Mord auf den Färöern - Der Kommissar und die Robbenfrau - Carola Christiansen - E-Book + Hörbuch

Mord auf den Färöern - Der Kommissar und die Robbenfrau E-Book und Hörbuch

Carola Christiansen

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Beschreibung

Grausige Morde erschüttern die Färöer! Als ein Toter gefunden wird - grausam verstümmelt und bizarr drapiert - beginnt für Kommissar Revur ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt. Denn dies ist erst der Anfang einer Reihe von Morden, die nur eins gemeinsam haben: alle Opfer werden an nationalen Kultstätten platziert. Treibt ein Serienmörder sein Unwesen im Nordatlantik? Zu Revurs Unterstützung wird die Kopenhagener Kommissarin Amalie Vinther nach Tórshavn geschickt. Zusammen kommen sie Geheimnissen auf die Spur, die internationale Kreise ziehen …

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Seitenzahl: 420

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Zeit:9 Std. 43 min

Sprecher:Kaja Sesterhenn
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Carola Christiansen

Mord auf den Färöern – Der Kommissar und die Robbenfrau

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Miroslav_1 / istockphoto.com

ISBN 978-3-7349-3118-5

Hauptpersonen

Jónas Revur Ragnarsson Joensen – Hauptkommissar der Løgregla in Tórshavn/Färöer

Amalie Vinther Frost – Kommissarin der Rigspolitiet in Kopenhagen/Dänemark

Wer außerdem eine Rolle spielt, und wo

Färöer:

Insel Streymoy Tórshavn, Hauptstadt der Färöer

Sólja Marnersdóttir – Polizistin in Revurs Team, in jeder Hinsicht eine starke Frau

Niklas Olsen – Sóljas Kollege und bester Freund, sehnt sich nach wärmeren Gefilden

Bjørg Poulsen – Chefin von Revur und seinem Team

Hilmar Midjord – Revurs Schwager

Tórálvur Hilmarsson Midjord – Revurs Neffe, Sohn von Hilmar und Kristina

Kristina Ragnardottir Joensen – Revurs verstorbene Schwester

Sámal Morten Heinesen – Besitzer des größten Fischverarbeitungsbetriebs auf den Färöern

Jákup Heinesen – Bruder des Fischfabrikanten

Insel Suðuroy

Jónatan Simonsen – Revierleiter auf Suðuroy

Mads – Polizist, unerfahren aber wissbegierig

Jasper – hat den gleichen Vornamen wie Amalies Freund, freiwilliger Helfer, eigentlich Lehrer, muss an seine Grenzen gehen …

Insel Skúvoy

Erik – Hilfspolizist und Einweiser am Helipad

Ragnar Hansen – Hilfspolizist, zieht sein Messer einer Schusswaffe vor

Sigurð Jacobsen – Hilfspolizist

*

Dänemark: København, Hauptstadt Dänemarks

Åke – Rechtsmediziner Rigspolitiet København (auch zuständig für die Färöer)

Sven – Kollege von Amalie

Nils – Kollege von Amalie

Karl – Amalies direkter Vorgesetzter

Annette Kirkegaard – Revierleiterin, Chefin von Karl

Jasper – Amalies Freund, nicht bei der Polizei

Mikael Frederiksen – IT-Spezialist bei Alt om Internet, James Bond Fan

Finn Iversen – Kollege von Mikael

*

Holland: Amsterdam, Hauptstadt der Niederlande

Hans de Bruyn – Unternehmer, schreckt vor nichts zurück, um seine Ziele zu erreichen

Hendrik de Bruyn – Sohn von Hans, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm …

Luuk Bakker – definitiv zur falschen Zeit am falschen Ort …

Glossar

Die Färöer-Inseln, Føroyar auf Färöisch und Færøerne auf Dänisch, bestehen aus 18 Inseln mit insgesamt knapp 54.000 Einwohnern. Die Inseln liegen im Nordatlantik, zwischen den Shetlands, Norwegen und Island. Sie sind autonomer Bestandteil des Königreichs Dänemark.

Die Landessprache ist Färöisch, was mehr mit Isländisch als mit Dänisch verwandt ist. Doch die meisten Einwohner verstehen auch Dänisch, und selbst mit Englisch kommt man gut zurecht.

Ein kleiner Unterschied zeigt sich indes bereits bei der Begrüßung. Auf Färöisch sagt man: Hey, auf Dänisch: Hej.

Auf einige einheimische Worte sollte nicht ganz verzichtet werden. Hier die Bedeutung:

Alt tað besta! (färöisch) – so viel wie: Alles bestens!

Åh gud! (dänisch) – so viel wie: Oh mein Gott!

Bedstemor (dänisch) – Großmutter

For helvede! (dänisch) – so viel wie: Zur Hölle!

For pokker! (dänisch) – so viel wie: Verdammt noch mal!

Fyrigevið! (färöisch) – so viel wie: Entschuldigung, Verzeihung

Góði! (färöisch) – so viel wie: Gut!

Ikki sannheit? (färöisch) – so viel wie: Nicht wahr?

Nei takka! (färöisch) – Nein danke!

Røv og nøgler! (dänisch) – dänischer Fluch

Sjálvandi!Sjálvsagt! (färöisch) – natürlich, klar, okay

Skerpikjøt (färöisch) – windgetrocknetes Hammelfleisch

Umskylda (färöisch) – Entschuldigung

Undskyld (dänisch) – s. o.

Vel (dänisch) – so viel wie: Also … (vergleichbar well auf Englisch)

PROLOG

Der Fuchs war hungrig. Verborgen im Unterholz beobachtete er das Treiben der Menschen. Der Wind hatte einen kaum wahrnehmbaren köstlichen Duft herübergeweht, der einigen Kisten entstieg. Nachdem der Strom der Zweibeiner endlich versiegte und Stille einkehrte, folgten leise Pfoten leichtfüßig dem Weg der Container.

Die Fähre fuhr von Hirtshals nach Tórshavn. Als der Bug des Schiffes sich in den Anleger verbiss, hob das Tier den Kopf. Mit wachsamen Augen verfolgte es das Treiben. Zweibeiner kamen und gingen, stinkende Fahrzeuge bewegten sich Richtung Land. Den Körper tief am Boden, nutzte der Fuchs die Geschäftigkeit und schlich unbemerkt zwischen den Autoreifen von Bord.

Der Moment, in dem der Fuchs, besser gesagt die Fähe, heimlich Unterschlupf in einer Kirche fand, verknüpfte ihr Schicksal auf wundersame Weise mit dem eines Menschen. Eines Jungen namens Jónas Ragnarsson Joensen, genannt Revur, der Fuchs.

*

Jónas Ragnarsson Joensen machte einen Ausfallschritt nach links. Er sprang hinunter auf die schneebedeckte Straße und rannte weiter Richtung Kirche. Seine Verfolger hatten nicht mit dem Manöver gerechnet und blieben zurück. Er stürmte durch das Tor auf den Friedhof. Dort kauerte er sich hinter einen Grabstein, bis seine Mitschüler vorbeigeprescht waren. Langsam stand er auf. Heute würde er es zu Ende bringen, die Gemeinheiten seiner Klassenkameraden hielt er nicht mehr aus. Fakt war, dass er seit Beginn der Schulzeit gehänselt wurde. Das wuchs sich auch nicht zurecht, wie viele Lehrer behauptet hatten, vermutlich um ihr Gewissen zu beruhigen – also die Handvoll, die es nicht nur bemerkt, sondern auch einen Gedanken daran verschwendet hatten. Es wurde ganz und gar nicht besser, im Gegenteil, je älter er und seine Peiniger wurden, umso brutaler wurden ihre Streiche. Seine durchgeknallte Mutter und sein Vater waren sicherlich ein trefflicher Grund. Die knallroten Haare hatten ihm überdies den Spitznamen Revur, der Fuchs, eingebracht. Dabei gab es in Tórshavn keine Füchse. Wahrscheinlich auf den gesamten Färöern nicht. Doch auch das spielte keine Rolle mehr. Er hatte sich akribisch vorbereitet. Schließlich wollte er nicht leiden, das hatte er in den letzten Jahren bereits genug.

