Mord im Dreivierteltakt - Constanze Scheib - E-Book

Mord im Dreivierteltakt E-Book

Constanze Scheib

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Beschreibung

Oskar Ehrenstein begleitet seine Frau nur aus einem Grund zum Wiener Philharmonikerball 1973: In dieser illustren Gesellschaft werden Geschäftsbeziehungen geknüpft. Üblicherweise gehen die Ehrensteins den Rest des Abends getrennte Wege, doch diesmal weckt Oskars merkwürdiges Benehmen die Neugier der gnä' Frau: Was verbindet Oskar mit Felix Hall, dem Lei­ter eines Theaters am Spittelberg? Kurz vor der Mitternachtsquadrille kommt es im Foyer zum Eklat: Halls Regisseur und dessen Frau, die Ex­-Primadonna Conetotti, liefern sich ein heftiges Wortgefecht mit dem Geldgeber der Opernproduktion. Diese Geschäftsbeziehung jedenfalls ist beendet. Ehe Frau Ehrenstein sich's versieht, hat man sie zur Mäzenin erkoren - eine Rolle, in der sie sich gefällt: Sie liebt das Theater, und als Hobbydetektivin vermutet sie, dass mehr hinter den Ausbrüchen der Signora steckt. Bald gesteht die Operndiva: Ein Unbekannter hat ihre Lebenslüge enttarnt und fordert Schweigegeld - Geldübergabe auf dem Opernball. Doch der Erpresser hat seine Rechnung ohne Frau Ehrenstein gemacht.

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Seitenzahl: 345

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Constanze Scheib

Mord im Dreivierteltakt

Die gnä’ Frau ermittelt

Roman

Oktopus

Er hat Dutzende von Namen, und er verbirgt sich hinter Hunderten von Masken.

Die 39 Stufen,

(1935, Regie: Alfred Hitchcock)

1Robert Redford beim Philharmonikerball

»Ist … ist das Schokolade an deinen Handschuhen?«

Oskar blickte fassungslos auf Frau Ehrensteins Hände. Sie spürte ihre Wangen erröten und mied seinen Blick, während sie in ihrem kleinen Beutel nach einem Taschentuch kramte.

»Ähm … ja. Eventuell hätte ich die Handschuhe ausziehen sollen, ehe ich den Sacherwürfel esse. Aber dann hab ich schon Alles Walzer! gehört, und ich wollte die kleine Köstlichkeit nicht verkommen lassen.«

Nach der Festfanfare und dem Einzug der Ehrengäste hatte die gnä’ Frau noch kurz der Eröffnung des Philharmonikerballs durch das Jungdamen- und Jungherrenkomitee zugeschaut: Junge Männer und Frauen hielten pärchenweise in den Ballsaal Einzug, boten dann einen choreographierten Tanz dar, um schließlich mit einem Linkswalzer die Feierlichkeit offiziell zu starten. Der Gusto auf etwas Süßes hatte Frau Ehrenstein zu einem der Pausenbuffets des Musikvereins getrieben. Sie war sicher gewesen, dass sie rechtzeitig zum ersten Tanz zurück sein würde.

»Marandjosef, hab ich auch am Mund Schokolade? Ist mein Lippenstift verschmiert?«

Oskar stieß einen tiefen Seufzer aus. Als sie ihm wieder in die Augen sah, erkannte sie jedoch ein amüsiertes Blitzen darin.

»Ich weiß zwar nicht, wie du das immer schaffst, aber dein Lippenstift sieht makellos aus. Warte, vielleicht wär’s gescheiter, wenn du die Handschuhe ausziehst.«

»Oskar Maximilian Leopold Bonifaz Ehrenstein. Du schlägst vor, dass ich bei einem der wichtigsten Bälle der Wiener Gesellschaft ohne Handschuhe herumlaufe? Also praktisch nackt?«

»Du bist ja heute wieder ausgesprochen amüsant. Ich will lediglich meine weißen Handschuhe schützen. Außerdem ist der erste Walzer schon halb vorbei. Komm, vielleicht finden wir noch ein Platzerl.«

Die gnä’ Frau stopfte ihre Seidenhandschuhe in ihren Beutel und eilte mit ihrem Mann zur vollgepackten Tanzfläche.

Man konnte kaum von Tanzen sprechen. Vielmehr schoben sich die Pärchen Schulter an Schulter über das Parkett, während die Wiener Philharmoniker mit Verve Strauss spielten. Frau Ehrenstein hielt sich an Oskars Oberarm fest, als er sich durch die Menge drückte, um zur Mitte der Tanzfläche zu kommen. Dabei wich sie geschickt gefährlichen Ellenbogen aus.

Ihrem Mann ging es nicht ums Tanzen. Wer wirklich gern Walzer tanzte, wartete ein paar Lieder ab, um sich auf dem Parkett auch wirklich bewegen zu können. Oskar kam es im Moment nur aufs Gesehenwerden an. Je näher er zum Zentrum der Menschenmenge vordrang, desto größer war die Chance, auch von den Logen aus bemerkt zu werden. Und dort saßen ehemalige, gegenwärtige und zukünftige Geschäftspartner.

Die gnä’ Frau legte eine Hand auf Oskars Schulter, die andere in seinen Handschuh, und sie begannen sich im Takt zu bewegen.

»Eins, zwo, drei – eins, zwo, drei.«

Neben den Ehrensteins presste ein junger Mann mit rotem Kopf den Dreivierteltakt zwischen seinen Lippen hervor und wurde im Viervierteltakt von seiner Partnerin ermahnt, nicht ständig auf seine Füße zu starren. Frau Ehrenstein musste schmunzeln, doch Oskars Miene blieb seriös, während er mit wachsamem Blick den Raum erforschte.

Wie jedes Jahr fand auch der 33. Philharmonikerball im Wiener Musikverein statt, getanzt wurde im goldenen Saal. Der Raum machte seinem Namen alle Ehre: Er glänzte. Die Wände, die Galerien, selbst der Rahmen der großen Orgel waren in der Farbe des Edelmetalls gehalten. Das Licht der vier Kristallleuchter, die wie überdimensionale strahlende Tropfen von der Decke hingen, verstärkte noch den warmen Goldton.

Die gnä’ Frau fand keinen besonderen Spaß an dem Herumgeschiebe des ersten Walzers und legte den Kopf in den Nacken, während ihr Mann sie führte. Sogar der Plafond war mit goldenem Stuck verziert. Dazwischen, als einzige bunte Farbkleckse im Saal, waren Deckengemälde in blauen Grundtönen zu sehen. Sie stellten Apollo und die neun Musen dar. Die gnä’ Frau liebte diese Bilder, seit sie als junges Mädchen zum ersten Mal für ein klassisches Konzert hier gewesen war. Die Musen schienen in der Luft zu gehen, mit Masken oder Harfen in den Händen, einige waren zart, andere kräftiger. Einige zeigten viel Haut, andere waren in Gewänder eingewickelt. Der Dame gefiel, dass diese göttlichen Figuren ganz unterschiedlich waren und es nicht vorgeschrieben war, wie eine Muse auszusehen hatte.

