Mord zur Teatime - Der goldene Samovar - Olga Wojtas - E-Book

Mord zur Teatime - Der goldene Samovar E-Book

Olga Wojtas

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Beschreibung

Unterschätzen Sie niemals eine Bibliothekarin ...

Shona McMonagle ist auf einer Mission: Die resolute schottische Bibliothekarin hat die ehrenvolle Aufgabe, in der Zeit zurückzureisen und den Lauf der Geschichte zu verändern. Im Moskau des 19. Jahrhunderts soll Shona die schüchterne, aber sehr wohlhabende, Waise Lidia Ivanovna mit Sasha zusammenbringen - einem hinreißenden jungen Mann mit ungeklärter Herkunft. Doch irgendetwas stimmt hier nicht ... Denn ständig sterben Menschen auf seltsame Art und Weise. Hat Shona den Auftrag vielleicht falsch verstanden? Und wird es ihr gelingen, rechtzeitig herauszufinden, wer der wahre Schurke und für die Morde verantwortlich ist?

Gönnen Sie sich eine Tasse Tee - oder einen eiskalten Schluck Wodka - und tauchen Sie ein in die Welt dieser außergewöhnlichen Bibliothekarin. Denn eins ist sicher: Mit Shona McMonagle wird es garantiert nie langweilig! Beste britische Cosy Crime trifft auf charmanten Time-Travel-Plot. Von der Autorin der beliebten Krimi-Serie »Bunburry - Ein Idyll zum Sterben«.

»Clever, witzig und geistreich. Dieses Buch ist ein absoluter Knaller!« Raven Crime Reads

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!



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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Nachwort

Danksagung

Anmerkung der Autorin

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Shona McMonagle ist auf einer Mission: Die resolute schottische Bibliothekarin hat die ehrenvolle Aufgabe, in der Zeit zurückzureisen und den Lauf der Geschichte zu verändern. Im Moskau des 19. Jahrhunderts soll Shona die schüchterne, aber sehr wohlhabende, Waise Lidia Ivanovna mit Sasha zusammenbringen – einem hinreißenden jungen Mann mit ungeklärter Herkunft. Doch irgendetwas stimmt hier nicht … Denn ständig sterben Menschen auf seltsame Art und Weise. Hat Shona den Auftrag vielleicht falsch verstanden? Und wird es ihr gelingen, rechtzeitig herauszufinden, wer der wahre Schurke und für die Morde verantwortlich ist?

DER GOLDENE SAMOVAR

Aus dem Englischen von Sabine Schilasky

 

Für Alistair

Kapitel Eins

»Wen darf ich melden?«

Bei der Frage sah Madame Potapowas Majordomus weder mich noch das Empfehlungsschreiben an, mit dem ich wedelte. Er war zu sehr damit beschäftigt, erst den Türsteher wütend anzufunkeln, der mich hereingelassen hatte – und dann den Diener, der mich in die Empfangshalle führte.

Ich stellte mich auf russische Art mit Vor- und Vaternamen vor und beschloss, die Exotenkarte auszuspielen. »Shona Fergusowna aus Edinburgh, der Hauptstadt von Schottland. Mein Vater Fergus war Präsident des Heimatvereins in Morningside, dem berühmtesten Viertel von Edinburgh. Ich bin gestern hier eingetroffen und nun hergekommen, um Madame meine Aufwartung zu machen.«

Kein Wimpernzucken. »Ich weiß nicht, ob Madame heute Nachmittag noch mehr Besucher empfängt.«

»Nun, warum fragen Sie sie nicht?«, schlug ich vor. Madame Potapowa war eine alte Witwe und bekannt dafür, die besten Feste im zaristischen Russland zu geben. Ich war auf einer Mission, und die verlangte, dass ich mir eine Einladung zu der Festlichkeit am heutigen Abend sicherte.

Doch bevor der Majordomus antworten konnte, ertönte ein gellender Schrei vom oberen Ende der Marmortreppe, und eine ältere Dame fiel in einem sich drehenden Wirbel aus schwarzer Seide und Taft eine Stufe nach der anderen hinab.

Ich rannte hin, um ihren Sturz abzufedern, bekam indes keine Chance dazu. Auf den Schrei folgten alsbald ein Kratzen von Metall auf Marmor und ein Knacken von Knochen. Die Goldkette der Lorgnette war an einem vorstehenden Teil des kunstvoll gearbeiteten Treppengeländers hängen geblieben. Offensichtlich war die Kette von exzellenter Qualität: Sie brach nicht, dieses Geschick ereilte stattdessen das Genick der Dame. Sie lag auf halber Höhe der Treppe, den Kopf in einem Neunziggradwinkel zum Körper.

»Ist das Madame Potapowa?«, fragte ich den Majordomus.

Er nickte und bekreuzigte sich fromm im Angesicht des Todes.

»Ich nehme an, dass damit das Fest heute Abend ausfallen wird?«

»Leider ja, doch da Eure Exzellenz nicht eingeladen war, werden Ihre Unannehmlichkeiten nicht allzu groß sein.«

Er schnippte mit den Fingern nach einem Diener. »Ihre Exzellenz möchte gehen.«

Ich bemühte mich stets, das Beste in anderen zu sehen, konnte mich für diesen Kerl jedoch überhaupt nicht erwärmen. Ich war sehr froh, dass ich nicht erwähnt hatte, was ich glaubte, gesehen zu haben. In dem Augenblick, wo Madame Potapowa in ihre Verdammnis gestürzt war, erschien es mir so, als hätte sich jemand oben auf dem Flur bewegt und wäre dann im Schatten verschwunden. Sicher konnte ich mir allerdings nicht sein, denn die Zeitreise schien mir leichte visuelle Störungen beschert zu haben.

Hätte ich etwas gesagt, wäre dem Majordomus zuzutrauen gewesen, dass er losschrie, Madame Potapowa wäre nicht gestürzt, sondern gestoßen worden. Dann hätte man irgendein armes Zimmermädchen oder einen Diener, die gerade zufällig in der Nähe gewesen waren, wegen Mordes hingerichtet. Ich war jedoch ein Mensch, der sich von Fakten und nicht von Fantasien leiten ließ. Und eine traurige Tatsache war, dass viele alte Menschen sich zu wenig bewegten, um ihren Gleichgewichtssinn zu erhalten.

Der Diener eskortierte mich durch die Empfangshalle, und der Türsteher öffnete mir.

»Danke«, sagte ich. »Tut mir leid, dass Sie Ihre Stellung verloren haben.«

Der Diener runzelte die Stirn. »Eure Exzellenz?«

»Nun, da Ihre Arbeitgeberin verstorben ist …«, erinnerte ich ihn, doch er wirkte immer noch verblüfft.

»Verzeihung, Eure Exzellenz«, sagte der Diener. »Ich konnte nicht umhin, Ihre Unterhaltung mit dem Majordomus zu hören, und ich glaube, Sie sind Schottin, nicht wahr?«

»Unmöglich!«, hauchte der Türsteher.

