Mord zur Teatime - Das Geheimnis von Sans-Soleil - Olga Wojtas - E-Book

Mord zur Teatime - Das Geheimnis von Sans-Soleil E-Book

Olga Wojtas

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Beschreibung

Die in der Zeit reisende Bibliothekarin Shona McMonagle findet sich im Frankreich des Fin-de-Siècle wieder. Diesmal verschlägt es sie in das abgelegene Bergdorf San-Soleil, das so tief in einem Tal liegt, dass dort nie die Sonne scheint. Seit einiger Zeit verschwinden hier Menschen in den dunklen Wäldern. Treibt ein Mörder sein Unwesen in dieser Region? Shona beginnt zu ermitteln und dabei stellen sich ihr weitere Fragen: Welches Geheimnis verbirgt der Bürgermeister? Leidet der auf einer abgelegenen Burg lebende Lord wirklich an Zahnschmerzen? Und was hat es mit dem obskuren Käsehandel auf sich? Kann sie rechtzeitig die Wahrheit aufdecken und das Dorf vor seinem düsteren Schicksal bewahren?

Gönnen Sie sich ein Glas Rotwein und ein leckeres Stück Käse und begleiten Sie die resolute schottische Bibliothekarin bei einem weiteren amüsanten und skurrilen Abenteuer! Von der Autorin der beliebten Krimi-Serie »Bunburry - Ein Idyll zum Sterben«.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Die in der Zeit reisende Bibliothekarin Shona McMonagle findet sich im Frankreich des Fin-de-Siècle wieder. Diesmal verschlägt es sie in das abgelegene Bergdorf San-Soleil, das so tief in einem Tal liegt, dass dort nie die Sonne scheint. Seit einiger Zeit verschwinden hier Menschen in den dunklen Wäldern. Treibt ein Mörder sein Unwesen in dieser Region? Shona beginnt zu ermitteln und dabei stellen sich ihr weitere Fragen: Welches Geheimnis verbirgt der Bürgermeister? Leidet der auf einer abgelegenen Burg lebende Lord wirklich an Zahnschmerzen? Und was hat es mit dem obskuren Käsehandel auf sich? Kann sie rechtzeitig die Wahrheit aufdecken und das Dorf vor seinem düsteren Schicksal bewahren?

DAS GEHEIMNISVON SANS-SOLEIL

Aus dem Englischem von Sabine Schilasky

 

Für Lesley

Kapitel Eins

Ich war im Dunkeln, im buchstäblichen und im übertragenen Sinne. Was würde passieren, wenn ich mich rührte? Ich könnte in mein Verderben stürzen oder in etwas Ekliges treten. Ein Risiko, das es nicht wert war, eingegangen zu werden. Stocksteif stand ich da, was sich als recht schwierig erwies, da ich immer noch an den abscheulichen Bauchschmerzen litt, die ein Nebeneffekt von Zeitreisen waren.

Um mich herum war es pechschwarz, und kein Lüftchen regte sich. Ich musste in etwas drinnen sein. Aber wo drinnen? Im Bauch eines Wals? In einer unterirdischen äthiopischen Kirche? Einer Salzgrube?

In der Ferne konnte ich ein schwaches, metallisches Geräusch ausmachen, wie ein Scheppern schwerer Ketten, und Schlüssel, die sich in Vorhängeschlössern drehten. Unwillkürlich wandte ich mich in die Richtung dieser Geräusche – ein schwerer Fehler. Mit der Wade stieß ich gegen etwas und kippte nach hinten.

Ich fiel in irgendein Behältnis. Es fühlte sich sehr eng an. Zu eng. Ich steckte fest. Meine Arme waren seitlich eingeklemmt, aber zumindest konnte ich die Hände bewegen. Vorsichtig begann ich, meine Umgebung abzutasten.

Ich war von Holz eingeschlossen. Die Seiten waren an die fünfzig Zentimeter hoch, und es fühlte sich an, als wären Erdbrocken und Kieselsteine um mich herum. Mit einiger Mühe und vielen Atemübungen konnte ich die nach oben hieven und aus dem Behältnis herausschieben.

Mein Bauch schmerzte noch immer, und mein Kopf dröhnte, als wäre ein strammes Band um meine Stirn gebunden. Ich bewegte die Hand nach oben, um mir den Kopf zu massieren, und stellte fest, dass tatsächlich ein strammes Band um meine Stirn gebunden war. Ich trug eine Grubenlampe. Die hatte ich einen Moment zuvor – in der Bücherei von Morningside – eindeutig nicht auf dem Kopf gehabt.

Es war ein Kampf, meine Schultern freizubekommen, die Ellbogen auf die hölzernen Seiten von dem Ding aufzustützen, in dem ich mich befand, und mich halb aufzurichten. Dann schaltete ich die Stirnlampe ein und kippte beinahe wieder rückwärts in den Behälter: Licht explodierte förmlich um mich herum, und ich sah mich hundert-, tausendfach gespiegelt – bis in die Unendlichkeit und darüber hinaus.

Ich befand mich in einem Spiegelsaal. Nein, es war der Spiegelsaal. Der im Schloss von Versailles. Blinzelnd erkannte ich die siebzehn Bögen wieder, die jeweils einundzwanzig Spiegel enthielten, getrennt von Marmorsäulen und herrlich vergoldet.

Doch etwas stimmte nicht. Die endlosen Spiegelungen bedeuteten, dass die Spiegel gespiegelt wurden, nicht einer Fensterfront gegenüber waren. Und entweder war der Spiegelsaal geschrumpft, oder ich war gewachsen. Ich hatte Alice im Wunderland stets um ihren »Iss mich«-Kuchen beneidet, der sie größer machte. Er wäre genau das Richtige gewesen, um die Jungen von der Heriot einzuschüchtern. Doch ich hatte keinen Kuchen gegessen; nicht einmal einen Bourbon-Biscuit.

Ich legte meine Hände auf die rauen Kanten des Holzbehälters und hievte mich nach draußen, wobei meine Augen immer noch Mühe hatten, sich auf das grelle, gespiegelte Licht der Stirnlampe einzustellen. Doch nun konnte ich sehen, dass ich definitiv nicht in Versailles war. Ich war in einem großen, fensterlosen Raum, wo sich an den beiden Längswänden Kopien der Spiegel aus dem berühmten Palast befanden. Von der Decke hingen Kronleuchter mit unbenutzten Bienenwachskerzen. Am Kopfende des Raums stand eine hölzerne Bühne, an der stapelweise Klappstühle lehnten. Die Wand hinter der Bühne war enttäuschend kahl, ohne eine Spur von Gold oder Glas. Der einzige Schmuck bestand aus einem großen Schild mit einer Reihe von schwarzen, auf dem Kopf stehenden Abbildungen des Großbuchstabens V auf grauem Untergrund.

Neben den Stufen zur Bühne befand sich ein Klavier. Ich ging hinüber, um es mir näher anzuschauen, und stellte fest, dass es von der berühmten französischen Firma Érard stammte – nicht erstklassig, aber recht gut. Ich hätte gerne sofort einige Noten gespielt, hielt mich jedoch zurück. Schließlich war ich nicht zum Vergnügen hier, und nach dem erfolgreichen Abschluss meiner Mission würde sicherlich noch genug Zeit für das Schullied bleiben.

Es mochte noch unklar sein, um was für eine Mission es sich handelte, aber Erfolg musste sie haben. Meine letzte Begegnung mit Marcia Blaine, der namengebenden Gründerin meiner Alma Mater, der Marcia-Blaine-Mädchenschule, war extrem unangenehm gewesen, und ich würde den Auftrag hier erfolgreich durchführen müssen, sowohl um der Ehre meiner Schule als auch um der Wiederherstellung meiner eigenen Glaubwürdigkeit willen.

