14,99 €
Das Ehepaar Ehrenstein ist zu einer Hochzeit im niederösterreichischen Traiskirchen geladen. Die Verbindung jedoch, die man dort feiern will, wird im Jahr 1973 alles andere als goutiert: Sigismund Trentner, einziger Erbe der legendären Wolldynastie, ehelicht eine deutlich jüngere Frau aus dem Arbeitermilieu. Im abgelegenen Herrenhaus treffen die Ehrensteins eine kuriose Festgesellschaft an: Der Bräutigam benimmt sich wie ein verliebter Backfisch, auf Einladung der Großmutter ist auch seine Verflossene zugegen, und die Gäste der Braut sind ein Haufen Hippies. Zum Schock aller wird am Vorabend der kirchlichen Trauung eine Ausgangssperre verhängt, weil ein flüchtiger Bombenleger in der Nähe gesichtet wurde. Aber auch damit der Katastrophen nicht genug: In derselben Nacht wird einer der Gäste mit einem Fleischwolf erschlagen in der Küche aufgefunden … Eine desaströse Hochzeit – und ein neuer Fall für die gnä' Frau, die alles daransetzt, die anderweitig beschäftigte Polizei mehr als würdig zu vertreten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 331
Constanze Scheib
Die gnä’ Frau ermittelt
Roman
Oktopus
»Aber am schönsten ist es daheim.«
Victor Fleming, Der Zauberer von Oz (1939)
Helene Ehrenstein, die gnä’ Frau
Oskar Ehrenstein, ihr Mann
Marie Muskat, ihr Dienstmädchen
Ladislaus Trentner, Senior der Wolldynastie
Sigismund Trentner, sein Sohn, Bräutigam
Else Trentner, Braut
Jolanthe Trentner, die Großmutter
Fanny, die Haushälterin
Die Köchin
Diverse Dienstboten
Victoria Marhold, die Ex-Freundin des Bräutigams
Joe, Hippie, Freund der Braut
Die Zwillinge Susanne und Simone bzw. Gwendolyn und Cecily, Freundinnen der Braut
Erwin Delpke, Freund der Braut
Die drei Professorenwitwen
Der Griesgram
Frederick, der Pianist
weitere Gäste
Samstag, 16.6.1973, 13 Uhr 30Landstraße
»Marie, bitte stellen’S das Radio lauter!«
»… konnten die menschlichen Überreste, die am 13. Juni in einem Explosionskrater neben der Südautobahn entdeckt wurden, bislang nicht identifiziert werden. Derzeit ist die Polizei auf der Suche nach Zeugen und bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Und nun zum Wetter …«
Frau Ehrenstein ließ sich in den gepolsterten Sitz des Opel Admiral zurücksinken und runzelte die Stirn. Sie verfolgte die Geschichte gebannt, seit die Gendarmerie letzte Woche nach einer Explosion in einem Feld vor den Toren Wiens Leichenteile gefunden hatte. Es gab zahlreiche Spekulationen – war es ein Unfall, ein Anschlag oder Suizid? Es überraschte sie nicht, dass die Ermittler noch nicht herausgefunden hatten, wer das Opfer war. Nicht nur, weil laut Berichten bloß einzelne Körperteile gefunden wurden. Sondern auch, weil sie in den letzten eineinhalb Jahren einen ziemlich guten Eindruck von der Arbeit und den Fähigkeiten der Ordnungshüter gewinnen konnte, und dabei war das Vertrauen der gnä’ Frau etwas erschüttert worden.
Sie spürte einen eindringlichen Blick und wandte sich zur Seite. Ihr Mann taxierte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen, um den Mund ein harter Zug. Dennoch glaubte sie, mehr Neugier als Vorwurf aus seiner Miene herauszulesen. Er hatte erst vor zwei Monaten von ihrem geheimen Doppelleben als Hobbydetektivin erfahren und beobachtete sie jetzt immer ganz genau, wenn in den Nachrichten von Verbrechen die Rede war. Als hätte sie bei jedem Mord in Wien die Finger im Spiel. Als hätte sie das Bedürfnis, jedes kriminelle Rätsel zu lösen. Nun, wenn er sich sorgte, dass sie aus dem Auto springen würde, um Ermittlungen über explodierende Menschen anzustellen, täuschte er sich. Dieses Wochenende würde sie feiern.
Elektrische Gitarrenklänge dröhnten durch das Gefährt, und Alice Cooper verkündete mit Überzeugung: »No more Mr. Nice Guy«.
»Drehen’S wieder leiser, Marie. Ich denke, meine Frau hat gehört, was sie hören wollte.« Oskar löste den Blick wieder von seiner Frau. Einzelne Härchen hüpften im Fahrtwind des offenen Fensters aus seiner zurückgegelten Frisur, während er auf die vorbeigleitenden grünen Felder sah.
»Vielen Dank, Marie!«, fügte die gnä’ Frau rasch hinzu. Ihr gefiel nicht, dass Oskar auf Höflichkeit vergaß, wenn er mit den Angestellten redete. Insbesondere, da er sonst so großen Wert auf Etikette legte.
Das Dienstmädchen nickte kurz mit einem sanften Lächeln und faltete die Hände wieder im Schoß. Sie saß vorn neben dem Chauffeur, der in seiner Uniform schrecklich schwitzte. Die gnä’ Frau war froh, ein ärmelloses Blumenkleid zu tragen.
»Haben die Trentners dir noch eine aktualisierte Gästeliste geschickt? Hat vielleicht noch jemand abgesagt?«
Oskars Frage war so betont beiläufig, dass Frau Ehrenstein schmunzeln musste.
»Nein, also gehe ich davon aus, dass alle, die eingeladen sind, auch kommen.«
Sie wartete auf eine Erwiderung, ein Seufzen oder wenigstens ein Schulterzucken, doch er blickte weiter starr wie eine Statue aus dem Fenster. Der erfrischende Fahrtwind wurde schwächer, als das Auto abbremste. Sie kamen an einem ovalen Schild vorbei, auf dem in verschnörkelten Lettern Willkommen in Traiskirchen stand. Darauf war eine schwarze Katze mit aufgestelltem Buckel abgebildet. Die gnä’ Frau fragte sich nicht zum ersten Mal, ob das der Abschreckung dienen sollte. Heute kam es ihr wirklich wie ein schlechtes Omen vor.
Auf jeden Fall würde es nicht mehr lange dauern, bis sie da waren. Frau Ehrenstein kannte die Strecke gut. Sie besuchten Oskars Freunde ein paar Mal im Jahr, außerdem kam sie hier vorbei, wenn sie auf dem Weg zur Römertherme in Baden war. Gern ließ sie sich mit ihren Freundinnen im warmen Wasser treiben und genoss die Ruhe. Für Entspannung würde sie dieses Wochenende aber vermutlich keine Zeit finden.