Ich bedachte ihn mit einem Blick, den ich als Aufsichtsschülerin benutzt hatte, wenn irgendeine patzige Neuntklässlerin versuchte, Widerworte zu geben. »Haben Sie etwas dagegen?«

»Aber keineswegs, Eure Exzellenz«, antwortete er kleinlaut. »Doch Eure Exzellenz spricht unsere Sprache so perfekt, dass ich nicht glauben kann, dass Sie keine Russin sind.«

Ich lächelte. »Ja, ich bin aus Schottland, wo mir die beste Schulbildung der Welt zuteilwurde.« Ich wandte mich an den Diener. »Was ist mit Ihnen? Haben Sie ein Problem damit, dass ich Schottin bin?«

»Ich … ich wollte nur andeuten, Eure Exzellenz«, stammelte er, »dass Sie womöglich nicht mit unseren Lebensumständen vertraut sind. Wir sind Leibeigene. Wer Madames Besitz erbt, erbt auch uns.«

»Dann hoffe ich, dass sie Sie einer netten Person hinterlässt.«

»Es ist weithin bekannt, dass Madame nie ein Testament gemacht hat. Wir werden daher Unserem Vater übergeben, dem Kaiser und Autokraten aller Russen, dem Herrscher von Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, dem Zaren von Kasan, Zar von Astrachan, Zar von Polen, Zar von Sibirien, Zar vom Taurischen Chersonesos, Zar von Georgien, Gebieter von Pskow, Großherzog von Smolensk, Litauen, Wolhynien …«

»Ja«, sagte ich, »ich weiß, wen Sie meinen. Und wie geht es Ihnen damit?«

Der Diener und der Türsteher schlossen in kollektiver Ekstase die Augen.

»Es ist die größte Ehre, die sich ein Leibeigener vorstellen kann«, hauchte der Diener, »Unserem Vater dienen zu dürfen, dem Kaiser und Autokraten aller Russen, dem Herrscher von Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Zar von Kasan, Zar von Astrachan, Zar von Polen …«

Ich schlich mich zwischen ihnen hindurch zur Tür hinaus, während sie über ihr Glück sinnierten. Es war schön, dass meine Sprachkenntnisse offensichtlich den Test bestanden hatten.

Mir war die Bedeutung des Buchpakets nicht klar gewesen, als es mit einem Vermerk für mich persönlich in der Bücherei eingetroffen war. Die beiliegende, nicht unterzeichnete Nachricht hatte gelautet: »Lesen und verinnerlichen.« Also hatte ich genau das in jedem ruhigen Moment getan, den ich fand. Ich hatte mich im Nu durch die Bücher über russische Geschichte, Geografie, Architektur, Politik, Kultur und Infrastruktur gearbeitet, um mir dann die gesammelten Werke Tolstois im Original vorzunehmen. Und stellte fest, dass sie nicht vollständig russisch waren. Ein größerer Teil der Dialoge war auf Französisch, gesprochen von aufgeblasenen Aristokraten. Mein Französisch war so fließend, dass ich es kaum noch als Fremdsprache wahrnahm, und es hatte Spaß gemacht, meine innere Slawistin wieder zu aktivieren.

Noch am gestrigen Tag war ich in meiner Wohnung in Morningside gewesen und gerade zu dem Entschluss gekommen, dass es höchste Zeit wurde, die Küche neu zu streichen, als das Zwicken losging. Zuerst kam es mir wie leichtes Bauchkneifen vor. Dann dachte ich, es würde sich eine Grippe ankündigen. Im nächsten Moment war ich überzeugt, dass mein Blinddarm durchgebrochen war. Ich krümmte mich keuchend und kniff die Augen zu, während ich irgendwie versuchte, den Schmerz erträglicher zu machen. Und als ich schließlich die Lider wieder öffnete, lag ich auf einem polierten Holzfußboden und blickte auf ein gewölbtes, metallenes Ding mit einem Hahn vorn. Es verriet eine Menge über den Grad meiner Verwirrung, dass ich eine volle Minute brauchte, um zu erkennen, dass es sich um einen russischen Samowar handelte.

Mir war gesagt worden, ich würde bei Zeitreisen »ein leichtes Unwohlsein« verspüren, und ich war ziemlich schockiert, dass man mich belogen hatte: In Wahrheit fühlte es sich höllisch an. Ich wirkte doch gewiss nicht so verweichlicht, dass zu befürchten war, ich könnte einen Auftrag verweigern, nur weil damit heftige Bauchschmerzen einhergingen.

Letztere ließen langsam nach, und ich begann einzuschätzen, in was für einer Umgebung ich mich befand; dabei griff ich auf das zurück, was ich in jüngster Zeit gelesen hatte. Ich befand mich im Vorzimmer eines russischen Herrenhauses aus dem neunzehnten Jahrhundert. Der Samowar war aus Messing – geprägt, herrschaftlich, aber zweckdienlich – und bestens dafür geeignet, eine wunderbare Tasse Tee bereitzustellen. Er stand neben einem hochbeinigen Sofa, dessen Bezug alt und ausgeblichen war. An der Wand hing ein großer, rechteckiger Spiegel mit altersfleckigem Glas und einem stumpfen Goldrahmen. Von nebenan waren leise Klänge von Tanzmusik, die hellen Stimmen plaudernder feiner Damen und das Klimpern von Weingläsern zu hören.

Plötzlich wurden die Geräusche lauter – die Tür schwang langsam auf. Ich wollte nicht gesehen werden, bevor ich mehr darüber wusste, wo ich war, also kroch ich rasch unter das Sofa. Es mochte vier Jahrzehnte her sein, seit ich die Schule verlassen hatte, dennoch konnte ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich nach wie vor über die Schnelligkeit und das Können verfügte, die mich einst zur Starschwimmerin der Klasse gemacht hatten.

Meine Sicht war auf Bodenhöhe beschränkt. Ein Mann war hereingekommen – jung, dem Gang nach zu urteilen. Quietschende Sohlen. Neue Schuhe. Glänzendes schwarzes Leder, aufwendige Silberschnallen. Die Füße blieben stehen, als würde der Neuankömmling wie ich seine Umgebung mustern.

Als ich unter dem Sofa hervorlugte, konnte ich die verzerrte Widerspiegelung des Mannes in der Wölbung des Samowars sehen. Es war nur ein vager Umriss, und auf einmal hatte ich eine außergewöhnliche optische Täuschung. Ich glaubte zu sehen, wie sich sein Kopf um die eigene Achse drehte.

Und das war mehr als nur ein bisschen beängstigend. Die Krämpfe waren schon schlimm genug gewesen, aber von Sehstörungen hatte keiner ein Wort erwähnt. Ich blinzelte mehrmals, bevor ich die Augen weit aufriss und alles wieder normal wurde.

Eine Stimme erklang von der Tür – weiblich, mittleren Alters, herrisch. »Mein lieber Sascha, also wirklich! Was verstecken Sie sich hier, wenn alle Damen sich verzweifelt nach Ihrer Gesellschaft sehnen?«

»Gräfin, Sie wissen doch, dass Sie die einzige Dame sind, deren Gesellschaft ich suche. Verzeihen Sie, ich fühle mich recht überwältigt von der Pracht dieses Abends und bin hier hineingegangen, um mich zu sammeln.«

Die Stimme des jungen Mannes war hell und anziehend, von der Art, der man im Radio stundenlang lauschen könnte. Ich fragte mich, ob sein Gesicht auch eher etwas fürs Radio war.

Hohe Absätze bewegten sich in meine Richtung. Dann sackte ein Teil des Sofas über mir ein und drückte mich fest auf das Parkett. Ich konnte nicht umhin, die Qualität des Bodens zu bewundern, in dem sich jedes hölzerne Mosaikstück mit denen daneben zu einem eleganten Muster fügte. Zum Glück war dies ein gut gepflegter Haushalt, in dem keine Staubflocken mit Niesreiz drohten. Vor meiner Nase erschienen dickliche Fußknöchel über hohen Satinschuhen.

»Mein junger Freund, halten Sie diesen Abend tatsächlich für prächtig? Wir alle lachen über Lidia Iwanowna, weil alles hier so beschämend schlicht ist; das arme Geschöpf versteht rein gar nichts davon, wie man unterhält. Sichern Sie mir eine Einladung zu Madame Potapowa, dann werden Sie ein richtiges Fest erleben.«

Das Sofa sackte auch an anderer Stelle ein, als sich die Schuhe mit den Schnallen zu den hohen aus Satin gesellten, doch nicht so sehr, dass ich auch darunter eingeklemmt wurde.

