Mörderfinder – Die Spur der Mädchen - Arno Strobel - E-Book
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Mörderfinder – Die Spur der Mädchen E-Book

Arno Strobel

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Beschreibung

Max Bischoff, begnadeter Fallanalytiker, kennt das Böse von Angesicht zu Angesicht – Der neue Psycho-Thriller von Nr. 1-Bestseller-Autor Arno Strobel Seine Zeit beim KK 11 in Düsseldorf ist Geschichte. Jetzt fängt Fallanalytiker Max Bischoff an der Polizeihochschule in Köln neu an. Bildet die aus, die so gut werden wollen wie er. Aber die Fälle finden ihn trotzdem. Als ihn der Vater der seit sechs Jahren verschwundenen Leni Benz um Hilfe bittet, will Max sofort ablehnen. Aber er merkt, dass er es nicht kann. Zu viele Fragen sind ungeklärt im Fall der Grundschülerin, die auf dem Schulweg verschwand und nie mehr gesehen wurde. Doch wieso taucht jetzt Lenis Ranzen wieder auf, steht an seinem Platz in ihrem Elternhaus, als sei nichts geschehen? Wie kann das sein, nach all der Zeit? Und vor allem: Weshalb gibt es so viele Parallelen zu einem aktuellen Fall? Max begibt sich auf die Spur des Täters ... »Bei Arno Strobels Thrillern brauchen Sie kein Lesezeichen, man kann sie sowieso nicht aus der Hand legen. Packend und nervenzerreißend!« Sebastian Fitzek

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 350

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Arno Strobel

Mörderfinder

Die Spur der Mädchen Thriller

Thriller

 

 

Über dieses Buch

 

 

Seine Zeit beim KK 11 in Düsseldorf ist Geschichte. Jetzt fängt Fallanalytiker Max Bischoff neu an.

Gibt sein Wissen an der Polizeihochschule weiter, bildet die aus, die so gut werden wollen wie er. Aber die Fälle finden ihn trotzdem. Und er findet die Mörder. Denn nichts ist ihm näher als die dunkle Täterpsyche ...

 

Max Bischoff ermittelt im Fall eines vor sechs Jahren verschwundenen Mädchens, von dem es seither kein Lebenszeichen mehr gab. Bis jetzt plötzlich ihre Sachen wieder auftauchen ...

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Arno Strobel liebt Grenzerfahrungen und teilt sie gern mit seinen Lesern. Deshalb sind seine Thriller wie spannende Entdeckungsreisen zu den dunklen Winkeln der menschlichen Seele und machen auch vor den größten Urängsten nicht Halt.

Seine Themen spürt er dabei meist im Alltag auf und erst, wenn ihn eine Idee nicht mehr loslässt und er den Hintergründen sofort mit Hilfe seines Netzwerks aus Experten auf den Grund gehen will, weiß er, dass der Grundstein für seinen nächsten Roman gelegt ist. Alle seine bisherigen Thriller waren Bestseller, »Offline« stand wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste.

Arno Strobel lebt als freier Autor in der Nähe von Trier.

 

www.arno-strobel.de

www.facebook.com/arnostrobel.de

@arno.strobel

 

Außerdem bei FISCHER Taschenbuch erschienen:

»Der Trakt«, »Das Wesen«, »Das Skript«, »Der Sarg«, »Das Rachespiel«, »Das Dorf«, »Die Flut«, »Im Kopf des Mörders – Tiefe Narbe«, »Im Kopf des Mörders – Kalte Angst«, »Im Kopf des Mörders – Toter Schrei«, »Offline«, »Die App«

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

Wichtiges Update

Für alle, die Max vermisst haben

1

Er hat die Haustür hinter sich geschlossen und will gerade den Schlüssel in den Schlüsselkasten hängen, als er ihn entdeckt.

Der Rucksack steht auf dem Boden vor der Garderobe, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Das war es auch einmal. Vor vielen Jahren. Jetzt aber erstarrt er bei dem Anblick mitten in der Bewegung und hat das Gefühl, sein Herz müsse stehen bleiben.

Eine Weile verharrt er so, den Schlüssel noch in der ausgestreckten Hand, den Blick unverwandt auf den bunten Schulrucksack gerichtet, zu keiner Bewegung fähig. Nicht einmal zu einem Gedanken.

Irgendwann – er weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist – setzen sein Denken und seine Bewegungsfähigkeit wieder ein. Er öffnet die Hand, und der Schlüssel fällt klirrend zu Boden. Es ist ihm egal. »Leni«, flüstert er.

Er macht vorsichtig einen Schritt auf den Rucksack zu, noch einen, als könnte eine zu schnelle Bewegung dazu führen, dass er plötzlich wieder verschwindet.

Er braucht sich nicht zu bücken, um ihn sich näher anzusehen. Es ist nicht nötig, ihn hochzuheben, er weiß, wem dieser Schulrucksack gehört. Dennoch streckt er zögernd die Hand aus, um sich davon zu überzeugen, dass es keine Halluzination ist. Diesmal nicht.