»Ohnehin viel zu heiß für die Therme«, murmelte sie.
»Was hast du gesagt?«
»Dass’d dir nicht so schrecklich viel Sorgen machen brauchst. Es wird schon werden! Außerdem hätte es schlimmer kommen können. Deine Eltern beglücken uns wenigstens erst am Sonntag.«
Ihr Mann ließ nur ein ungeduldiges »Hrrmpf« hören. Der gnä’ Frau, die nicht direkt betroffen war, fiel es leicht, die ganze Sache mit Humor zu nehmen und wie eine Seifenoper zu betrachten: eine nicht standesgemäße Hochzeit mit Potenzial für einen Skandal. Oskar fehlte dazu der Abstand.
Sie hatten im Wohnzimmer ihrer Villa in Hietzing schon ausgiebig über das Thema gesprochen. Sie mit einem Gläschen Whisky, er mit Brandy, musikalisch untermalt von Lou Reed. Sie hatte ihren Mann nicht beschwichtigen und nur mit Mühe überreden können, die Einladung zu diesem Wochenende überhaupt anzunehmen. Immerhin heiratete sein bester Freund nur einmal im Leben.
»Ma, is des a Pestsäule? So wie die unsrige?«, fragte Marie erfreut und deutete aus dem Fenster. Das war die erste nennenswerte Sehenswürdigkeit seit dreißig Minuten. Sie fuhren gerade über den Hauptplatz von Traiskirchen, in dessen Mitte hinter einer steinernen Balustrade die reichlich verzierte Dreifaltigkeitssäule in den Himmel ragte. Frau Ehrenstein lächelte. Wiener mussten, sobald sie die Grenzen ihrer Stadt überquerten, immer zwischen »unser« und »derer« unterscheiden.
»Na, oba unsrige is höher. Und bröckelt a net so. Fehl’n da paar Figuren?«
Und vergleichen mussten die Wiener auch immer. Denn so gern sie über ihre Stadt motschkerten, sie war selbstverständlich besser als jede andere.
Ein erneutes »Hrrmpf« von Oskar ließ Marie verstummen und die Hände wieder artig in den Schoss legen. Frau Ehrenstein begann sich über die Stimmung ihres Mannes zu ärgern. Insbesondere wenn er ihre heimliche Vertraute angrantelte. Die junge Frau war nicht nur eines der Dienstmädchen in der Villa Ehrenstein, sie war vor allem die Gefährtin und rechte Hand der gnä’ Frau bei ihren Mordermittlungen. Doch davon wusste ihr Mann nichts.
Sie war kurz davor, ihn darauf hinzuweisen, dass sie dankbar sein konnten, Marie dabeizuhaben. Das Dienstmädchen tat ihnen einen Gefallen, indem sie bei der Hochzeitsfeier einsprang. Doch die gnä’ Frau riss sich zusammen. Vor den Bediensteten zurechtgewiesen zu werden, würde seine Laune auch nicht verbessern, außerdem versuchte sie, Verständnis aufzubringen. Oskar war seit seiner Kindheit mit dem Bräutigam befreundet und empfand dessen Missachtung der Konventionen als belastend. Obendrein war es nicht sehr taktvoll, die Ex-Freundin zur Hochzeitsfeier einzuladen. Da waren die Gäste der blutjungen Braut, ein Haufen Hippies, fast das geringere Problem für Oskars konservative Weltanschauung.
An den Umständen konnte sie nichts ändern, also wippte sie stattdessen zu Cliff Richards »Power to All Our Friends«, das gerade im Radio lief, mit den Zehen. Eigentlich eine Frechheit, dass er dieses Jahr beim Songcontest damit nur den 3. Platz geholt hatte. Nachdem ihm 1968 schon der Sieg verwehrt worden war, wäre er fünf Jahre später eine Genugtuung gewesen.
»Himmelherrschaftszeiten. Was miachtlt da so?« Marie verzog angewidert das Gesicht und kurbelte hektisch das Autofenster hoch. Was wenig brachte. Ein beißender Geruch nach geschmolzenem Plastik breitete sich im Fahrzeug aus.
»Das geht gleich vorbei«, sagten Frau Ehrenstein und ihr Mann gleichzeitig im selben gelangweilten Ton. Sie sahen einander an und mussten lächeln. So oft hatten sie diesen Satz ihrem Sohn Willi vorgebetet. Für einen Moment verflog die Anspannung. Oskars hochgezogene Schultern sanken herab, und die senkrechte Falte zwischen seinen Augenbrauen glättete sich. Sie nickte ihm aufmunternd zu. »Es wird schon werden«, wollte sie ihm damit noch mal mitteilen. Das Wochenende konnte ja gar nicht so schlimm enden, wie er befürchtete.
»Das ist nur die Reifenfabrik, Marie. Die von Semperit. Je nachdem, wie der Wind weht, kriegt ma den Gestank ab. Und da drüben ist übrigens die Blaschke-Fabrik.« Die gnä’ Frau deutete zum Fenster hinaus.
»Ah, geh, die von derer Kokoskuppeln?«
»Genau die, wenn der Wind von der anderen Seite kommt, riecht’s nach Schokolade und Zucker. Und wenn ma Pech hat, kriegt ma beides gleichzeitig ab, und das ist dann … nicht so angenehm.«
Wie versprochen, verflog der Gestank nach kürzester Zeit. Sie ließen die charmante Ortschaft hinter sich, vor ihnen erstreckten sich wieder die Felder, und auf einer Anhöhe konnten sie schon das Herrenhaus der Familie Trentner aufragen sehen. Bereits aus der Ferne wirkte es imposant, zwei Stockwerke hoch und mehr als doppelt so breit wie die Ehrenstein’sche Villa. Mit seinen zwei Türmchen und einem Gelbton, der bei gewissem Licht fast golden schimmerte, wirkte es fast wie ein kleines Schloss. Ein Wäldchen grenzte direkt an das Anwesen, Rhododendronsträucher in sattem Violett säumten die Auffahrt. Es erinnerte die gnä’ Frau immer an Manderley, das Anwesen aus Alfred Hitchcocks Rebecca. Wobei die Vorgänge dort um einiges dramatischer waren als bei den Trentners. Jedenfalls unter normalen Umständen.
Die Familie wohnte seit Generationen hier, beinahe ebenso lange war sie mit den Ehrensteins befreundet. Oskar war schon als kleiner Bub häufig hier zu Gast gewesen. Wenn er seine Eltern im benachbarten Baden besuchte, legte er auf dem Weg regelmäßig einen Stopp bei den Trentners ein. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil er sie aufrichtig mochte. Dementsprechend nahe ging ihm die Aufregung um die plötzliche und skandalumwitterte Hochzeit.