»Wenn Sie sicher sind …«, murmelte der junge Mann. »Vielleicht bin ich noch nicht bereit.«

»Doch, das sind Sie, Sascha. Und Sie werden mich nicht enttäuschen.« Der Tonfall war eher drohend als ermutigend, wurde jedoch gleich weicher. »Seien Sie gewiss, dass man in diesem Augenblick bespricht, wer Ihre Familie sein mag, und sich die schillerndsten Biografien für Sie ausdenkt. ›Ich hörte, dass er ein Cousin ersten Grades des alten Prinzen ist …‹ ›Er ist offensichtlich mit der blauäugigen Baroness verwandt; die Familienähnlichkeit ist unverkennbar …‹«

Es trat eine Pause ein.

»Ich werde Sie nicht enttäuschen«, versprach der junge Mann.

Die Gräfin stieß einen zufriedenen Seufzer aus, und das Sofa sackte noch tiefer ein. »Sich vorzustellen, dass ich morgen Abend bei Madame Potapowa zu Gast sein werde! Ja, das wird fürwahr ein Erfolg. Doch nun genug vom Verstecken – Sie sind hier, um gesehen zu werden. Begleiten Sie mich in den Ballsaal!«

»Ihr Wunsch ist mir Befehl.« Die Schnallenschuhe waren im nächsten Moment ein wenig vom Sofa entfernt und drehten sich dann um hundertachtzig Grad, sodass sie sich gegenüber den hohen Absätzen befanden. Letztere bewegten sich nur einen Millimeter, und ich folgerte, dass der junge Mann sich bemühte, die Gräfin auf ihre fetten kleinen Füße zu hieven. Schließlich gelang es ihm, und beide Schuhpaare entfernten sich in Richtung Ballsaal.

Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, robbte ich unter dem Sofa hervor und versuchte, eine sinnvolle Erklärung für das zu finden, was ich soeben gehört hatte. Es erinnerte an die Handlung von My Fair Lady, nur mit einer Umkehrung der Geschlechter und ohne die Lieder.

Ich klopfte meine Garderobe ab und stellte fest, dass ich ein bodenlanges lila Abendkleid trug und dazu lange weiße Ziegenlederhandschuhe, die bis über meine Ellbogen reichten. Blieb nur noch eines zu überprüfen. Ich lüpfte den Saum meines Kleids. Hervorragend. Ich hatte immer noch meine verlässlichen Doc Martens an. Die Gräfin mochte denken, sie wäre mir mit ihren hochhackigen Schuhen in Sachen Mode überlegen; nur halste sie sich mit denen alle erdenklichen Probleme wie Hühneraugen, Fersensporn und Ischiasschmerzen auf.

Ich öffnete die Tür und betrat einen Ballsaal von unübertrefflichen Ausmaßen. Es war leicht, den vornehmen Stil des großen russischen Architekten Andrei Woronichin wiederzuerkennen. Doch obwohl der Raum für seinen vorgesehenen Zweck ideal und die Musik verlockend war, tanzte niemand. Die Gäste saßen in kleinen, mürrischen Gruppen beisammen. Nicht einmal die Phalanx von Dienern, die gewaltige Mengen an Essen und Getränken herumreichten, schien sie aufzumuntern.

Es wurde Zeit, meine neuen Fertigkeiten zu erproben. Mein Herz raste, wobei ich nicht sagen konnte, ob es vor Aufregung oder Nervosität war.

Ich dachte an eine der Anweisungen, die mir gegeben worden waren: »Lernen Sie, unauffällig zu sein.«

»Wie mache ich das?«, hatte ich gefragt.

»Was ist unsere großartigste Eigenschaft? Unser Verstand. Konzentrieren Sie sich, und üben Sie!«

Also hatte ich mich konzentriert und geübt, bis der Tag kam, an dem ich es packte und die Leute im Waitrose in Morningside mich anzurempeln begannen. Niemand wäre dort jemals so unhöflich, mich absichtlich anzustoßen, daher wusste ich, dass man mich schlicht nicht gesehen hatte.

Ich bewegte mich weiter durch den Ballsaal und verschmolz diskret mit dem Hintergrund, während ich über das herrliche Parkett schritt. Es war aus ineinandergreifenden Blattformen in unterschiedlichen Farben gestaltet, sodass es den Eindruck eines Herbstwaldes vermittelte. Ich schlich mich von hinten an einen Halbkreis junger Frauen an, die ihren Weltschmerz zur Kunstform erhoben hatten. Sie schafften es zu welken, während sie gleichzeitig kerzengerade dasaßen. Diese Technik merkte ich mir für künftige Anlässe.

»Wer hätte gedacht, dass es so furchtbar öde sein würde?«, sagte eine der Damen, die sich Luft zufächelte.

»Wer hätte etwas anderes gedacht?«, entgegnete eine andere. »Lidia Iwanowna hat schlichtweg keine Ahnung, was ein Fest ist.«

»Nein, ich denke, dies ist der aufregendste Abend ihres Lebens. Oh, meine Damen, dieses Kleid!«

Alle kicherten.

»Allein dafür hat sich das Kommen gelohnt«, meinte die Erste. »Denkt ihr, es hat ihrer Mutter gehört?«

»Ihrer Mutter? Du meinst wohl ihrer Großmutter.«

»Nun, da wir das uralte Kleid gesehen haben, können wir sicher sein, dass es nichts mehr von Interesse geben wird. Der Champagner ist indes überraschend annehmbar. Ich werde noch ein Glas trinken. Und danach werde ich meinen Mann vom Kartentisch weglocken und mich von ihm irgendwo teuer zum Essen ausführen lassen.«

»Trinken wir alle noch etwas mehr Champagner! Dann gehen wir mit euch beiden, auf dass der Abend nicht vollständig vergeudet ist.«

Ich ging an ihnen vorbei zur nächsten Gruppe und bekam Mitleid mit dieser Lidia Iwanowna. Soweit ich es sehen konnte, war das Problem nicht das Fest, sondern die Gästeschar.

Meine Finger und Zehen begannen zu kribbeln. Es war nicht unangenehm, nicht annähernd so wie die Zeitreisenkrämpfe, nur eben in der Weise spürbar, dass es meine Aufmerksamkeit erregte. Es musste das Signal sein, dass ich mich meiner Zielperson näherte – ähnlich einem inneren Metalldetektor, der einen Wikingerschatz anzeigte. Ich brauchte eine Weile, um auszumachen, in welche Richtung ich gehen sollte. Doch schließlich dirigierte mich das stärker werdende Kribbeln zu einer schlanken jungen Frau, die allein in einer Ecke stand: Sie sah absolut umwerfend aus, hatte die perfekten Konturen einer klassischen Statue und eine makellose Haut. Anders als bei den jungen Ehefrauen war ihr Gesicht nicht mit Make-up zugekleistert worden, und ihr langes, helles Haar war offen, nicht zu raffinierten Locken gekräuselt und aufgedreht. Sie musste Mitte zwanzig sein, und der schlichte Schnitt ihres Kleides verriet, dass sie noch unverheiratet war.

Allerdings war sie auch ein Nervenbündel. Ihre Arme hatte sie schützend vor der Brust verschränkt, und ihre Züge waren angespannt.

Ich ging auf sie zu und streckte meine Hand aus. »Guten Abend«, grüßte ich sie. »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Shona Fergusowna.«

Sie zuckte zusammen, als sie angesprochen wurde, lächelte dann aber zaghaft und nahm meine Hand.

»Wie freundlich von Ihnen zu kommen«, antwortete sie. »Verzeihen Sie, dass ich Sie nicht wiedererkannt habe. Dies ist das erste Mal, dass ich in Gesellschaft bin, und ich fürchte, dass mir alle meine Gäste unbekannt sind.«

Also war die Person, der zu helfen ich ins Russland des neunzehnten Jahrhunderts geschickt worden war, unsere Gastgeberin Lidia Iwanowna.