Der Anblick des Spiegelsaals ließ mich das Behältnis vergessen, dem ich kürzlich entstiegen war. Als ich nun zum anderen Ende des Saals schlenderte – noch eine trostlose, karge Wand, wo es außer einer großen Holztür nichts zu sehen gab –, konnte ich es mir genau anschauen. Ich war in einem Sarg gewesen. Einem Sarg, in dem ein Zettel lag. Ich nahm das Stück Papier heraus und las die wenigen französischen Worte darauf: »Souviens-toi, tu dois mourir.«

Die englische Übersetzung in meinem Kopf klang schmissiger: »Vergiss nicht, dass du sterben musst.«

Ich fragte mich, ob diese Nachricht eine Tautologie war. Schließlich erinnerte nichts so sehr an die eigene Sterblichkeit wie ein Sarg. Ich tastete den restlichen Boden ab, doch sonst waren dort keine Hinweise, abgesehen von kleinen Erdbrocken. Ich beschloss, weiter nachzuforschen, leckte meinen Finger an, drückte ihn auf die Erde und leckte erneut daran. Sie schmeckte recht schottisch – wie der mineralische Gley, den man überall im Land fand. Was mich überraschte, da die Nachricht, die Machart des Klaviers und erst recht der Spiegelsaal sehr frankofon anmuteten. Andererseits ist das Französische in Schottland nicht direkt unbekannt, seitdem wir 1295 unsere Kräfte gegen den skrupellosen Expansionsdrang der Engländer vereinten.

Vielleicht würde ich einen Hinweis darauf erhalten, wo und in welchem Jahr ich gelandet war, wenn ich mir genauer anschaute, was für eine Kleidung ich trug.

Ich trat vor einen der Spiegel. Aufgrund des grellen Stirnlichts und seiner Spiegelungen war es mir nicht möglich, meinen Kopf zu sehen. Doch ich konnte erkennen, dass ich ein rotbraunes Kostüm trug: eine enge, in der Taille eingenommene Jacke, eine hochgeschlossene weiße Rüschenbluse und ein langer Tulpenrock, dessen Saum meine Knöchel umspielte. Ich streckte einen Fuß vor und war froh, meine verlässlichen Doc Martens zu sehen. Man wusste nie, was einen auf einer Mission erwartete, folglich war festes, bequemes Schuhwerk unverzichtbar.

Wieder erregte ein Geräusch in der Ferne meine Aufmerksamkeit; es klang wie Wolfsgeheul. Ich schloss die Augen und lauschte. Jetzt waren leise Stimmen zu hören, so als hätte jemand irgendwo ein Radio eingeschaltet gelassen, in dem ein Hörspiel lief. Das Heulen und Scheppern mussten Klangeffekte gewesen sein. Die Stimmen waren jedoch zu undeutlich, um den Dialog zu verstehen oder wenigstens zu erkennen, um was für eine Sprache es sich handelte. Inzwischen hatte ich Kopf- und Bauchschmerzen nebst einem leichten Kribbeln in den Extremitäten. Ein flotter Fußmarsch wird mir guttun, dachte ich.

Als ich mich umdrehte, stolperte ich beinahe über etwas. Die endlosen Spiegelungen von meiner Stirnlampe waren derart verwirrend, dass ich nicht gesehen hatte, was neben dem offenen Sarg auf dem Boden lag. Es war ein kleiner Koffer mit Holzrahmen, Lederbespannung und Messingkappen an den Ecken. Er war neu, und seine Form legte nahe, dass er aus dem späten neunzehnten Jahrhundert stammte, als Koffer erstmals in Mode kamen und die sperrigen Reisetruhen abzulösen begannen. Mit Schablonen war ein Name auf den Koffer gemalt worden: »S. A. McMonagle.« Ich war mir ziemlich sicher, dass es mein Koffer war, denn schließlich hieß ich Shona Aurora McMonagle, und Miss Blaine hatte mir bei früherer Gelegenheit versichert, mich mit allem Nötigen für eine Mission auszustatten.

Ich hob den Koffer an. Er war schwer, aber mein Gewichtstraining kam mir hier zugute. In den Dreißigern begann ein Mensch, Muskelmasse zu verlieren, und zwar bis zu fünf Prozent in zehn Jahren, falls man nicht regelmäßig Krafttraining machte.

Ich ging mit dem Koffer in der Hand durch den Spiegelsaal auf die Flügeltüren zu. Dort hing ein Schloss, das dem Aussehen nach nur schwer zu knacken war, doch die Türen waren lediglich mit einem Riegel verschlossen worden. Ich öffnete sie und trat hinaus in die frische Luft. Hohe Berge ragten überall um mich herum auf – eine zerklüftete, bedrückende Welt aus Felsen. Es musste Morgen- oder Abenddämmerung sein; die Sonne war eben untergegangen oder stand kurz davor, aufzugehen. Ich konnte nicht erkennen, was von beidem der Fall war, denn die Berge versperrten den Blick auf die Sonne, wo immer sie sein mochte. Dies war auf keinen Fall Schottland – die schroffen Gipfel hier waren deutlich höher als der Ben Nevis.

Ich schaltete die Stirnlampe aus und studierte meine unmittelbare Umgebung. Einen Hang hinunter war ein Bergdorf, prekär in einem hohen Gebirgstal gelegen. Zwischen den Chalets, deren Erdgeschosse aus Stein, die Stockwerke darüber aus Holz erbaut und deren Mauern weiß verputzt waren, verliefen enge, Gassen mit Kopfsteinpflaster. Bei den unteren Geschossen handelte es sich offenbar um Lagerräume, denn Holztreppen führten zu Türen im ersten Stock. Von meiner Warte aus sah ich, dass sich große Gärten, praktisch Viehweiden, hinter den meisten Chalets befanden.

Ich blickte mich zu dem Gebäude um, das ich gerade verlassen hatte. Es war nur eingeschossig, ganz aus Holz, aber größer und imposanter als alles andere rundherum. Tatsächlich wirkte es jetzt von draußen sogar größer als von drinnen: eine Art umgekehrte Tardis. Außer dem Saal gab es anscheinend keine anderen Räume drinnen, denn bis auf die Flügeltüren waren keine anderen Eingänge und auch keine Fenster zu sehen. Sollten auf der Rückseite irgendwelche Zugänge sein, wäre dies nicht sehr praktisch, denn der Bau grenzte direkt an einen regelrecht undurchdringlich wirkenden Mischwald – oder ragte fast in ihn hinein.

Eine Trikolore, eine Fahne in Blau, Weiß und Rot, flatterte auf dem steilen Dach, und über den Doppeltüren war ein geschnitztes Schild mit der Aufschrift »Mairie de Sans-Soleil«. Das »Rathaus von Ohne-Sonne«. Ein sehr unvorteilhafter Name für ein Dorf. Aber vielleicht war das nur mein persönliches Vorurteil – hielt ich mir doch viel auf mein sonniges Gemüt zugute, das mich immer geneigt machte, die Sonnenseite des Lebens zu sehen. Und besonders erfreute mich an der Aufschrift die Bestätigung, dass ich in Frankreich war: Schließlich wusste ich, dass die Einheimischen eine Bürgerin aus der anderen »Hälfte« des sogenannten Alten Bündnisses – der im Mittelalter geschlossenen Allianz zwischen Frankreich und Schottland – herzlich aufnehmen würden. Obendrein beherrschte ich ein recht elegantes Französisch.

Schmale Steinstufen führten den Hang hinunter ins Dorf. Während ich sie hinabging und durch das Labyrinth von engen Gassen schlenderte, wurde der starke Kiefernduft vom Wald hier und da durch eine Note von etwas recht Unangenehmem verdrängt. Dem Geruch nach Verwesung. Dabei waren die Chalets, an denen ich vorbeikam, sauber und gepflegt.

Nach einer Weile fand ich mich auf dem Dorfplatz wieder. In der Mitte befand sich ein Steinsockel, auf dem die Statue eines Mönchs stand, der die Hände gen Himmel hob: In der einen Hand hielt er eine Flasche, in der anderen etwas, das sehr nach einem Käselaib aussah. Es musste sich um eine Darstellung des Schutzheiligen dieses Dorfs handeln.

Auf einem Wegschild, das eine Gasse hinunterzeigte und in entgegengesetzter Richtung zum Rathaus wies, war zu lesen: »Paris 562km.« Alle Gebäude um den Platz herum schienen Wohnhäuser zu sein, mit Ausnahme eines kleineren, das schäbiger als die anderen war. Dort stieg Rauch aus dem Schornstein, und draußen hing eine verfallene Tafel: »Chez Maman«.