Er trommelte auf sein Bein, als sich das Auto die lange Auffahrt hochschlängelte. Schon von Weitem konnten sie den Gastgeber erkennen, der aus dem riesigen Haus gekommen war, um sie zu begrüßen. Normalerweise erfüllte dieser Anblick Frau Ehrenstein mit Vorfreude, doch heute hatte er einen eigenartigen Beigeschmack. Eine Hochzeit war ein freudiger Anlass, rief sie sich in Erinnerung. Und sie würde sich hüten, die junge Braut vorzuverurteilen, denn das taten die Leute mit ihr selbst viel zu oft. Nein, sie würde unvoreingenommen an dieses Wochenende herangehen. Die Aussicht auf gutes Essen und reichlich Alkohol – und das mit ihrer Gefährtin Marie in der Nähe – bestärkte sie noch in ihrem Optimismus.
»Was, glaubst du, ist da passiert?«, fragte Oskar unvermittelt. »Bei dieser Explosion? Ich nehme an, du hast dir dazu schon deine Gedanken gemacht.«
Da lag er völlig richtig. Sie hätte ihn gern mit ihren Theorien von dem bevorstehenden Wochenende abgelenkt, doch das Auto kam bereits zum Stillstand. Gleich würden die Türen aufgerissen werden.
»Ich denke, das hat nichts mit uns zu tun, und darüber sollten wir froh sein.«
Samstag, 14 Uhr Vor dem Anwesen der Trentners
»Ich bin so froh, dass du da bist! So froh!«
Sigismund fiel Oskar um den Hals, und der war sichtlich nicht davon angetan. Nicht, weil er seinen Jugendfreund nicht mochte, nicht einmal, weil die Umstände des Wochenendes so prekär waren. Oskar war generell kein Freund von übermäßigen Gefühlsbekundungen in der Öffentlichkeit, und er war auf keinen Fall ein Umarmer.
Nachdem er wieder freigegeben wurde, brachte er sein Einstecktuch in Ordnung, richtete sein Sakko und sagte schlicht: »Ich freu mich auch.«
Seine Miene zeigte nicht den Hauch einer Regung, und sein Ton war dermaßen emotionslos, dass Frau Ehrenstein schmunzeln musste.
»Vielen Dank für die Einladung, Siggi! Ihr habt aber auch ein Glück mit dem Wetter, nicht wahr? Die Feier wird doch im Garten stattfinden?«
Die gnä’ Frau lenkte die Aufmerksamkeit auf sich, um ihren Ehemann vor weiteren Gefühlsausbrüchen zu bewahren.
Sigismund deutete den Handkuss nicht an, wie es in feineren Kreisen eigentlich üblich war, sondern packte Frau Ehrensteins Hand und drückte mehrere feuchte Küsse darauf. Sie widerstand dem Impuls, sie zurückzuziehen, und warf ihrem Mann einen irritierten Blick zu. Der zuckte nur leicht mit den Schultern und sah unglücklich drein. Sein Jugendfreund war normalerweise nicht so überschwänglich und … unkontrolliert. Ein besseres Wort fiel ihr nicht ein. Sigismund stammte wie Oskar aus einem sehr reichen Elternhaus, war mit den Regeln der Etikette für die feine Gesellschaft groß geworden. Zwar war Siggi immer der Lockerere von beiden gewesen, aber dieses Benehmen war neu. Auch äußerlich hatte er sich verändert. Die hellen Haare waren länger als sonst, seine Koteletten nicht gestutzt und die Hosenbeine leicht ausgestellt.
All das war äußerst untypisch für Sigismund Trentner, den einzigen Erben der legendären Woll-Trentners. Sie begann zu verstehen, warum Oskar sich so sehr gegen diesen Besuch gesträubt hatte. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Der Chauffeur der Ehrensteins schnaufte laut, als er die Koffer der gnä’ Frau aus dem Kofferraum hievte. Zwar würden sie nur zwei Nächte bleiben, aber sie brauchte nicht nur Garderobe für die Hochzeitsfeier, sondern auch für das Abendessen, das Frühstück, das Mittagessen, die Jause und eventuell für Spaziergänge im Wäldchen. Accessoires und Schuhe mussten selbstverständlich jeweils angepasst werden. Abgesehen davon hatte sie ein paar Krimis eingepackt, die brauchte sie zum Einschlafen, und sie wusste nie, worauf sie Lust haben würde. Also waren eine Agatha Christie, eine Patricia Highsmith, ein Konsalik – das waren immer solche Wälzer! – und ein Raymond Chandler mit dabei. Da sie vermutlich nicht mehr nach Traiskirchen zum Einkaufen kommen würde, hatte sie noch einige Schachteln ihrer Gauloises-Zigaretten eingesteckt und einen Flachmann voll mit Lagavulin, ihrem liebsten Whisky. Der half nämlich auch gut beim Einschlafen.
Alles in allem stellte der Chauffeur neben Oskars Reisetasche drei randvoll gestopfte Koffer von Frau Ehrenstein ab und wartete dann ergeben. Schwitzend und mit rotem Gesicht, dennoch saßen Uniform und Kappe immer noch akkurat. Oskar teilte ihm erneut mit, dass er sie am Montagmorgen um Punkt neun Uhr abholen sollte. Mit dem – deutlich leiser geäußertem – Nachsatz, dass er sich in der Villa Ehrenstein bereithalten solle, falls sie sich früher meldeten.
»Haben Sie nur die kleine Tasche?« Die Haushälterin der Trentners, eine zarte Blondine Mitte vierzig, war an Marie herangetreten. Ihre Miene war offen und ihr Ton liebenswürdig. »Sehr gut, wir gehen hinten beim Dienstboteneingang rein. Dann zeig ich Ihnen Ihr Zimmer, wir haben einen eigenen Trakt, und Sie kriegen auch gleich eine Uniform. Ich bin mir sicher, Sie werden sich bei uns wohlfühlen, wenn Sie etwas brauchen, können Sie sich immer an mich wenden.«
Die Haushälterin mit den großen, blauen Engelsaugen arbeitete erst seit knapp fünf Jahren im Haus. Die gnä’ Frau versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern. Da war was mit Barbra Streisand … Genau, wie in Funny Girl, ihr Name war Fanny. Anders als bei den Ehrensteins wurde die Haushälterin hier mit Vornamen angesprochen.