Frau Ehrenstein genoss solche Höhepunkte der feinen Wiener Gesellschaft, insbesondere da der Ausklang des Jahres 1972 so aufreibend gewesen war. Als heimliche Hobbydetektivin hatte sie gemeinsam mit ihrem treuen Dienstmädchen Marie herausgefunden, wer einen Döblinger Grafen auf dem Gewissen hatte. Dabei wäre sie fast selbst vergiftet worden. Durch besondere Umstände war die Schuldige jedoch entkommen.

»Aua!«, quietschte die junge Frau neben ihnen.

»Eins, zwo, dr…, oh entschuldige bitte, Schatzi! Eins, zwo drei, eins, zwo, drei …«

Das Pärchen neben den Ehrensteins hatte immer noch rege Probleme mit dem Walzer, doch Oskar war zu beschäftigt, um das zu bemerken.

»Schon jemanden entdeckt?«, fragte die gnä’ Frau, eher um Konversation zu machen als aus echtem Interesse.

»Der Batochwil sitzt mit den Renners in einer Loge. Das heißt wohl, sie haben den Vertrag abgeschlossen oder sind kurz davor. Ich glaub, der Egger ist ohne seine Frau gekommen …« Seine Stimme klang konzentriert, er suchte immer noch die Umgebung ab. »Ah, der Hofrat Kruppec ist hier unten im Parterre, zu dem werd ich nachher schauen müssen. Und … oh!«

Frau Ehrenstein folgte Oskars Blick. Das war gar nicht so einfach. Einerseits weil der Saal gesteckt voll war, andererseits weil sie sich im Walzertakt im Kreis bewegten. Zwar langsam, aber sie musste dennoch den Kopf etwas verdrehen, um in die passende Richtung zu blicken. In einer der unteren Logen saß ein eigenwillig aussehendes Pärchen. Sie war eine ältere, stark geschminkte Dame in einem knallbunten Kleid mit übertrieben viel Schmuck. Er, deutlich jünger, mit ungekämmtem Haar und in schlecht sitzendem Anzug. Auf den ersten Blick passten sie nicht auf den Philharmonikerball und schon gar nicht in eine Loge, für die man viel Geld bezahlen musste. Das kitzelte am detektivischen Gespür der gnä’ Frau. Wäre sie überaus argwöhnisch, würde sie davon ausgehen, dass sich die beiden in die feine Gesellschaft hier einschleusen wollten, um ein Verbrechen, ein paar Diebstähle oder Trickbetrügereien etwa, zu begehen. Frau Ehrensteins Gatte interessierte sich jedoch nicht für die beiden, sondern für den Mann, der hinter ihnen stand.

Sie hatte diesen Mann noch nie gesehen. Er war hochgewachsen und trug einen schwarzen Frack, wie die meisten Männer hier. Die blonden Haare waren zu einem Seitenscheitel gegelt, seine Miene war ernst, und anstatt sich den Eröffnungswalzer anzusehen, starrte er auf die beiden vor ihm sitzenden Personen herunter.

»Meinst du den jungen Mann, der wie Robert Redford aussieht?«

»Wie wer?«

Das Orchester hörte auf zu spielen, einige Gäste applaudierten. Etwa ein Drittel der Tanzenden schob sich vom Parkett, der Rest wartete auf das nächste Lied, das ein paar Momente später begann.

Die Ehrensteins gehörten zu denjenigen, die sich von der Tanzfläche verabschiedeten. Oskars Ziel – zu sehen und gesehen zu werden – war erreicht.

»Soll ich uns einen Sekt holen, ehe ich zum Geschäftlichen übergehe?«, fragte Oskar. Frau Ehrenstein spürte Frustration in sich aufsteigen. Erst gab er sich nicht die geringste Mühe, wenigstens so zu tun, als teilte er ihre Begeisterung für den Ball, und jetzt versuchte er, ihrer Frage auszuweichen.

»Nein, ich meine, ja natürlich! Aber sag mir zuerst: Wer ist der Mann in der Loge, der wie Robert Redford aussieht? Ach, den Schauspieler wirst du nicht kennen, er hat noch nicht so viel gemacht. Barfuß im Park, Zwei Banditen, sagt dir das was? Egal, er ist jedenfalls blond, hat blaue Augen, ist extrem gut aussehend.«

Oskars Miene blieb so regungslos, dass die gnä’ Frau sich hundertprozentig sicher war: Er versuchte, etwas vor ihr zu verbergen.

»Helene, wirklich. Du machst wieder aus einer Maus einen Elefanten. Ich hab mich lediglich umgeschaut, wer da ist …«

Seine Schultern sanken um ein Wengerl, und es bildeten sich Falten auf seiner Stirn. Frau Ehrenstein hatte einen Riecher dafür entwickelt, wenn etwas nicht stimmte. Ihre heimliche Vertraute Marie sagte ihr nach, dass sie dann zu einem Bluthund wurde, der nicht lockerließ, bis er einer Sache auf den Grund gekommen war.

Die Ehe der Ehrensteins war immer schon eine Zweckgemeinschaft gewesen, bei der Liebe und Leidenschaft keine Rolle spielten. Frau Ehrensteins Eltern hatten nach einer guten Partie für sie gesucht, seine hatten sich gewünscht, den ewigen Junggesellen endlich unter die Haube zu bringen. So war sie zur Hausherrin der Villa Ehrenstein geworden. Lange Zeit hatte das eintönige Leben sie schrecklich gelangweilt, und ihr Mann war nie müde geworden, sie zu kritisieren. Erst ihre Abenteuer als Hobbydetektivin hatten sie dazu gebracht, nicht nur sich neu wahrzunehmen, sondern auch ihren Mann.

Nach jahrelanger Entfremdung und Streitigkeiten hatten sich die beiden erst vor einigen Wochen einander angenähert und sich vorgenommen, es mit Freundschaft zu versuchen. Sie hatte ihn vor seinen gefühlskalten Eltern in Schutz genommen, und er hatte ihr sogar – wenn auch unwissentlich – beim Lösen eines Falles geholfen. Sie waren grundverschiedene Menschen, doch sie wollten sich bemühen, den anderen zu respektieren.

»Es tut mir leid, es ist nicht richtig von mir, dich zu etwas zu drängen«, sagte Frau Ehrenstein. »Ich weiß, wir haben vereinbart, dass jeder sein eigenes Leben und seine Geheimnisse haben darf. Entschuldige bitte!«

Der Walzer, der jetzt gespielt wurde, war etwas gemächlicher als der Eröffnungswalzer. Es wirkte, als wollte das Orchester die Gäste nicht zu früh ermüden, sondern sie auf einen langen Abend einstimmen.

Oskar trommelte ein paarmal mit seinen behandschuhten Fingern auf seine Frackhose.