Leise, zumindest so leise wie es bei dem jahrzehntelang nicht geölten Schloss möglich war, öffnete er die Tür zur Kirche. Inzwischen waren die meisten Kirchen außerhalb der Gottesdienste zwar verschlossen, es hatte eine Reihe von Brandstiftungen gegeben, doch der Pfarrer dieser Gemeinde vertrat die Ansicht, eine Kirche sollte allen Menschen jederzeit offenstehen. Eine gute Idee, fand Jónas, viel Trost hatte er hier dennoch nicht gefunden. Kurz streifte ihn ein Anflug schlechten Gewissens, der Priester war trotz allem gut zu ihm gewesen. Sollte er nun derjenige sein, der ihn fand? Ausgerechnet er, der am wenigsten dazu beigetragen hatte? Doch auch der Pastor hatte ihm nicht wirklich geholfen, dabei wäre es sein Job gewesen. Also musste er da durch. Außerdem hatte er ja von Berufs wegen mit dem Tod zu tun. Sein Tod sollte ihn also nicht weiter schrecken. Wie überhaupt niemanden. Wahrscheinlich würde sowieso keiner bemerken, dass es ihn nicht mehr gab. Höchstens seine Quälgeister, die müssten sich ein neues Opfer suchen. Vielleicht könnten sie sogar die Symbolik erkennen, denn er hatte vor, mit seinem Ableben ein Zeichen zu setzen. Doch er machte sich nichts vor, sie waren sicherlich auch dafür zu dumm. Er betrat die dunkle Kirche. Dabei bemerkte er nicht, dass er nicht allein war. Ein dreieckiger Kopf hob sich langsam von einem Schweif aus rotbraunem Fell. Zwei dunkle Augen folgten dem Zehnjährigen aufmerksam. Der machte sich im Kirchenschiff an einer Leiter zu schaffen. Sie schwankte bedrohlich, als er sie aufrichtete, doch endlich schaffte er es, sie an die Empore direkt vor der Orgel zu lehnen. Genau dort gähnte nämlich ein Loch im Geländer. Der Küster hatte eine beschädigte Stelle säuberlich aus der antiken Balustrade herausgesägt und in die Werkstatt gebracht. Deshalb war der Zugang zur Empore gesperrt. Jónas stieg gerade die letzten Sprossen empor, den Strick schon um den Hals, als sein Blick nach unten wanderte. Ein letztes Mal, wie er dachte. Doch blieb er im Zwielicht an etwas hängen. Ein blankes Augenpaar schien ihn direkt anzusehen. Er stolperte. »Verdammt!«

Was ging es ihn an, ob irgendein Tier dort unten lauerte? Gleich wäre sowieso alles egal – es gäbe sicherlich Schlimmeres, als am Ende Tierfutter zu werden. Er stellte fest, dass die Vorstellung ihm nicht behagte. Wütend erklomm er die oberste Sprosse und kletterte durch die Öffnung zwischen den Holzstreben. Konnte der Priester seine Kirche nicht in Ordnung halten? Sollte er als Letztes daran denken müssen, wie er gleich gefressen würde? Das war verdammt unfair, nach allem, was er durchgemacht hatte!

Er stellte sich vorsichtig zurecht und warf die zweite Schlinge des Seils über einen massiven Eckpfosten. Bevor er von der Plattform ins Nichts trat, fiel sein Blick in zwei kluge Augen.

Die genauen Umstände seiner Rettung wurden nie ganz geklärt. Auf jeden Fall waren sie mysteriös. Angeblich hatte plötzlich ein Fuchs vor der Tür des Pfarrers gestanden. Was völlig abwegig war, denn es gab bekanntlich keine Füchse auf Føroyar. Außerdem, was sollte den Fuchs das jämmerliche Leben eines Jónas Ragnarsson Joensen interessieren?

Tatsächlich entsprach diese haarsträubende Geschichte jedoch der Wahrheit. Das Tier hatte mit beiden Vorderpfoten wild an der Tür des Geistlichen gekratzt. Die Krallen hatten tiefe Rillen im Holz hinterlassen, die die wirre Aussage des Pastors später bestätigten.

Nachdem er aufmerksam geworden war, hatte das Biest sich umgedreht und war verschwunden. Der Geistliche hatte zuerst stirnrunzelnd sein leeres Glas betrachtet – war es nun tatsächlich so weit gekommen, erfüllte er die Prophezeiungen seines Großvaters? Er wusste schließlich, wie alle, denen er die Geschichte später erzählte: Auf den Färöern gab es keine Füchse! Doch gleich darauf hatte er sich seiner Pflichten als Hirte besonnen und war in die Kirche geeilt. Nicht, dass Fuchs oder Dämon, was immer es war, darin Zuflucht suchte, und womöglich die bescheidene Zahl seiner Schäfchen dezimierte.

Revur war der Füchsin nur einmal begegnet. An dem Tag, an dem er sich das Leben nehmen wollte. Doch von dem Tag an trug er seinen Spitznamen mit Stolz. Er hatte alle Informationen gesammelt, die er über Füchse bekommen konnte. Es waren viele. Ein interessantes Geschöpf, weit über die Farbe seines Pelzes hinaus.

Und so wurde Jónas Ragnarsson Joensen ein Jäger. Ein besonderer Jäger – er jagte Informationen und außerdem diejenigen, die sich an den Schwachen in der Gesellschaft vergriffen: Jónas wurde Polizist.

Was aus der Füchsin wurde, ist nicht bekannt.

1

TÓRSHAVN

Revur fiel ins Bett. Die Hiking-Tour war heftig gewesen. Nur er und sein Schwager. Sie waren erst an ihre Grenzen gegangen, dann, wie immer, ein Stück darüber hinaus. Im Anschluss zwei gemeinsame Biere, jeder, dann hatte er sich auf den Heimweg gemacht. Also noch einen halbstündigen Fußmarsch obendrauf. Revur hatte zwar frei, doch wollte er am nächsten Tag früh aufbrechen und seine Großeltern besuchen. Bei vier freien Tagen kam er nicht darum herum. Er stauchte das Kopfkissen zusammen, schob es unter seinen Kopf und drehte sich vom Fenster zur Wand. Die Straßenlaterne hatte einen Lichtfinger zwischen den Vorhängen hindurchgeschoben, er verharrte auf dem einzigen Bild an der Wand. Ein Foto seiner Schwester, aufgenommen bei ihrem letzten gemeinsamen Ausflug. Revur drehte sich zurück zum Fenster. Es war einen Spalt geöffnet, frische kühle Luft strömte herein. Das Foto seiner Schwester, gespenstisch aus der Dunkelheit gehoben, weckte Erinnerungen. Nach einigen Minuten wälzte er sich auf den Bauch. So ging es weiter, von links nach rechts und wieder auf den Bauch. Irgendwann musste er doch weggesackt sein, jedenfalls erwischte »Highway to Hell« ihn im Tiefschlaf. Er fuhr hoch, saß einen Moment lang orientierungslos im Bett, bis er endlich nach seinem Handy griff und mit halb geschlossenen Augen über den grünen Hörer wischte.

Sekunden später war er hellwach.

Revur fuhr sich übers Kinn. Die Bartstoppeln verursachten ein kratzendes Geräusch. Der Kollege aus der Notrufzentrale hatte seinen Bericht beendet. Jemand hatte den Notruf angerufen und etwas von der Rückkehr der Robbenfrau gefaselt. Der Mann war anscheinend völlig aufgelöst gewesen. Doch offenbar gab es eine Leiche auf Kalsoy. Genaues wussten sie noch nicht, nur, dass der Mann kein Einheimischer war. Revur hatte mit unbewegtem Gesicht zugehört. Der Kollege, der seine Kopfhörer noch unschlüssig in der Hand hielt, zuckte die Schultern. Es war allgemein bekannt, dass Touristen manchmal überschnappten, in einer Landschaft, die nicht von dieser, auf keinen Fall jedoch von ihrer Welt zu sein schien. Hinzu kam die Vielzahl grausamer Føroyinga­saga, mit denen sie unweigerlich irgendwann konfrontiert wurden. Kein Wunder, dass bei dem einen oder anderen Urlauber gelegentlich eine Sicherung durchbrannte.

Revur wollte die Originalaufnahme des Notrufs hören.