»Bitte kümmern Sie sich gut um unsere Marie, Fräulein Fanny!«
Frau Ehrenstein hätte ihrer heimlichen Vertrauten am liebsten die Hand gedrückt und einen Schmäh mit ihr gemacht. Auch wenn sie das Wochenende im selben Haus verbringen würden, lagen hier Welten zwischen der Herrschaft und den Dienstboten. Daheim in Hietzing konnten sie sich leicht zwischendurch treffen, beim Wäscheaufhängen oder Bügeln. Manchmal setzten sie sich auch abends im Wohnzimmer zusammen, um bei einem guten Gläschen Whisky über Filme oder Mordfälle zu plaudern.
Marie kannte sie gut genug, um ihre unschlüssige Miene zu deuten. Sie lächelte Frau Ehrenstein beruhigend und voller Wärme zu, und kurz bevor sie ums efeuberankte Eck bog, zwinkerte sie noch einmal spitzbübisch. Nein, die gnä’ Frau war sich sicher, dass sie dieses Wochenende irgendwie einen Weg finden würden, ein wengerl Zeit miteinander zu verbringen. Für derlei Heimlichkeiten hatten sie beide mittlerweile ein Talent entwickelt.
»Helene?«
Oskar musterte sie stirnrunzelnd, und sie fühlte sich ertappt.
Irgendwann würde sie ihrem Mann beichten müssen, dass Marie bei ihren Ermittlungen als ihre rechte Hand agierte. Und irgendwann würde sie auch mit ihm über den Kuss reden müssen, den sie vor ein paar Monaten beobachtet hatte. Aber alles zu seiner Zeit.
Staub wirbelte auf, als der Chauffeur mit dem Auto davonfuhr. Vermutlich wartete er noch, bis das eiserne Tor des Anwesens hinter ihm lag, ehe er die Kappe vom Kopf riss und die Krawatte lockerte.
»Wo bleibt Else nur? Ich möchte sie euch gern vorstellen. So gern vorstellen!«
Siggi wischte sich mit einem weißen Stofftaschentuch den Schweiß vom Gesicht und wirkte von einer Sekunde auf die andere nicht mehr fröhlich und gerührt, sondern zutiefst unglücklich.
»Gleich kommt sie, gleich. Mach dir nur keine Sorgen, mein Junge!«
Ohne Eile tauchte aus dem Hausinneren Siggis Vater auf. Er trug einen hellen Leinenanzug, der den Temperaturen angemessen war, und als Farbakzent ein burgunderrotes Seidentuch um den Hals. Wenn auch schon etwas in die Jahre gekommen, sah Trentner senior immer noch fesch aus und legte besonderen Wert auf seine Garderobe. Er tätschelte seinem Sohn den Arm, bevor er sich an die Ehrensteins wandte.
Ladislaus Trentners Anwesenheit entspannte nicht nur seinen Sohn, sondern auch dessen Gäste. Seine gelassene und gefasste Art vermittelte Ruhe, wo immer er auftauchte.
»Enchanté, meine liebe Helene« – bei seinem Handkuss berührten die Lippen nicht einmal ansatzweise ihre Haut –, »darf ich dir sagen, dass du hervorragend ausschaust. Du übrigens auch, Oskar. Das Leben scheint euch zu bekommen.«
»Ich freue mich sehr dich wiederzusehen, Ladislaus!«, sagte die gnä’ Frau herzlich. »Und das Kompliment muss ich dir zurückgeben. Du siehst sehr fesch aus in deinem neuen Rollstuhl!«
Die ausgeprägten Falten um seine Augen wurden tiefer, und er strich mit seinen kräftigen Händen den glänzenden Stahl der Greifreifen entlang.
»Oh, das ist ein Prachtstück, findest du nicht? Ich hab ihn letztes Jahr bei einer Messe gesehen und musste ihn sofort haben! Der ist so wendig!«
»Aber wo ist denn jetzt meine Else? Wo?«, rief Siggi, dessen Stimmung schon wieder zu kippen drohte. Frau Ehrenstein fühlte sich an ihren Sohn Willi im Alter von zwei Jahren erinnert, als er in seiner Trotzphase den gesamten Haushalt in Geiselhaft genommen hatte. Bei einem vierundvierzigjährigen Mann erwartete sie so etwas für gewöhnlich nicht.
»Sie wollte sich nur noch die Nase pudern, Siggi. Damit sie vor deinen Freunden auch annehmbar aussieht, nicht wahr?« Ladislaus tätschelte den Arm seines Sohnes ununterbrochen, als wäre der ein verängstigtes Pferd.
»Ist das annehmbar für euch?«
Eine Erscheinung schritt mit ausgebreiteten Armen aus der Eingangstür. Frau Ehrenstein musste für einen Moment die Augen zusammenkneifen, als Sonnenlicht auf tausende Pailletten traf. Die Braut trug einen ärmellosen Hosenanzug, der an eine Discokugel erinnerte, der Stoff schmiegte sich an ihre ausgeprägten Rundungen, und der tiefe Ausschnitt verbarg gerade mal so die große Büste. Sie verharrte in dieser Haltung und blickte in die Runde, als erwartete sie Applaus. Frau Ehrenstein war tatsächlich kurz davor, in die Hände zu klatschen, denn dieser Auftritt verdiente Anerkennung. Sie fragte sich, ob Else im Haus gelauscht und nur auf ein gutes Stichwort gewartet hatte.
»Else, meine Göttin, mein Ein und Alles!«
Siggi umarmte seine Verlobte überschwänglich und führte sie an der Hand zu den Ehrensteins wie ein Kleinod, das er vorzeigen wollte. Der große Altersunterschied war unübersehbar. Das war eines der kleinen Skandälchen um diese Hochzeit. Ein anderes war natürlich, dass die beiden sich erst seit Kurzem kannten und die Braut keine standesgemäße Herkunft nachweisen konnte.
Oskars Miene hatte sich in eine undurchdringliche Maske verwandelt, als er die Braut begrüßte und einen Handkuss andeutete. Wenn er seine Gefühle nicht offenbaren wollte, konnte er das auf Knopfdruck, worum ihn Frau Ehrenstein beneidete. Erst letztes Jahr hatte sie hinter diese Schutzmauer blicken dürfen und einen freundlichen und humorvollen Menschen entdeckt. Nach fast zwölf Jahren Ehe hatten sie nun ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut, das weniger auf Liebe oder Leidenschaft als auf gegenseitigem Respekt basierte.
»Ach, Oskar, ja, der liebe Oskar, von dir hab ich schon so viel gehört!« Else sprach jedes Wort gedehnt und bewusst aus, als hörte sie es zum ersten Mal. »Ich hoffe, du bist nicht pikiert, wenn ich dich duze. Siggi spricht von dir wie von einem Bruder. Also gehörst du ja praktisch zur Familie.«
Elses Ansprache brachte Oskars schmales, höfliches Lächeln keinen Moment ins Wanken. Falls er mit dem aufgezwungenem Du nicht einverstanden war, ließ er sich das nicht anmerken.