Da ich nicht wusste, in welchem Teil Frankreichs ich war, ließ sich nicht sagen, ob ich von einem Café oder einem Estaminet sprechen sollte. Am besten war es wohl, die schottische Bezeichnung zu benutzen: Howff. Die Tür stand offen, und als ich eintrat, stellte ich fest, dass man hier auf diese Weise den stinkenden Qualm im Innern abziehen ließ: Die Fenster waren von Schmutz bedeckt und sahen aus, als wären sie seit Jahrzehnten nicht geöffnet worden.

Anscheinend sollte ich meine ersten Stunden in Sans-Soleil damit verbringen, meine Augen an sehr unterschiedliche Lichtverhältnisse anzupassen. Dieses Howff war winzig, verfügte nur über wenige runde Tische und einige alte Holzstühle. Beunruhigender indes fand ich die Klientel. Es handelte sich um eine Männergruppe, alle in dunklen Dreiteilern, die hinreichend respektabel wirkten; jedoch sahen ihre blassen Gesichter in dem kärglichen Licht finster aus. Ein Mann war von vier anderen umringt, und ich spürte, dass er, wie man es in Glasgow so pittoresk ausdrückt, »Bimse« bekommen sollte.

Meiner Meinung nach war Gewalt nie die Lösung. Schwierige Situationen ließen sich auch anders regeln. Ein gutes Beispiel hierfür fand man in Morningside. Dort rissen sich die Menschen recht schnell am Riemen, wenn sie merkten, dass ihnen in der Schlange vorm Fischmann niemand zunickte.

Rasch wägte ich ab, welche meiner Kampfkunstfertigkeiten die beste wäre, um es mit vier potenziellen Angreifern auf engem Raum – und umgeben von Glasflaschen – aufzunehmen. Doch plötzlich befreite sich der Mann im Zentrum der Gruppe vom Zugriff der anderen und trat mit ausgestreckter Hand vor, um mich zu begrüßen. Er war jung, vermutlich Ende dreißig, hatte das Aussehen eines Kleinganoven und war merklich von sich eingenommen. Dennoch musste ich zugeben, dass er einen gewissen verruchten Charme besaß.

»Besuch in unserem kleinen Dorf! Lassen Sie mich Sie willkommen heißen. Ich bin der Bürgermeister von Sans-Soleil.« Er schüttelte herzlich meine Hand, postierte sich zwischen mir und der Tür und wies zu den anderen. »Darf ich Ihnen unsere vornehmsten Bürger vorstellen? Unser Richter und Lehrer und Polizist und Bestatter und Käsehändler.«

Alles in einem Atemzug – und ohne ein Komma in Sicht. Ich spähte in der Dunkelheit zu der mürrischen Gruppe hin. »Verzeihung«, sagte ich in perfektem Französisch, »ich kann nur vier Herren sehen, keine fünf.«

»Ganz richtig«, bestätigte der Bürgermeister. Abermals zeigte er auf sie. »Unser Richter. Unser Lehrer. Unser Polizist. Unser Bestatter und Käsehändler.«

Der Wechsel von der Kommalosigkeit zu Punkten klärte es. Der Bürgermeister hatte nicht gesagt, welcher wer war, doch obwohl keiner von ihnen etwas trug, das auf sein Amt hinwies, war es offensichtlich. Ich schüttelte einem distinguierten Herrn mittleren Alters mit langem Bart die Hand. »Euer Ehren.«

Dann ging ich auf den großen, ernst dreinblickenden Mann mit dem Backenbart zu. »Professor.«

Den jungen, muskulösen und schnauzbärtigen Mann mit dem stechenden Blick begrüßte ich mit »Gendarm«.

Und schließlich trat ich auf den pausbäckigen, rotgesichtigen jungen Mann zu, der eindeutig mehr Käsehändler als Bestatter war. »Sir.«

Sie sahen mich alle verwirrt an.

»Ich bin der Richter«, stellte der pausbäckige Rotgesichtige klar.

»Ich bin der Lehrer«, sagte der Muskulöse mit dem Schnauzbart und dem stechenden Blick.

»Ich bin der Polizist«, erklärte der große, ernste Mann mit dem buschigen Backenbart.

»Und ich bin der Bestatter und Käsehändler«, verkündete der distinguierte Mann mittleren Alters mit dem langen Bart.

Also musste ich alle noch einmal begrüßen: »Euer Ehren.« »Professor.« »Gendarm.« »Sir.«

»Und Sie sind?«, fragte der Bürgermeister.

Ich überlegte, ein Zitat aus Rita will es endlich wissen zu bringen, in dem Michael Caine zu Julie Walters sagt: »Und Sie sind?«, und sie erwidert: »Bin ich was?« Mir wurde jedoch klar, dass sie diesen Film wohl eher nicht gesehen hatten, also antwortete ich bloß: »Madame McMonagle.«

»Was für ein höchst seltsamer Name«, merkte der mittelalte, distinguierte Bestatter und Käsehändler an.

Das ärgerte mich. Wir McMonagles von der Ostküste waren sehr stolz auf die französische Herkunft unseres Namens: mon aigle – was so viel wie »mein Adler« bedeutete. Eine Name, der bis in die frühen Tage des Alten Bündnisses zurückreichte.

»Könnten Sie es wiederholen?«, bat der pausbäckige, rotgesichtige junge Richter.

Unser Name mochte französische Wurzeln haben, aber er war ans Schottische angepasst worden, und ich hatte nicht die Absicht, ihn wieder zu französisieren.

»Madame McMonagle«, antwortete ich erneut.

Er schüttelte den Kopf. Ich würde die korrekte Aussprache für sie aufschlüsseln müssen.

»Kennt sich jemand mit Kunst aus?«, fragte ich und sah den muskulösen, schnauzbärtigen Lehrer an. Er reagierte mit einem typischen französischen Schulterzucken, das ich stets ein klein wenig irritierend fand.

»Ich kenne mich ein bisschen aus«, antwortete der große Polizist mit dem Backenbart.

»Okay«, sagte ich, »wie nennt man ein kleines Modell von einer Skulptur?«

»Ist das nicht eine Maquette?«, fragte er.

»Ja, sehr gut. Und jetzt sprechen Sie das Wort ohne ›e‹ und ›t‹ aus.«

»Maque«, intonierte er prompt.

Bei meiner nächsten Frage ging ich ein kleines, aber kalkuliertes Risiko ein. Bei meiner vorherigen Mission war ich auf ein winziges Problem gestoßen, als ich mir nicht ganz sicher war, welches Datum wir hatten. Hier kannte ich es bislang auch nicht, wusste jedoch, dass die Person, an die ich dachte, lange vor der Erfindung des Reisekoffers geboren worden war.

»Nun ein impressionistischer Maler …«

»Renoir!«, rief der muskulöse, schnauzbärtige Lehrer.

Ich bedachte ihn mit einem Blick, den ich als Aufsichtsschülerin angewendet hatte, wenn sich die Neuntklässlerinnen aufspielten. »Ich bin noch nicht fertig«, sagte ich. »Ein impressionistischer Maler …«

»Cézanne!«, sagte der mittelalte, distinguierte Bestatter und Käsehändler.

»Nein, der ist postimpressionistisch. Würden Sie bitte alle warten, bis ich meine Frage beendet habe? Ich suche nach einem der Begründer der Impressionismusbewegung, der ein Faible für Heuhaufen hatte.«

Eine längere Weile trat Stille ein. Dann sagte der Bürgermeister zögerlich: »Monet?«

»Genau. Also, Maque-Monet. Und jetzt die letzte Frage: Wie heißt das Wort für das Gesicht eines Tiers?«

Da wir Französisch sprachen, fielen ihnen natürlich nicht als Erstes Wörter wie »Schnauze« oder »Maul« ein.

»Gueule«, kam im Chor.

»Setzen Sie jetzt alle Wörter zusammen! Und was haben Sie?«

»Maque. Monet. Gueule«, sagten alle.

»So heiße ich. Aber sprechen Sie meinen Namen nicht zu gedehnt oder abgehackt aus.«

»Aber, bitte, nehmen Sie doch Platz, Madame«, sagte der Bürgermeister, der sorgsam darauf bedacht war, meinen Namen nicht zu gedehnt oder zu abgehackt auszusprechen – und ihn deswegen erst gar nicht nannte. Allerdings sah ich ihm an, dass in seinem Kopf die Wörter »Madame Maque. Monet. Gueule« umhergingen.