»Hello, police, Faroe Police?«

»Yes, how can we help you?«

»This is urgent, very urgent! A murder …«

»Where are you?«

»The Seal-Woman! She has come back! She killed …«

»Where are you? Are you on Kalsoy? Please give us your adress.«

»Oh my god! He is dead! You must hurry! The Seal-Woman …«

Hier brach das Gespräch ab. Die Nachfragen der Zentrale blieben unbeantwortet.

Revur hatte konzentriert gelauscht. »Noch mal!«, sagte er.

»Hello, police, …«

»Stopp!« Er blickte auf und sah, dass Niklas Olsen inzwischen eingetroffen war.

»Okay, weiter – bis zur Kópakonan.«

Revur nickte kurz in Niklas’ Richtung und konzentrierte sich wieder auf die Aufnahme. Jetzt tauchte auch Sólja Marnersdóttir auf, drei dampfende Becher in zwei Händen. Niklas befreite sie von einem der Becher. Er legte einen Finger auf den Mund und sah vielsagend zu Revur.

Nachdem der Anruf fünfmal durchgelaufen war, hatte Revur endlich genug gehört. Sólja reichte ihm wortlos den letzten Kaffee, und einen Moment lang genossen sie einfach die Wirkung des Koffeins.

»Also?«, brach Niklas schließlich das Schweigen. Damit unterbrach er auch Revurs Gedankengänge.

»Wir sollten uns beeilen!«

»Woher willst du … ich meine, warum denkst du das?«

Sie hätte wissen müssen, dass aus Revur im Augenblick nichts herauszubekommen war. Die Kaffeepause hatte er ihnen noch gegönnt, doch die Frage: »Was wisst ihr über die Robbenfrau?«, stellte er schon auf dem Weg zur Tür.

Sólja schloss mit einem energischen Ratsch den Reißverschluss ihrer Jacke, während Niklas fast gleichzeitig nach seinem Anorak griff. Im Laufschritt folgten sie Revur auf den Parkplatz.

»Sie hat ihren Mann verflucht!«, rief Niklas schnaufend.

»Ja, weil er sie zweimal betrogen hat!«, sagte Sólja. »Er hat sogar ihre Kinder umgebracht – und gegessen!«

»Seehunde …«, knurrte Niklas verächtlich.

Im Wagen huschte der Schimmer eines Lächelns über Revurs Gesicht.

»Die Skulptur steht jedenfalls in Mikladalur. Schön, dass ihr so viel darüber wisst!«

Niklas schnaubte. »Ammenmärchen«, murmelte er und lehnte sich zurück.

Die Polizeistation in Klaksvík hatte bereits ein Boot nach Mikladalur geschickt. Revur startete seinen Wagen. Er wusste, wie froh Niklas war, nicht in den Heli steigen zu müssen. Da das Ersuchen der Kollegen nicht dringlich war, spielte es keine Rolle, wenn sie etwas später eintrafen. Bootfahren gehörte zwar ebenfalls nicht zu Niklas’ Vorlieben, doch ein Flug mit dem Helikopter löste regelrecht Panik bei ihm aus.

Links und rechts ragten die Berge empor, irgendwie weich und fast vollständig in Grün, als hätte die Natur Teppichboden verlegt. Allerdings lagen Unmengen von Gesteinsbrocken herum, sie schienen anstelle von Blumen einfach aus der Erde zu wachsen. Horizontale Basaltstreifen durchzogen das Grün der Bergketten, und in unzähligen Rillen strömte Wasser senkrecht hinunter. Manchmal in Form dramatischer Wasserfälle, die sich wie silbernes Haar über die Felskanten legten. Auf der Straße war es geisterhaft still, kein anderer Wagen weit und breit. Nur einmal musste Revur hart bremsen, als ein braunes zotteliges Schaf plötzlich auf die Fahrbahn sprang und ungehalten in die Scheinwerfer blinzelte.

Wie ein Tor zur Unterwelt tat sich kurz darauf der erste Tunnel vor ihnen auf. Dieser war zweispurig und einigermaßen gut beleuchtet. Andere waren weder noch.

Sie waren am Kai angekommen. Der Nordatlantik schäumte ihnen entgegen, weiße Gischt leuchtete in der Dunkelheit. Niklas betrachtete die brodelnde See misstrauisch. Ein mittelgroßes Motorboot schaukelte am Anleger und zog an den Tauen.

»Was sagt der Wetterbericht?«

»Der Wind sollte stabil bleiben. Hin müssten wir also kommen …«

Sólja rollte die Augen und zog ihr Handy hervor. »Glaubt nicht, dass ich mit euch Verrückten auf dieser Insel bleibe!«

Sie beugte sich tief über ihr Telefon, um den Sprühregen wenigstens einigermaßen abzuhalten, währenddessen flogen ihre Daumen über die Tastatur.

»Wann hatten wir den letzten Mordfall auf Føroyar?«

»Vor zwei Monaten«, sagte Niklas.

Sólja unterbrach das Tippen und blickte auf.

»Das war ein Tötungsdelikt. Körperverletzung mit Todesfolge, um genau zu sein. Unter Alkoholeinfluss …«

»Genau«, Revur nickte. »Das hier gefällt mir nicht. Es weicht ab.«

»Wie meinst du das? Wir wissen doch noch gar nichts!«

In dem Moment trat der Kapitän an die Reling. Er nickte ihnen auffordernd zu, und als er Revur erkannte, schickte er sogar beinahe ein Lächeln hinterher. Sie kletterten auf die schwankenden Planken. Mit einem Seufzen verstaute Sólja ihr Mobiltelefon in der Jackentasche. Die Wetterapp hatte sie nicht beruhigen können. Das Wetter war, wie üblich, nicht vollständig vorhersehbar. Man hätte eine Kristallkugel gebraucht. Auf jeden Fall schien es nicht richtig schlimm zu werden. Der Kapitän wäre sonst nicht ausgelaufen. Da­rauf konnte man sich verlassen – er hatte eine Art Wetterradar irgendwo im Bauch oder sonst wo in seinem Körper. Seine persönliche Vorhersage konnte vom offiziellen Wetterbericht abweichen, doch im Gegensatz zu dem hatte er sich noch nie geirrt.

Revur stand an der Reling und starrte ins bewegte Meer. Unbewusst glich sein Körper das Schwanken des Schiffes aus, in Gedanken war er weit fort. Der Anruf, der Ort des Leichenfunds – ihn hatte von Anfang an eine böse Ahnung beschlichen. Ein Schauer überlief ihn, der nicht von der Kälte kam. Langsam zog er seinen Blick aus dem Wasser. Tanzende Schaumkronen auf tiefblauen Wellen. Die Robbenfrau …

Er riss sich zusammen. Niklas hatte recht, sie hatten noch nichts gesehen. Zu früh, sich ein Bild zu machen. Auf jeden Fall zu früh, um in altem Aberglauben zu versinken. Energisch wandte er sich um. Eine Hand fest an der Reling, musterte er seine Kollegen. Sólja stand neben dem Kapitän. Sie sprachen nicht, doch schien es eine einvernehmliche Stille zu sein. Sie war intelligent, stellte die richtigen Fragen, konnte auch schweigen. Und war sie von einer Sache überzeugt, ließ sie sich durch nichts davon abbringen. Man musste nur gelegentlich achtgeben, dass sie nicht in die falsche Richtung lief. Revur schalt sich arrogant. Was bildete er sich ein, auf sie achtgeben zu müssen? Ihre Fähigkeit, Menschen und Situationen korrekt zu beurteilen, war ebenso erstaunlich wie ihre Auffassungsgabe. Außerdem schätzte er ihre leicht unterkühlte Art. Die täuschte ihn nicht darüber hinweg, wie sehr sie für eine Sache brennen konnte.