Es ist schon eine ganze Weile her, seit er zum letzten Mal geglaubt hat, seine Tochter vor sich zu sehen.

Und jetzt steht da ihr Rucksack in der Diele, auf demselben Platz, auf dem er immer gestanden hat, wenn sie aus der Schule gekommen ist.

Seine Hand berührt das feste Material. Er streicht darüber, spürt die glatte Oberfläche unter seinen Fingerspitzen. Nein, das ist keine Halluzination. Vorsichtig, als könnte er unter seinen Händen zu Staub zerfallen, dreht er den Rucksack ein wenig, so dass er die Rückseite sehen kann, und starrt auf den unregelmäßigen Fleck, der sich fast über die gesamte Fläche des Rückenteils zieht. Der Abdruck eines Autoreifens. Seines Autoreifens. Er hatte nicht gesehen, dass Leni den Rucksack hinter dem Auto abgestellt hatte, und war darübergefahren. Keine Zweifel mehr.

Mit einem Ruck richtet er sich auf und wirbelt herum. »Leni!«, ruft er, und noch einmal, lauter: »Leni?«

Das ist unmöglich, mahnt eine Stimme in ihm, doch er ignoriert sie.

»Leni!« Er stößt die Tür zur Küche auf, sein Blick fällt auf die Eckbank gegenüber, wo sie immer gesessen hat, wenn sie Stephanie beim Kochen zugesehen hat. Er stöhnt auf, muss sich am Türrahmen abstützen.

Der Tisch ist gedeckt. Für drei Personen.

An Lenis Platz, neben ihrem Teller, liegt die kleine, gehäkelte Puppe, die seine Mutter für ihre Enkeltochter gemacht und sie ihr am Nikolaustag geschenkt hat. Sie hat sie dabeigehabt, als sie vor sechs Jahren …

»O mein Gott«, hört er sich sagen, während ihm die Tränen über die Wangen rinnen. Er wischt sie weg, presst sich die Hand auf den Mund, schüttelt fassungslos den Kopf. Dann reißt er seinen Blick von der Puppe los, wendet sich um und hat mit ein paar schnellen Schritten den Eingang zum Wohnzimmer erreicht. »Leni!« Der große Raum ist leer, und es gibt auch nichts, was auf ihre Anwesenheit hindeuten würde. Er wendet sich ab, durchquert die Diele und starrt den Schulrucksack an, bis er die Holztreppe nach oben erreicht hat. Entweder spielen ihm gerade seine Sinne und sein Verstand einen üblen Streich, oder … Er wagt es nicht, weiterzudenken.

Sein Herz wummert gegen die Rippen, das Blut rauscht durch seinen Körper, während er Stufe um Stufe nimmt. Dann ist er oben, richtet den Blick auf die geschlossene Tür am Ende des kleinen Flurs, auf das Blatt Papier, das in Brusthöhe schief mit Klebestreifen auf das weiße Holzfurnier geklebt ist, während er darauf zugeht.

Einhornland

Er hat alles genauso gelassen, wie es an dem letzten Tag gewesen ist … Die ersten Wochen danach hat er fast ausschließlich in Lenis Zimmer verbracht, hat auf ihrem Bett gesessen, auf ihrem Schreibtischstuhl, auf dem Boden, und stundenlang auf die Dinge gestarrt, die dort herumlagen, während er darauf wartete, dass ein Wunder geschehen würde und alles wieder wie früher wäre. Immer wieder hatte er die Dinge berührt, die sie in den Händen gehalten, die sie gebastelt oder geschrieben hat …

Er erreicht die Tür und schüttelt diese Gedanken von sich ab, streckt die Hand aus, legt sie auf die Klinke. Vielleicht …

Er öffnet die Tür, macht einen Schritt in Lenis Zimmer und erfasst mit einem Blick, dass sie nicht da ist. Aber er sieht auch die türkisfarbene Strickjacke, die sie so geliebt und an jenem Tag getragen hat. Sie liegt auf dem Bett, hingeworfen, wie zehnjährige Mädchen das so tun.

Sie ist nicht mehr zehn, souffliert ihm eine innere Stimme. Das war sie, als du sie zuletzt gesehen hast. Das ist sechs Jahre her. Leni ist jetzt sechzehn.

Sechzehn … Sein Verstand weigert sich, diese Tatsache zu akzeptieren. Ein Kind ist so alt, wie es war, als man es zuletzt gesehen hat. Das ist ein Naturgesetz, denn man sieht seine Kinder – jedenfalls solange sie klein sind – täglich. Oder zumindest so häufig, dass sie nicht von einem zum anderen Mal plötzlich um sechs Jahre älter sind.

Er schüttelt den Kopf. Was denkt er in dieser Situation über solch unsinnige Dinge nach? Alles deutet darauf hin, dass Leni wieder da ist, wie auch immer das möglich ist. Er muss sie nur finden. Wahrscheinlich ist sie vollkommen verstört und hat sich irgendwo versteckt. Wer kann schon ahnen, was ihr in den vergangenen sechs Jahren widerfahren ist? Vielleicht hat sie sogar Angst vor ihm, ihrem Vater?