»Ein reizendes Fest«, sagte ich.

»Danke. Dies ist das erste, das ich gebe – und außerdem das erste, auf dem ich bin. Ich konnte niemanden um Rat fragen und bin mir nicht sicher …« Ihre Stimme verlor sich, als sie sich nervös zu den gähnenden, tratschenden Gästen umschaute.

»Wissen Sie was? Nichts bringt ein Fest so in Schwung wie ein kleiner Tanz«, schlug ich vor. »Überlassen Sie die Sache mir.«

Ich ging hinüber zu dem Orchester. Es war eine für dieses Jahrhundert übliche Zusammensetzung von Instrumenten: Geige, Kontrabass, Fagott, Klarinette, Trompete, Schlagzeug und Akkordeon. Für meine Zwecke hätte sie gar nicht besser sein können.

»Hallo, Leute«, sagte ich in einem forschen Ton und erklärte, was wir tun würden. Dann drehte ich mich zum Saal hin um und klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit aller zu bekommen.

»Verehrte Gäste!«, rief ich laut auf Französisch, denn ich war fest entschlossen, um Lidias willen Eindruck zu machen.

Alle drehten sich zu mir um.

»Lidia Iwanowna, unsere liebenswürdige Gastgeberin, hat keine Ausgaben gescheut, um diesen Abend für Sie alle erinnerungswürdig zu machen. Sie hat mich den weiten Weg von Edinburgh hergebeten, damit ich Sie einige schottische Volkstänze lehre. Fraglos wird Ihnen bekannt sein, dass diese Tänze derzeit der letzte Schrei auf den elegantesten Soireen sind.«

Zunächst herrschte unsicheres Schweigen, dann nickten alle energisch, als hätten sie es die ganze Zeit gewusst.

»In mir bietet sie Ihnen die Crème de la Crème«, fuhr ich fort. »Ich bin Shona Fergusowna McMonagle, ehemals Captain des Goldmedaillen-Teams der Marcia-Blaine-Mädchenschule. Wir wurden von der Royal Scottish Country Dance Society für unsere Fußarbeit, Beweglichkeit und Leidenschaft ausgezeichnet.«

Ein aufgeregtes Raunen hob an.

»Wir beginnen mit einem Dashing White Sergeant«, erklärte ich. »Stellen Sie sich bitte in Sechsergruppen auf, und zwar jeweils in zwei Dreierreihen einander gegenüber: Herr-Dame-Herr gegenüber Dame-Herr-Dame.«

Wenn ich wollte, konnte ich mit großer Autorität sprechen. Das kam daher, dass ich früher Aufsichtsschülerin gewesen war. Brav erhoben sich die Gäste und nahmen ihre Positionen im Ballsaal ein. Die Schule hatte mich gut in klassischer Musik ausgebildet – die Aufnahme von mir, als ich Sibelius’ Violinkonzert bei der jährlichen Preisverleihung spielte, brachte immer noch einiges an Spenden ein. Doch ich bildete mir gern ein, dass ich genauso firm in traditioneller Musik war, insbesondere auf der Mundharmonika.

Als ich losspielte, stimmten die anderen Musiker ein, und ich rief klare, simple Anweisungen für den Reel. »Vor, zurück, vor! Einen Arm nehmen! Drehung! Hüpfer!«

Doch trotz meiner exakten Kommandos war es eine Katastrophe. Die Tänzer hüpften ineinander hinein, krachten gegen Tische und Stühle, warfen Gläser und Diener um. Dann regte sich eine bedenkliche Unruhe am anderen Ende des Ballsaals.

»Ihr Heiligen im Himmel, rettet ihn!«, schrie jemand.

Etwas ging fürchterlich schief. Mir wurde klar, dass leicht Panik ausbrechen könnte. Und sollten dann Gäste wild umherstürmen, gäbe es entsetzliche Verletzungen. Das einzig Vernünftige war eindeutig, weiterzuspielen – wie auf der untergehenden Titanic, um alle abzulenken. Ich bedeutete den anderen Musikern, lauter zu spielen, während ich die Schrittfolgen noch bestimmter als zuvor ausrief. Die Tänzer reagierten auf meine coole Führung, hakten einander ein, drehten sich und hüpften.

Als ich nach der Ursache des Dramas hinten im Saal blickte, sah ich einen winzigen alten Herrn, der im Ausschnitt einer beleibten Dame klemmte und zu ersticken drohte. Zwei makellos gekleidete Offiziere eilten hin, packten ihn bei den Schultern und Armen und konnten ihn schließlich befreien. Dem japsenden Mann wurde geholfen, sich auf einem Stuhl niederzulassen, wo sein Gesicht langsam wieder Farbe annahm, während die beleibte Dame damit begann, bei sich alles wieder an Ort und Stelle zu rücken. Und als sie sich zu einem anderen Stuhl begab, fielen mir die fetten kleinen Füße in Satinschuhen auf.

Dies also war die respekteinflößende Gräfin. Und ich hegte keinen Zweifel, wen die Schuld traf: Der winzige Herr wäre vollends außerstande gewesen, ein solch voluminöses Geschöpf zu lenken.

Da die Krise nun überstanden war, stoppte ich das Orchester, und die Tänzer blieben wackelnd stehen.

»Haben Sie gesehen, was passiert, wenn Sie nicht aufpassen?«, fragte ich. »Eine Person …« – ich blickte bedeutungsschwanger zur Gräfin – »… ist offensichtlich nach vorne gegangen, obwohl sie nach hinten hätte schreiten sollen. Oder umgekehrt. Es hätte einen Todesfall geben können, wäre das Militär nicht eingeschritten, und das wäre kein sehr netter Abschluss des Abends gewesen, nicht wahr?«

Es folgten verlegenes Murmeln und Füßescharren.

»Sie haben die Wahl«, fuhr ich fort. »Sie können sich alle setzen und der Musik lauschen. Doch falls Sie tanzen möchten, müssen Sie meine Instruktionen aufs Wort befolgen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Bitte, Shona Fergusowna, lassen Sie uns weitertanzen!«, platzte einer der Gäste heraus.

»Bitte, Shona Fergusowna!«, rief jemand anders. »Es macht solchen Spaß! Wir versprechen, dass wir genau das tun, was Sie sagen.«

Sie alle sahen so begierig aus, dass ich nicht anders konnte, als nachzugeben.

»Nun gut. Sie bekommen noch eine Chance. Strip the Willow. Gruppen von vier Paaren, die Herren den Damen gegenüber.«

Die Tänzer bewegten sich mehr oder minder in die richtigen Richtungen und gaben sich sichtlich Mühe, sich zu benehmen. Also leitete ich das Orchester nahtlos in einen Hamilton House und danach in einen Strathspey über. Die Tänzer lächelten und lachten, während sie durch den Saal wirbelten, und die Zuschauer am Rand klatschten und nickten begeistert im Takt der Musik.

Nach einem besonders schwungvollen Achter-Reel rief ich eine Pause für Erfrischungen aus und lobte alle, weil sie es verdient hatten.

»Sehr gut gemacht«, sagte ich. »Ich wünschte, der Schottische Volkstanzverband könnte Sie sehen. Sie alle dürften in der Anfängerklasse bei den Wettbewerben antreten.«

Die Leute strahlten. Ich konnte sehen, dass sich einige in meine Richtung begaben, zweifellos um mir Komplimente zu meinen Sprachkenntnissen und meinen Fertigkeiten zu machen. Doch nachdem ich den Musikern die Hände geschüttelt hatte, trat ich wieder in den Hintergrund.