»Danke! Und du hast recht. Ich kenne den Mann in der Loge, ich wusste nicht, dass er hier sein würde. Das hat mich nur überrascht. Im Übrigen weiß ich, wer Robert Redford ist, ich finde nur nicht, dass er so aussieht. Er ist ein alter Fr…, ein Bekannter.«

Der gnä’ Frau kitzelte es in der Zunge, weitere Fragen zu stellen. Es war offensichtlich, dass er ihr etwas verheimlichte, und sie musste sich eingestehen, dass es sie fuchste. Doch sie erinnerte sich an ihre Abmachung und wollte nicht gleich einen neuen Streit anzetteln, also biss sie die Zähne zusammen und sagte:

»Also, wie war das mit dem Sekt?«

Ihren gepressten Ton hatte er sicherlich bemerkt, doch er ließ es sich nicht anmerken. »Ich bin gleich wieder da, rühr dich nicht von der Stelle!« Er ging zwei Schritte, ehe er sich umdrehte, und rief: »Ich mein’s ernst, sonst find ich dich nie wieder in dem Gewühl!«

 

Oskar hatte ihr nicht nur einen Sekt, sondern noch ein süßes Petit Four mit Zitronengeschmack mitgebracht. Nachdem ihre Handschuhe ohnehin schon ruiniert seien, könne sie sich genauso gut austoben, hatte er gemeint.

Danach trennten sich ihre Wege. Sie hatte keine Lust, als lächelndes Anhängsel an seinem Arm zu hängen, wenn sie sich viel besser mit ihren Freundinnen amüsieren konnte.

Beim Buffet im ersten Stock stieß sie auf ihre Freundin Anna, mit der sie sich seit Jahren regelmäßig zum Frühstück traf. Bestimmt eine Viertelstunde verbrachten sie damit, sich gegenseitig ihren Schmuck und besondere Details an ihren Kleidern zu zeigen. Einige Damen trugen nicht die klassischen Ballroben mit weitem Rock und tailliertem Oberteil, sondern Abendkleider im modernen Schnitt der siebziger Jahre. Bodenlang hatten sie alle zu sein, das besagte die Kleidungsvorschrift dieser Festlichkeit. Überraschend viele Frauen trugen die Haare offen, teilweise hingen sie bis auf die Schultern.

Frau Ehrenstein beschäftigte sich zwar gerne mit der neuesten Mode und ließ es sich üblicherweise ansehen, dass sie im Jahr 1973 lebte und nicht im 19. Jahrhundert, doch bei Bällen kleidete sie sich traditionsbewusst. Ihre alltägliche Hochsteckfrisur hatte heute ein paar Schnörkel bekommen und wurde von brillantenen Klammern zusammengehalten, ihr Kleid war eine schulterfreie A-Linie in burgunderfarbenem Satin. Sie hatte sich für dieses entschieden, weil es sie an Joan Fontaines Robe zu Beginn des Thrillers Verdacht erinnerte, wenn Cary Grant sie auf eine Spritztour entführt und ihr seine Liebe gesteht. Dazu trug die gnä’ Frau ein Collier mit passenden Ohrringen und Armband – kostspielige Erbstücke von Oskars Großmutter.

Später begegneten Frau Ehrenstein und Anna einigen Schulkolleginnen aus ihrer Klosterschule, und das gut gelaunte Grüppchen zog durch die verschiedenen Räume. Als etwas mehr Platz auf dem Parkett war, tanzte Frau Ehrenstein einige Male mit Ehemännern, Brüdern oder Bekannten ihrer Freundinnen. Wenn sie durchatmen wollte, stellte sie sich an den Rand und beobachtete die Philharmoniker bei der Arbeit. Anders als bei Konzerten nahmen die Musiker beim Ball auf Sesseln auf dem Parkett Platz, das Podium war an diesem Tag für die Ehrengäste reserviert. Die gnä’ Frau war ganz verzückt. Mit welcher Geschwindigkeit und Eleganz Bögen über Saiten und Finger über Tasten huschten, war ihr immer schon magisch vorgekommen.

Manchmal erhaschte sie einen Blick auf Oskar, wie er charmant lächelte oder ernsthaft diskutierte. Wenn er sie sah, hob er eine Braue oder eine Sektflöte zum Gruß und widmete sich dann wieder seinen Geschäften.

Zwischendurch wurden auch moderne Stücke von einer Big Band gespielt. Frau Ehrenstein hatte als Teenager das Tanzen in der altehrwürdigen Schule Elmayer gelernt, deswegen schreckten sie weder Foxtrott noch Cha-Cha-Cha ab. Mit versierten Partnern führte sie problemlos komplizierte Figuren aus, etwas unsicheren Männern griff sie beim Führen gerne unter die Arme.

Als sie sich mit einem Glas Orangensaft an den Rand der Tanzfläche stellte, um etwas Kraft zu tanken, entdeckte sie Oskars Freund wieder. Nicht Freund – Bekannter …, erinnerte sich die gnä’ Frau an seine Wortwahl. Was natürlich Sinn ergab. Die Personen, die Oskar als Freunde bezeichnete, kannte sie alle. Jetzt, da sie über ihr Gespräch näher nachdachte, fiel ihr auf, dass er den Namen seines »Bekannten« gar nicht erwähnt hatte. Normalerweise führte ihr Mann, wenn er ihr jemanden zeigte, penibel sämtliche Titel und Berufsbezeichnungen an. Was war an diesem Robert Redford so speziell?

Der Mann stand abseits und ließ eine Taschenuhr in seiner Hand immer wieder auf- und zuklappen. Wieder war sein Blick auf das Pärchen geheftet, das vorhin in der Loge vor ihm gesessen hatte. Erst jetzt betrachtete Frau Ehrenstein die beiden genauer. Man könnte sagen, sie tanzten, allerdings würde das die Bedeutung des Worts recht weit dehnen. Obwohl auf der Tanzfläche einiges los war, hatte sich um die beiden ein Kreis gebildet. Die Paare ringsum hielten offenbar Abstand, um Verletzungen zu entgehen.

Die Dame schien sich durch den Einsatz von einer Menge Make-up und Schmuck ein jüngeres Aussehen geben zu wollen. Frau Ehrenstein, die ein Auge dafür hatte, schätzte ihr tatsächliches Alter auf Ende sechzig. Mit plumpen, ausladenden Wiegeschritten trat die Tanzende vor und wieder zurück, während sie mit übertriebenen Armbewegungen den Stoff ihres bunten Kleides, das an einen Kaftan erinnerte, zum Flattern brachte.

Der dazugehörige Mann war einen Kopf größer und mindestens fünfzehn Jahre jünger. Seine fransigen Haare reichten ihm bis zur Schulter, auf seinem Schädel waren sie so dünn, dass die Kopfhaut durchblitzte. Er trug einen schmuddeligen Anzug, das Hemd darunter war bis zur Brust offen. Er drehte und schüttelte sich beim Tanzen, hin und wieder sprang er kurz hoch, um dann auf seinen Knien zu landen und mit entrückter Miene den Kopf nach hinten zu reißen.