»Vielleicht etwas zu trinken?«

»Das wäre reizend. Ein kleine Tasse Tee.«

Eine uralte Stimme rief krächzend aus der Ecke: »Tee? Für was für ein Etablissement halten Sie das hier?«

Ich blickte hinüber, und da sich meine Augen nun an das Dämmerlicht im Howff gewöhnt hatten, konnte ich hinten eine Theke sehen, hinter der eine verwitterte Alte saß, deren Kopf gerade noch über den hölzernen Tresen ragte. Ihr Gesicht hob sich von ihrer schwärzlichen Umgebung deutlich ab und wirkte daher sehr weiß. Sie hatte eine Pfeife geraucht, mit der sie jetzt in meine Richtung zeigte.

»Ihr Pariser mit euren überkandidelten Namen und eurer überkandidelten Art!«, fuhr sie fort, und vor Verachtung wurde ihr zerknittertes Gesicht noch zerknitterter.

Ich konnte nicht anders, als sie anzustrahlen, weil ich hocherfreut war, für eine Pariserin gehalten zu werden.

»Sie können Bier oder Rotwein oder Absinth oder Branntwein haben«, blaffte sie.

Auf einer Mission würde ich niemals trinken.

»Haben Sie nichts anderes?«, fragte ich, und ein spürbares Erschaudern ging durch die versammelten Herren.

»Nein«, grollte die Alte. »Nichts anderes.«

»Ach, jetzt kommen Sie schon«, sagte der Bürgermeister. »Es muss doch etwas anderes geben, das Sie unserer Besucherin anbieten können?«

Der Bestatter und Käsehändler machte einen Schritt auf ihn zu und unterdrückte dabei nur schlecht ein Knurren. Daraufhin wich der Bürgermeister zurück und hob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste.

»Ich meinte Kaffee«, sagte er. »Ohne Milch selbstverständlich.«

Was überhaupt nicht selbstverständlich war. Es war sogar impertinent von ihm, eigenmächtig zu entscheiden, wie ich meinen Kaffee trank.

»Tee ist alles, was ich möchte«, sagte ich bestimmt. »Ich bin mir sicher, dass es nicht zu viel Mühe macht, einen Kessel aufzusetzen. Vielleicht ein Croissant dazu, falls Sie eines haben. Und nur, damit Sie es wissen: Ich bin nicht aus Paris. Ich bin aus Schottland.«

»Woher?«, fragte der muskulöse, schnauzbärtige Lehrer, was mich an der Qualität seines Unterrichts zweifeln ließ.

»Schottland«, antwortete ich. »Ein Land, mit Ihnen verbunden seit …« (Ich rechnete blitzschnell im Kopf nach. Da sie von Monet wussten, mussten wir im späten neunzehnten Jahrhundert sein.) »Seit sechshundert Jahren.« Es war ein Jammer, dass ich nicht erwähnen konnte, wie General de Gaulle dieses Bündnis als die älteste Allianz der Welt beschrieben hatte, aber die Herren sahen bereits verwirrt genug aus. »Das Band zwischen unseren beiden Nationen ist tief und untrennbar. Sie müssen sich an Mary, die Königin der Schottin, erinnern, die auch Königsgemahlin von Frankreich war. Und natürlich an ihre Mutter, Marie de Guise, die mit unseren König James V. verheiratet war, bis er vor Kummer starb, nachdem Henry VIII. uns ungerechterweise in der Schlacht von Solway Moss geschlagen hatte. Jahre später wurde Marie zur königlichen Regentin von Schottland.«

Sie wechselten verwunderte Blicke.

»Schottland«, erklärte ich beharrlich. »Die große Insel, von Ihnen aus direkt auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Die obere Hälfte davon – Schottland.«

Das Gesicht des jungen Richters erhellte sich, und er wandte sich den anderen zu. »Ah, sie ist Engländerin!«

Die Alte spie auf die Bodendielen und zerknitterte ihr blasses Gesicht noch mehr vor lauter Verachtung. »Ausländerin!«

Für einen Moment war ich so entsetzt, dass ich nicht zu sprechen vermochte. Schließlich schaffte ich es, keuchend zu entgegnen: »Ich bin keine Engländerin! Ich bin Ihre Verbündete!«

»Aber«, sagte der mittelalte, distinguierte Bestatter und Käsehändler, »Sie sagten, dass Sie von der Insel auf der anderen Seite des Ärmelkanals sind. Das ist England.«

»Das ist Großbritannien«, korrigierte ich ihn. »Bestehend aus Schottland, Wales und England. Das Königreich Großbritannien entstand 1707 durch das Vereinigungsgesetz, das vom schottischen und vom englischen Parlament verabschiedet wurde. Allerdings gab es die Wiedereinberufung unseres schottischen Parlaments im Jahre …«

Ich verstummte, damit sie mich nicht für eine Irre hielten. Aber sie schauten mich sowieso schon an, als wäre ich eine, und ich sah den großen, backenbärtigen Polizisten mit lautlosen Lippenbewegungen »Engländerin!« zu den anderen sagen, sodass ich die Sache vorerst auf sich beruhen ließ. Man sollte klug wählen, welche Kämpfe man ausfechten wollte, und manchmal lohnten sie sich schlichtweg nicht.

Der junge schnauzbärtige Lehrer fixierte mich mit seinem stechenden Blick. »Warum sind Sie hier? Sind Sie von der Regierung?«

Er kam auf eine fast bedrohliche Weise näher auf mich zu. Ich machte mich bereit für einen Taekwondo-Drehkick, als ihn der pausbäckige Richter am Ärmel packte.

»Wie kann sie von der Regierung sein?«, gab der Richter zu bedenken. »Sie ist eine Frau.«

»Sie hat nicht gerade eine ausgeprägte weibliche Figur«, meinte der Lehrer. »Sie könnte ein Mann sein, der sich für eine Frau ausgibt.«

Ich war wirklich unentschlossen, was ich mir zuerst vornehmen sollte, den Sexismus oder die ignorante Einstellung in Sachen Geschlechterdiversität. Doch bevor ich sie zurechtweisen konnte, fragte der mittelalte distinguierte Bestatter und Käsehändler: »Sind Sie hier, um den englischen Mylord zu besuchen?«

Nach wie vor wusste ich nicht recht, worum es bei meiner Mission ging, war mir jedoch recht sicher, dass sie nicht darin bestand, einen englischen Mylord zu besuchen. Sollte er irgendwelche Probleme haben, konnte die ein ehemaliger englischer Schüler regeln, statt die Ressourcen von Marcia Blaine zu missbrauchen.

Ich schaute mich nach etwas um, das mir einen Einfall geben könnte; und mein Blick fiel auf eine Zeitung auf einem benachbarten Tisch, die aussah, als hätte Mylords Butler sie gerade frisch für ihn gebügelt. Das musste die Ausgabe von heute sein. Mein Sehvermögen war hervorragend, weshalb ich das Datum erkennen konnte: neunter Juli neunzehnhundert. Fünf Tage vor dem französischen Nationalfeiertag. So schnell, wie wir Blaine-Mädchen nun einmal bekannterweise denken können, sagte ich: »Ich bin zu den Feiern am vierzehnten hier.«

Wieder glotzten sie. »Sie wissen von den Feiern?«, fragte der pausbäckige junge Richter.

Sie hielten mich schon wieder irrtümlicherweise für eine Engländerin – für die Angehörige eines Inselvolks, das sehr wenig über andere Kulturen wusste. Wohingegen die Schotten Kosmopoliten und Internationalisten waren, was allein schon die Millionen Menschen schottischer Abstammung überall auf der Welt bewiesen.

»Natürlich«, antwortete ich. »Ich bin von ziemlich weit her eigens hergereist.«

Der junge, muskulöse Lehrer runzelte die Stirn. »Ich habe nicht gehört, dass der Karren gebucht wurde. Wie sind Sie hergekommen?«

Das war schwierig zu beantworten. Ich nehme an, damit hatten kosmische Strings und transversable Wurmlöcher zu tun: Das dürfte die Wahrheit sein, wäre aber hier nicht hilfreich. Ich hielt es für weiser zu sagen: »Ich habe den Karren nicht gebucht, sondern etwas anderes arrangiert.«

Der attraktive, verrucht wirkende Bürgermeister rieb sich freudig die Hände. »Selbstverständlich! Es ist wenig verwunderlich, dass ausländische Besucher andere Arrangements treffen, um an unseren Feierlichkeiten teilzunehmen. Was beweist, wie erfolgreich meine Werbung für unser geliebtes Sans-Soleil gewesen ist. Stimmen Sie mir zu, meine Herren?«

Der Richter, der Lehrer, der Polizist und der Bestatter und Käsehändler murmelten vor sich hin. Da war eine unterschwellige Spannung, die ich bisher nicht verstand. Sollte sie für meine Mission relevant sein, würde ich ihr auf den Grund gehen. Falls nicht, sollten sie es untereinander regeln.