»Leni?« Er wendet sich ab, wirft einen Blick in den Raum neben Lenis Zimmer. Es war das Gästezimmer gewesen. Früher, als noch Gäste kamen. Heute ist das kleine Zimmer vollgestellt mit Kisten und Kartons.

Er geht weiter, öffnet jede Tür, blickt in jedes Zimmer und ruft immer wieder ihren Namen. Dann läuft er erneut nach unten, danach in den Keller.

Der große Raum mit der Tischtennisplatte … Die Deckenlampe flammt auf, wirft ihr kaltes Licht auf die grüne Platte inmitten des kahlen Raums. Auf einer Seite liegt schräg auf einem kleinen weißen Ball ein Tischtennisschläger, als hätte gerade noch jemand damit gespielt. Ein billiges Teil aus Sperrholz, an dem sich die Gummierung teilweise gelöst hat. Er dürfte nicht da liegen. Er selbst hat ihn damals in die Kiste unter der Platte gesteckt.

Es ist ihr Schläger.

Er sinkt gegen die kalte Wand, starrt auf den Schläger. Sein Mund öffnet sich, und er flüstert: »Leni.«

2

»In Deutschland gibt es lediglich rund einhundert offizielle Fallanalytikerinnen und -analytiker, die vor allem in den Medien gern als Profiler bezeichnet werden. Sie werden aber feststellen, dass der Begriff Fallanalytiker zutreffender ist, denn eine Profilerstellung erfolgt immer auf der Grundlage einer Fallanalyse. Ein verschwindend geringer Teil dieser einhundert Spezialisten sind Psychologen, der Rest sind Polizistinnen und Polizisten mit einer entsprechenden Zusatzausbildung.«

Max Bischoff machte eine rhetorische Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und ließ dabei seinen Blick durch den Hörsaal schweifen, bevor er ihn wieder auf die Polizeischülerin richtete, die die Frage gestellt hatte.

»Wenn Sie Fallanalytikerin werden möchten, sind Sie als Polizistin also schon mal auf dem richtigen Weg, müssen sich aber klarmachen, dass es sehr lange dauert und schwierig werden wird, an eine offizielle Planstelle zu kommen.«

Erneut ließ er einige Sekunden verstreichen, bevor er grinsend hinzufügte: »Aber wer sagt, dass Sie sich nicht auch als normale Ermittlerin mit der Fallanalyse beschäftigen können?

Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Nachmittag und hoffe, wir sehen uns am kommenden Montag wieder.«

Sofort brandete Gemurmel auf, und die meisten der rund vierzig angehenden Polizistinnen und Polizisten erhoben sich und verließen den Hörsaal.

Max war damit beschäftigt, seine Unterlagen in der Ledertasche zu verstauen, als die junge Frau, deren Frage er gerade beantwortet hatte, vor ihm stehen blieb und ihn anlächelte, während sie sich eine Strähne ihrer schulterlangen blonden Haare zurückstrich. Max schätzte sie auf Anfang zwanzig. »Sie haben das selbst genau so gemacht, wie Sie es gerade gesagt haben, nicht wahr? Sie waren als Ermittler bei der Kripo Düsseldorf und haben mit den Techniken der Fallanalyse gearbeitet.«

Ein roter Schimmer überzog ihre Wangen, als sie hinzufügte: »Sie wundern sich vielleicht, dass ich das weiß … Ich bin ein großer Fan von Ihnen. Ich habe alles über Sie gelesen, Herr Bischoff.«

Max erwiderte ihr Lächeln, während er seine Tasche zuklappte. »Na ja, viel wurde ja Gott sei Dank bisher nicht über mich geschrieben, aber trotzdem – danke schön. Wie ich eben schon sagte, spricht nichts dagegen, wenn Sie das genauso angehen, Frau … Entschuldigen Sie bitte, ich brauche immer zwei, drei Vorlesungen, bis ich mir die Namen meiner Studentinnen und Studenten gemerkt habe.«

»Brosius. Jana Brosius.«

Max legte sich den Trageriemen der Tasche über die Schulter. »Der Besuch meiner Vorlesungen ist freiwillig, Jana, und die Tatsache, dass Sie hier sind, ist doch schon mal ein guter Anfang.«

»Ja, das finde ich auch.« Sie streckte Max die Hand entgegen und strahlte ihn dabei an. »Danke.«

Er ergriff die Hand. »Danke wofür?«

»Dass wir von Ihrer Erfahrung lernen dürfen.« Damit wandte sie sich ab und verließ den Raum.

Max blickte noch eine Weile auf die geöffnete Tür und wünschte Jana Brosius, nicht alle Erfahrungen machen zu müssen, die er hinter sich hatte.

Als er kurz darauf ebenfalls den Hörsaal verlassen wollte, stieß er an der Tür fast mit einem Mann zusammen, der gerade im Begriff war, den Raum zu betreten.

Er mochte Mitte vierzig sein, war schlank und hatte kurze rotblonde Haare. Unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab, als hätte er längere Zeit nicht geschlafen.