»Es hat fast was Religiöses, findst nicht? Wie in Trance. Köst-lich!«

Frau Ehrensteins Freundin Anna hatte sich zu ihr gesellt. Ihr Atem roch stark nach Sekt, und sie schwankte ein wenig auf ihren hohen Pumps.

»Es hat was Hypnotisches. Ich kann gar nimmer wegschauen. Aber sag, die beiden kommen mir irgendwie bekannt vor. Weißt du, wer das ist?«, fragte die gnä’ Frau.

»Mei-ner Seel, Helene, wie kannst du die nicht kennen? Das ist die Signora Conetotti, die ehemalige Primadonna von der Volksoper. Selbstverständlich eine Kammersängerin. Und ihr Mann der, na, wie heißt der noch amal? Der Opernregisseur … Ja, Kramer war’s, ge-nau!«

»Weißt du vielleicht auch, wer der Mann dahinten ist? Der so unglücklich dreinschaut, während er die beiden beobachtet?«

Natürlich wusste Frau Ehrenstein, dass es unfein war, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, also wiegte sie nur leicht mit dem Kopf in die Richtung.

»Welcher? Ach der, der ausschaut wie der Robert Redford? Nein, aber den würd ich gern näher kennenlernen, wenn du verstehst? Ma, ich bin so schli-himm!«

»Alles gut, Anna, mach dir keine Gedan…«

»Schau, jetzt haben die beiden sogar den Dirigenten abgelenkt! Wie er schaut! Un-be-zahl-bar!«

Anna verfiel in ein gackerndes Lachen. Einige der Umstehenden drehten sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihr um. Auch Oskars Bekannter sah vom Rand der Tanzfläche irritiert zu ihr hinüber. Er wollte sich schon abwenden, als sein Blick auf Frau Ehrenstein hängen blieb. Zwischen seinen Augen bildete sich eine Falte, und er betrachtete sie noch einige Sekunden, bevor er sich wieder dem tanzenden Pärchen widmete.

Während sie der giggelnden Anna einen Schluck von ihrem Orangensaft anbot, drängte sich der gnä’ Frau eine Frage auf:

»Weiß er, wer ich bin?«

2Der gnä’ Frau steht der Mund offen

Kurz vor Mitternacht entschuldigte sich die gnä’ Frau bei ihren Freundinnen und ging ins Foyer. Hier war es etwas kühler, weil der Steinboden die Wärme nicht speicherte. Außerdem drang schubweise die Kälte der Januarnacht in den Eingangsbereich, immer wenn die massiven Holztüren geöffnet wurden. Offenbar traten die ersten Ballgäste ihren Heimweg an.

Frau Ehrenstein lehnte sich an eine der breiten viereckigen Säulen und entzündete sich eine Zigarette. Ihre nackten Schultern pressten gegen den glatten Stein, und sie genoss die erfrischende Kühle.

Der Abend hatte sie auf gute Art erschöpft. Mittlerweile quetschten die Schuhe ihre Zehen merkbar ein, und ihre rechte Ferse war schon etwas wund, aber das waren für sie lediglich Zeichen, dass sie viel getanzt und sich vergnügt hatte. Der Schweißfilm auf ihren Schläfen und ihrer Stirn trocknete allmählich. Sie nahm sich vor, noch auf der Toilette ihr Gesicht zu pudern und den Zustand ihres Lidstrichs zu überprüfen, ehe sie sich zurück ins Treiben stürzte.

Für den Moment genoss sie es jedoch, dass die Musik und die lauten Gespräche nur gedämpft zu ihr drangen und sie kurz durchatmen konnte.

»Schon müde?«

Die gnä’ Frau zuckte zusammen. Ein durchaus enervierendes Talent ihres Mannes war es, sich unbemerkt anzunähern. Sie glaubte nicht einmal, dass er das bewusst machte. Es lag in seiner Natur.

»Ich kann dem Chauffeur Bescheid geben lassen, dass wir fahren wollen«, schlug er vor.

»Wage es ja nicht! Die Mitternachtsquadrille muss ich unbedingt noch tanzen. Vielleicht möchtest du ja diesmal mein Partner sein?«

»Bei so einem Rumgehopse will ich auf keinen Fall gesehen werden!«

Frau Ehrenstein schmunzelte. Die Quadrille gehörte vor allem für die Jüngeren zum Höhepunkt eines jeden Wiener Balls. Die Tanzwilligen versammelten sich um Mitternacht auf dem Parkett, die Frauen stellten sich in einer langen Reihe gegenüber den Männern auf, und dann wurde per Ansage eines Tanzlehrers aufeinander zu und umeinander herum getanzt. Den Schluss bildete der Galopp, bei dem die Pärchen einen Korridor in der Mitte formierten, durch den sie nacheinander hindurchhüpften. Die Melange aus später Stunde, gesteigertem Alkoholpegel und den unterschiedlichen Tanzkenntnissen der Beteiligten ließen diese Mitternachtseinlage zu einem heillosen Durcheinander werden, was einen Großteil des Spaßes ausmachte. Frau Ehrenstein hatte ihren Mann in zehn Jahren Ehe noch nie dazu bewegen können mitzumachen.

»Bist du vielleicht schon müde?«, fragte die gnä’ Frau. »Ich kann auch ein Taxi nach Hause nehmen.«

Partys und Empfänge waren einfach nicht sein Metier. Von den über zweihundert Ballveranstaltungen, die allein in der Hauptstadt jede Saison stattfanden, besuchte er nur eine Handvoll. Die wichtigen Bälle, wie der Philharmonikerball, der Kaffeesiederball und natürlich der Opernball, waren für ihn nur Mittel zum Zweck.

»Nein danke, mir geht es gut. Anders als diesem jungen Mann offensichtlich …«

Frau Ehrenstein folgte Oskars Blick, und sie erkannte den rotgesichtigen jungen Mann wieder, der beim Eröffnungswalzer neben ihnen getanzt hatte.

»Eins, zwo, drei. Eins, zwo, drei«, lallte er, während er sich schwer auf seine Partnerin lehnte, die Schwierigkeiten hatte, sich seinem Gewicht entgegenzustemmen.

»Eins, zwo, dr… – oje!«

»Phillip, ich schwör dir, wennst ma jetzt auf die Schuh speibst, war’s das mit uns!«

Der Rotgesichtige presste die Lippen aufeinander, taumelte zum Ausgang und drückte unter größter Anstrengung die Türen auf, während seine Freundin, unfein vor sich hin schimpfend, von der Garderobiere die Mäntel entgegennahm.

Ab einem gewissen Zeitpunkt war das Foyer eines jeden Balls beinahe so unterhaltsam wie die Kriminalfilme, die Frau Ehrenstein so gerne sah. Die Gäste waren müde und angetrunken. Hier, um diese Zeit, fiel so manche Maske.