»Für mich nur einen Tee«, sagte ich zu einem vorbeikommenden Diener, als ich zurück in den Vorraum floh und in die große Vertiefung auf dem Sofa sank. Es war an der Zeit für eine kleine Teatime.

Der Diener nahm die Kanne oben von dem Samowar und goss starken schwarzen Tee in ein Glas, das in einem filigranen silbernen Halter steckte. Danach gab er heißes Wasser aus dem Samowarhahn hinzu. Ich zog Tee mit Milch vor, war jedoch nicht so dumm, wie eine ignorante Ausländerin aufzutreten. Meine Mission sollte ein Erfolg werden, was bedeutete, dass ich mich anpassen musste.

Ich nahm ein Stück Zucker aus dem Schälchen, das der Diener mir hingestellt hatte, hielt den süßen Würfel auf traditionelle Weise zwischen meinen Zähnen und trank einen Schluck Tee. Es war Karawanentee; ich erkannte ihn an seiner rauchigen Note, die an Lagerfeuer auf langen Reisen durch die Steppen erinnerte. Nach wie vor wusste ich nicht genau, wie mein Auftrag lautete, aber ich wollte mit Freuden tun, was immer nötig war, um unserer schüchternen, unsicheren und umwerfend schönen Gastgeberin zu helfen.

Sie war mir ein Rätsel. Warum gaben nicht ihre Eltern das Fest? Warum war es die erste Festlichkeit, auf der sie sich befand? Warum war sie noch nicht verheiratet? Ich sog den streng schmeckenden Tee durch den Zuckerwürfel und sagte mir, dass ich geduldig sein musste. Immerhin war ich gerade erst angekommen.

Als ich in den Ballsaal zurückkehrte, kam Lidia Iwanowna auf mich zugelaufen und ergriff meine Hand.

»Shona Fergusowna, ich kann Ihnen gar nicht genug danken! Ich hatte solche Angst, dass dieser Abend ein Desaster wird, aber Sie haben ihn für mich gerettet!«

»Kein Problem«, antwortete ich. »Ich bin entzückt, dass ich helfen konnte.« Und nicht nur entzückt, sondern auch dazu bestimmt und verpflichtet. »Ich hatte soeben eine schöne Tasse Tee, somit bin ich jetzt bereit für Weiteres.«

Lidia versuchte zu lächeln, doch ihr Blick war umwölkt. Etwas schien sie traurig zu machen.

»Natürlich wird es für Sie Zeit zu gehen«, sagte sie. »Sie müssen viele wichtigere gesellschaftliche Verpflichtungen haben als diese. Wie freundlich von Ihnen, dass Sie überhaupt gekommen sind.«

Es war einfach, gewisse Ausdrücke, die ich auf Englisch sagen würde, wortgetreu auf Russisch wiederzugeben; doch dabei sollte ich stets in Erinnerung behalten, dass dies nicht das einundzwanzigste Jahrhundert war.

»Nein, ›bereit für Weiteres‹ ist nur so eine Wendung«, erklärte ich. »Ich meinte, ich werde alle wieder zum Tanzen bringen.«

Die Orchestermusiker waren ganz erpicht, mehr neue Melodien zu lernen, und begrüßten mich herzlich, als ich mich wieder zu ihnen gesellte.

»Verehrte Gäste!«, rief ich. »Sie haben es so gut gemacht, dass ich denke, Sie sind bereit, einen unserer komplizierteren Tänze zu versuchen – den Gay Gordons. Er ist für Paare, also greifen Sie sich die Person, mit der Sie am liebsten tanzen wollen.«

Alle Gäste beeilten sich, einen Partner zu finden. Lidia Iwanowna, der gänzlich unbewusst war, wie schön sie aussah, stand zögernd am Rand der Tanzfläche, als die Paare an ihr vorbeiliefen.

Von der gegenüberliegenden Saalseite kam ein junger Mann. Er war atemberaubend – der schönste Mann, den ich je gesehen hatte. Blondes Haar, das ihm verführerisch in die Stirn fiel. Wohlgeformte Wangenknochen, die wie gemeißelt wirkten. Verlockend sinnliche Lippen. Und er trug neue, glänzend schwarze Schuhe mit aufwendigen Schnallen. Und auch dieses Schuhwerk erkannte ich wieder: Das also war Sascha, der sich im Vorraum mit der beleibten Gräfin unterhalten hatte. Er hatte gewiss kein Radiogesicht, sondern wäre auf jedem Fernsehsofa der Welt willkommen.

Es war klar zu erkennen, dass er nur Augen für Lidia hatte, und er strebte geradewegs auf sie zu, als seien die anderen Gäste nichts weiter als lästige Fliegen. Während ich hinschaute, war es wie einer dieser Filme, in denen alles bis auf die Hauptdarsteller verschwamm. Ich sah nur dieses Paar: zwei unglaublich schöne Menschen, die sich bereit machten, miteinander zu tanzen. Es wäre der Höhepunkt des Abends. Ich malte mir schon aus, die Anweisung für den Gay Gordons zu rufen: Vor, vor, zurück, zurück, vor, zurück, zurück. Die Herren hüpfen! Die Damen drehen sich!, während das perfekte Paar in vollkommener Harmonie tanzte.

Doch noch ehe ich Zeit hatte, das Akkordeon aufzunehmen, sah ich die dralle Dame mit dem gefährlichen Dekolleté auf Sascha zuschwanken und ihn abfangen. Und als die Gräfin ihn in Position zog, wurde Lidia ähnlich überraschend von dem winzigen alten Herrn gepackt, der um ein Haar im Ausschnitt der Gräfin verschieden war.

Das war ganz falsch. Sie mussten eine Chance bekommen, ihre Partner loszuwerden. Ich ging den Gay Gordons so schnell wie möglich durch, und kaum kamen Lidia und der winzige Herr neben mir zum Stehen, verkündete ich schnell, dass jetzt die Damen abklatschen durften.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Lidia zu dem winzigen Mann. »Ich habe unseren Tanz sehr genossen, aber ich muss mich um meine anderen Gäste kümmern.«

Sie ging zur Seite des Saals, wo einige alte Damen saßen, und bedeutete einem Diener, ihnen mehr Champagner zu bringen. In der Zwischenzeit war Sascha von einer quirligen Witwe geschnappt worden, der er wenig später von einer untersetzten Xanthippe abgeklatscht wurde. Jedes Mal, wenn er an Lidia vorbeiwirbelte, blickte er sehnsüchtig zu ihr, doch sie war ins Gespräch mit den alten Schachteln vertieft.

Vergeblich brachte ich den Gästen Strip the Willow, Wind on Loch Fyne und The Bees of Maggieknockater bei. Lidia näherte sich nicht wieder der Tanzfläche, sondern widmete ihre Aufmerksamkeit ausschließlich den Gästen, die zu alt oder gebrechlich waren, um durch den Saal zu rauschen. Sascha war inzwischen wieder von der Gräfin gekapert worden, die immer dann, wenn sie nicht mit ihm tanzte, darauf bestand, dass er etwas für sie tat – dass er ihr mehr Champagner holte, ihren Schal um ihre Schultern drapierte, ihr einen Fußschemel suchte, erneut mehr Champagner holte, ihr den Schal abnahm und abermals mehr Champagner holte. All das erledigte er ohne den Hauch einer Klage.

Es war, als hätte sich alles verschworen, damit die beiden wunderschönen jungen Menschen einander fernblieben. Letztlich begann das Fest sich aufzulösen, und die Gäste gingen zur Garderobe, um ihre Umhänge zu holen.