»Tut mir leid«, stieß der Mann aus und hob entschuldigend eine Hand. »Ich habe nicht gesehen, dass Sie … Ich wollte …« Er atmete tief durch und schloss dabei für einen Moment die Augen. »Sind Sie Max Bischoff?«

»Ja, der bin ich. Und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Benz. Robert Benz.« Er reichte Max eine Visitenkarte, die er schon in der Hand gehalten haben musste.

Max nahm sie und steckte sie nach einem kurzen Blick darauf in die Gesäßtasche seiner Jeans. »Und wo wollten Sie hin, Herr Benz?«

»Zu Ihnen.« Robert Benz blickte sich um, und es war ihm deutlich anzusehen, dass er sich unwohl fühlte. »Ich habe hier vor der Tür gewartet, bis Ihre Vorlesung vorbei war und die Studenten den Raum verlassen haben, damit ich mit Ihnen reden kann.«

Max zuckte mit den Schultern. »Hier bin ich. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich … ich brauche Ihre Hilfe.«

»Wobei?«

Erneut blickte Robert Benz sich um, bevor er antwortete. Mittlerweile war der Flur fast menschenleer. Nur noch einige wenige Studierende verließen ihre Hörsäle und machten sich auf den Weg nach draußen. »Sie waren doch Polizist, und wenn es stimmt, was ich gehört habe, waren Sie ein sehr guter Ermittler. So was wie ein Profiler, der die Fälle …«

»Ich war Kriminalbeamter, ja, aber das ist vorbei, jetzt bin ich Privatdozent hier an der Uni«, fiel Max dem Mann ins Wort. Das Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, die ihm nicht gefiel.

»Ja, das weiß ich. Und Sie wissen sicher, dass im Raum Köln in den letzten zwei Wochen zwei Mädchen verschwunden sind.«

»Ich habe davon gehört. Aber noch einmal, ich …«

»Genauso wie vor sechs Jahren. Damals waren es drei Kinder, die nie wieder aufgetaucht sind. Der Täter ist nicht gefasst worden.« Benz sprach nun sehr schnell, als befürchtete er, Max würde das Gespräch beenden, bevor er alles gehört hatte, was er ihm sagen wollte.

»Ich erinnere mich«, sagte Max und dachte tatsächlich daran, das Gespräch zu beenden. »Und ich bin ganz sicher, die Polizei wird alles tun, um den Täter zu fassen. Allerdings verstehe ich nicht, was Sie von mir wollen.«

»Ich … würde Sie gern engagieren.«

»Mich engagieren?« Max schüttelte humorlos lächelnd den Kopf. »Wozu? Und wie kommen Sie überhaupt auf diese Idee? Ich bin doch kein Privatdetektiv.«

Benz ließ den Kopf sinken, seine Augen füllten sich mit Tränen. »Es … geht um meine Tochter. Leni. Sie gehörte zu den drei Mädchen, die damals verschwunden sind. Da war sie zehn Jahre alt.«

Max hatte das Gefühl, sein Magen würde von zwei Fäusten zusammengequetscht, so wie er es in den letzten neun Monaten, seit er den Polizeidienst quittiert hatte, immer wieder spürte, wenn er irgendwo über die Schicksale von Verbrechensopfern und ihren Angehörigen las. Oder wenn er daran dachte, wie er alles darangesetzt hatte, Ermittler zu werden und diejenigen dingfest zu machen, die anderen grausame Dinge antaten, aus Profitgier oder um ihre niedersten Instinkte zu befriedigen. Und er dachte auch daran, was dieser Beruf mit ihm gemacht hatte. All die Schmerzen. Die Albträume. Der Verlust …

»Das tut mir sehr leid, Herr Benz. Aber noch einmal: Die Polizei wird mit Sicherheit alles in ihrer Macht Stehende tun, um diese Taten aufzuklären.«

»Aber das ist zu wenig. Meine Tochter ist vor sechs Jahren verschwunden, und die Polizei hat bis heute noch keine Spur von ihr gefunden. Können Sie nicht verstehen, dass ich verzweifelt bin?«

»Doch, das kann ich, sehr gut sogar, aber ich bin trotzdem der falsche Ansprechpartner.«

»Wovor haben Sie nur solche Angst?«

»Was soll das?«, entgegnete Max gereizt. »Wie kommen Sie auf die Idee, ich hätte Angst?«

»Warum sonst quittiert ein überaus erfolgreicher und scharfsinniger Ermittler den Dienst, bevor seine Karriere richtig begonnen hat?«

»Das …« Das geht Sie nichts an, wollte er dem Mann entgegenschleudern, verkniff es sich aber angesichts des furchtbaren Verlustes, den dieser erlitten hatte.