Seine Augen wanderten zu Niklas. Der knapp ein Meter 70 große Kollege kauerte verfroren im Windschatten der Kajüte. Dieses Wetter war nichts für ihn, auf hoher See schon gar nicht. Revur fragte sich nicht zum ersten Mal, ob der kleine dunkelhaarige Mann nicht irgendwo in den Süden gehörte. In den richtigen Süden, dort wo es ernsthaft warm war, nicht etwa nur nach Suðuroy. Niklas hatte die Arbeit nicht erfunden, doch konnte man sich auf ihn verlassen. Wenn es hart auf hart kam, stand er 100-prozentig seinen Mann. Sólja und er konnten kaum unterschiedlicher sein, waren jedoch seit ihrer Kindheit befreundet. Revur schaute wieder über das Wasser. Die Schaumkronen leuchteten schneeweiß, die Umrisse der Nachbarinseln waren im Dunkel nur schemenhaft zu erkennen. Während er das Gesicht in den Fahrtwind hielt, erinnerte er sich, wie erstaunt er anfangs über den Zusammenhalt der beiden gewesen war, der ihn wie selbstverständlich mit einschloss. Die beiden hatten zuverlässig hinter ihm gestanden, in der schlimmen Zeit nach dem Unfall seiner Schwester, als er nicht bei Sinnen gewesen war. Sie hatten ihn gedeckt, immer wieder. Bis er nicht anders konnte, als sich aus dem Sumpf herauszuziehen, in dem er versunken war. Vor allem wegen ihnen, Sólja und Niklas. Der Regen war stärker geworden, und der Wind warf ihn gegen sein Gesicht. Er kniff die Augen zusammen. Ein Ruck ging durch das Schiff, sie hatten Syðradalur erreicht.

Der Kapitän hob die Hand zum Abschied. Er würde sein Schiff für sie bereithalten. Am Anleger wartete der Schwager eines Klaksvíker Polizisten mit seinem Wagen.

Drei Tunnel. Oder waren es vier? Jónas vergaß es jedes Mal. Doch die Tunnel hier waren ein anderes Kaliber, einspurig, nicht mehr als schwache gelbliche Beleuchtung, rohe Felswände rundherum. Am Ende ging die Straße oft rechtwinkelig weiter. Was dahinter lauerte? Ein entgegenkommendes Fahrzeug? Schafe? Stets eine Überraschung.

Rechts ein Abgrund und Wasser, doch immer die beruhigende Silhouette benachbarter Inseln. Zumindest bei Tageslicht. Im Augenblick nur Finsternis, zeitweise unterbrochen von funzeligen Laternen am Straßenrand. Endlich näherten sie sich Mikladalur. Der Fahrer musste bremsen, mehrere Schafe überquerten die Straße. Gedämpftes Blöken tönte durch die Scheiben. Revur schaute über die Rückenlehne nach hinten. Sólja hatte das Tippen auf ihrem Handy unterbrochen und blickte auf. Niklas schreckte hoch. Er war scheinbar eingenickt. Gut. Jetzt waren beide wach. Nach kurzer Weiterfahrt waren sie am Ziel. Ein steiler Fußweg stand ihnen bevor. Es war unmöglich, anders an den Ort he­ranzukommen, es sei denn, man steuerte ein Boot direkt in die Bucht. Früher war das durchaus üblich gewesen, obwohl der Landstieg sehr schwierig war. Die Klaksvíker Kollegen hatten in der Bucht geankert, die Scheinwerfer ihres Bootes beleuchteten die Umgebung. Endlose rutschige Stufen später hatten sie die kleine Landzunge erreicht, auf deren Spitze die Skulptur der Robbenfrau auf einer Plattform aus Basaltbrocken stand. Das Search and Rescue Schiff aus Klaksvík leuchtete vom Wasser her. Revur sah sich um. Oberhalb der Stufen hob das Licht die Gesichter von Anwohnern des Ortes aus dem Dunkel. Eine Aktion wie diese konnte nicht unbemerkt bleiben. Über dem Wasser schwebte, wie die Erfüllung einer düsteren Prophezeiung, die liebliche Gestalt der Kópakonan, der betrogenen Robbenfrau.

»Sie ist so schön«, flüsterte Sólja. »Sie freut sich aufs Tanzen. So arglos …«

Niklas warf einen Blick auf die Skulptur. »Kitschig«, murmelte er.

Sóljas Blick hätte einen wacheren Mann erdolcht. Niklas zuckte nur die Schultern und gähnte. Ein Kollege aus ­Klaksvík trat auf sie zu. Er sah fragend von einem zum anderen.

»Jónas Joensen, Politi Tórshavn«, sagte Revur. Dann stellte er Sólja und Niklas vor. Man nickte sich zu, und der Kollege deutete mit dem Kopf auf die Plattform. Direkt zu Füßen der Robbenfrau war eine unförmige Masse zu erkennen.

Einmal darauf aufmerksam geworden, war sie nicht zu übersehen.

»Ich muss euch warnen. Etwas derartiges … Also – kein schöner Anblick!«

Sie traten näher an die Plattform heran. Aus dem Basalt ragten vereinzelt eingegossene Griffe, mit deren Hilfe man nach oben klettern konnte. Um Touristen ein Bild mit der gut drei Meter hohen Robbenfrau zu ermöglichen. Sólja schnaubte.

»Es ist unglaublich, wie geschmacklos sich einige Besucher fotografieren lassen! Als wären die Brüste der Kópakonan das einzig Bedeutungsvolle. Unfassbar!«

Niklas hob die Brauen. »Also ich finde …«

Revur unterbrach ihn: »Wer hat den Notruf getätigt? Ist der Mann noch hier?«

»Leider nicht. Wir konnten den Anruf nicht zurückverfolgen, und falls er je hier gewesen ist, war er jedenfalls schon weg, als wir ankamen. Es gibt nur den Notruf, den ihr auch habt, mehr nicht.« Der Kollege deutete auf den schwarzen Klumpen zu Füßen der Robbenfrau. »Und natürlich – das da …«

Revurs Blick glitt über die Häuser oberhalb der Treppe. Der Kollege bemerkte den Blick und sagte bedauernd: »Alles Ferienhäuser und Airbnb. Wir haben schon gefragt, zurzeit wohnt dort niemand.«

Zwei Klaksvíker Kollegen standen auf der Plattform und beugten sich über die Stelle, an der die Dunkelheit dichter zu sein schien. Einer richtete sich gerade auf und dirigierte den Lichtstrahl des Bootes. Revur kannte ihn. Er hieß Leif und war noch ein Frischling. Was für ein Einstieg in den Berufsalltag, auf Føroyar konnte man im Polizeidienst pensioniert werden, ohne je mit einem »echten« Mordfall konfrontiert zu werden. Revur nickte dem Kollegen vor sich zu. Dann nickte er Richtung Sólja und Niklas und setzte sich in Bewegung. Der Scheinwerfer des Schiffes war inzwischen so gedreht worden, dass der Boden zu Füßen der Skulptur einigermaßen ausgeleuchtet wurde. Beim Näherkommen waren die Umrisse einer liegenden Person zu erkennen. Doch etwas schien nicht zu stimmen. Revur zog die Brauen hoch. Er hörte Niklas laut einatmen.

»Hey, Leif«, rief Revur dem jungen Polizisten auf dem Plateau zu.

Dem lief Regenwasser von der Mütze in den Kragen seiner Uniformjacke. Er drehte sich zu ihnen um, und das Licht erhellte kurz sein Gesicht. Seine Wangen waren gerötet – wohl mehr vor Aufregung als vor Kälte.

»Hey, Revur, gut, dich zu sehen! Macht euch auf etwas gefasst, es ist ziemlich schlimm.«

Revur unterdrückte ein Seufzen. »Danke für die Warnung, Leif. Macht mal ein bisschen Platz da oben, ich komme rauf!«

Leif beugte sich zu seinem Kollegen, der immer noch vor der Leiche hockte. Der blickte hoch, das Licht des Scheinwerfers beleuchtete sein bleiches Gesicht, dann kletterte er eilig auf der anderen Seite der Steinformation nach unten.

Revur kletterte leichtfüßig hinauf. Sólja war ihm dicht auf den Fersen. Sie zog sich über den Rand des Plateaus, und er hörte ihr entsetztes »Hvat í ólukkan!«

Wortlos reichte er ihr eine Hand. Es wurde eng zu Füßen der Robbenfrau. Außerdem war der unebene Boden schon bei Tageslicht gefährlich, nachts, bei Regen, jedoch eine Katastrophe. Das Plateau wurde zwar vom Scheinwerfer teilweise erhellt, doch wirkten die Schatten außerhalb des Lichts dadurch umso schwärzer. Sie bewegten sich wie auf rohen Eiern. Nicht stolpern und so wenig Spuren wie möglich vernichten. Revur wusste, dass er sich auf Sólja verlassen konnte. Niklas war unten vor den Steinen stehen geblieben und sprach mit dem blassen Polizisten. Revur sah hinunter. Zwei Uniformierte verloren gerade den Kampf mit dem Wind, das Tatortband flatterte ihnen um die Ohren. Schließlich spannten sie es zwischen den Treppengeländern. Die See wurde unruhiger und der Regen stärker.