Ich wandte mich an das Orchester. »Großartiger Auftritt, Jungs«, lobte ich. »Mit ein bisschen Übung könntet ihr beinahe wie eine schottische Tanzkapelle klingen. Wäre ein schöner Nebenverdienst.«

Der Orchesterleiter verneigte sich. »Ein großzügiger Vorschlag, Eure Exzellenz, aber dies war unser letzter Auftritt. Wir gehen alle zur Armee.«

Ich war ziemlich überrascht. Nichts, was ich gelesen hatte, deutete an, dass die Kaiserliche Russische Armee über eine Militärkapelle verfügte. Aber ich konnte es mir durchaus vorstellen. »Falls ihr die Kanonen synchronisieren könnt, könntet ihr eine geniale Version der Ouvertüre 1812 aufführen«, sagte ich.

»Der was?«, fragte der Orchesterleiter.

Es war ein peinlicher Moment. Mir wurde bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, welches Jahr wir schrieben. Und es wäre total unprofessionell, einfach danach zu fragen – was für ein Idiot musste man sein, wenn das aktuelle Datum einem unbekannt war? Auf meiner allerersten Mission durfte ich nicht unprofessionell erscheinen. Also beschloss ich, es selbst herauszufinden. Es dürfte sicherlich ein Leichtes sein, aus Hinweisen auf das gegenwärtige Datum zu schließen. Immerhin ließ ich die Randstücke auch immer bis zum Ende übrig, wenn ich ein Puzzle legte. Und hier war mein erster Hinweis: Tschaikowski schrieb die Ouvertüre 1812 im Jahr 1880, folglich musste ich mich jetzt vor dieser Zeit befinden.

»Nun«, sagte ich munter, »habt eine schöne Zeit in der Militärkapelle. Ich bin mir sicher, dass ihr dort viel erhebende Marschmusik spielen könnt.«

Der Orchesterleiter schüttelte den Kopf. »Wir werden nie wieder spielen, Eure Exzellenz. Sie heute Abend begleiten zu dürfen, ist der Höhepunkt unserer Musikerlaufbahn gewesen. Wir können keine Musiker mehr sein, weil unsere Musik ohne Sie keine Bedeutung mehr hat. In der Pause haben wir beschlossen, dass unsere einzige Option darin besteht, uns zum Militärdienst zu verpflichten, weil das unseren Tod garantiert.«

Die anderen nickten alle zustimmend.

»Michail, dessen Akkordeon Sie gespielt haben, trifft bereits Vorkehrungen, dass es mit ihm begraben wird«, sagte der Schlagzeuger.

»Wirklich?«, fragte ich nach. »Michail, sind Sie verheiratet?«

»Natürlich, Exzellenz«, antwortete Michail. »Sind wir alle. Mit vielen Kindern.«

»Ist es dann nicht ein wenig übertrieben, Ihr Akkordeon mit Ihnen begraben zu lassen? Wie wäre es, wenn Sie es Ihrer Witwe und Ihren weiteren Angehörigen überlassen, damit sie es verkaufen können und ein bisschen Geld bekommen?«

Michail hob das Instrument hoch über seinen Kopf. »Nun, da Sie es gespielt haben, Eure Exzellenz, werde ich nicht gestatten, es zu entweihen, indem jemand anders es spielt«, sagte er. »Lieber schleudere ich es auf den Boden und tanze Kasatschok darauf.«

»Oh, tun Sie das bitte nicht!« Ich sorgte mich, dass er das wunderbare Parkett zerkratzen könnte. Es war deutlich zu erkennen, dass sie ihren Entschluss gefasst hatten, also konnte ich ihnen nur noch für ihre Hilfe danken und meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, ihr sicherer Tod möge rasch und schmerzlos sein.

Sie dankten mir, verneigten sich und gingen.

Der Ballsaal war praktisch leer, also wurde es auch für mich Zeit zu verschwinden. Ich hatte keinen Schimmer, wohin ich gehen sollte, doch mir war gesagt worden, dass mir eine Unterkunft gestellt würde.

Lidia Iwanowna stand an dem prächtigen Eingang und verabschiedete ihre Gäste, die danach in ihren Droschkis aufbrachen.

»Meine liebe Shona Fergusowna!«, rief sie, als sie mich sah. »Ich werde Ihnen Ihre Freundlichkeit nie vergelten können! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.«

»Es ist wahrlich kein Dank nötig. Mir war es ein großes Vergnügen«, versicherte ich. »Gratulation zu Ihrem großartigen Gesellschaftsabend, und ich freue mich darauf, Sie bald wiederzusehen.«

Als ich die unterste Eingangsstufe erreichte, fuhr eine elegante, vierrädrige Droschki heran, und der Kutscher sprang vom Bock, um mir beim Einsteigen zu helfen. Er hatte zotteliges Haar, einen dichten Bart und trug einen langen, schäbigen Mantel.

»Nach Hause, Eure Exzellenz?«, fragte er.

»Nach Hause«, bestätigte ich und war ziemlich gespannt darauf, wo das sein würde.

Der Kutscher trieb das Pferd zu einem forschen Trott an, und wenige Minuten später überholten wir eine Kutsche, in der die pummelige Gräfin zusammen mit einem ausgemergelten Herrn saß, der mir einen hochnäsigen Blick zuwarf.

»Wer ist das bei der Gräfin?«, erkundigte ich mich beim Kutscher.

»Der Graf«, antwortete er und ergänzte: »Ihr Ehemann.«

Vielleicht verhielt es sich mit Kutschern wie mit Taxifahrern: Sie wussten alles. »Die Gräfin hat viel Zeit mit einem jungen Mann verbracht – blond, Anfang zwanzig, schlank, unglaublich gut aussehend«, berichtete ich. »Wie ist sein Verhältnis zu ihr?«

Die Antwort des Kutschers war kaum zu verstehen, denn er bekam einen Hustenanfall.

»Haben Sie ›Protegé‹ gesagt?«, hakte ich nach.

»Ich bitte um Verzeihung, Eure Exzellenz.«

»Selbstverständlich. Für Ihren Husten können Sie nichts. Und was wissen Sie über den jungen Mann?«

»Ich persönlich nichts«, erwiderte der Kutscher. »Sein Name ist Sascha, und er ist neu in der Stadt. Ich habe gehört, dass er ein Cousin ersten Grades vom alten Prinzen sein soll. Und es heißt, dass er eine starke Ähnlichkeit mit der blauäugigen Baroness hat.«

»Das ist sehr interessant«, sagte ich.

Und das meinte ich ernst. Erstens bestätigte es, dass Kutscher alles wussten. Und zweitens enthüllte es mir, dass der umwerfend gut aussehende junge Mann mit falscher Identität unterwegs war. Andere mochten sich täuschen lassen, aber ich war auf einer Mission, und mich würde niemand blenden.

Kapitel Zwei

Wir hielten vor einem zweigeschossigen Haus, das in einem dezent neoklassizistischen Stil gebaut und dessen weiße Fassade mit türkisen und goldenen Akzenten verziert war. Ich erkannte sofort, dass es sich um eine Arbeit von Charles Cameron handelte, dem Lieblingsarchitekten von Katharina der Großen. Ein richtig netter Zug, mir ein Haus zuzuteilen, das ein schottischer Landsmann entworfen hatte.

Aus allen Fenstern schien mattes Kerzenlicht.

Der Kutscher sprang von seinem Bock und wartete darauf, mir nach unten zu helfen. Was vollkommen unnötig war, da ich immer noch so gelenkig war wie damals im Gymnastikteam der Schule und obendrein den Vorteil der Doc Martens genoss. Aber es fühlte sich unfreundlich an, das zu sagen, und so ließ ich mir von ihm helfen.

Sein buschiger schwarzer Bart und das lange Zottelhaar verbargen das meiste von seinem Gesicht, und es war so oder so zu wenig Licht da, um ihn genau betrachten zu können. Dennoch hatte er etwas Liebenswertes an sich – wie Bambi.