Mit zusammengekniffenen Augen zog die gnä’ Frau am letzten Rest ihrer Zigarette und betrachtete ihren Mann. Er wirkte weder erschöpft noch betrunken, und er ließ sich auch diesmal nicht dazu überreden, bei der Mitternachtsquadrille Spaß zu haben. Nein, seine Maske würde nicht so leicht fallen. Vor allem nicht in der Öffentlichkeit.

Sie drückte die Zigarette in einen großen Aschenbecher, der neben der Säule stand.

»Weißt …«

»Beidl!«

Der unfeine Begriff für ein männliches Genital war so laut gebrüllt worden, dass die Ehrensteins unisono zusammenzuckten. Darauf folgten ein blechernes Scheppern und lautes Geschrei.

»Das kommt von dort vorn, ums Eck!«, rief Frau Ehrenstein.

»Um Himmels willen, Helene, bleib lieber hier!«

Doch die gnä’ Frau eilte schon in die Richtung, aus der der Wirbel zu kommen schien. Sie bog rechts vor den Eingangstüren ab, dorthin, wo es noch weitere Garderoben und einen Stiegenaufgang zu den Logen gab.

Vor einer der Garderobentheken stand ein älterer Herr mit weißem Backenbart, den die gnä’ Frau noch nie gesehen hatte. Ein paar Schaulustige beobachteten ihn aus gebührendem Abstand, während er schimpfte: »Sie sind ein vulgärer Kretin!« Seine mit geplatzten Äderchen durchzogenen Wangen blähten sich auf, und er schnaufte lautstark wie eine Lok in den Kindergeschichten, die Frau Ehrenstein ihrem Sohn Willi vorlas.

Dem schnaufenden, backenbärtigen Herrn gegenüber stand der Ehemann der Primadadonna, der zuvor so entrückt auf dem Parkett getanzt hatte. Wie war sein Name noch einmal? Kramer, genau. Der Regisseur.

Gerade schien er Anstalten zu machen, den Mann mit Backenbart zu treten. Es war ein grotesker Anblick. Kramer hielt die Arme abgewinkelt zur Seite und hob das Bein, kriegte es aber nicht besonders hoch. Seine Pose erinnerte Frau Ehrenstein an eine wackelige Gottesanbeterin.

»Versucht er gerade, Bruce Lee nachzumachen?«, fragte Frau Ehrenstein und konnte sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen.

»Das ist nicht lustig, Helene.«

Oskar hatte sie eingeholt und stand jetzt neben ihr. Seine joviale Entspanntheit war von einem Moment auf den anderen dahin. Die gnä’ Frau spürte, wie sich sein Körper neben ihr versteifte. Sie fragte sich, ob es ihm so peinlich war, den Aufruhr mitanzusehen, oder ob mehr hinter seinem Stimmungswechsel steckte.

Bevor der Möchtegern-Bruce-Lee den schnaufenden Herrn mit dem Bein erwischen konnte, wurde er von mehreren Leuten zurückgezogen. Obwohl er nicht kräftig wirkte, schien das eine mühsame Aufgabe zu sein. Unter den Bändigern erkannte Frau Ehrenstein das Robert-Redford-Double. Seine akkurate Gelfrisur hatte die Aufregung nicht überstanden, dunkelblonde Strähnen standen von seinem Kopf ab. Seine Miene war verzerrt, seine Finger gruben sich tief in den Ärmel des Angreifers.

Kramers Ehefrau, die ältliche Primadonna, baute sich zwischen den streitenden Männern auf und streckte die Arme aus. Ihr weites buntes Kleid wirkte dabei wie ein flatterndes Gemälde von Friedensreich Hundertwasser.

»Madonna! Welch ein Tumult! Welch Erschütterung dieser ehrwürdigen Hallen!« Sie sprach mit einem starken italienischen Akzent und in einer Lautstärke, wie man sie von einer Operndiva erwartete. »Was kann ich sagen, was kann ich machen, um euch verständlich zu machen …«

Nachdem sie das gesagt hatte, schloss sie die Augen und legte theatralisch den Handrücken an ihre Stirn. Eine junge Frau in einem beigen hochgeschlossenen Kleid eilte an ihre Seite und wedelte ihr mit einem Fächer Luft zu. Dies schien auch den erhitzten Gemütern der anderen Anwesenden etwas Abkühlung zu verschaffen. Die Anspannung in den Körpern löste sich, und alle Blicke richteten sich auf die alte Sängerin. Es verging eine Minute atemloser Stille, ehe sie die Augen wieder öffnete. Mit einer eleganten Bewegung streckte sie den Arm aus und richtete einen langen lackierten Nagel auf den schnaufenden Mann mit dem Backenbart.

»Wie kann ich euch verständlich machen, dass dieser stronzo ein Dilettant und Ignorant ist, der wahre Kunst nicht einmal erkennen würde, wenn man seine fette Visage hineindrücken würde? Der es nicht einmal wert ist, dieselbe Luft zu atmen wie ich!«

Nun geschahen mehrere Dinge gleichzeitig, die Frau Ehrenstein dermaßen überraschten, dass sie nicht einmal darüber nachdachte einzugreifen: Die Primadonna ging mit ausgefahrenen Nägeln auf das Gesicht des Backenbartes los. Die Personen, die ihren Ehemann festgehalten hatten, versuchten sie davon abzuhalten. Dieser, nun befreit, stürzte sich mit schrillem Jubelgeschrei ebenfalls ins Geschehen, und es kam zu einem Handgemenge, bei dem man für einen Augenblick nicht mehr wusste, wo oben und unten war.

Die gnä’ Frau stand mit offenem Mund da. Gewalt war ihr nicht fremd – allein im letzten Jahr hatte sie als Detektivin so einiges mitbekommen –, doch dass bei einem Ball unter feinen Herrschaften eine Massenschlägerei ausbrach, das hatte sie noch nicht erlebt.

Ein schriller lang gezogener Pfiff ließ die Meute auseinanderstieben. Fünf alte Garderobenfräulein walzten in ihren burgunderfarbenen Kitteln im Gleichschritt auf das Geschehen zu. Die mit der Trillerpfeife in der Hand schritt nach vorne und warf einen abschätzigen Blick auf alle Beteiligten.

»Meine gnädigen Herrschaften. Könn ma den Bahöl jetzt auflösen, oder müss ma uns dazu gezwungen seh’n, die Polizei zu rufen? Weil, i sag’s Ihna ganz ehrlich, unsereins hat da scho genug Wirtschaft, da brauch ma net a no die Scherereien da.«

Der Backenbart löste sich aus der Menge. Jetzt schnaufte er nicht mehr, sondern quietschte und röchelte, so als käme die Lokomotive zum Stehen. Sein Gilet war aufgegangen, das Frackhemd hing teilweise heraus, die weißen Haare standen ihm in spitzem Winkel vom Kopf.