»Ich kann Ihnen nicht helfen, tut mir leid.«

Max wandte sich ab und wollte gerade an Robert Benz vorbeigehen, als der sagte: »Es sieht so aus, als wäre sie wieder da.«

Max blieb stehen und wandte sich Benz erneut zu. »Was? Wie soll ich das verstehen?«

Benz wartete, bis eine Studentin an ihnen vorbeigegangen und außer Hörweite war. »Als ich vor vier Tagen nach Hause kam, stand ihr Schulrucksack im Flur. Genau an der Stelle, an der sie ihn immer abgestellt hatte, wenn sie von der Schule nach Hause kam. In der Küche war der Tisch für drei Personen gedeckt, auf ihrem Platz lag eine Puppe, die meine Mutter für sie gehäkelt hat. Im Keller lag ihr Schläger auf der Tischtennisplatte, als hätte sie gerade gespielt. Alles war so wie zu der Zeit, bevor sie verschwunden ist. Nur Leni selbst konnte ich nicht finden.«

»Das ist ja wirklich seltsam«, murmelte Max nachdenklich. »Das dritte Gedeck war für Ihre Frau?«

»Ja, allerdings sind wir mittlerweile geschieden. Unsere Ehe hat den Verlust unseres Kindes nicht verkraftet. Ich lebe allein. Aber das kann Leni ja nicht wissen.«

Max nickte. »Verstehe. Und Sie sind sicher, dass es der Rucksack und die Puppe Ihrer Tochter waren, die da lagen? Könnte es nicht sein, dass jemand …«

Benz schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Ich bin damals aus Versehen mit dem Auto über den Rucksack gefahren. Die Spuren davon sind immer noch sichtbar. Und die Puppe hat meine Mutter gehäkelt. Ich habe sie sofort wiedererkannt, sie ist ein Unikat.«

»Haben Sie der Polizei davon erzählt? Und Ihrer Frau?«

»Nein.«

»Nein? Aber warum nicht?«

Die Mundwinkel des Mannes zuckten, und Max sah ihm an, dass er um Beherrschung rang.

»Was meine Frau betrifft – davon abgesehen, dass die Trennung unschön war und wir beide nicht den Wunsch haben, jemals wieder voneinander zu hören, wüsste ich nicht einmal, wo ich sie erreichen könnte. Sie ist irgendwann mit ihrem neuen Freund nach Andalusien gezogen. Um Abstand zu all dem zu bekommen, wie sie in unserem letzten Telefonat sagte.

Und die Polizei … Es gibt aus meiner Sicht nur zwei Erklärungen für das alles: Entweder ist Leni wirklich zurück – was ich mir mehr wünsche als alles andere –, oder der Täter spielt ein abartiges Spiel mit mir, das an Grausamkeit kaum noch zu überbieten ist. So oder so muss ich wissen, was dahintersteckt, glaube aber nicht, dass die Polizei, die in sechs Jahren nicht die kleinste Spur gefunden hat, mir jetzt weiterhelfen wird. Aber Sie können das.« Robert Benz atmete tief durch. »Bitte helfen Sie mir herauszufinden, was mit meinem Kind passiert ist. Und ob es noch lebt. Ich habe etwas Geld gespart und bin bereit, Sie gut dafür zu bezahlen.«

Max richtete den Blick an Benz vorbei, während Bilder aus der Vergangenheit in seinem Kopf aufblitzten und Wunden, die gerade erst mit dem zarten Schorf der Zeit zu verheilen begonnen hatten, erneut aufbrachen. Alles in ihm bäumte sich auf und stemmte sich gegen dieses Gefühl, das er seit einem Dreivierteljahr erfolgreich unterdrückt hatte und das sich plötzlich wieder in ihm regte.

Dieser Wunsch … dieser Drang, die Mistkerle aus dem Verkehr zu ziehen, die solche Dinge taten.

Nach einer Weile, in der sich Gedanken und Erinnerungen in Max’ Kopf überschlugen, machte Benz einen kleinen Schritt auf ihn zu, so dass nun nur noch wenige Zentimeter zwischen ihnen lagen. Max sah überdeutlich die Träne, die sich aus seinem Augenwinkel löste. »Überlegen Sie es sich noch einmal. Bitte.«

3

Sie kauert sich hinter dem Busch zusammen, als er das Universitätsgelände verlässt. Er darf sie auf keinen Fall sehen. Während er auf den Parkplatz zugeht, verfolgt ihr Blick ihn durch eine Lücke zwischen den Zweigen, als wäre er an seinem Hinterkopf festgeheftet. Sie horcht dabei in sich hinein und sucht nach aufbrandenden Gefühlen, doch sie findet nur die gewohnte, kalte Leere.

Sie verlässt ihr Versteck, setzt den Helm mit dem dunkel getönten Visier auf und schwingt sich auf die 125er, die sie direkt vor dem Busch abgestellt hat.

Sie beobachtet, wie er die Autotür öffnet und einsteigt. Sekunden später wird der Motor gestartet. Als der Wagen den Parkplatz verlässt, folgt sie ihm.

Während sie darauf achtet, dass sich im dichten Verkehr der Kölner Innenstadt immer zwei, drei Autos zwischen ihnen befinden, kreisen ihre Gedanken wieder um die vergangenen Jahre. Sie hat es schon lange aufgegeben, sich dagegen zu wehren oder sich den Kopf darüber zu zermartern, wie ihr Leben hätte verlaufen können, wenn nicht geschehen wäre, was geschehen ist. Diese Gedanken hat sie ausgetauscht gegen die wohltuende Kälte, die alle Gefühle in ihr erstarren ließ. Und diese Kälte hat noch etwas anderes mitgebracht: Ihren glasklaren Verstand, der nicht getrübt ist von Emotionen.