Daraufhin glitt die Aufmerksamkeit der Braut zu Frau Ehrenstein, die ganz hypnotisiert war von den langen, aufgeklebten Wimpern und den blitzblauen, fast violetten Augen. In Kombination mit dem schwarzen hochtoupierten Haar erinnerte die Aufmachung an eine etwas fülligere Version von Liz Taylor.
»Helene, wie schön, dich kennenzulernen! Siggi, wieso hast du nicht erwähnt, dass Helene eine wahre Schönheit ist?« Ihre tiefe Stimme mit dem leicht rauchigen Timbre und die Bedächtigkeit ihrer Worte schienen dem Satz besonderes Gewicht zu verleihen. Die gnä’ Frau, die Komplimente eigentlich gewohnt war, spürte, wie sie errötete. Sie war selbst überrascht, dass sie sich plötzlich wie ein Schulmädchen vorkam, und plapperte drauflos, um die Peinlichkeit zu überspielen.
»Ach, das ist wirklich zu freundlich von Ihnen, äh, von dir, wollte ich natürlich sagen. Das kann ich nur zurückgeben, also das Kompliment. Du siehst nämlich auch sehr gut aus, wirklich sehr … Das Wetter, ja, das Wetter, wie ich gerade vorhin schon zu Sigismund, also Siggi, deinem Verlobten, also, wie ich vorhin schon gesagt habe, ist das Wetter wirklich hervorragend und bestens geeignet für eine Hochzeit im Freien.«
Die Männer sahen sie verwundert an. Immerhin kannten sie Frau Ehrenstein für gewöhnlich als Meisterin der eleganten Konversation.
Else lachte melodiös. »Ach, Helene, wie recht du hast! Ein vorzügliches Wetter. Aber, bitte nimm’s mir nicht übel, in einer Sache muss ich dich korrigieren. Siggi ist nicht mein Verlobter …«
»Ähm, Else, vielleicht sollten wir das später …«, warf Ladislaus rasch ein, doch Else unterbrach ihn mit einer ausschweifenden Geste.
»Siggi ist nicht mein Verlobter, er ist längst mein Ehemann!«
Samstag, 14 Uhr 15Garten
Die Trentners führten ihre Gäste durch den Salon und hinaus auf die Terrasse. In einem Pavillon im Garten tummelte sich schon ein illustres Grüppchen. Drei Personen scharten sich um ein Tischchen in der Mitte, auf dem mehrere Gläser und ein paar Teller mit Horsd’œuvres standen. Steinerne Treppen führten hinunter auf den Rasen, und Frau Ehrenstein war noch vor den anderen auf der letzten Stufe angekommen. Ein junger Mann mit Haaren bis zu den Ellbogen und einer runden schwarzen Sonnenbrille warf rasch eine selbstgedrehte Zigarette über das Geländer des Pavillons, als er sie sah.
Oskar und Siggi warteten auf Ladislaus, der mit seinem Rollstuhl auf einer sanft absteigenden Rampe neben den Stufen hinunter in den Garten kam. Die gnä’ Frau wollte es ihnen gleichtun, doch plötzlich spürte sie im Rücken Elses warme Hand, die sie auf dem gepflasterten Weg durch das Gras nach vorne schob.
»Helene, darf ich dir meine besten und engsten Freunde vorstellen? Joe und die Zwillinge. Ihr Lieben, das ist die schöne Helene. Die Frau von Oskar, dem besten und engsten Freund von meinem Siggi.«
»Grüß dich, ich bin die Gwendolyn.«
»Und ich die Cecily.«
Die Zwillinge, die unschwer als solche zu erkennen waren, kicherten im gleichen Tonfall. Zwei junge Frauen, die einen ähnlich frechen Kurzhaarschnitt wie Goldie Hawn in Die Kaktusblüte und identische orange Minikleider mit violettem Blumenmuster trugen. Sie nippten gleichzeitig an ihrem Cocktail und wiegten die Hüften zu »Woodpecker’s Music« vom österreichischen Sänger Wilfried, das aus einem tragbaren Radio dröhnte.
Der junge Mann mit den langen Haaren stürzte auf die gnä’ Frau zu. Er trug weite Glockenhosen und ein wallendes rotes Hemd mit einem schwarzen Gilet darüber. Seine spinnenbeinartigen Finger tanzten knapp vor Frau Ehrensteins Gesicht. »Helene, Helene, sag amal, kann ich … ich mein, darf ich dich malen?«
»Ähm, nein, danke.«
Vor nicht allzu langer Zeit wäre Frau Ehrenstein mit so einer bunten Ansammlung von Menschen, die so ganz anders waren als die Leute in ihrem gewohnten Umfeld, überfordert gewesen. Aber mittlerweile hatte sie bei ihren Ermittlungen schon diverse Hippies kennengelernt, also schockierte sie das nicht sonderlich. Für die Trentners, die für gewöhnlich mit der gehobenen Gesellschaft und Politprominenz verkehrten, war das vermutlich ein eher neues Erlebnis. Die gnä’ Frau griff sich ein Lachsbrötchen und nahm sich vor, als Nächstes das russische Ei zu probieren.
»Joe, jetzt lass doch die Helene erst einmal ankommen. Bring uns lieber etwas zu trinken. Du lebst doch nicht enthaltsam, meine Liebe? Nein? Gottseidank nicht. Heute und morgen wollen wir nämlich feiern, nicht wahr?«, flötete Else.
»So isses, wir bringen Leben in die alten Gemäuer hier. Zeit wird’s, gell?«, verkündete eine der Zwillinge, und die Zweite ließ gleich darauf ein schrilles »Wohooo!« folgen.
Frau Ehrenstein war froh, dass sie bereits einen rosa Cocktail mit dem schillernden Namen Pink Lady in der Hand hatte, als die Männer beim Pavillon ankamen. Es schien, als hätten sie die kurze Zeit unter sich genutzt, um ein paar Worte auszutauschen. Keine erfreulichen, wie an ihren Mienen unschwer zu erkennen war. Mit einem Rumpeln manövrierte Ladislaus seinen Rollstuhl die zwei breiten Stufen hinauf. Bei diesem Modell gab es hinter den zwei großen Rädern jeweils zwei kleinere, die mit einem breiten Band verbunden waren, was Frau Ehrenstein an ein Raupenfahrzeug erinnerte. Ladislaus hatte mehrere Rollstühle für unterschiedliche Gelegenheiten, und sie war immer schon von der Vielfalt und der Technik dahinter fasziniert gewesen. Er hatte einen Faltbaren, einen Leichten, einen Wendigen, der für Sport geeignet war und einen, der sich mit Hebeln fortbewegen ließ. Ladislaus hatte ihr auch erzählt, dass es bereits motorisierte Modelle gab und er es kaum erwarten konnte, einen zu ergattern.