»In meinem … ganzen Leben … habe ich noch nicht … eine derartige Schmähung erfahren!«

»Herr Obermedizinalrat, ich bin untröstlich! Bitte erlauben Sie mir, für Ihre Unannehmlichkeiten aufzukommen.«

Diese Worte hatte Oskars Bekannter gesprochen, das Robert-Redford-Double. Er strich sich die Haare glatt und ging mit ausgebreiteten Armen auf den zerfledderten, röchelnden Mann zu. »Ich bin mir sicher, wir können eine Einigung finden. In Zukunft werden wir einfach …«

»Es wird kein in Zukunft mehr geben! Betrachten Sie hiermit … unsere Geschäftsbeziehung … als beendet!«

Der Obermedizinalrat machte am Absatz kehrt, stieß die Eingangstür auf und stolzierte mit hocherhobenem Kopf in den Wiener Winter.

Kalte, nach Schnee duftende Luft fegte für einen Moment durch das Foyer. Es war, als würden die Zuschauer dadurch aus ihrer Erstarrung erlöst. Schnatternd stoben sie auseinander und schwärmten wieder zurück in den Tanzsaal oder in die Pausenräume. Zwei Garderobieren räumten den Dreck vom Boden auf, während die anderen sich leise keppelnd zu ihren Plätzen zurückbewegten.

Robert Redford stand wie vom Schlag getroffen da und blickte dem verschwundenen Obermedizinalrat nach, als ob er ihn mit schierer Gedankenkraft zurückholen könnte. Die Primadonna bückte sich und hob ein paar rote Plastikstücke auf, die sich bei genauerem Hinschauen als Fingernägel entpuppten. Kramers Hemd war nun komplett offen, sein haariger Bauch hing über die Anzughose. Die junge Frau im beigen hochgeschlossenen Kleid putzte Asche von seiner Schulter.

Dieses Bild machte einen trostlosen Eindruck, und das Amüsement, das Frau Ehrenstein noch zu Beginn verspürt hatte, war verflogen. Sie wandte sich ihrem Mann zu, der starr und mit unleserlicher Miene das Spektakel verfolgt hatte.

»Vielleicht sollten wir auch … Die Mitternachtsquadrille fängt gleich an, und überhaupt ist das …«

»Oskar?«

Robert Redford sah zu ihnen herüber. Sein Gesicht wurde plötzlich kreidebleich, so als hätte er einen Geist gesehen. Oskar warf einen raschen Seitenblick auf seine Frau, ehe er sich räusperte und auf seinen Bekannten zuging.

»Felix! Das muss Jahre her sein! Es freut mich, dich wiederzusehen. Auch wenn die Umstände ein wenig unglücklich sind … Darf ich dir meine Frau vorstellen?«

Oskar war übergangslos in seine Rolle als Geschäftsmann geschlüpft. Er streckte eine Hand nach der gnä’ Frau aus, die ihm betroppezt folgte. Robert Redford lächelte dünn und deutete einen Handkuss an.

»Frau Ehrenstein …«

»Helene, das ist Felix Hall.«

Die gnä’ Frau sah ihren Mann erwartungsvoll an. Normalerweise würde er jetzt erzählen, woher er Felix Hall kannte, eventuell seine Herkunft erwähnen, wo seine Eltern wohnten oder arbeiteten und was er im Allgemeinen schon alles geleistet hatte. Doch Oskar blieb stumm.

»Sehr erfreut«, sagte die gnä’ Frau schließlich.

Die drei schwiegen. Felix Hall war offensichtlich aufgebracht, denn seine unruhigen Finger ließen die Taschenuhr in seiner Hand ständig auf- und zuklappen. Aber er bemühte sich, tapfer auszusehen. Und Oskars höflich distanziertes Lächeln war wie eingemeißelt.

Frau Ehrenstein empfand dieses Schweigen als höchst unangenehm. In solchen Situationen war sie als Dame der höheren Gesellschaft normalerweise routiniert, bewandert in Smalltalk und Meisterin darin, ihr Gegenüber in ein Gespräch über Gott und die Welt zu verwickeln. Doch die beiden Männer wirkten so betreten, dass sie nicht einschätzen konnte, worum es hier eigentlich ging. So viele Fragen schwirrten ihr durch den Kopf: In welchem Verhältnis stehen Sie zu diesen Menschen? Welchen schwerwiegenden Grund kann es geben, eine derartige Schlägerei vom Zaun zu brechen? Sind die Signora Conetotti und ihr Mann womöglich in etwas Halbseidenes verwickelt? Woher zur Hölle kennen Sie meinen Mann, und was ist zwischen Ihnen beiden vorgefallen, dass er sich so eigenartig verhält?

Doch natürlich waren die Fragen allesamt unangebracht: Sie war dem Herrn gerade erst begegnet, und auch bei längerer Bekanntschaft schickte sich eine solche Direktheit in ihren Kreisen nicht. Die gnä’ Frau versprach sich, selbst nach den Antworten zu forschen.

»So ein g’schissener WAPPLER!«

Kramer brüllte das letzte Wort in Richtung Ausgang, wohin der Obermedizinalrat verschwunden war.

»Konstantin, um Himmels willen, jetzt reiß dich doch zusammen! Es sind Damen anwesend.«

In der Stimme von Felix Hall brodelte es.

»Heast! Willst du mich jetzt auch zensurieren, Felix? Willst du mich kleinmachen wie all die anderen Ignoranten?«

Mit schwingenden Fäusten ging Kramer auf Felix Hall los, doch Oskar schob sich dazwischen. Er war um einiges größer als der schwitzende Mann vor ihm und sah mit grimmigem Blick auf ihn herab.

»Bitte lass ma das jetzt doch. Nun ja, es ist doch nicht nötig«, sagte die blasse junge Frau, die immer noch damit beschäftigt war, Asche von Kramers Anzug zu klopfen. Ihre Stimme war hoch und dünn und erinnerte an das Piepsen einer Maus.

»Niemand weist mich zurecht!«

Als Kramer mit einer ruckartigen Bewegung seine Faust zurückriss, um zuzuschlagen, schrie Frau Ehrenstein auf.

3Toilettengespräche

Kramer hatte ausgeholt und … mit seiner Faust die hin- ter ihm stehende blasse junge Frau getroffen. Sofort hielt sie sich die Hand vor die Nase, Blut rann zwischen ihren Fingern hindurch.

»Porca Miseria! Ich kann doch kein Blut sehen!«

Es gab einen dumpfen Knall, als die Primadonna ohnmächtig auf dem Boden aufschlug.

»Francesca, mein Engelchen, das wollt ich nicht! Heast, sag doch was!«

Kramer kniete neben seiner Frau nieder und küsste mit feuchten Schmatzgeräuschen ihre Hand. Ihre Augenlider flatterten, und sie gab ein Stöhnen von sich.