»Danke«, sagte ich. »Darf ich fragen, wie Sie heißen?«

»Ich bin der alte Watruschkin, Eure Exzellenz.«

»Das war eine sehr angenehme Fahrt, Mr Watruschkin.«

Trotz der Barttarnung sah ich, dass sich seine Mund- und Augenwinkel kräuselten. »Bitte nennen Sie mich Alter Watruschkin«, flüsterte er.

»Gut«, sagte ich. »Ich hoffe, ich sehe Sie irgendwann mal wieder.«

Anstelle des eben noch unglücklichen Tonfalls trat ein verwunderter, als er erwiderte: »Aber ich bin doch Ihr Kutscher, Eure Exzellenz. Sie sehen mich morgen. Um welche Zeit brauchen Sie mich?«

Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich einen festen Fahrer bekommen würde – noch ein netter Zug.

»Das ist wunderbar«, antwortete ich. »Vormittags werde ich einen Spaziergang machen, um mich hier zu orientieren, also brauche ich Sie erst am Nachmittag. Schlafen Sie gut! Und danke, dass Sie mich nach Hause gebracht haben.«

»Eure Exzellenz.« Er verneigte sich, stieg auf seinen Bock und schnalzte dem Pferd zu, worauf es lostrottete.

Ich ging zur eleganten Haustür und fragte mich, wie viel Personal ich haben würde. Einen Majordomus, eine Haushälterin, eine Köchin, eine Zofe, einige Diener? Die Vorstellung behagte mir nicht. Ich wollte mich auf meinen Auftrag konzentrieren, worum auch immer es sich dabei handeln mochte, und mich nicht von Personalproblemen ablenken lassen.

Ich suchte nach einer Klingel, konnte jedoch keine entdecken. Es war wirklich frustrierend, dass nirgends in meiner Lektüre erwähnt worden war, wann man Türklingeln in Russland eingeführt hatte. Es wäre hilfreich gewesen, um herauszufinden, welches Jahr wir hatten. Ich begann zu klopfen, und auf meine Berührung hin schwang die Tür auf.

Ich betrat die Diele, schloss die Tür hinter mir und drehte den Eisenschlüssel herum, der im Schloss steckte. Dann lehnte ich mich mit dem Rücken an die Tür und massierte mir das Gesicht mit den Fingerspitzen. Nachdem ich einen ganzen Abend lang Russisch und Französisch gesprochen hatte, tat mir der Kiefer weh.

Dies also war mein neues Zuhause. Ich war enorm erleichtert, dass es drinnen so klar und nüchtern war wie draußen. Die architektonischen Exzesse eines Bartolomeo-Rastrelli-Rokokopalastes wären mir zuwider gewesen. Hier waren die vergoldeten Wände und die Decke dezent, die Holzschnitzereien minimal, und es gab nirgends eine Spur von vulgären, neoklassizistischen Skulpturen.

»Hallo!«, rief ich. Es kam keine Antwort. Vermutlich war das Personal im Empfangssalon aufgereiht, um mich zu begrüßen. Ich lief die weiße Marmortreppe hoch, wobei ich jeweils zwei Stufen auf einmal nahm. Oben war ein kleines Vorzimmer mit Doppeltüren, und ich öffnete sie und gelangte in den Salon. Dort war niemand, aber in dem Raum selbst leuchtete es einladend. Das Funkeln der Kerzen in den Kronleuchtern wurde von den polierten Spiegeln reflektiert. Die Sofas und Sessel hatten weiß gestrichene Holzrahmen und waren mit einem warmen pfirsichfarbenen Satin bespannt. Hinten im Zimmer stand ein Pianoforte mit aufgeklapptem Deckel. Ich konnte nicht widerstehen und nahm daran Platz. Meine Finger fanden die Tasten von allein. Meiner Überzeugung nach gab es auf der ganzen Welt keine rührendere Musik als unser Schullied, das ich nun zu singen begann.

»Unserer großen Gründerin sei Ehre.Für immer sei Preis Marcia Blaine,der wir alles verdanken, was uns an Ruhm zuteilwerde,Cremor, Cremor Cremoris.«

Cremor Cremoris. Die Crème de la Crème. Unser Motto.

Und während ich so in meinem neuen russischen Heim saß, dachte ich zurück an jenen verregneten Tag in Edinburgh, der mein Leben verändert hatte. Die Bücherei war voller Leute, die hereingeeilt waren, um dem Guss draußen zu entkommen. Ich wurde auf eine Frau aufmerksam, die nicht zu den Stammkundinnen gehörte und tropfend vor meinem Schreibtisch stand. Sie hatte sich die Mühe gespart, ihre Kapuze abzunehmen.

»Guten Morgen«, grüßte sie mich, ehe ich die Gelegenheit hatte, sie zu fragen, was ich für sie tun könne. Ihr Akzent war aus der Gegend und ihr Tonfall herrisch. »Haben Sie Die Blütezeit der Miss Jean Brodie? Ich kann es nicht in den Regalen finden.«

Es gab mal eine Zeit, da war ich mir nicht sicher, was mit sich aufstellenden Nackenhaaren gemeint war. Doch die bloße Erwähnung dieses Buchs reichte, dass meine es taten.

Ich bemühte mich, ruhig zu sprechen. »Wenn es nicht in dem Regal ist, wo es stehen sollte, wird es wohl ausgeliehen sein.«

»Ja, ich kann mir vorstellen, dass es sehr beliebt ist.«

Meine Finger umklammerten die Schreibtischkante. »Bei denjenigen, die eine solche Art von Lektüre mögen, ist es das, ja.«

»Könnten Sie es in einer anderen Filiale bestellen?«

Könnte ich, würde ich aber nicht. Ich wollte nicht zur Verbreitung dieses Werks beitragen. »Leider nein. Mein Computer spinnt gerade.«

»Haben Sie es mal mit Aus- und wieder Einschalten versucht?«

Dieser Tage war jede alte Schachtel ein Computergenie. »Ich meine, das System ist zusammengebrochen. Es wird lange dauern, bis das behoben ist. Mittelkürzungen.«

»Sagen Sie«, entgegnete sie mit einem neuen, scharfen Unterton in ihrer Stimme, »gibt es ein Problem mit diesem Buch?«

Wo sollte ich anfangen? Gleich die Straße rauf ist die Marcia-Blaine-Mädchenschule, und ich habe sie besucht. Das Buch behauptet, von ihr zu handeln, doch noch nie wurde eine Schule unter dem Schleier der Fiktion derart verleumdet. Es ist eine Verzerrung, eine Farce, ein Verrat. Das Buch verhöhnt die Hingabe der Schule an akademische und sportliche Glanzleistungen und gibt sie der Lächerlichkeit preis.

Das war es, was ich sagen wollte, jedoch unterließ. Büchereien hatten sich mit den Jahren verändert – aber Bibliotheksbenutzer anzuschreien wurde nach wie vor nicht gern gesehen. Ich antwortete auch nicht: Sobald Leute hören, auf welcher Schule ich war, kichern sie und sagen: »Dann bist du ein Brodie-Mädchen, die Crème de la Crème.« Ich bin kein Brodie-Mädchen, aber jede einzelne Blaine-Schülerin ist die Crème de la Crème, weil sie eine der besten Ausbildungen der Welt genossen hat.

»Vielleicht«, meinte sie, »kann mir jemand anders helfen.«

Meine Kolleginnen durften nicht mitbekommen, dass das Buch verschwunden war, sonst würden sie es neu bestellen. Ich würde mir die Kontaktdaten dieser vermaledeiten Frau aufschreiben und mich auf die Mittelkürzungen des Stadtrats stützen, um sie beinahe augenblicklich zu verlieren.