Else glitt wie auf Schienen auf Oskar zu und stellte ihre Freunde mit überbordender Grandezza und eleganten Gesten vor, während sie allen ein Getränk in die Hände drückte. Joe nahm erfreulicherweise Abstand davon, Oskar zu fragen, ob er ihn malen dürfte.
Die Cocktailgläser lagen angenehm kühl in der Hand, das Kondenswasser glitt träge an ihnen herab, während sich alle schweigend gegenüberstanden. Nicht einmal der vorhin so redselige Ladislaus sagte etwas. Er hielt seinen Tom Collins ungetrunken im Schoß und blickte freundlich, aber abwesend hinauf in die Runde. Aus dem Radio erklangen die Les Humphries Singers mit »Mexico«, und die Zwillinge bewegten lautlos die Lippen zum Text. Frau Ehrenstein beschloss, das Konversations-Ruder in die Hand zu nehmen.
»Wer kommt denn noch? Wenn ich das richtig verstanden habe, kommen viele erst morgen zur Hochz…, also, zur Feier. Aber ihr erwartet heute auch noch Gäste, oder? Lernen wir noch deine Familie kennen, Else?«
Siggi drückte sich wieder eng an seine Braut, als bedeutete jeder Zentimeter zwischen ihnen unglaubliche Pein, und antwortete betreten: »Oh nein, leider. Elses Vater lebt nicht mehr, und ihr Bruder ist geschäftlich in Wien festgehalten worden. Leider, leider.«
»Ah geh, wer weiß, vielleicht schafft er’s noch!«, rief Joe fröhlich dazwischen.
Siggi fuhr unbeirrt fort. »Aber sonst kommen einige natürlich, das wird schön werden, so schön! Einen Harfenisten haben wir auch! Oder haben wir uns doch für den Pianisten entschieden, haben wir das? Oh, und ein paar Freunde von Else sollen auch kommen, ich weiß zwar nicht genau wer oder wie viele …«
»Ach, mein Schatz, mein Lieber, mein Herz«, gurrte Else in sein Ohr. »Da lassen wir uns überraschen. Ist das nicht das Schönste im Leben? Wenn man nicht weiß, was als Nächstes auf einen zukommt? Die Freude, die Erregung, die Ekstase!«
»Victoria Marhold kommt auch noch, nicht wahr?«, ergänzte Ladislaus sachlich, und Elses verzückte Miene entgleiste. Für einen Moment konnte man erahnen, dass hinter der eleganten jungen Frau mit der gewählten und langsamen Sprechweise noch etwas anderes steckte. Etwas Giftiges, meinte die gnä’ Frau.
»Das ist allerdings keine Überraschung«, sagte Else eisig und löste sich von Siggi, um sich dem Tischchen mit den Horsd’œuvres zu widmen.
Frau Ehrenstein bemühte sich um einen versöhnlichen Ton. »Ich finde es schrecklich lieb von euch, Victoria einzuladen.«
Man hätte auch schrecklich unpassend sagen können, aber das verkniff sie sich. Dass Siggis Ex-Freundin auch kommen sollte, war einer der Hauptgründe gewesen, warum Oskar am liebsten auf dieses Wochenende verzichtet hätte. Nicht, weil er ein Problem mit ihr persönlich hatte, sondern weil dieses Aufeinandertreffen zwangsläufig unangenehm werden musste. Insbesondere weil Victoria selbst knappe fünf Jahre auf diesen Antrag gewartet hatte, den dann ganz plötzlich Else bekam.
»Das war die Idee von der Oma, weißt, Helene? Die is da oben nimma so ganz«, erklärte Zwilling Nummer eins mit lautstarker Vertraulichkeit.
»Geh, das kannst doch nicht so sag’n«, wies ihre Schwester sie zurecht.
»Na, stimmt’s, oder hab ich recht?«
»Meine Mutter hat Victoria eingeladen, weil sie für lange Zeit ein Teil der Familie war und sie es für angebracht hielt«, rief Ladislaus in bestimmtem Ton dazwischen und brachte die Zwillinge damit zum Schweigen. Er klang nicht böse oder tadelnd, das war nicht seine Art. Eher wie ein bemühter Lehrer, der geduldig versuchte, etwas zu erklären. »Victoria hat ihre Mutter schon als Kind verloren, nicht wahr? Siggis Großmutter konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie hier von einem Tag auf den anderen nicht mehr willkommen sein sollte. Außerdem spricht unter erwachsenen Menschen nichts dagegen, auch nach dem Ende einer Beziehung ein freundschaftliches Verhältnis zu pflegen, nicht wahr?«
»Pfff, freundschaftlich, das klingt ja leiwand.« Zwilling Nummer eins lehnte sich jetzt praktisch an die gnä’ Frau. Ihrem Atem nach zu urteilen, waren schon diverse Pink Ladies in sie geflossen. »Wenn eine der andren mim Hamdrahn droht, wie freundschaftlich, glaubst, ist das, Helene, häh?«
»Umbringen? Wer will wen umbringen?« Oskar trug das erste Mal, seit sie im Garten angekommen waren, etwas zum Gespräch bei. Doch Ladislaus schüttelte nur den Kopf, leicht lächelnd, als wäre das Ganze ein Missverständnis, und Siggi wischte sich mit seinem Taschentuch unentwegt den Schweiß aus dem Gesicht, ohne jemandem in die Augen zu blicken.
»Also, die Sache ist so, Oskar. So heißt du doch, oder?« Joe richtete seine kleine runde Sonnenbrille und warf mit einer gekonnten Handbewegung seine langen Haare nach hinten. »Die Ex, also die Victoria, hat beim letzten Mal gesagt, dass sie der Else eher den Hals aufschlitzt, als dass sie zulässt, dass sie sich den Siggi krallt. Verstehst so weit? Drum sind wir da. Also jetzt schon so früh. Wir müssen sie ja beschützen, die Else. Außerdem: Darf ich deine Frau malen?«
»Wie bitte?« Oskar war so betroppezt, dass ihm fast der Tom Collins aus der Hand rutschte. Doch Frau Ehrenstein – die sich von mörderischen und blutigen Dingen nicht so schnell aus dem Konzept bringen ließ – fiel ein anderes Detail auf.
»Was soll das bedeuten, beim letzten Mal?«
»Naja, da waren sie bei den Pferden, da wo ma wetten kann«, erklärte Joe mit ungeduldiger Selbstverständlichkeit.