Er beugte sich über den Körper, der halb in einer Felsspalte klemmte. Bei dem Regen war es schwer, Details auszumachen. Eins war jedoch klar zu erkennen – dem Toten fehlte nicht nur die Kleidung. Er war nicht nur nackt, er war gehäutet worden! Lediglich der Kopf schien unversehrt zu sein.

»Ein Unfall scheidet wohl aus …«

»Sehr witzig!«, sagte Sólja, und Leif kicherte nervös.

»Dieser Regen, wir werden kaum brauchbare Hinweise finden. Außerdem sind hier schon zu viele herumgetrampelt, uns eingeschlossen!«

Nachdenklich sah er sich um. Dicht hinter ihnen stand die Robbenfrau, Kópakonan, auf ihrem Podest. Er hätte ihre Füße und die Flossen des Pelzes beinahe berühren können. Der Künstler hatte sie in dem Moment festgehalten, in dem sie sich fast ganz aus ihrem Pelz herausgeschält hatte. Sie wurde seitlich vom Scheinwerfer des Bootes angestrahlt. Der herabhängende Robbenkopf schien in der Dunkelheit zu glühen.

»Irgendwie unheimlich, findest du nicht?« Sólja schaute in dieselbe Richtung.

Revur zuckte die Schultern. »Schlimmer ist, dass die Spurensicherung in Kopenhagen sitzt. Bis die hier eintreffen, hat Kópakonan ihren Pelz wieder an und ist weggeschwommen. Und den Mann ohne Haut werden wir kaum so lange liegen lassen können.«

Er fluchte leise. Sie müssten ein Zelt über dem Fundort aufbauen, sie müssten Spuren sichern und die Leiche untersuchen, sie müssten … Im Geist sah er Kriminaltechniker in weißen Anzügen wie Ameisen über die Steine schwärmen. Er zog sein Handy aus der Tasche und machte Aufnahmen. Die Leiche von allen Seiten, so gut es ging, der Boden ringsum, beide Kletterpfade.

»Hey«, rief jemand von unten.

»Der Arzt«, sagte Leif, der zwar noch oben stand, sich jedoch halb hinter die Skulptur gequetscht hatte.

»Aus Klaksvík. Richtig eilig war es ja nicht mehr … Und die Rettungssanitäter sind gleich mit uns hergefahren, wegen des Notrufs.«

Revur richtete sich auf und steckte sein Handy ein.

»Wir kommen runter!«

Ein paar Sprünge, und er stand vor dem Arzt.

»Jónas Joensen, Politi Tórshavn. Wir sind oben fertig. Schau mal, ob dir etwas zur Todesursache einfällt.«

Er zeigte Richtung Robbenfrau und fügte hinzu: »Hoffen wir für ihn, dass ihm das Fell wenigstens post mortem über die Ohren gezogen wurde.«

Die Furchen in dem wettergegerbten Gesicht des Arztes wurden zu Gräben. »Aha. Abgründe also. Hofft ihr besser, dass ihr dem Blick hinein standhalten könnt!«

Mordfälle waren eher ungewöhnlich auf Føroyar. Fast jeder kannte jeden, zumindest auf den kleineren Inseln, und Kalsoy mit der Robbenfrau war eine davon. Kurz war ihre Bekanntheit sprunghaft in die Höhe geschnellt, nachdem James Bond dort angeblich den Tod gefunden hatte. Die Kommune hatte geschäftstüchtig reagiert und flugs einen Grabstein errichtet. Auch Borðoy war nicht riesig, obwohl Klaksvík die zweitgrößte Stadt nach der Hauptstadt Tórshavn war. Normalerweise gab es hierorts jedoch höchstens Tötungsdelikte, und die zumeist unter Alkoholeinfluss. Somit empfanden die Ermittler es zwar einerseits aufregend, plötzlich vor einer Mordermittlung zu stehen, andererseits jedoch im gleichen Maße erschreckend. Der Arzt schien ihre widerstreitenden Gefühle zu verstehen. Und darüber hinaus noch eine ganze Menge. Mit einer Hand grob Richtung Norden zeigend, sagte er leise zu Revur:

»So albern ich den Firlefanz da oben finde, dieses Memorial für eine Kunstfigur, der Spruch auf dem Stein könnte gerade für dich eine Bedeutung haben.«

Revur schwieg und der Arzt fügte hinzu: »The proper function of man is to live, not to exist.«

Er klopfte Revur leicht auf die Schulter und machte sich auf den Weg zu seinem »Patienten«.

»Eindeutig tot!«, rief er wenig später zu ihnen herunter.

»Noch ein Witzbold«, murmelte Sólja, »wenn das in dem Tempo weitergeht, lache ich mich tot!«

Revur runzelte die Stirn. »So weit waren sogar wir schon. Geht’s etwas präziser?«

»Geduld, mein Freund! Das ist eine Tugend, die bei der Jugend immer mehr in Vergessenheit gerät!«

Revur hatte inzwischen die diensthabende Leiterin der Polizeistelle in Tórshavn angerufen. Sie waren sich einig, dass der Leichnam nicht in dieser exponierten Lage bleiben konnte, bis jemand von der Rechtsmedizin aus Dänemark eintreffen würde. Das wäre laut Flugplan frühestens morgen am späten Vormittag der Fall. Sie würden den Toten also vorläufig in die Hauptstadt überführen. Dort würde die rechtsmedizinische Untersuchung dann auch stattfinden.

»Schnapp dir mal jemanden von den Rettungskräften, wir brauchen einen Bodybag. Die Besatzung aus Klaksvík soll den Leichnam bis Syðradalur auf ihrem Schiff mitnehmen. Dort verladen wir ihn auf unser Boot. Am besten nehmen sie uns auch gleich mit. Dann kann unser Fahrer ins Bett.«

Niklas salutierte. Revur sah sich um. Die übrig gebliebenen Anwohner hielten sich an die Absperrung. Sie waren bereits von den Klaksvíker Kollegen befragt worden. Morgen würde eine weitere Runde folgen. Er ging zu dem Polizisten, mit dem er zu Beginn gesprochen hatte.

»Wir fahren mit der Leiche zurück. Befragt ihr morgen noch mal alle möglichen Zeugen aus der Umgebung?«

Der Kollege nickte. »Sieht leider nicht sehr vielversprechend aus.«

»Ist zu befürchten. Trotzdem.« Revur nickte ihm zu und kletterte noch einmal auf das Podest der Robbenfrau. Der Arzt schloss seine Tasche und erhob sich ächzend aus der Hocke. Er holte sein Handy aus der Jacke und schaltete die Diktierfunktion ein.

»Abgesehen vom Offensichtlichen – meiner vorläufigen Einschätzung nach wurde der Mann von mehreren Messerstichen im Brustbereich getötet. Sie wurden außerordentlich heftig mit einer langen breiten Klinge ausgeführt, möglicherweise einem gut geschärften Kochmesser. Und, um dein zartes Gemüt zu beruhigen, der Mann war mit an Sicherheit grenzendender Wahrscheinlichkeit bereits tot, als er seiner Haut beraubt wurde.«

Er warf einen vielsagenden Blick zu der ungerührt dastehenden Skulptur hinter sich. »Die Häutung wurde übrigens wenig fachmännisch vorgenommen. Es dürfte ein Weilchen gedauert haben. Nichts für jemanden mit schwachen Nerven. Die Person musste mehrmals neu ansetzen und hat ihm die Haut mehr oder weniger in Streifen abgezogen.«

Der Oberkörper eines Polizisten tauchte auf. Er hatte den Tatort-Koffer der Klaksvíker Polizeistation dabei.

»Soll ich oder willst du?«

»Reich mal rüber, ich bin ja schon da.« Revur nahm ihm den Koffer ab. Während er sorgfältig Plastiktüten über die verstümmelten Hände des Opfers zog, versuchte er, auf jedes Detail zu achten.