Plötzlich bemerkte ich, dass sie alle still geworden waren. So still sogar, dass sie kaum atmeten. Alle fünf, der Bürgermeister eingeschlossen, blickten mit weit aufgerissenen Augen zur Tür.

Schließlich seufzte der muskulöse, schnauzbärtige Lehrer: »Madeleine!«

Kapitel Zwei

Ich drehte mich um und erblickte die Umrisse einer Frau vor dem dämmrigen Hintergrund draußen.

Der Lehrer würde vermutlich keine politisch inkorrekte Kritik an ihrer Sanduhr-Figur üben, die man als üppig mit eingeschnürter Wespentaille beschreiben könnte. Sie trug ein dünnes Baumwollkleid, das ihr bis knapp unter die Waden reichte, und das Licht von hinten verwandelte sie in ein Bild von Prinzessin Diana, die ihre spektakulär langen Beine zeigte. Das Kleid hatte einen V-Ausschnitt, und das goldene Kreuz, das sie am Hals trug, lenkte die Aufmerksamkeit auf ihr eindrucksvolles Dekolleté. Sie trug ein Kopftuch; allerdings hatte sie es sich so umgebunden, dass einige verirrte Locken nach unten fielen und ihre feinen Gesichtszüge betonten. Offensichtlich war ihr das eigene Aussehen sehr wichtig. Mit anderen Worten: Sie war eine Frau, bei der es mir schwerfiel, sie auf den ersten Blick zu mögen.

Sie wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit drinnen gewöhnt hatten, dann marschierte sie direkt auf den großen, backenbärtigen Polizisten zu.

»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte sie. Jetzt, da sie drinnen war, konnte ich sehen, dass sie, verglichen mit den anderen, blassen Anwesenden im Howff, sehr sonnengebräunt wirkte.

Der Polizist trat einen Schritt zurück. »Neu… Neuigkeiten?«, stammelte er. »Was für eine Art von Neuigkeiten?«

Sie sah aus, als wollte sie ihn schlagen, weshalb er noch einen Schritt zurückwich und dabei gegen einen Tisch stieß, der daraufhin polternd umkippte. Ich fing an, ein wenig besser von ihr zu denken.

»Sie wissen, was für Neuigkeiten ich meine«, fuhr sie ihn an. »Neuigkeiten von meinem Mann, meinem geliebten Sylvain. Haben Sie ihn gefunden?«

Der mittelalte, distinguierte Bestatter und Käsehändler ging auf sie zu und umfing behutsam ihren Arm.

»Sie wissen, wo er ist«, sagte er in einem sanften Tonfall. »Er liegt tot und begraben auf dem Friedhof. Das wissen Sie, Madeleine. Sie waren bei der Beerdigung.«

Ungeduldig schüttelte sie seine Hände ab. »Oh, ja, ich war bei der Beerdigung. Aber mein Mann war es nicht, der dort begraben wurde, denn er ist nicht tot.«

»Ich versichere Ihnen, das ist er«, entgegnete der Bestatter und Käsehändler. »Sie wissen, warum wir Ihnen nicht erlauben konnten, seinen Leichnam zu sehen. Es wäre zu furchtbar für Sie gewesen. Aber er ist in seinem Grab.«

»Er ist nicht tot«, widersprach Madeleine entschieden. »Ihr Narren! Erzählt mir nichts von Leichen und Gräbern. Wäre er tot, würde ich es hier fühlen.« Sie presste die Hände so fest auf ihren Busen, dass sie ihn ziemlich weit anhob. Daraufhin gab es ein kollektives Seufzen von den Herren.

Als Nächstes zeigte sie mit dem Finger auf den Bürgermeister. »Sie als Staatsbediensteter und Vorgesetzter der hiesigen Gendarmerie sollten herausfinden, was geschehen ist. Aber wir alle wissen, dass Sie so besessen sind von den Feiern, dass Sie an nichts anderes denken können.« Sie wandte sich abermals an den Polizisten, der sich hinter dem Richter zu verstecken versuchte. »Also ist es an Ihnen – als Gesetzesmann und vorübergehender Ersatz für meinen Ehemann, der nicht tot ist –, ihn zu finden. Sicher werden diese anderen Herren Ihnen mit Freuden helfen.«

Alle senkten den Blick und scharrten ein wenig mit den Füßen. Ich war beinahe beeindruckt, und erneute dachte ich ein wenig besser von ihr. Als ich in dieses Gebäude hineingekommen war, hatte die Vierergang eindeutig den Bürgermeister eingeschüchtert, wenn nicht gar vorgehabt, ihm ernsten Schaden zuzufügen. Und jetzt wurden sie alle in die Schranken gewiesen von einer Person, die aus meiner Warte als Frau in den Fünfzigern noch ein kleines Mädchen war.

Der Bürgermeister trat vor. »Madeleine, Sie sind noch mitten im Trauerprozess. Es ist eine schwierige Zeit; das verstehen wir alle. Sie brauchen eine Beschäftigung. Und ich habe genau die richtige. Madame Maque-Monet-Gueule.«

»Was?«, fragte sie gereizt. »Maque-Monet-Gueule? Was soll das für ein Name sein?«

»Meiner«, antwortete ich. »Sprechen Sie ihn nicht zu gedehnt oder zu abgehackt aus.«

Sie drehte sich um und starrte mich an. Es war ein ausgesprochen unfreundlicher Blick, sogar noch schlimmer als der stechende des Lehrers. Ich hörte auf, beinahe beeindruckt von ihr zu sein und ein kleines bisschen besser von ihr zu denken.

»Madame Maque ist eine distinguierte englische Besucherin, die hier ist, um an unseren Feierlichkeiten teilzunehmen«, sagte der Bürgermeister.

»Nein, bin ich nicht«, widersprach ich. »Das heißt, ja, ich bin hier, um an Ihren Feierlichkeiten teilzunehmen, aber ich bin keine Engländerin.« Dann fiel mir ein, dass es klang, als hätte ich akzeptiert, distinguiert zu sein, was zu behaupten mir eigentlich nicht zukam.

Während ich noch überlegte, ob ich dem ebenfalls widersprechen sollte oder nicht, fuhr der Bürgermeister fort: »Wir haben gedacht, sie ist hier, um den englischen Mylord zu besuchen, aber das ist nicht der Fall. Und da sie eine Unterkunft braucht, bietet sich förmlich an, dass Sie sie aufnehmen.«

»Nein«, sagte ich im selben Moment, in dem Madeleine »Nein« sagte.

Zumindest in einem Punkt waren wir uns einig. Nein, in zweien. Wir wollten nicht unter einem Dach sein, und wir konnten einander überhaupt nicht leiden.

»Ich nehme einfach ein Zimmer in einer Pension«, verkündete ich.

»Aber es gibt keine Pension in Sans-Soleil«, entgegnete der Bürgermeister. »Es kommt nie jemand her. Mit Ausnahme von Ihnen und dem englischen Mylord.«

»Ich bin hergekommen«, sagte Madeleine. »Ich kam her, um mit meinem geliebten Sylvain zusammen zu sein.«

»Ja, das sind Sie«, bestätigte der Bürgermeister gelassen. »Und jetzt ist er tragischerweise tot, und Sie geistern ganz allein in Ihrem Chalet umher. Sie brauchen nette Gesellschaft, so wie die englische Lady hier.«

»Ich bin keine …«, begann ich, doch Madeleine sprach bereits eine Erwiderung.

»Die einzige Gesellschaft, die ich wünsche, ist mein Lebensgefährte, mein geliebter Sylvain. Kümmern Sie sich darum.« Und mit diesen Worten stürmte sie zur Tür hinaus und verschwand.

»Frisch verwitwet«, erklärte mir der Bürgermeister. »Sie werden nachsichtig sein müssen. Aber sie wird es genießen, Sie bei sich zu haben.«

Die vier anderen Herren bewegten sich langsam und recht bedrohlich wirkend auf ihn zu.