»Bei der Hundert-Jahr-Feier von der Trabrennbahn Krieau, um genau zu sein. Ein wunderbares Spektakel. Und wir wollen die Begegnung mit Victoria nicht ganz so aufbauschen, nicht wahr?«, sagte Ladislaus mit einem milden Lächeln.
»Jedenfalls«, fuhr Joe ungerührt fort, »war auf einmal die Ex da und hat der Else Vorwürfe gemacht, verstehst so weit? Von wegen, dass sie eine Goldgräberin wäre, in die Richtung. Dann ham sie sich halbert prügelt, und die Ex wollt die Else umbringen. So hammas gehört, jedenfalls.«
»Diese … Person macht mir keine Angst«, erklärte die Braut betont ruhig. »Sie soll es nur wagen. Dann könnte mir auch niemand etwas vorwerfen, wenn ich ihr an die Gurgel gehe. Und schön langsam zudrücke.« Anschaulich zerquetschte sie das Horsd’oeuvre, das sie in der Hand hielt, und ließ die Überreste zu Boden bröseln.
Frau Ehrenstein musste das erst sacken lassen und griff nach einem Brötchen mit Crème Fraîche und Karotten. Auch die anderen hatten nichts hinzuzufügen. Zwilling Nummer zwei verscheuchte ein paar lästige Gelsen, Ladislaus nippte an seinem Tom Collins und Oskar starrte Siggi an, der wiederum nur Augen für Else hatte, die ihm jedoch den Rücken zudrehte. Das Radio begann zu rauschen, und Zwilling Nummer eins drehte an einem Knopf hin und her. Man hörte Musikfetzen von einer Mozart-Oper, dann Kindergesang, schließlich einen Nachrichtensprecher, von dem man zunächst nur abgehackt einzelne Wortfetzen verstand:
»Morgens … 3. Wiener Gemeindebezirk … Verhör … versteckte Pistole … aus dem Fenster … mehrere Verletzte … ein toter Polizist«
Die Stimme wurde lauter, als die junge Frau schlussendlich die richtige Frequenz fand.
»Der Verdächtige konnte mit der Explosion letzte Woche neben der Südautobahn in Verbindung gebracht werden und befindet sich seit seiner Flucht aus der Rennwegkaserne auf freiem Fuß. Die Wiener Bevölkerung wird zur Vorsicht aufgerufen.«
»Schalt das ab!« Elses Ton war so scharf, dass die junge Frau zusammenzuckte und sofort Folge leistete. Die Nerven der Braut mussten blank liegen. Ihre Hochzeitsfeier stand wirklich nicht unter dem besten Stern.
»Gut, dass wir nicht in Wien sind, oder? So gut!« Siggi ließ seiner Aussage ein paar halbherzige Lacher folgen, die offensichtlich die Stimmung auflockern sollten. Bei Frau Ehrenstein verstärkten sie eher das ohnehin schon mulmige Gefühl. In Wien ein bombenlegender Mörder auf der Flucht. In Niederösterreich zwei mordlustige Frauen, die sich um einen Mann stritten. Sie hätte statt dem verfluchten Flachmann gleich ihren ganzen Vorrat an Whisky einpacken sollen.
Ladislaus räusperte sich und stellte sein halb volles Glas aufs Pavillon-Geländer. »Solche grässlichen Gedanken gehören doch nicht zu so einem schönen Wochenende. Wisst ihr, ich habe letztens einen Artikel gelesen über die Kraft der positiven Einstellung …«
Frau Ehrenstein hörte Ladislaus’ Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, nur mit halbem Ohr zu, weil aus dem Inneren des Hauses eine vertraute Gestalt auftauchte. Marie war aus ihrer Privatkleidung in eine Uniform geschlüpft. Ein schwarzes Kleid aus schwerem Stoff, eine lange weiße Schürze, die hinterm Nacken zusammengebunden wurde, und ein kleines weißes Häubchen, das auf ihrem dunkelbraunen Haar festgesteckt war. Die Uniform im Ehrenstein’schen Haushalt war weniger streng, lediglich eine Halbschürze über dunkler Kleidung. Frau Ehrenstein konnte es kaum erwarten, Marie in einem ruhigen Augenblick all die Neuigkeiten zu erzählen. Falls die Feierlichkeiten tatsächlich eine mörderische Wendung nehmen sollten, war sie doppelt froh, ihre Vertraute an ihrer Seite zu wissen. Das Dienstmädchen würde vermutlich die Augen verdrehen wegen der Kalamitäten der feinen Herrschaft.
Jetzt war da eher Konzentration in ihrem Gesicht zu lesen, während die junge Frau ein Tablett mit einer Wasserkaraffe und einem Eiskübel die Stufen von der Terrasse in den Garten hinuntertrug. Die abrupt von einem tiefen Stirnrunzeln abgelöst wurde, als Marie aufblickte. Sie schien am Pavillon vorbei in das kleine Wäldchen zu schauen.
Frau Ehrenstein konnte es jetzt auch hören, ein dumpfes Stampfen und das Knacken brechender Äste.
»Aber Herr Trentner, red ma doch nicht über positive Einstellung, ohne über Psychopharmaka zu reden. Das wär sonst unwissenschaftlich, verstehn’S so weit?«
»Kommt … kommt da irgendwas?«, unterbrach Frau Ehrenstein Joes Fachsimpelei und starrte ins Dickicht hinter ihnen.
Alle verstummten und folgten ihrem Blick. Die Geräusche wurden lauter, und plötzlich wusste die gnä’ Frau, was es damit auf sich hatte.
»Irgendwas ist hier wohl der richtige Ausdruck«, zischte Else leise.
Ein großer schwarzer Hengst brach durchs Geäst und sprang über die kegelförmigen Buchsbäume, um knapp vor Marie zum Stehen zu kommen. Diese schreckte mit einem Aufschrei zurück, und die Wasserkaraffe zerplatzte klirrend auf dem gepflasterten Weg.
Ladislaus seufzte. »Mit dem Auto wäre es vielleicht einfacher gewesen, Victoria, nicht wahr?«
Aber mit Sicherheit nicht so spektakulär, dachte die gnä’ Frau mit bumperndem Herzen.
Samstag, 15 Uhr Gartenpavillon
Die Haushälterin Fanny eilte händeringend aus dem Herrenhaus, mit zwei jungen Dienern im Livree im Schlepptau. Sie beäugte den glänzend schwitzenden Hengst argwöhnisch, während sie eine Art Satteltasche von Victoria entgegennahm.