»Ist dir noch irgendetwas aufgefallen?«, fragte er den Arzt, während er die unmittelbare Umgebung des Leichnams absuchte. »Muss nicht offiziell sein. Nur so zwischen uns beiden …«

Der Arzt beugte sich zu ihm hinunter.

»Nun, ich will mal so sagen – warum sollte jemand etwas Derartiges tun? Er hat sein Opfer anscheinend nicht quälen wollen, trotzdem zeugt die Tiefe der Stichwunden von großer Wut oder auch Unbeherrschtheit.« Er zuckte die Schultern. »Dieses Arrangement, genau hier – entweder ist er ein psychisch sehr kranker Mensch, dann müsste er meiner Meinung nach schon früher auffällig geworden sein, oder er will euch an der Nase herumführen.«

Damit drehte er sich noch einmal zur Kópakonan, dann rief er dem Oberkörper des wartenden Polizisten zu: »Hey, mein Junge, kannst du mir mal den Arztkoffer abnehmen?«

Revur sah ihm hinterher. Nachdem der alte Arzt verschwunden war, winkte er den geduldig wartenden Kollegen heran. Es gab nichts mehr, was er hier tun konnte, nun mussten sie den Körper herunterschaffen. Von der anderen Seite kletterte Leif den Felsen hoch. »Kann ich helfen?«

»Melde eurem Boot, es soll hier anlanden. Dann kannst du mir helfen, ihn in den Leichensack zu verfrachten. Wir müssen ihn vorsichtig übergeben, am besten stellen sich schon mal zwei an der Plattform in Position.«

Sein Blick wanderte über die Polizisten, die von drei Seiten um den Stein herumstanden. Kaum hatte sein Blick den gefunden, den er suchte, brüllte er: »Niklas, an die Arbeit! Wir müssen ihn aufs Boot schaffen!«

Statt Niklas kletterte Sólja neben den wartenden Kollegen. Revur runzelte zwar die Stirn, doch musste er ihr insgeheim recht geben: Sie war nicht nur durchtrainierter als Niklas, sie war auch wesentlich kaltblütiger. Die Aktion forderte ihnen einiges ab. Der dunkle Sack, vom Regen glitschig, rutschte immer wieder weg, die Überreste des Menschen darin weigerten sich zu kooperieren. Schließlich glitt er aus den Armen des unglücklichen Polizisten zu Boden, wo er mit einem unangenehmen Geräusch auf die Felsen schlug. Aufgrund des schmalen Aufgangs hatten die anderen nicht helfen können. Niklas stürmte nach vorn und trug den Sack gemeinsam mit Sólja runter zum Schiff, das inzwischen festgemacht hatte. Dort wäre er ihnen beinahe ins Wasser gefallen. Der Abgang war steil und bei dem Regen die reinste Rutschpartie. Sie arbeiteten sich mühsam über Holzbalken nach unten, die vor langer Zeit dort befestigt worden waren, um das Heraufziehen der Boote zu erleichtern. Die Männer auf dem Schiff versuchten, ihnen entgegenzukommen, doch das aufgewühlte Meer schien sich gegen sie verschworen zu haben. Endlich konnten sie den Leichnam auf dem schwankenden Schiff übernehmen.

Sólja wischte sich den Regen aus dem Gesicht und drehte sich zu Niklas um.

»Das war knapp! Fast wäre er Fischfutter geworden.«

»Und du beschwerst dich über die Witze der anderen …«

»Los, ihr zwei, nicht rumtrödeln! Wir wollen mit auf den Kahn!«

Zwei Polizisten aus Klaksvík mussten bei der Absperrung bleiben, die anderen gingen mit ihnen an Bord.

»Meinst du, wir sollten Hunde einsetzen?« Leif konnte vor Aufregung kaum stillstehen. »Wir haben doch jetzt an alles gedacht, oder?« Er starrte zurück an Land. »Oder sollten wir nicht …«

»Ruhig Blut«, sagte ein älterer Kollege, »alles getan, was getan werden konnte. Du hast dich nicht schlecht gehalten fürs erste Mal. Jetzt geh runter, trink einen Tee und freu dich aufs Bett.«

Leif atmete tief aus, dann verschwand er tatsächlich.

Was der Kollege nicht erwähnt hatte, war, dass dieses für sie alle das erste Mal war. Revur dachte darüber nach. Von ihm aus hätte es gern ruhig weitergehen können. Doch die Zeit ließ sich nun einmal nicht zurückdrehen.

2

KOPENHAGEN

»Ich bin weg!«

Amalie Vinther Frost schloss die Wohnungstür. Kurz da­rauf fiel auch die Haustür hinter ihr ins Schloss. Die fünf Stockwerke schaffte sie mit links – in beiden Richtungen. Sie kontrollierte den Sitz ihrer Ohrstöpsel und trabte Richtung Frederiksberg Have. Dass Jasper wieder mal im Bett blieb, störte sie nicht. Sie lief am liebsten allein. Er hingegen schien sportliche Aktivitäten in letzter Zeit auf sein Rennrad zu beschränken. Das fand sie zwar öde, doch natürlich stand es ihm frei. Ihre Beziehung lief so gut, weil sie sich nicht einengten. Als Parkwege den Asphalt ablösten, hatte sie ihren Rhythmus gefunden. Sie genoss die Strahlen der erwachenden Sonne, die zwischen den Bäumen hindurchblitzten. Dazu die Musik von »Baby in Vain« und sie kam wirklich in Fahrt. Nach einer knappen Stunde erklomm sie etwas atemlos die Stufen zu ihrer Wohnung. Jasper war schon weg. Sie holte eine Tüte Skyr aus dem Kühlschrank und trank direkt aus der Packung. Der Einzige, den es gestört hätte, war nicht da. Ihr Blick fiel auf die Wanduhr, fast 8 Uhr, auch für sie wurde es Zeit.

Wenig später betrat sie den neoklassizistischen Bau des Polizeihauptquartiers von Kopenhagen.

Bei Amalie Vinther Frost war der Name Programm. Kollegen spekulierten hinter ihrem Rücken, wie es einem Herrn namens Mads Frost hatte gelingen können, unter Millionen von Däninnen die eine mit dem Namen Aya Vinther kennenzulernen. Diese Geschichten behielten sie jedoch für sich, denn mit Amalie war nicht gut Kirschen essen.

Sie machte einen Umweg über die Küche und nahm einen Becher Kaffee mit.

»Hej.«

Die beiden Kollegen blickten von den Bildschirmen auf. Es schien etwas los zu sein.

»Guten Morgen, Eisprinzessin!« Sven war der Einzige, der sie offen so nannte und damit durchkam.

»Da kocht was auf Føroyar«, sagte Nils. Er lehnte sich zurück und knackte mit den Fingern.

Ihre Mundwinkel zuckten, sie hasste das Geräusch.

»Ach ja?«

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und blätterte in den Unterlagen.

Sven und Nils schwiegen, daher sah sie nach einigen Sekunden hoch. »Und? Hat ein Däne sein Bier in Tórshavn nicht bezahlt?«

»Also faktisch sind wir alle Dänen …«, begann Sven.

Sie nahm ihn ins Visier, mit diesem typischen »No Nonsense« Blick, den niemand draufhatte wie sie. Deshalb wurde sie, neben »Eisprinzessin« auch »Miss No Nonsense« genannt.

»Wenn es so war, dann ist die Reaktion auf jeden Fall drastisch.«

Bevor Nils zu einer Erklärung kam, ging die Tür auf.

»Frost zum Chef, sofort!«

Sie kniff die Augen zusammen und musterte Nils finster. Doch wenn der Chef sofort sagte, dann meinte er sofort. Sie nickte leicht. Später, sagte ihr Blick.

»Setz dich.«

Sie faltete ihre ein Meter 76 in den Besuchersessel vor dem Schreibtisch.

Karl fixierte sie über den Rand seiner Lesebrille. Er hatte die Ellenbogen aufgestützt, das schüttere rotblonde Haar war ein wenig zerzaust. Man wollte es ihm liebevoll glatt streichen, doch der Schein trog. Ihr Chef verfügte über einen messerscharfen Verstand, er war alles andere als gemütlich. Er trug die obligatorische Tweedweste über seinem weißen Oberhemd.