»Darf ich Ihren Büchereiausweis sehen?«

»Ich habe keinen.«

»Dann stelle ich Ihnen einen aus.« Ich streckte die Hand nach meiner Maus aus, als mir wieder einfiel, dass ich behauptet hatte, das System sei zusammengebrochen, und so griff ich stattdessen nach einem Notizblock. »Darf ich Ihre E-Mail-Adresse notieren?«

»Ich habe keine.«

»Ihre Postanschrift?«

»Meine Adresse … wechselt häufiger.«

Manchmal dachte ich, die Bücherei von Morningside wäre nichts weiter als ein Nebengebäude der psychiatrischen Klinik um die Ecke.

»Haben Sie einen Namen?«, fragte ich in dem fröhlichsten Ton, den ich unter schwierigen Bedingungen aufbrachte.

Die potenzielle Bibliotheksbenutzerin nahm ihre Kapuze ab. Sie war nie zuvor in der Bücherei gewesen, dennoch waren mir ihre Züge so vertraut wie die meiner eigenen Eltern. Die lange gerade Nase. Das energische Kinn. Der fragende Blick. Ich erkannte sie von dem Porträt wieder, das ich täglich in der Aula meiner Schule gesehen hatte.

»Miss … Miss Blaine«, stammelte ich. »Ich dachte, Sie seien …«

»Tot? Offensichtlich nicht. Ich bin weder ein Geist noch ein Trugbild.«

Es gab nur eines, was ich jetzt sagen konnte: »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«

Das kleine Sitzungszimmer oben war frei, also brachte ich sie dorthin und ging meine hausgemachte Mischung aus Darjeeling und Earl Grey aufbrühen. Die Gründerin war hier, in der Bücherei Morningside. Weder als Geist noch als Trugbild. Aber was war sie? Meiner Berechnung zufolge müsste sie über zweihundert Jahre alt sein, doch diese Frau befand sich in der Blüte ihrer Jahre. Eine Frau, die mich beinahe bewegt hatte, ihr klipp und klar meine Meinung über ein Buch zu sagen, die sie eindeutig nicht teilte. Ich kehrte mit dem Tee und einem Teller Bourbon-Keksen zu ihr zurück.

»Also«, sagte sie, »ich möchte, dass Sie sich erklären. Ihr Computer funktionierte einwandfrei, als ich auf Sie zuging. Sind Sie immer so wenig hilfsbereit?«

»Ich bin die Crème de la Crème«, protestierte ich. »Und ich bin stolz auf meine Professionalität, die miteinschließt, so hilfsbereit wie möglich zu sein.«

»Und dennoch haben Sie sich meinen Wünschen regelrecht widersetzt.«

Ich konnte die Gründerin nicht belügen. »Es war wegen des Buchs, das Sie wollten. Tut mir leid, aber ich teile Ihre Begeisterung dafür nicht.«

»Meine Begeisterung? Wie kommen Sie darauf, ich wäre davon begeistert?«

»Sie wollten es ausleihen. Daher habe ich angenommen …«

»Nehmen Sie niemals irgendetwas an«, fiel sie mir ins Wort. »Indem Sie etwas annehmen, nehmen Sie sich und mich auf den Arm.«

Diesen Spruch merkte ich mir für später.

»Was denken Sie, wie meine Ansicht zu einem Buch ist, das mich – mich! – als Witwe eines Buchbinders beschreibt?« Sie griff nach einem Keks und brach ihn entzwei.

»Blaine-Schülerinnen machen ihre Identität nicht von einem Mann abhängig«, pflichtete ich ihr bei. Die Schule war von jeher eine Bastion des Feminismus gewesen.

»Es ist eine schändliche, verderbliche Lüge. Ich verstehe nicht, wie es veröffentlicht werden konnte«, empörte sie sich. »Ich wollte Ihre Loyalität zur Schule prüfen, und ich habe nun eine Bestätigung dafür erhalten. Gut gemacht.«

Lob von der Gründerin! Ich wurde rot vor Dankbarkeit. »Es gibt etwas, das Sie sehen sollten«, sagte ich, holte einen Schlüssel aus meiner Jackentasche und schloss einen Schrank auf.

Sie zog eine Augenbraue hoch, als sie die zahlreichen Exemplare des Werks Die Blütezeit der Miss Jean Brodie in all seinen verschiedenen Ausgaben erblickte; sämtliche Regalböden waren damit gefüllt.

»Ich darf nicht zulassen, dass dieses Buch in die Hände von Lesern fällt«, erklärte ich. »Sobald eines ankommt, verstecke ich es hier. Die Leute bestellen es ständig neu, weshalb ich immerzu wachsam sein muss.«

Ihr zustimmendes Nicken war alles, was ich an Dank brauchte.

»Erzählen Sie mir«, sagte sie und tunkte einen halben Bourbon-Keks in ihren Tee, »was Sie über Zeitreisen wissen.«

Also war Marcia Blaine eine Zeitreisende. Zumindest nahm ich es an. Es würde einige Übung brauchen, nie wieder Annahmen zu treffen. Ich führte nun aus, dass ich dank der weltbesten Ausbildung die Grundprinzipien der Quantenphysik und der Einstein-Rosen-Brücke verstand.

»Was ist das Hauptziel einer Blaine-Ausbildung?«, wollte sie von mir wissen.

»Die Welt zu einem besseren Ort zu machen«, antwortete ich automatisch.

»Korrekt. Ich habe inzwischen ein Zeitreisesystem eingerichtet, das meinen Mädchen ermöglicht, ihre Bemühungen über die Jahrhunderte hinweg auszuweiten. Ich glaube, Sie wären eine passende Rekrutin.«

Mir wurde recht schwindlig angesichts der Ehre, von der Gründerin höchstpersönlich ausgewählt zu werden.

»Sie können sich auf mich verlassen«, versprach ich.

Und dann dachte ich nach. Ich hatte meine Arbeit in der Bücherei, die dreimal in der Woche bis spät in den Abend hinein geöffnet war. In meiner Freizeit machte ich gegenwärtig Zumba, Aquafitness sowie Gewichtheben und besuchte Kurse in etruskischer Kunst, zeitgenössischer Sozialtheorie und Mandarin für Fortgeschrittene.

»Also … genau genommen ist es wahrscheinlich am besten, wenn Sie sich nicht auf mich verlassen«, korrigierte ich mich. »Ich denke nicht, dass ich die Zeit habe, noch mehr Verpflichtungen zu übernehmen.«

Sie fixierte mich mit einem Laserblick. »Sie haben mir erzählt, dass Sie das Konzept von Zeitreisen verstehen. Sie brauchen keine Zeit dafür – Sie kehren exakt zu dem Zeitpunkt zurück, zu dem Sie gegangen sind. Das heißt, wenn Sie Ihren Auftrag innerhalb der vorgegebenen Frist erfüllt haben.«

Sie nahm noch einen Keks und biss hinein.

»Was meinen Sie?«, fragte ich.

»Ihnen ist maximal eine Kalenderwoche gewährt, um eine Mission abzuschließen.«

»Und wenn ich es nicht schaffe?«

Wieder dieser starre Blick. »Rechnen Sie schon mit einer Niederlage, bevor Sie überhaupt angefangen haben?«

»Selbstverständlich nicht«, versicherte ich ihr.

»Sehr gut. In dem Fall müssen Sie nur wissen, dass es Konsequenzen hat, wenn Sie eine Deadline nicht einhalten. Es gibt keine Vergütung, aber es wird für Ihre Reise und Unterbringung aufgekommen, und Ausgaben im vernünftigen Rahmen sind erlaubt. Ich sorge für meine Mädchen – denn Sie und die anderen sind die Crème de la Crème.«

Cremor Cremoris. An jenen Tag dachte ich zurück, als ich das Schullied auf dem russischen Pianoforte spielte. Ich würde meinen Auftrag in Rekordzeit erledigen. Worum auch immer es sich handelte. Miss Blaine hatte mir lediglich erzählt, dass es offensichtlich sein würde, was meine Mission war.