»Auch das noch! Signora Conetotti, sind Sie verletzt? Sollen wir die Rettung rufen?«, fragte Felix Hall, und Oskar fügte hinzu: »Jemand sollte Wasser holen!«

»Jetzt steh doch nicht so nutzlos rum, Lieschen. Fächel ihr gefälligst Luft zu!« Kramer gestikulierte in Richtung der blassen, blutenden Frau, die ganz verloren abseits stand.

»Um Himmels willen, das kann doch nicht euer Ernst sein!«

Frau Ehrensteins Stimme hallte durch das Foyer, und alle Blicke richteten sich auf sie.

Ihre Absätze klackerten laut auf dem Steinboden, als sie auf die junge Frau zumarschierte und ihr den Arm um die Schultern legte.

»Ich bring Sie erst mal zu den Toiletten, und wir sehen uns das an. In Ordnung?«

Die Blutende nickte zögernd, und die gnä’ Frau schob sie sanft von der Gruppe fort.

 

»Jessasmaria!«

Die Klodame war von ihrem Sitz aufgesprungen und schlurfte mit ihren Patschen auf die Neuankömmlinge zu.

»Es ist nicht so schlimm. Wirklich.« Die zarte Stimme der jungen Frau war durch die vorgehaltene Hand kaum zu hören. »Es war ein Unfall. Keine Absicht!«

»Jo eh, des sagen’s immer.« Die Klodame betrachtete mit fachkundigem Blick die Verletzung. »Waschen’S amal des Blut weg. Ich hol derweil a Eis. Und glaub ma, Dirndl: I kenn den Oasch zwar net, oba du bist zu gut für den.«

Sie watschelte kopfschüttelnd hinaus und zündete sich im Gehen eine Zigarette an.

»Er ist ja gar nicht … Es ist ja nicht so …« Das Stimmchen der jungen Frau erreichte die Klodame nicht mehr, also wandte sie sich mit großen Augen an die gnä’ Frau. »Es war wirklich ein Missgeschick!«

»Es war ein unsäglicher Schmarrn, wenn Sie mich fragen. Lieschen, nicht wahr?«

»Ja, nun ja, das heißt, eigentlich heiße ich Annelies, aber die Signora und der Konstantin, also der Herr Kramer, die nennen mich Lieschen.«

»Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie Annelies nenne? Gut, Annelies, dann beugen Sie sich mal über das Waschbecken. Wenn das ganze Blut weg ist, sehen wir auch das Ausmaß des Malheurs.«

Sie hielt Annelies die Haare zurück, während diese sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte und vorsichtig an ihrer Nase rieb. Das letzte Mal hatte Frau Ehrenstein eine blutende Wunde gesehen, als sie sich ein Gefecht mit dem Würger von Hietzing geliefert hatte und der Einsatz einer Schere ihr und ihrem Dienstmädchen Marie das Leben gerettet hatte. Der Anblick der blutenden Nase ließ sie zwar nicht in Ohnmacht fallen, dennoch weckte er ungute Erinnerungen. Sie fuhr sich automatisch an den Hals, denn der Würger hatte versucht, sie mit einem Kabel zu erdrosseln.

»Ich … ich glaube, so geht’s …«

»Wie bitte? Oh, verzeihen Sie, ich war in Gedanken. Warten’S, hier ist ein Handtuch.«

»Danke! Für … für Ihre Liebenswürdigkeit. Das ist mir schrecklich unangenehm, dass so ein Aufheben um mich gemacht wird. Ich … ich kenne nicht einmal Ihren Namen.«

»Oh, natürlich, wie unhöflich von mir. Helene Ehrenstein. Der Mann dort im Foyer ist mein Ehemann Oskar.«

Die gnä’ Frau beobachtete die Reaktion von Annelies genau, doch die junge Frau schien den Namen nicht zu kennen. Hier war also nicht die Verbindung zwischen Oskar und Felix zu finden.

»No, dann schau ma uns das mal an. Jetzt, wo das Blut weg ist, sieht es gar nicht so schlimm aus. Ein bisserl geschwollen, aber das Eis sollte helfen. Ich denke nicht, dass die Nase gebrochen ist. Zu blöd, dass der Obermedizinalrat vorhin so rasch verschwunden ist, der könnte jetzt ein Auge drauf werfen.«

»Nun ja, ich glaube nicht, dass der sich mit so was befassen tätat. Wissen’S, soweit ich weiß, hat der mit Patienten schon seit Jahrzehnten nichts mehr am Hut. Der hantiert nur noch mit Geld herum, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Annelies betrachtete ihr Gesicht in dem großen Spiegel und drückte vorsichtig auf ihre Nase. Der fortgeschrittenen Stunde hatten sie es zu verdanken, dass die Toilettenräume leer waren. Normalerweise musste man hier in einer Schlange warten und dann dicht gedrängt am Spiegel stehen, um Make-up und Frisur zu richten. Jetzt waren alle bei der Mitternachtsquadrille.

»Setzen Sie sich doch, Annelies. Sie wirken wackelig.«

»Ich sollt wirklich wieder rausgehen und mich um die beiden kümmern. Die werden sich schon wundern, wo ich bleib!«

»Sie sollten sich jetzt erst einmal um sich kümmern. Den beiden da draußen nutzen Sie nichts, wenn Sie einen Schwächeanfall erleiden. Außerdem ist ja Herr Hall bei ihnen. Es wirkt, als wäre er ein guter Freund?« Die gnä’ Frau drückte Annelies sanft auf den Sessel, wo sonst die Klodame saß.

»Nun ja, ich denke, Freund ist ein wenig übertrieben. Er hat eben keine andere Wahl, wenn die Premiere zustande kommen soll. Sie und Ihr Mann sind ja bekannt mit ihm, vermutlich hat er Ihnen davon erzählt.«

»Selbstverständlich!«, platzte es aus Frau Ehrenstein heraus, ehe sie sich bremsen konnte. Wenn sie schon nicht mitbekam, was vor der Klotür weiter geschah, könnte sie wenigstens versuchen, ein paar Informationen aus der jungen Frau herauszuholen, um ihre Neugier zu befriedigen. Sie presste die Lippen zusammen und hoffte, dass Annelies einfach weiterredete.

»Nun ja, der Herr Hall ist wirklich sehr freundlich. Und sehr tüchtig, muss ich sagen. Mit den beiden ist es manchmal nicht leicht, wissen Sie?«

Annelies’ Stimme war nur ein Wengerl lauter als ein Flüstern, weshalb Frau Ehrenstein sich hinunterbeugen musste, um nichts zu verpassen. Unwillkürlich sprach auch sie nun leiser.

»Sie … kümmern sich schon lange um die beiden?«

Mit einem scheuen Lächeln nickte die junge Frau heftig.