»Es hat einen besorgniserregenden Vorfall auf Kalsoy gegeben.«

»James Bond ist dort gestorben.« Sie konnte es nicht lassen.

Seine Augen verengten sich. »Wenn ich aussprechen dürfte … gut, also dort wurde ein Toter gefunden. Unter gelinde gesagt mysteriösen Umständen.« Er räusperte sich. »Sehr gelinde gesagt und sehr tot!«

Unwillkürlich richtete sie sich auf. Er nickte finster.

»Ein gehäuteter Toter! Da er das kaum selbst fertiggebracht haben kann, gehen wir natürlich von einem Verbrechen aus. Jetzt überlege bitte genau: Wann ist etwas Ähnliches wohl zuletzt auf Færøerne passiert?«

Er musterte sie einige Sekunden. Diesmal schwieg sie wohlweislich.

»Richtig, auf jeden Fall vor unserer Zeitrechnung. Und aus diesem Grund möchte ich, dass du sofort packst und dich mit Åke aus der Rechtsmedizin auf den Weg nach Tórshavn machst!«

Erschüttert sank sie im Stuhl zurück, doch Sekunden später schnellte sie wieder nach vorn.

»Karl, bitte! Das kann nicht dein Ernst sein! Was ist mit Sven, mit Nils? Jaspers Großmutter wird dieses Wochenende 85, ich muss ihn einfach begleiten!«

Bei aller Toleranz, seine Familie war Jasper heilig. Objektiv betrachtet war ihre Beziehung zurzeit ein wenig abgekühlt. Wollte sie retten, was zu retten war, konnte sie ihm auf keinen Fall absagen.

»Entschuldige, liebe Amalie, das Einzige, was du musst, ist deinen Hintern in den Flieger nach Vágar verfrachten! Heute ist Dienstag, bis zum Wochenende sind es noch ein paar Tage. Vielleicht findest du bis dahin etwas heraus. Dann könnte es sein, dass ich mit mir reden lasse. Ich weiß, dass du einiges an Überstunden angesammelt hast wie wir alle. Wenn du diese Angelegenheit sauber und schnell erledigst, nimmst du dir erst mal frei.«

Er sah sie ernst an. »Doch auf keinen Fall vorher! Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Wechselnde Gefühle jagten über ihr Gesicht. Sie konnte sich nicht beherrschen, das machte sie umso wütender. Normalerweise ließ ihr Pokerface sie nicht im Stich.

Karl musste ihre heftige Reaktion natürlich bemerken, es schien ihm auch leid zu tun, doch blieb er fest. Sie würde auf die Færøerne fahren. Zusammen mit Åke, dem Rechtsmediziner. Den hatte er informieren lassen.

»Amalie, na klar sehe ich, dass du sauer bist. Nicht dass ich mich rechtfertigen müsste, doch es geht nicht anders. Vertraue mir einfach, wie immer!«

Sie verließ sein Büro wie eine Schlafwandlerin.

»Vertrauen wie immer«, schnaubte sie, wenige Schritte vor ihrem Büro und ballte die Fäuste. Sie war kurz davor, sich zu beschweren. Realistisch betrachtet keine gute Idee. Sie hätte zu Annette Kirkegaard gehen müssen, die Karl zwar übergeordnet, jedoch überwiegend aushäusig unterwegs war. Keine Konferenz zwischen hochrangigen Vertretern der internationalen Exekutive, zu der sie nicht geladen wurde. Außerdem wusste Amalie, dass Karl Rücksicht auf seine Untergebenen und ihr Privatleben nahm. So weit es eben ging. Er musste einen besonderen Grund haben, warum unbedingt sie diesen Fall übernehmen sollte. Das brachte sie auf die Idee, bei Sven und Nils nachzuhaken, ob es in deren Leben vielleicht gerade Probleme gab. Ein Anflug schlechten Gewissens überflog sie bei der Feststellung, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, ob die beiden möglicherweise in Schwierigkeiten steckten. Falls nicht, nun dann würde man sehen, ob nicht genauso gut einer von ihnen ans Ende der Welt fahren konnte.

3

TÓRSHAVN

Am Dienstagmorgen wachte Revur früher auf als sonst. Dabei hatte er wieder nicht gut geschlafen. Es war die Jahreszeit. Nicht, dass das Ende des Winters ihn normalerweise aus der Bahn geworfen hätte, doch rückte der Todestag seiner Schwester unerbittlich näher. Er und sein Schwager unternahmen in dieser Zeit extreme Wanderungen zusammen. Sein Neffe Tórálvur war dabei, seit er das 15. Lebensjahr vollendet hatte. Vor zwei Jahren allerdings war er nach Kopenhagen gezogen, zum Studieren. Dass er seinen Vater und seinen Onkel nun nicht mehr wie gewohnt begleiten konnte, nagte vor allem an Hilmar, seinem Vater. Doch auch Revur vermisste die frische und unkomplizierte Art seines Neffen auf ihren Ausflügen. Die Touren fanden jetzt größtenteils schweigend statt. Zwei alte Männer, dachte er bitter. Dabei war er mit 42 Jahren nicht gerade alt. Wie alles eine Frage der Perspektive. Der Sohn seiner Schwester studierte jedenfalls fleißig Jura. In den Semesterferien arbeitete er zumeist. Im Sommer war er Guide auf Island, und im Winter war er entweder in Tromsø und fuhr als Musher Touristen auf Hundeschlitten durch die Nacht, oder er leitete Motorschlittentrips in Lappland. Wenn sie sich trafen, hatte er viel zu berichten. Um Touristen herumzuführen, musste man offenbar nicht in dem jeweiligen Land geboren sein, Interesse und Ortskenntnis schienen auszureichen. Beim letzten Mal hatte Tórálvur erzählt, dass auf seiner Fortbildung ein Pärchen aus Barcelona gewesen war. Die beiden bereisten mit einem Caravan Nordeuropa und arbeiteten zwischendurch als Guides. Sowohl sein Vater als auch Revur hatten den Kopf geschüttelt – mit einem Spanier durch Island? Tórálvur hatte sie ausgelacht. Ehrlich, die beiden Katalanen hatten es drauf!

Revur stand vor der Kaffeekanne und goss geduldig heißes Wasser in den Filter. Gießen, warten, nachgießen. Meditativ. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee erfüllte die Küche. Das frühe Aufwachen bescherte ihm zumindest etwas Zeit vor der Arbeit.

Kópakonan, plötzlich war sie im Zentrum eines brutalen Verbrechens. Ihre Geschichte kannte er. Seine Großmutter hatte sie ihm oft erzählt. Im Grunde war es die tragische Geschichte einer betrogenen und unterdrückten Frau. Die Sage war jedoch keine rein färöische Erfindung, ähnliche Erzählungen fanden sich in den Überlieferungen fast aller nordischen Länder.

Den Leichnam des Unbekannten hatten sie gestern in die Kühlräume der Polizei in Tórshavn gebracht. Die Leichenschau würde stattfinden, sobald die Rechtsmedizin aus Kopenhagen eingetroffen war. Revur hatte vor, an der Obduktion teilzunehmen. In der Zwischenzeit lief die Suche nach der Identität des Toten auf Hochtouren. Teams durchkämmten Hotels und Guest Houses und suchten die Besitzer bekannter Airbnb-Unterkünfte auf. Die Zahl der Ermittler war begrenzt, doch arbeiteten auf den Färöern auch Freiwillige für die Polizei, natürlich ohne die Befugnisse ihrer offiziellen Kollegen. Da der Kopf des Toten weitestgehend unverletzt war, hatten sie die Ausdrucke eines Fotos. Revur wusste, dass die Teams heute am frühen Morgen gestartet waren, bevor die Eigentümer der Guest Houses und Airbnb-Wohnungen ausgeflogen wären. Er sah auf die laut tickende Küchenuhr. Zeit auch für ihn, ins Revier zu fahren. Normalerweise war er gern der Erste, doch in dieser Zeit, um den Tod seiner Schwester herum, fiel es ihm immer noch schwer, sich aus dem Klammergriff der Trauer zu lösen und zu funktionieren.

Er trank den letzten Rest Filterkaffee. Den Becher hatte seine Schwester ihm geschenkt. Er schloss für einige Sekunden die Lider. Die Situation damals, ihr Lachen standen so deutlich vor seinen Augen, als wäre es gestern gewesen. Energisch stellte er den Becher in die Spüle. Und sah weg. Und dann doch wieder hin. Kristina hatte den Becher für ihn bedrucken lassen. Mit einem Foto der Kópakonan.