Seitdem kann sie über das Geschehene nachdenken wie über einen Film, den sie vor langer Zeit gesehen hat. Und das tut sie. Jeden Tag.

Sie fahren auf eine der unzähligen Ampeln zu. Sie springt auf Gelb, als er gerade daran vorbeifährt.

Das Auto vor ihr bremst und zwingt sie, ebenfalls anzuhalten. Sie sieht noch für ein paar Sekunden das Heck seines Wagens, dann verschwindet er hinter einer Biegung.

Sie hat ihn verloren. Erneut horcht sie in sich hinein.

Es lässt sie kalt.

4

In seiner Wohnung in Düsseldorf-Unterbilk warf Max den Schlüssel in die Holzschale, die auf der kleinen Kommode im Flur stand, stellte seine Tasche auf dem Boden ab und ging in die Küche. Dort nahm er sich ein Glas aus dem Schrank und griff nach der Weinflasche, die auf der Arbeitsplatte neben dem Herd stand. Marchesi di Barolo, Jahrgang 2015. Er hatte sie am Vorabend geöffnet und erst ein Glas davon getrunken.

Der frühe Nachmittag war definitiv nicht die Zeit, zu der er normalerweise Wein trank, aber Max hatte das Gefühl, dass ihm ein Schluck jetzt guttun würde.

Er füllte das Glas zu einem Viertel, ging damit ins Wohnzimmer und stellte es auf dem niedrigen Tisch ab, bevor er sich auf die Couch fallen ließ.

Auch wenn er sich nicht von ihm hatte engagieren lassen, ging ihm dieser Robert Benz mit seiner Geschichte nicht mehr aus dem Kopf. Max konnte sich nicht vorstellen, dass ein Täter, der ein kleines Mädchen entführt und vielleicht getötet hatte, sechs Jahre danach damit begann, ein grausames Spiel mit dem Vater des Kindes zu treiben. Das wäre gegen jedes Verhaltensmuster von Triebtätern und Pädophilen. Deren Aufmerksamkeit richtete sich ausschließlich auf ihre Opfer und nicht gegen Familienangehörige.

Dass das Mädchen nach so langer Zeit allerdings zurückkehrte und so deutliche Hinweise im Haus hinterließ, dann aber wieder verschwand, war mindestens ebenso unwahrscheinlich.

Mit einer fast mechanischen Bewegung zog er sein Smartphone aus der Tasche, tippte im Adressbuch auf die Favoriten und dort auf einen Namen und hielt sich das Gerät dann ans Ohr.

»Böhmer, was gibt’s?«, ertönte nach zweimaligem Läuten die schlechtgelaunt klingende Stimme seines ehemaligen Partners, was Max sehr wunderte. Böhmer war nicht gerade für seine höfliche und freundliche Art bekannt, aber seit Max nicht mehr bei der Polizei war und sie sich nur noch selten sahen, hatte er sich noch immer über einen Anruf gefreut.

»Oha! Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Bereust du es gerade mal wieder, doch nicht in den vorzeitigen Ruhestand gegangen zu sein?«

»Max?« Das klang schon ganz anders. »Entschuldige, dein Name wird nicht angezeigt. Dieses blödsinnige Scheißhandy …«

Max lachte kurz auf. »Was ist denn damit?«

»Es ist neu. Das ist damit. Irgendjemand im Präsidium hat beschlossen, dass wir neue Telefone bekommen sollen. Unsere Dienstwaffen sind so veraltet, dass wir besser damit nach Tätern werfen, als auf sie zu schießen, aber Hauptsache, wir bekommen neue Handys. Dieses moderne Mistding wehrt sich mit allen Mitteln dagegen, mein Adressbuch zu übernehmen. Wenn das so weitergeht, fliegt es irgendwann gegen die Wand. Aber schön, dass du anrufst. Wie geht es dir?«

»Ganz gut so weit.«

»Das freut mich zu hören. Und Kirsten?«

»Die Therapie hilft ihr sehr, sie hat die Sache schon erstaunlich gut überwunden. Zumindest nach außen hin. Wie es tief in ihrem Inneren aussieht, kann ich nicht sagen. Ich habe das Gefühl, da gibt es eine Mauer, die ich nicht durchdringen kann. Aber ich kann mich auch irren.«

»Kein Wunder. Bei dem, was der Kerl ihr angetan hat …«

»Sag mal«, wechselte Max das Thema. »Kannst du mir etwas zu den vermissten Kindern im Raum Köln sagen?«

Böhmer stieß einen Zischlaut aus. »Außer, dass ich diesem Dreckschwein, das dafür verantwortlich ist, die Pest an den Hals wünsche, meinst du? Nicht viel. Da müsstest du dich schon an eine Kollegin oder einen Kollegen aus Köln wenden. Aber warum fragst du? Ich dachte, du hast mit der Polizeiarbeit abgeschlossen?«