»Herkules braucht was zu trinken und frisches Heu. Schaut’s, dass ihr ihn gut trockenreibt!«
Das Pferd ließ sich folgsam von den Burschen wegführen, und die zierliche Fanny folgte mit der großen ledernen Tasche.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte Frau Ehrenstein. Sie reichte Marie das heruntergefallene Tablett und bemühte sich, mit ihren offenen Sandalen nicht in die Nähe der zahlreichen Glassplitter der zerbrochenen Karaffe zu kommen. Der Eiskübel lag im perfekt gestutzten Gras auf der Seite, die Eiswürfel begannen bereits in die Erde zu sickern.
»Ois gut. Machen’S Ihnen nur kane Gedanken, gnä’ Frau. Hab mich nur bissl g’schreckt.«
»Da waren Sie nicht die Einzige.«
Joe hatte sich seinen Cocktail über das rote Seidenhemd geschüttet. Die Zwillinge tupften ihn von beiden Seiten mit kleinen Papierservietten ab. Else empfand das scheinbar als den richtigen Augenblick, um das Radio wieder einzuschalten. David Cassidy sang knarzend und rauschend »I Am a Clown«. Siggi legte schützend den Arm um seine junge Frau, die aber keineswegs wirkte, als bräuchte sie Schutz. Eher eine Tollwutimpfung.
»Victoria, wie immer um keinen großen Auftritt verlegen, nicht wahr?« Ladislaus ließ den Rollstuhl sanft die Stufen hinuntergleiten. »Es ist schön, dich wiederzusehen!«
Sie kam ihm entgegen. Mit den hohen Reitstiefeln erinnerte ihr Gang fast an den eines Soldaten. Sie nahm mit einer schwungvollen Bewegung ihren Helm ab und deutete Bussis auf Ladislaus’ Wangen an. Ihre Haare waren zu einem französischen Zopf geflochten und reichten ihr bis zu den Schulterblättern. Die Farbe war irgendwo zwischen blond und rot anzusiedeln. Sie war schlank, aber durch die Reiterhosen waren Muskeln zu erahnen, außerdem war sie ziemlich groß. Sie überragte sogar Oskar um ein paar Zentimeter. Frau Ehrenstein hatte Victoria schon ein paar Mal getroffen, doch ihre äußerlichen Eigenheiten wurden ihr erst jetzt – im Vergleich zu Else – so richtig bewusst.
»Ich danke dir, Ladislaus. Ich freu mich auch, dich zu sehen. Ich muss zugeben, ich war überrascht, als mich die gute Jolanthe angerufen hat. Aber warum nicht, hab ich mir gedacht.«
Die Worte kamen rasch und hart, ihr Ton hatte etwas Sachliches und Endgültiges. Ganz im Gegensatz zu Elses gedehnter und bedeutungsschwangerer Redeweise. Ja, die beiden Frauen waren wie Tag und Nacht, anders konnte man es nicht ausdrücken. Marie meinte immer, jeder Mann hätte einen bestimmten Typ Frau, aber hier konnte Frau Ehrenstein wirklich keinen feststellen.
»So, wen muss ich schlagen, um etwas zu trinken zu bekommen?«
Sie hieb mit der Gerte auf ihren Lederstiefel. Der Knall ließ alle im Pavillon zusammenzucken, und sie lachte, tief und kehlig. Ihre ohnehin geröteten Wangen wurden dabei noch dunkler. Victorias rüde Art und ihre Vorliebe für Pferde hatten Frau Ehrenstein oft an die junge Prinzessin Anne aus dem britischen Königshaus denken lassen. »Ihre königliche Unhöflichkeit« wurde sie von den Klatschblättern genannt. Siggis Ex-Freundin nahm kein Blatt vor den Mund und war eher barsch, aber niemand störte sich daran, weil sie reich war und aus gutem Hause stammte. Elses Verhalten hingegen war betont fein und damenhaft, und doch würde sie über ihre Herkunft nicht hinwegtäuschen können.
Die Zwillinge und Joe starrten Victoria an wie paralysiert. No, sehr beruhigend, dass sie zu Elses Schutz da sind, dachte sich die gnä’ Frau belustigt. Siggi wich Victorias Blick aus, als wäre sie Medusa, also entschied sich Oskar, die Sache in die Hand zu nehmen. »Hier hast du einen Tom Collins, Victoria.«
»Oskar, altes Haus, auf dich kann man sich wie immer verlassen!« Beschwingt griff sie sich das Glas und trank es in einem Zug zur Hälfte aus. »Das braucht Eis. Wie könnt ihr bei dieser Hitze nur warme Cocktails servieren? Unter mir hätt’s das nicht gegeben!«
Ihr Blick fiel pointiert auf Else, die kampfeslustig das Kinn nach vorne reckte. Die gnä’ Frau entschied sich dazwischenzugehen. »Ich fürchte, das Eis ist verunfallt.«
Victoria fuhr herum, als nähme sie Frau Ehrensteins Anwesenheit erst jetzt wahr. Ihr Blick war durchdringend, beinahe bedrohlich. Die gnä’ Frau fühlte sich genötigt, weiter auszuholen. »Das Eis, es ist in die Wiese gefallen und geschmolzen. Wegen dem Pferd, hauptsächlich.«
»Und wer, bitte schön, sind Sie?«, fragte Victoria mit donnernder Stimme.
»Ich bin Helene. Helene Ehrenstein. Die Frau von Oskar. Wir haben uns schon ein paar Mal getroffen, Victoria«, antwortete sie perplex. Siggis Ex-Freundin hatte mit der rauchenden und filmverrückten gnä’ Frau nie viel anfangen können. Aber dieses abweisende, fast feindselige Verhalten war neu. Vermutlich gefiel ihr nicht, dass die gnä’ Frau sich eingemischt hatte. Und dem Pferd die Schuld an den abhandengekommenen Eiswürfeln gegeben hatte.
»Dann scheinst du wohl keinen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. Was das Eis angeht: Vielleicht sollte sich dieser Haushalt weniger schreckhafte Dienstmädchen zulegen.«
»Das ist mein Dienstmädchen«, sagte die gnä’ Frau zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Das erklärt natürlich alles.«
Jetzt war es an Marie, zwischen die beiden kampfeslustigen Damen zu gehen.
»Verzeihn’S untertänigst, gnädige Frau, des war mei Fehler. Sie ham wirklich a scheens Roß! Ich fürcht, ich bin halt Pferde net g’wohnt. Ich komm aus Wien, wissen’S?«
Ein verständnisvolles Raunen ging durch die Anwesenden, als wäre es ganz klar, dass sich jemand aus Wien ein wenig anders verhielt. Als müsste man Mitleid mit einer Wienerin haben, die aus ihrem gewohnten Habitat herausgerissen worden war.
»Ich fürcht, es wird a no a bissl dauern, bis ma wieder Eis ham, die Herrschaften. Es is nämlich a so: Des war des letzte.«