Er stellte seinen Wagen auf dem Gelände des SMS-Einkaufszentrums ab, direkt vor dem Polizeigebäude. Wie immer fragte er sich, wann der Parkplatz hinter der Wache endlich fertig sein würde. Mit langen Schritten lief er dann die Treppen zur Wache hoch. Er dachte noch flüchtig daran, in drei Stunden umparken zu müssen, doch als er das Metallgitter am Eingang mit dem Ausweis geöffnet hatte und die Dienststelle betrat, konzentrierte er sich bereits ganz auf den Toten von Kalsoy. Eine große Verantwortung kam auf ihn zu. Einerseits beinahe erleichternd, da der Fall ihn vom Todestag seiner Schwester ablenkte, doch gleichermaßen erschreckend, denn ein Großteil des Aufklärungserfolgs würde von seinen Fähigkeiten als Ermittlungsleiter abhängen.

»Ich frage mich, wann du dich mal wieder rasieren willst?«

Sóljas Frage riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ein echter Prophetenbart soll es wohl nicht werden? Oder? Im Moment siehst du nämlich eher aus wie ein Orang-Utan!«

»Hey, Sólja! Denk daran, die sind sehr stark und beißen. Ist Niklas schon da?«

»Er steht in der Küche und zählt Kaffeebohnen. Die Chefin ist auch aus dem Bett gefallen, in zehn Minuten Treffen im Besprechungsraum. Sie hat nach dir gefragt!«

Sólja kam einen Schritt näher und fasste ihn am Oberarm.

»Wie geht es dir?«

»Danke, ich komm klar!«

Das Lächeln war kaum wahrnehmbar, doch für Sekundenbruchteile erhellte es sein müdes Gesicht.

Sie schwieg. Bevor sie sich abwandte, strich sie ihm leicht über den Arm. Revur sah ihr nach. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Er holte sich einen Kaffee und machte sich mit Niklas im Schlepptau auf den Weg zur Frühbesprechung. Eine Handvoll Ermittler hatte sich bereits eingefunden und auf den Stühlen verteilt. Die Schiebetür, die den Raum mit der Notrufzentrale verband, wurde gerade geschlossen. Duft von Kaffee und Rasierwasser füllte den nüchternen Raum. Die Revierleiterin stand an der Schmalseite des Tisches und nickte ihm zu.

»Guten Morgen! Ich will nicht lange drum herumreden, wie ihr wisst, wurde gestern auf Kalsoy ein Toter gefunden. Ist jemand hier, der nicht darüber Bescheid weiß?«

Sie sah alle Anwesenden der Reihe nach an. Niemand meldete sich. »Gut, dann wisst ihr auch, dass es sich nicht nur eindeutig um ein Verbrechen handelt, sondern dass die Umstände außergewöhnlich sind. Außergewöhnlich jedenfalls für uns, auf Føroyar. Was in Kopenhagen und anderen Teilen der Welt morbide Realität sein mag, ist in dieser Form bei uns bisher weder angekommen noch vorgekommen!«

Bjørg Poulsen hielt inne und trank einen Schluck Kaffee.

»Zum Glück, wie ich hinzufügen möchte! Jónas, du warst mit deinem Team vor Ort, schildere uns bitte, was ihr vorgefunden habt. Und welche Schlüsse du bisher da­raus ziehen konntest.«

Revur dachte an die sturmgepeitschte Nacht zurück, glaubte beinahe, den eisigen Regen auf seinem Gesicht zu spüren. Er sah noch einmal den Toten zu Füßen der Robbenfrau.

»Wir wurden von der Zentrale informiert. Die Klaksvíker waren schon unterwegs, also schien es keinen Grund für übertriebene Eile zu geben. In Mikladalur fanden wir dann einen Toten auf dem Podest der Kópakonan. Man hatte ihm die Haut abgezogen. Zurzeit liegt er bei uns auf Eis. Das Gelände am Fundort ist schwierig, besonders in der Nacht. Als Nächstes müssen wir herausfinden, wann die letzten Besucher auf Kalsoy waren, ohne die Leiche gesehen zu haben.«

Er überlegte kurz, bevor er anschloss: »Die Häuser direkt am Fundort stehen leer. Nur Sommerhäuser und Airbnb, zurzeit alle unvermietet.«

Revur sah den Anflug von Hilflosigkeit über Bjørgs Gesicht ziehen. Sie hatte sich sofort wieder im Griff, doch er hatte es bemerkt.

Die Chefin räusperte sich. »Sonst noch etwas, das dir aufgefallen ist?«

Plötzlich hörte er wieder die Worte des Arztes. Sein Blick wanderte von Bjørgs Gesicht zum Fenster. Nach einer Weile sah er auf seine Hände, dann begann er langsam weiterzureden: »Der Arzt sah keinen Sinn in dieser Handlung. Er meinte, da der Täter das Opfer zuerst tötete, habe er es offenbar nicht quälen wollen. Also könne es sein, dass diese Inszenierung nur für uns bestimmt war, um uns zu verwirren. Andererseits zeuge die Häutung jedoch von extremer Kaltblütigkeit, möglicherweise Sadismus. Der Arzt ist aber sicher, dass wir in dem Fall etwas über den Täter vorliegen haben müssten.«

»Es sei denn, er hat sich bisher im Verborgenen ausgelebt!«, rief Niklas dazwischen.

Revur runzelte die Stirn. »Das ist möglich. Vielleicht ist er auch gar nicht von hier. Die Häutung war jedenfalls nicht professionell. Es muss einige Zeit gedauert haben. Dafür braucht man einen geeigneten Raum, das macht man nicht im Hotelzimmer. Und man braucht eben Zeit.«

Für einen Moment war es still. Nur Sólja trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte.

Die Chefin schwieg, ihre Kieferknochen mahlten. Unvermittelt sah sie auf die Uhr.

»Es wird Zeit! Revur, du fährst nach Vágar! Sammle bitte den Rechtsmediziner am Flughafen ein. Außerdem erwarten wir eine Kommissarin zur Unterstützung. Die beiden mussten schon mit dem Linienflugzeug kommen, dann wollen wir sie wenigstens abholen.«

Revur hob eine Augenbraue. »Eine Kommissarin aus Kopenhagen? So schnell?«

Bjørg ignorierte seine Fragen und fuhr fort: »Auf dem Weg hierher kannst du sie gleich mit den Fakten vertraut machen.«

Ihr Blick ließ keinen Widerstand zu. Sie wandte sich wieder an alle.

»Wir werden uns ab sofort jeden Morgen um 8 Uhr zur Frühbesprechung treffen. Als Erstes muss dringend die Identität des Toten geklärt werden. Irgendwelche Vorschläge?«

Zu Revur sagte sie: »Mach du dich bitte auf den Weg – nicht, dass die beiden uns am Flughafen verloren gehen. Du hast eine knappe Stunde bis zur Ankunft. Sólja kann dir später berichten, was wir besprochen haben.«

Er hob eine Augenbraue, am Flughafen verlorengehen. Nicht einmal ein Kleinkind würde das schaffen. Er wollte gerade die Tür zum Besprechungsraum schließen, da fiel ihm ein, dass er seinen Kaffeebecher stehen gelassen hatte. Er zögerte kurz, doch dann zuckte er die Schultern. Im Büro warf er einen Blick auf seinen Schreibtisch. Der Computerbildschirm schien ihn auffordernd anzusehen. Nur einmal kurz hochfahren, vielleicht gab es inzwischen Neuigkeiten. Seufzend widerstand er der Versuchung. Er nahm seine Jacke vom Haken und verließ das Büro. Wieso sollte eigentlich ausgerechnet er den Chauffeur spielen? Zumindest kam er um das lästige Umparken herum, das er wahrscheinlich sowieso vergessen hätte. Der Motor des alten Geländewagens erwachte widerwillig aus seinem Maschinentraum. Revur bog links auf die R.C. Effersøesgøta. Kurz darauf hatte er den Kreisel erreicht, an dem es links weiter zum Stadion ging. Rechts ab thronte ein Stück weiter das Hilton Garden Hotel