»Meine Herren! Was wird unsere englische Besucherin von Ihnen denken, Sie hier im Chez Maman zu sehen, wenn Sie bei der Arbeit sein sollten?«, fragte der Bürgermeister.

Sie alle waren auf der Stelle stehen geblieben und drehten sich nun zu der Alten hinter dem Tresen um. Murrend stand sie auf, die Pfeife noch zwischen den Zähnen eingeklemmt, und schlurfte zur hinteren Wand. Dort nahm sie von einer ganzen Reihe von Kleiderhaken eine lange schwarze Robe, einen weißen Spitzenkragen und einen zylindrischen schwarzen Hut, die sie alle dem Richter gab. Dann holte sie einen Flügelkragen und eine Krawatte für den Lehrer, ein dunkelblaues Cape und ein Käppi für den Polizisten sowie eine lange weiße Schürze voller Blutflecken für den Bestatter und Käsehändler. Ich hatte nicht gewusst, dass Bestatter auch Autopsien vornahmen, aber in einem kleinen Dorf musste man wohl auch berufsfremde Tätigkeiten übernehmen, die notwendig waren.

»Sans-Soleil ist bereit für einen neuen Tag«, sagte der Bürgermeister, der eine weiße Schärpe aus seiner Tasche zog und sie sich quer über der Brust drapierte. »Auf unsere Posten, meine Herren.«

»Ich frage mich, ob Sie im Rathaus etwas Interessantes erwartet«, höhnte der junge, schnauzbärtige Lehrer, zückte eine filterlose Zigarette aus seiner Tasche und zündete sie an.

»Warten Sie den Tag unserer Feiern ab, da wird es etwas von Interesse für das ganze Dorf geben«, entgegnete der Bürgermeister selbstzufrieden. »Einstweilen werde ich unsere geschätzte Besucherin zu ihrem neuen Zuhause eskortieren.«

Er griff nach meinem Koffer und hatte ihn kaum angehoben, als er ihn auch schon keuchend wieder fallen ließ.

»Lassen Sie mich den nehmen«, sagte ich und nahm den Koffer auf. Der Trick bestand darin, die großen Rücken- und die Bauchmuskeln einzusetzen. Und natürlich brauchte es regelmäßiges Krafttraining.

Ich hielt mir vor Augen, dass es gut war, zu allen höflich zu sein; denn bisher hatte ich ja keine Ahnung, wer die Guten und wer die Bösen waren.

»Meine Herren«, sagte ich und nickte der Vierergruppe zu, die inzwischen ihre Berufskleidung angelegt hatte. »Madame Maman.« Die Alte, die wieder hinter dem Tresen stand, brummte etwas und blies Rauch in meine Richtung. Ich war mir nicht sicher, ob es Höflichkeit oder Verachtung signalisieren sollte, allerdings fiel mir nun ein, dass ich den von mir gewünschten Tee nicht bekommen hatte.

Der Bürgermeister und ich traten hinaus auf die Straße. Er sprach davon, dass sie jetzt mit der Arbeit beginnen würden, was nahelegte, dass es Morgen und nicht Abend war. Ich dachte an das erste Tageslicht, das ich gesehen hatte, als ich durch die Flügeltüren des Rathauses gegangen war. Es war so matt gewesen, dass ich glaubte, es müsste Abend- oder Morgendämmerung sein. Ein Julimorgen sollte hell und sonnig sein, doch das Licht war jetzt genauso trübe wie vorhin.

»Sehen Sie hier nie die Sonne?«, fragte ich scherzhaft.

Er sah mich seltsam an. »Natürlich nicht. Deshalb heißt das Dorf Sans-Soleil.«

Ich schaute mich um. Zuvor schon hatte ich mir die dunklen, bewaldeten Berghänge angesehen. Jetzt, da ich genauer hinblickte, entging mir nicht, dass der Himmel über den schroffen Gipfeln leuchtend blau war. Dort oben musste die Sonne scheinen, aber die spezielle Topografie der Berge um das Hochtal herum hatte zur Folge, dass das Dorf tagsüber stets im Schatten lag. Kein Wunder, dass die Leute hier ein bisschen finster und missgelaunt waren.

»Das erklärt die Gestaltung Ihres Dorfwappens«, sagte ich. »Diese schwarzen, auf dem Kopf stehenden Darstellungen des Großbuchstabens V auf grauem Grund. Eine sehr klare künstlerische Darstellung.«

Er blieb stehen. »Sind Sie im Rathaus gewesen? Aber das Rathaus ist fernab von der Straße ins Dorf.«

Ich hielt gleichfalls an. Dass ich mittels einer Zeitreise dort angekommen war, konnte ich schlecht sagen. Und auch wenn die Rathaustüren nicht verschlossen gewesen waren, hätte ich vielleicht nicht dort sein dürfen. Dass ein Sarg in dem Saal lag, war recht eigenartig, und eventuell wollte der Bürgermeister es geheim halten.

»Ich war in der Nähe des Rathauses«, erklärte ich. Es war immer weise, relativ nahe an der Wahrheit zu bleiben, zumal mich jemand gesehen haben könnte. »Ich kam über die Straße von Paris her und bin ein wenig herumgewandert, um mich zu orientieren, weil es solch ein schöner Tag ist. Nun ja, jedenfalls sind die Temperaturen milde.«

»Aber unser Dorfwappen«, sagte er. »Wie haben Sie das gesehen? Es ist doch drinnen im Rathaus.«

»Ihr Dorfwappen ist berühmt, haben Sie das nicht gewusst?«, erwiderte ich. »Ich habe es …« – ich erschauderte leicht – »… bei der internationalen Ausstellung für Wissenschaft, Kunst und Industrie in Glasgow gesehen. Das war 1888.« Er konnte nicht wissen, dass niemand aus Edinburgh zu einer Ausstellung in Glasgow gehen würde. »Dort fand ein Wettbewerb um die schönsten Wappen der Welt statt, und Ihres hat den dritten Preis gewonnen. Haben Sie nie das Preisgeld erhalten? Ach, du liebe Güte, das ist typisch Glasgow. Wie dem auch sei, daher kenne ich Ihr kunstvoll gestaltetes Wappen. Ist das Original im Rathaus? Dann muss ich mal dort hineingehen und es mir anschauen.«

»Natürlich.« Die Aussicht schien ihn nicht zu schrecken. »Ich habe ein großes Konzert für unsere Feier organisiert, mit einer richtigen Sängerin, die den weiten Weg von Paris her kommt. Wenn das meine Stellung als Bürgermeister nicht festigt, weiß ich nicht, was es sonst könnte.«

»Nein, wahrlich«, stimmte ich ihm zu, obwohl ich dachte, dass die Einführung einer elektrischen Straßenbeleuchtung ihn sogar noch beliebter machen würde.

Als wir um eine Ecke schritten, konnte ich Madeleine am anderen Ende der Straße sehen. Sie ging weniger, als dass sie stolzierte, wobei sie ausgiebig die Hüften schwang. Da sie Holzschuhe trug, wäre dies eindrucksvoll gewesen, hätte ich nicht bereits beschlossen, mich nicht von ihr beeindrucken zu lassen.

Überall in der Straße standen blasse Männer an den Haustüren und blickten ihr lüstern hinterher, während bleichgesichtige Frauen ihnen ein paar hinter die Löffel gaben. Es war deprimierend heteronormativ.

»Sie ist jetzt frei und ungebunden als Witwe, nicht wahr?«, fragte ich und bemühte mich, neutral zu klingen.

»O nein«, antwortete der Bürgermeister. »Sie interessiert sich für niemanden außer ihrem Ehemann Sylvain. Trotz der Tatsache, dass er tot ist.«

Ich überlegte, dass Leugnen die erste Reaktion auf Trauer sein könnte. Offensichtlich brauchte sie Zeit, ihren Verlust zu akzeptieren.

Wir gingen weiter die Straße entlang, vorbei an einer engen Gasse, in der eine Frau einen klapprigen zweirädrigen Karren wusch. Ihre Statur verriet, dass sie bemerkenswert viel Krafttraining machte. Sie starrte mich an.

»Wer ist das?«, rief sie.

