Kochutensilien.
Als einer der Männer, ein bulliger Typ mit rotem Gesicht, Bierbauch und schwarzer Lederjacke, die beiden Journalisten entdeckte, kam er auf sie zu und sagte unwirsch: »Das ist eine polizeiliche Ermittlung! Was wollen Sie hier? Sie haben hier nichts verloren.«
Eike stellte sich vor und erkundigte sich nach dem Einsatzleiter, aber der Rotgesichtige legte Eike die Pranke auf die Schulter und schob ihn vor sich her. »Gehen Sie jetzt! In den Gastraum! Ich informiere den Kollegen.«
Kokett und auch für den Polizisten gut vernehmbar sagte Eike zu Tom: »Was für ein roher Kerl. Und dann fasst er mich auch noch an …!«
Nach fast einer halben Stunde kam ein kleiner Mann auf die beiden Reporter zu. Er hatte eine sehr große Nase, einen an den Spitzen nach oben gezwirbeltem Schnurrbart, kurz geschnittene graue Haare und steckte in einer zu großen Jeans, bei der Hosenträger das Rutschen verhinderten. Er sagte in breitem Bayerisch: »Ich hab g’hört, Sie woll’n was von mir. Ich bin der Einsatzleiter, Obermeier, Georg.«
»Wir würden gerne für den Sender TV 1 über den Todesfall Lalonge berichten, und die Pressestelle sagte uns, Sie könnten etwas über den Stand der Ermittlungen sagen. In die Kamera, meine ich.«
»Oh, hallo, ja sauber. So viel kann i da gar ned sag’n.«
»Ich verstehe, dass Sie zu den Ergebnissen der Ermittlungen nicht viel sagen können, aber sicher etwas zum Stand der Ermittlungen.« Ein wenig belehrend hatte Eike geklungen, als ob er diesen Satz schon x-mal von sich gegeben hätte.
»Und wo soll das passieren?«, fragte Obermeier.
»Am besten machen wir das Interview vor dem Restaurant. Das steht ja jetzt im Mittelpunkt Ihrer Untersuchungen.«
»Gut, ich überleg mir was.«
Nachdem der Kameramann mit seinem Assistenten einen geeigneten Platz vor dem Odeon für die Aufnahme gefunden und die Kamera aufgebaut hatte, stellten sich Eike und Obermeier in Positur.
»Und wie schau’g i aus?« Obermeier zog an seiner Hose.
»Wir machen nur ein Brustbild. Man sieht Sie nicht ganz.«
»Passt mei Schneizer?«
»Sehr symmetrisch. Alles gut«, antwortete Eike.
Dann kamen die Kommandos – Kamera ab, Kamera läuft, bitte sprechen!
Eike fragte: »Wie ist der Stand der Ermittlungen im Fall Lalonge?«
»Wir sind von der Staatsanwaltschaft in Kenntnis gesetzt worden, dass Herr Lalonge durch einen Herzinfarkt zu Tode gekommen ist, der eventuell durch Zuführung von Liquid Ecstasy mitverursacht wurde. Die Substanz ist normalerweise nur schwer festzustellen, aber bei der Obduktion wurden Reste davon im Urin gefunden. Sie ist ihm möglicherweise hier im Restaurant zugeführt worden, denn Herr Lalonge bekam beim Verlassen des Restaurants einen Herzanfall, der dann zum Herzinfarkt führte. Deshalb müssen wir die Lokalität gründlich durchsuchen. Natürlich wissen wir nicht, wo ihm das Liquid Ecstasy zugeführt wurde oder ob er es vielleicht selber eingenommen hat. In seinem Hotelzimmer haben wir jedenfalls keine Spuren davon gefunden.«
»Haben die Vorwürfe gegen den Sternekoch Steineberg, es gäbe Haschisch in seinen Menüs, etwas mit der heutigen Untersuchung zu tun?«
Obermeier schüttelte den Kopf. »Das ist auszuschließen. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun!«
Eike signalisierte dem Kameramann, dass er die Aufzeichnung stoppen solle. »Wir machen das Ganze noch einmal. Vielleicht können Sie es etwas knapper formulieren.«
Obermeier zog den lippenlosen Mund zu einer Schnute. »War’s ned gut? Ich hob mir Mühe gehm, dass i ned zu boarisch sprech.«
»Doch, es war sehr schön, aber wenn es knapper ginge, wäre es besser. Wir sind eng bemessen in unserer Fernsehzeit.«
Tom beobachtete ungeduldig die weiteren Versuche, und schließlich entließ Eike Obermeier in seinen polizeilichen Alltag. Eine bessere Version als die erste hatte der Mann nicht zustande gebracht.
Als der Einsatzleiter verschwunden war, ahmte Eike gefrustet in Obermeiers Tonfall das bürokratische Deutsch des Polizisten nach: »… die Zuführung von Liquid Ecstasy mitverursacht.« Tom lachte und Eike wiederholte die Floskel noch mal. Das Team hatte schon begonnen, die Kamera vom Stativ zu schrauben, da rief Eike plötzlich: »Baut noch nicht ab! Tom, du musst deine Geschichte erzählen. Von Obermeiers Statement kann ich nur einzelne Sätze nehmen.«
»Du weißt, dass Neuwirt das nicht will!«
»Das Material wird nicht reichen. Und die Art, wie sich Zwergnase präsentiert hat, ist auch kein Knüller. Einschläfernd wirkt er – wie ein Beamter auf Urlaub.«
»Eike, das ist offener Widerstand gegen die Heeresleitung – oder?«
»Keine Sorge, ich rede mit Neuwirt.«
»Von mir aus können wir es gerne versuchen, du musst es ja nicht nehmen.« Tom wollte kein Kollegenschwein sein, und auf dem Bildschirm zu erscheinen, hatte ihm auch sehr gefallen.
Ein paar Stunden später saßen Tom und Eike im Schneideraum und warteten auf die Abnahme durch Neuwirt. Als er energiegeladen mit einem süffisanten Lächeln den Raum betrat, wusste Tom, warum er die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen gehabt hatte.
Eike hatte tatsächlich seine Aussage in den Beitrag hineinschneiden lassen, das hatte der Geschichte zu mehr Authentizität verholfen. Mit Bauchgrimmen wartete Tom darauf, wie Eike das Statement erklären würde.
»Herr Neuwirt, ich habe doch zwei Sätze von Tom mit hineingenommen. Ich denke, so ist das Stück besser. Schauen Sie es sich einfach einmal an.«
Augenblicklich verfinsterten sich Neuwirts Gesichtszüge, und als er den Beitrag gesehen hatte, fing er an zu poltern: »Ich habe laut und deutlich gesagt, dass das nicht geht. Schneiden Sie das Zeug wieder raus!« Er musterte Tom finster vom Kopf bis zu den Füßen. »Für einen Neuling in der Redaktion lehnen Sie sich aber ganz schön weit aus dem Fenster.« Eiligen Schrittes verließ er den Schneideraum und warf geräuschvoll die Tür hinter sich zu.