»Seit fast sechs Jahren jetzt. Keine Assistentin ist so lange bei der Signora geblieben, müssen Sie wissen. Ich gehöre schon beinahe zur Familie. Nun ja, das sagen die beiden.«

Es rührte Frau Ehrenstein, dass Annelies ein so enges Vertrauensverhältnis zur Primadonna hatte. Ihre Worte ließen sie an ihr Dienstmädchen Marie denken, die ihr selbst eine so treue Gefährtin war wie offenbar Annelies der alternden Diva. »Ich muss gestehen, ich kenne mich in der Welt der Primadonnen nicht gut aus. Oder heißt’s Primadonni? Wie auch immer, was sind denn die Aufgaben einer Assistentin?«

Eine Falte bildete sich zwischen Annelies’ Augen, ehe sie antwortete. »Nun ja, das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Ich denke … Ja, also, ich kümmere mich einfach … um alles. Die Termine der Signora, ihr Essen, ihre Einkäufe, ihre Korrespondenz, ihre Medizin natürlich.«

»Und unterstützen sie bei ihren Auftritten, nehme ich an? Wie bei der Premiere von Herrn Hall?«

»Nun ja, gar so viele Auftritte gab’s nicht in den letzten Jahren. Deswegen hängt viel davon ab, dass das mit dem Herrn Hall klappt. Dass die Signora in so einem … modernen Etablissement spielt und das unter der Regie ihres Mannes. Nun ja, das würd zeigen, was sie noch alles zu bieten hat, wissen Sie? Das wäre für uns alle sehr wichtig.«

»Ich kann es mir vorstellen.«

Das konnte die gnä’ Frau wirklich, angesichts der Ernsthaftigkeit und des Stolzes in Annelies’ Stimme. Umso mehr fragte sie sich, was vorgefallen sein konnte, dass die Primadonna und ihr Mann sich nicht scheuten, beim Philharmonikerball einen solchen Eklat heraufzubeschwören. Ihnen musste doch bewusst sein, dass sie sich damit schadeten.

»Und der Obermedizinalrat ist ein Finanzier der Produktion?«

Annelies’ Miene verdunkelte sich um eine Nuance.

»Nun ja, war ist wohl treffender, fürchte ich. Wenn ich das richtig verstanden habe, war er der maßgebliche Geldgeber. Ich weiß gar nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Wenn die Signora auch noch diese Chance verliert, dann … dann frage ich mich, was aus uns werden soll.«

Tränen sammelten sich in Annelies’ Augen. Frau Ehrenstein holte rasch ein Taschentuch aus ihrem Beutel und reichte es ihr. Die junge Frau sah jetzt sogar noch blasser und zerbrechlicher aus als zuvor.

»Sie werden sehen, der Herr Hall hat sicher noch jemanden bei der Hand. Einen Freund vielleicht, irgendeinen Kunstliebhaber, der etwas beisteuern kann. Irgendwie wird sich alles finden. Das wird schon, Annelies.« Die gnä’ Frau machte es wie bei ihrem Sohn Willi, wenn sie ihn tröstete. Die Worte bedeuteten vielleicht nicht viel, doch mit genügend Wärme und Aufrichtigkeit vorgetragen, konnten sie den Schmerz ein wenig lindern.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich sollte mich gar nicht so gehen lassen. Aber der Abend hat so schön begonnen, und jetzt ist alles so schlimm geworden.«

Annelies rieb ihre Augen mit dem Taschentuch. Frau Ehrenstein zuckte unwillkürlich zusammen. Sie vermied es grundsätzlich, ihr Gesicht zu berühren, wenn sie Make-up trug, um es nicht zu verschmieren. Doch die junge Frau schien nicht einmal Mascara zu verwenden.

»Vermutlich hat der Alkohol eine Rolle gespielt. Vielleicht lässt sich ja noch was einrenken«, sagte die gnä’ Frau beruhigend. Wenn sie an den Obermedizinalrat mit der windschiefen Frisur und der röchelnden Stimme dachte, glaubte sie selbst nicht so recht daran, aber das Häuflein Elend hier rührte sie. Sie wollte gerne irgendetwas Kalmierendes sagen.

»Nun ja, ich fürcht, das heute war nur das Tüpfelchen auf dem i. Das geht schon eine Zeit lang so, wissen Sie? Ich weiß gar nicht, was heut genau g’schehn ist. Der Herr Obermedizinalrat hat mit dem Konstantin, also dem Herrn Kramer, was geredet und plötzlich … Aber es war schon vor paar Tagen ganz schlimm, da hat …«

Die Tür ging auf, und mit einer Zigarette im Mundwinkel und einem Eisbeutel in der Hand schlurfte die Klodame herein.

»Da sucht wer nach Ihna.«

Der bunte, flatternde Stoff hinter ihr ließ erahnen, dass die Primadonna sich ihren Weg in die Toilette bahnte.

»Lieschen, ich dachte schon, du hättest mich auch noch verlassen! Per dio! Das ist zu viel für mich.«

»Signora, bitte regen Sie sich nicht so auf! Das ist nicht gut für Ihr Herz.«

»Dirndl, des Eis g’hört auf die Nas’n, wennst morgen net gar so schirch ausschauen magst.«

»Maledetto!«

Die Primadonna und die Klodame redeten gleichzeitig auf Annelies ein, und Frau Ehrenstein merkte, dass ihre Anwesenheit nicht länger vonnöten war. Sie überprüfte noch schnell ihre Frisur im Spiegel, ehe sie ging.

Ein paar Meter vom Damenklo entfernt unterhielten sich Oskar und Felix Hall miteinander. Sie verstummten abrupt, als sie die gnä’ Frau entdeckten.

»Annelies geht es so weit gut, ich denke, es ist nichts gebrochen«, sagte sie, auch wenn sie nicht sicher war, ob sich jemand dafür interessierte. »Die Signora ist jetzt bei ihr. Wo ist unser Möchtegern-Bruce Lee?«

»Bitte wer?«, fragte Felix verdutzt.

Oskar schmunzelte. »Helene hat eine Schwäche für Filme und Schauspieler. Ich denke, sie meint den Ehemann der Kammersängerin.«

»Oh, verstehe«, sagte Felix, der ganz und gar nicht den Eindruck machte, als würde er verstehen. »Kramer ist auf der Herrentoilette und versucht sich wieder herzustellen. Das alles ist mir schrecklich unangenehm. Dass ihr das mitansehen musstet … Bitte nehmt meine aufrichtige Entschuldigung an.«

»Selbstverständlich. Wir müssen uns jetzt auch verabschieden, Helene wollte zur Mitternachtsquadrille …«

Oskar wollte sich offensichtlich aus der Affäre ziehen, doch Frau Ehrenstein war hier noch nicht fertig. Zu viele Fragen waren zu klären. Warum verhielten sich Oskar und Felix Hall so eigenartig? Und was hatte es mit irrationalem Gebahren der Primadonna auf sich, wenn diese Produktion ihre letzte Chance zu sein schien?

»Die hat, fürchte ich, schon längst begonnen. Abgesehen davon ist es nicht Ihre Schuld, Herr Hall. Nach dem zu urteilen, was ich gesehen habe, wollten Sie nur schlichten. Mir