Der Bürgermeister wies auf mich wie auf ein Vorzeigeobjekt. »Dies ist Madame Maque, eine ausländische Besucherin, die eigens zu unseren Feierlichkeiten angereist ist. Sind das nicht wundervolle Neuigkeiten? Sans-Soleil ist nun eindeutig bekannt. Ehe wir es uns versehen, werden wir von Besuchern überlaufen werden!«

»Wie ist sie hergekommen?«, fragte die Karrenfrau.

Die Begeisterung des Bürgermeisters verpuffte. »Sie hat andere Arrangements getroffen«, murmelte er.

»Und wie können das wundervolle Neuigkeiten sein – von Besuchern überlaufen zu werden, die andere Arrangements treffen? Als wäre es nicht schon schlimm genug, wie Sie mir mein Geschäft ruinieren.« Sie schlug die Hand seitlich an den Karren. »Genauso gut könnte ich das Ding gleich zu Feuerholz zerhacken.«

»Unsinn«, entgegnete der Bürgermeister. »Ich werde Ihnen sehr bald mehr Arbeit vermitteln. Jetzt gerade habe ich die Dinge noch nicht vollständig unter Kontrolle.«

»Dann sorgen Sie dafür, dass Sie es bald wieder haben. Sie sind doch der Bürgermeister, oder etwa nicht?«

»Vorerst«, sagte er so leise, dass die Karrenfrau ihn nicht hörte.

»Und ich hoffe, es gibt kein Problem mit den Feiern«, fuhr sie fort. »Meine Tochter ist ganz aus dem Häuschen, weil sie im Chor ist. Seit Wochen redet sie über nichts anderes.«

Der Bürgermeister rang sich ein nervöses Lachen ab. »Ich habe doch gesagt, dass es die bisher schönsten Feierlichkeiten sein werden, nicht wahr? Deshalb ist Madame Maque hier. Wenn Sie uns entschuldigen wollen. Wir müssen weiter.«

Er drängte mich durch einige weitere Straßen, bis wir ein kleines Chalet erreichten, das heiterer wirkte als die anderen. Die Tür- und Fensterrahmen waren blau gestrichen, und auf den Fenstersimsen standen rote Geranien.

Der Bürgermeister führte mich die Treppe hinauf zum ersten Stock, öffnete die Tür und blieb an der Schwelle stehen.

»Nun denn, Madeleine …«, begann er und duckte sich schnell, weil ein Teller auf ihn zugeflogen kam. Wie es aussah, hatte die Witwe die Phase des Leugnens hinter sich gelassen und war in der von Wut angelangt. Instinktiv hob ich meinen Koffer hoch, um mich zu schützen, und der Teller zerschmetterte an ihm.

»Madeleine, wenn Sie so weitermachen, haben Sie bald kein Geschirr mehr«, sagte der Bürgermeister und trat über die Schwelle. »Und ohne Sylvains Salär wüsste ich nicht, wovon Sie neues kaufen wollten.«

Ihr Schulterzucken war durch und durch französisch. »Ich bezahle es von der Miete, die ich von meiner neuen Untermieterin bekomme.«

Der Bürgermeister strahlte. »Wusste ich doch, dass Sie zur Vernunft kommen. Gut, dann gehe ich jetzt zur Arbeit und lasse euch Mädchen einander besser kennenlernen.«

»Ich bin kein Mädchen«, rief ich ihm nach, als er die Treppe hinunterging. »Ich meine, ich bin cisgender«, erklärte ich sogleich Madeleine, die mich misstrauisch beäugte. »Aber es ist unangemessen, eine weibliche Person über achtzehn als Mädchen zu bezeichnen. Männer tun das, um uns zu verniedlichen und kleinzumachen, weshalb wir uns jedes Mal dagegen wehren müssen.« Sie musste nicht erfahren, dass ich sie in Gedanken ein kleines Mädchen genannt hatte. Das war etwas vollkommen anderes.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte sie.

Bis zum Ende meiner Mission würde ich ihr Bewusstsein hoffentlich hinreichend genug gefördert haben, dass sie keinem Mann mehr erlaubte, sie ein Mädchen zu nennen. Doch da ich zwischen lauter Scherben an der Tür stand, war dies nicht der Moment, damit zu beginnen. Ich betrat die kleine Diele und stellte meinen Koffer ab. Falls Miss Blaines Zeitreiseregeln und Vorschriften unverändert geblieben waren – und ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln –, wurde mir eine Woche eingeräumt, um meinen Auftrag zu erfüllen.

»Ich werde eine Woche bleiben«, sagte ich.

»Eine Woche bleiben?«

»Höchstens.«

»Höchstens?«

»Vielleicht kürzer.«

»Vielleicht kürzer?«

Madeleines Art, alles zu wiederholen, war ziemlich irritierend. Und dann entsann ich mich, dass mir kürzlich vorgeworfen worden war, exakt dasselbe zu tun.

***

Ich hatte an meinem Computer in der Bücherei von Morningside gesessen und war gerade die Reservierungsanfragen durchgegangen, als jemand vor meinem Schreibtisch erschien und sagte: »Bonjour.«

Da ich die beste Schulbildung der Welt genossen hatte, sprach ich viele Fremdsprachen fließend und konnte mühelos von einer zur anderen wechseln. Ich bemerkte nicht einmal, dass ich auf Französisch angesprochen worden war, und antwortete einfach automatisch: »Bonjour, Madame.«

»Que veut dire cette conduite?«

Da mein Benehmen immerzu beispielhaft ist, fragte ich lediglich: »Conduite, Madame?«

Ich schaute auf und erblickte Miss Blaine, die wütend auf mich herabstarrte, exakt wie ihre Marmorstatue es in der Schulaula tat.

»Tu es perroquet?«, fragte sie. Schlimm genug, als Papagei tituliert zu werden, doch »tu« ist ein Wort, das man benutzt, wenn man Kinder anspricht. Und da ich erwachsen war und in keinem Verwandtschaftsverhältnis mit der Schulgründerin stand, war dies recht beleidigend. Andererseits war Miss Blaine mindestens zweihundert Jahre alt. Somit könnte eine Frau wie ich, die in ihren Fünfzigern war, in ihren Augen immer noch als Kind durchgehen.

Ich verstand trotzdem nicht, was sie mir zu verstehen geben wollte. »Je ne comprends pas.«

Sie wedelte mit einem Buch – es hatte einen gelben Einband – vor meinem Gesicht. »Ce n’est que trop evident!«, fauchte sie. »Tu ne comprends presque rien. Tu n’as pas vu ce … bouquin qui vient de reparaître avec sa héroïne détestable? Il risque de réintroduire cette harpie à de nouvelles lectrices. C’est abominable.«

Es war sehr schwer zu erfassen, worüber sie redete. Offensichtlich sprach sie vollkommen fließend Französisch, hatte jedoch ihren starken Morningside-Akzent beibehalten, sodass ihren Worten nicht leicht zu folgen war. Noch dazu war sie aufgebracht, man könnte sogar sagen, dass sie wütend war, was ihre Worte um nichts verständlicher machte. Aber ich versuchte, mir den Sinn zusammenzureimen. Warum ich irgendein Buch mit einer verachtenswerten Heldin nicht gesehen hätte … Ich fragte mich, welches Buch das sein sollte. Leseeindrücke waren stets sehr subjektiv: Was für die eine Person eine verabscheuungswürdige Heldin war, konnte für eine andere ein gutes Vorbild sein. Jedenfalls war Miss Blaine besorgt, dass junge Leserinnen diese furchtbare Frau kennenlernten.

Doch ehe ich um nähere Erklärung bitten konnte, knallte sie mir das Buch auf den Schreibtisch.

Ich konnte nicht behaupten, dass mir das Blut in den Adern gefroren wäre, denn Blut begann erst ab zwei Grad unter null zu gefrieren, und wir hielten die Temperatur in der Bücherei gern konstant bei zwanzig Grad Celsius, und das trotz Mittelkürzungen durch den Stadtrat. Gleichwohl empfand ich eine deutliche Kälte.