»Das habe ich auch. Grundsätzlich. Aber in der Uni hat mich heute ein Mann angesprochen, dessen Tochter vor sechs Jahren entführt worden ist.«

»Das ist ja seltsam. Es deutet vieles darauf hin, dass der Täter derselbe Mistkerl ist wie damals. Aber das hast du ja sicher auch schon in den Zeitungen gelesen.«

»Ja.«

»Und? Was wollte er von dir?«

»Er wollte mich engagieren.«

»Was?« Böhmer stieß ein bellendes Lachen aus. »Und was genau erwartet er von dir? Sollst du nach sechs Jahren nach seiner Tochter suchen? Glaubt der wirklich, dass sie noch lebt?«

»Ja, das hält er für möglich. Eine ziemlich verrückte Geschichte. Er sagt, in seiner Wohnung stand plötzlich ihre Schultasche, als er nach Hause kam. Der Tisch in der Küche war für sie mitgedeckt, außerdem lag darauf eine Puppe, die sie dabeihatte, als sie damals verschwand.«

»Vielleicht erlaubt sich jemand einen ganz üblen Scherz mit ihm?«

»Aber wie sollte derjenige an ihre Sachen kommen? Er sagt, auf dem Schulrucksack sind ganz bestimmte Flecken. Er hat ihn sofort wiedererkannt.«

»Und warum kommt er damit zu dir und geht nicht zur Polizei?«

»Vielleicht, weil er befürchtet, dass die Kollegen genauso lachen wie du gerade?« Verblüfft stellte Max fest, dass er Robert Benz’ Entschluss, ihn zu engagieren, verteidigte.

»Lachen wird sicher niemand von den Kollegen, wenn er die Geschichte hört«, erklärte Böhmer nachdenklich, »aber ich denke, ich verstehe trotzdem, warum er zu dir gekommen ist.«

»Ach ja? Und? Erzählst du es mir?«

»Keines der damals entführten Kinder ist wieder aufgetaucht. Weder lebend noch als Leiche. Dieser Mann möchte nach sechs Jahren endlich wissen, was mit seinem Kind passiert ist und ob es vielleicht tatsächlich noch lebt, und um das herauszufinden, geht er zu dem Besten, den er finden kann.«

»Es gibt andere gute Ermittler, die noch im Dienst sind.«

»Ja, aber keiner von ihnen hat dein Gespür, und …«

»Und was?«, hakte Max nach, als Böhmer nicht weitersprach.

»Und ich kenne niemanden, der so verbissen an einem Fall dranbleibt wie du.«

»Ach, komm, ich …«

»Wirst du der Sache nachgehen?«

»Nein«, antwortete Max, allerdings erst nach einer kurzen Pause.

»Das klingt nicht sehr überzeugt.« Damit hatte Böhmer wohl recht, wie Max sich eingestehen musste. »Ich denke, dein Jagdinstinkt ist bei dieser Geschichte wieder erwacht.«

»Jagdinstinkt … wie das klingt.«

Böhmer schnaufte. »Vielleicht solltest du annehmen.«

»Danke für deine Meinung, aber das werde ich nicht tun. Genau deswegen habe ich doch aufgehört! Um eben nichts mehr mit solchen Irren zu tun zu haben, die sich sogar an meiner Familie vergreifen, weil sie sich an mir rächen wollen. Und da werde ich jetzt ganz sicher nicht privat wieder damit anfangen.«

»Manchmal wünschte ich, ich würde privat ermitteln. Wenn so ein Dreckskerl mir ins Gesicht lacht, zum Beispiel, weil ich mich an die scheiß Dienstvorschriften halten muss und ihm deswegen nichts nachweisen kann.«

»Ich muss jetzt auflegen«, sagte Max, und es fühlte sich für ihn selbst an wie eine Flucht vor dem, was sein Expartner vielleicht noch sagen könnte.

»Max?«

»Ja?«

»Du weißt, dass er – unabhängig davon, ob du ihm hilfst oder nicht – den Vorfall mit den wiederaufgetauchten Sachen des Kindes trotzdem den Kölner Kollegen melden muss.«

»Ja. Du hörst von mir.«

Ohne eine Entgegnung abzuwarten, beendete Max das Gespräch.

Er legte das Smartphone auf dem Tisch ab, trank einen Schluck Wein und ließ sich dann gegen das Rückenpolster der Couch fallen. Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.

Es dauerte nicht lange, bis ein Gesicht vor seinem inneren Auge auftauchte. Ein bösartiger Geist, den er eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte und von dem er geglaubt hatte, ihn endgültig losgeworden zu sein. Das Gesicht gehörte der Person, die seine Schwester Kirsten entführt und gequält hatte, und es war zu einem teuflischen Grinsen verzerrt, das ihn verhöhnte. Nach einer Weile verblasste es, stattdessen sah er eine dunkle Silhouette vor sich, nur die Konturen waren deutlich erkennbar wie bei einem Scherenschnitt, und doch wusste er, dass es das Abbild eines Kindes war. Ein Mädchen mit einem Zopf. Die schwarzen, zweidimensional wirkenden Arme hoben sich und reckten sich ihm entgegen. Hilfesuchend. Verzweifelt.