»Ah, wie schön«, sagte Dorothy, die im selben Moment vorbeikam. »Dame Muriel Sparks wunderbares Buch in der fantastischen neuen Polygon-Ausgabe mit dem klassischen farbstarken Einband.«

Sie beugte sich hinüber zu Miss Blaine und fuhr in einem vertraulichen Tonfall fort: »Ich empfinde es als solch ein Privileg, in dieser Bücherei zu arbeiten. Als Dame Muriel noch ein kleines Mädchen war, kam sie zweimal die Woche her. Ich finde wirklich, wir sollten das irgendwie feiern. Eine Gedenktafel wäre nett, meinen Sie nicht? Shona, würdest du vielleicht eine Petition aufsetzen, damit wir Unterschriften sammeln können? Wir dürften in Nullkommanichts Hunderte haben. Und bis dahin könnten wir die Marcia-Blaine-Schülerinnen bitten, eine kleine Ausstellung zu entwerfen, mit der sie zeigen, wie dankbar sie Dame Muriel sind, dass sie Die Blütezeit der Miss Jean Brodie über ihre Schule geschrieben hat.«

Miss Blaine gab einen Würgelaut von sich.

»Oh, Verzeihung, ich plappere hier, und Sie warten, dass Sie ein Buch ausleihen können«, sagte Dorothy und blickte zu dem gelben Band auf meinem Schreibtisch. »Brauchen Sie Hilfe, meine Liebe? Diese Maschinen sind sehr verwirrend, wenn man ein kleines bisschen älter ist, nicht wahr?«

Auf dieser Welt konnte man eine Menge gefährliche Dinge tun. In haiverseuchten Gewässern baden. Ungesichert das Empire State Building erklimmen. Nach Glasgow fahren. Doch das mit Abstand Gefährlichste, was man tun konnte, war, Marcia Blaine mit »meine Liebe« anzureden. Das Gesicht der Gründerin war braunrot, und sie starrte zu Boden. Sollte sie mit diesem Blick Dorothy anschauen, würde sich meine Kollegin ganz sicher in Stein verwandeln.

Ich riss das gelbe Buch an mich. »Danke, Dorothy, ich helfe dieser Dame bereits.«

Dorothy schlenderte fort, wobei sie Rod McKuens Jean vor sich hin pfiff. Zweifellos dachte sie an Gedenktafeln, Ausstellungen, kleine Kätzchen und Regenbögen.

»Miss Blaine«, sagte ich eindringlich, weil die Gründerin aussah, als wäre sie im Begriff, mit bloßen Händen die Regale in der Nähe zu zerlegen, »kommen Sie doch bitte mit mir nach oben, wo wir eine Tasse Tee trinken können. Die ist immer gut, wenn man unter Schock steht.«

Sie grummelte ein wenig, folgte mir aber zu dem kleinen Konferenzraum. Ich servierte, so schnell ich konnte, Tee und einige Bourbon-Kekse. Allerdings hatte sie das Buch mitgebracht, das ich auf dem Tisch gelassen hatte, und blätterte sichtlich angeekelt darin.

»Dame Muriel, fürwahr!«, rief sie aus. »Diese Seiten sind eine Beleidigung vernünftiger Menschen. Wie der Mannschaftsgeist verspottet wird! Ungeheuerlich! Wir sind nichts ohne Kooperation und Wettbewerb.« Sie warf das Buch auf den Tisch und beäugte wütend den Einband, wo unter dem Namen der Autorin »Mit einem Vorwort von Alan Taylor« stand.

»Und wer bitte ist dieser Mr Taylor, der darauf besteht, leichtgläubige Leserinnen in Mrs Sparks Geschreibsel einzuführen?«

»Ich glaube, er war früher Bibliothekar«, antwortete ich.

Miss Blaine verdrehte die Augen gen Zimmerdecke. »Ich erinnere mich an eine Zeit, in der Bibliothekar ein ehrbarer Beruf war.«

Sie zermalmte geräuschvoll einen Bourbon-Keks, so wie in meiner Vorstellung ein Tiger einen menschlichen Knochen zermalmen würde. »Überall auf diesen Seiten wird der Name meiner Schule zur Schau gestellt. In diesen Endzeiten kann man sich nicht mehr auf Leser verlassen. Viele werden dieses Machwerk als ein Sachbuch verstehen – und nicht als fiktionalen Text. Und diejenigen, die es als fiktionalen Text verstehen, werden darin einen roman à clef sehen.«

Sie nahm einen zweiten Keks in die Hand und betrachtete mich über ihn hinweg. »Ich frage mich, von welcher Figur die Leserinnen glauben würden, dass sie auf Ihnen basiert.«

Ich dachte nach. Obwohl ich inzwischen über fünfzig Jahre alt war, dürfte es wahrscheinlich sein, dass eine Leserin mich als ehemalige Schülerin eher mit einem der Mädchen assoziieren würde als mit einer Lehrerin. Man würde mich also für eines der sogenannten Brodie-Mädchen halten. Da gäbe es mehrere Charaktere aus dem Buch zur Auswahl: Monica Douglas, berühmt für ihre mathematischen Fähigkeiten; Eunice Gardiner, berühmt für ihre Leistungen in Gymnastik und Schwimmen; Jenny Gray, die wunderschön sprach und ein getreues Mitglied der Theatergruppe war.

»Ich glaube«, sagte Miss Blaine, »sie würden Sie für eine von zwei Charakteren halten.«

Ich fragte mich, wen sie bei Monica, Eunice und Jenny sogleich ausklammerte.

»Entweder für Mary Macgregor, eine Figur von äußerster Dummheit, die stets die Schuldige ist.«

Ich zuckte zusammen, und das nicht zuletzt, weil ich mich entsann, dass Mary Macgregor im zweiten Kapitel bei einem Feuer ums Leben kam.

»Oder, und das ist wahrscheinlicher, für Sandy Stranger – ein solch abstoßender Charakter, dass sogar die Autorin sie verachtete. Eine Figur, die behauptet, verlässlich zu sein, aber das in sie gesetzte Vertrauen aufs Empörendste missbraucht.«

Ich war den Tränen nahe. »Miss Blaine«, flüsterte ich, »wie können Sie so etwas sagen?«

»Deswegen!« Sie knallte die Hand auf das vermaledeite gelbe Buch.

»Es tut mir so leid!«, platzte es aus mir heraus. »Ich leite einen Gemeindechor – Singen ist sehr gesund, stärkt das Immunsystem und reduziert Stress –, und nach einer ausverkauften Aufführung sind wir feiern gegangen. Ich hatte nur ein kleines Radler. Aber am nächsten Tag fühlte ich mich sehr übernächtigt, und da muss …« – ich senkte die Stimme – »… sich dieses Buch eingeschlichen haben. Aber Sie wissen doch sicherlich, dass selbst Homer ein Nickerchen macht.«

»Ja, das weiß ich«, fauchte sie. »Ich halte es für eine Schande, dass der ehrenwerte Homer ein Nickerchen macht. Und bei ihm ist es nur für ein paar Minuten. Sie, Mädchen, sind ein veritabler Rip Van Winkle. Sie haben nur eine simple Aufgabe – eine einzige! –, und die besteht darin, sicherzustellen, dass diese fehlerhafte und abstoßende Erzählung nicht gelesen wird. Dennoch finde ich sie nicht nur im Regal, sondern regelrecht ausgestellt. Ihnen kann unmöglich entgangen sein, dass sich 2018 der Tag von Mrs Sparks Geburt zum hundertsten Mal jährte.«

Es war mir nicht entgangen, aber ich hatte dem keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Das Jahr 2018 war wegen einer ganzen Reihe von Jahrestagen bemerkenswert: eintausendeinhundertfünfundsiebzig Jahre seit King Kenneth MacAlpin die Pikten und die Schotten vereinte; zweihundert Jahre seit der ersten Bluttransfusion von Mensch zu Mensch; einhundertfünfzig Jahre seit dem ersten Gewerkschaftskongress; hundert Jahre seit Frauen über dreißig erstmals wählen durften, Stonehenge dem Staat geschenkt wurde, Debussy starb und der Erste Weltkrieg endete.

Miss Blaine nahm noch einen Keks auf und schluckte ihn buchstäblich in einem Stück hinunter. Dann leerte sie ihre Teetasse in einem Zug und erhob sich. »Ich bin enttäuscht von Ihnen.«

Ihre Worte trafen mich tief. Ich bin eine Blaine, dachte ich, die Crème de la crème, und es ist meine Pflicht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Jetzt habe ich sie durch mein Versäumnis schlechter gemacht. In dem Moment schwor ich mir, nie wieder zu trinken.

Die Gründerin ging zur Tür.