Max riss die Augen auf und schüttelte den Kopf, um sich von den Bildern zu befreien. Er beugte sich nach vorn, griff nach dem Weinglas, stellte es aber wieder ab und nahm stattdessen sein Smartphone in die Hand. Sekunden später hörte er die vertraute Stimme seiner Schwester.

»Max? Schön, dass du anrufst. Ich bin gerade beim Einkaufen. Können wir später telefonieren? Du weißt ja, einkaufen und telefonieren gleichzeitig ist im Rollstuhl schwierig.«

»Ja, sicher, kein Problem. Ich wollte nur mal hören, ob es dir gut geht.«

»Das ist lieb von dir. Ja, es geht mir gut. Und dir? Du klingst irgendwie … bedrückt?«

»Nein, es ist nichts«, log er. »Nun bring du mal deinen Einkauf hinter dich. Ich melde mich dann später noch mal.«

Nachdem er aufgelegt hatte, rieb er sich mit beiden Händen über das Gesicht, als könnte er damit die Beklemmung wegwischen, die mehr und mehr von ihm Besitz ergriff. Und die aufkeimende Wut darüber, dass es wieder ein Täter geschafft hatte, dass er sich gedanklich mit ihm beschäftigte. Beschäftigen musste, ob er wollte oder nicht.

Einer dieser Irren, die anderen Menschen unendliches Leid zufügten und allzu oft nicht gefasst wurden. Und selbst wenn man einen von ihnen hinter Gitter bringen konnte, kamen wie bei den Köpfen der Hydra dafür zwei neue nach. Böhmers Worte hallten in ihm wider. Manchmal wünschte ich, ich würde privat ermitteln. Wenn so ein Dreckskerl mir ins Gesicht lacht, zum Beispiel, weil ich mich an die Dienstvorschriften halten muss und ihm deswegen nichts nachweisen kann.

Natürlich hatte er schon vor Robert Benz’ Besuch in der Uni mitbekommen, dass wieder zwei kleine Mädchen in Köln verschwunden waren, aber er hatte es geschafft, das nicht an sich heranzulassen, nicht darüber nachzudenken.

Nun aber gab es einen Vater und einen Namen. Leni, die Tochter von Robert Benz, die seit sechs Jahren verschwunden war. Und damit rückte auch der Fall der beiden seit kurzem vermissten Mädchen näher an ihn heran. Wie die Kinder damals waren sie nach der Schule nicht nach Hause gekommen.

Max beugte sich zur Seite, zog die Visitenkarte aus der Hosentasche und starrte eine Weile darauf. Dann legte er sie auf dem Tisch ab und vergrub das Gesicht in den Händen.

5

Das Läuten seines Telefons riss Max aus dem Schlaf.

Er hatte sich auf die Couch gelegt, um für ein paar Minuten entspannt die Augen zu schließen, und musste eingeschlafen sein. Noch halb benommen registrierte er, dass es im Wohnzimmer fast dunkel war. Er tastete nach dem Telefon und warf einen Blick auf das Display, bevor er das Gespräch annahm. Es war Kirsten.

»Hallo, Schwesterherz«, sagte er mit krächzender Stimme und räusperte sich.

»Hast du geschlafen? Das tut mir leid.«

»Nein, kein Problem. Ich hatte mich nur ein wenig hingelegt und wollte gar nicht schlafen. Wie spät ist es?«

»Es ist zwanzig vor acht. Schläfst du nachts immer noch so schlecht?« Ihre Stimme hatte mit einem Mal die weiche Klangfarbe einer Mutter, die sich Sorgen um ihr Kind machte. Obwohl sie ja diejenige war, die dieses furchtbare Erlebnis gehabt hatte.

»Es geht. Ich werde öfter wach, und dann fällt es mir schwer, wieder einzuschlafen.«

»Du denkst noch oft an deinen Job bei der Polizei, nicht wahr?«

»Wie kommst du jetzt darauf? Nein, normalerweise so gut wie gar nicht.«

»Normalerweise? Max? Ich höre doch an deiner Stimme, dass irgendetwas nicht stimmt.«

Er stieß ein kurzes, angedeutetes Lachen aus. »Wie gut du mich doch kennst.«

»Du bist mein Bruder.«

»Ich hatte heute eine eigenartige Begegnung, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht.«

Er erzählte ihr von seinem Gespräch mit Robert Benz und davon, wie sehr es ihn aufwühlte.

»Bereust du gerade, den Polizeidienst quittiert zu haben?«

»Nein. Ich würde auf keinen Fall wieder als Polizist arbeiten wollen. Die Erfahrungen, die ich gemacht habe … die auch du machen musstest, reichen mir völlig. Es gibt zu viele Irre da draußen.«

»Aber wenn niemand mehr den Job machen möchte, werden es noch mehr. Was da passiert ist, war schrecklich, und ich möchte so etwas nie wieder erleben, aber du hast während deiner kurzen Zeit als Ermittler einige dieser Verbrecher aus dem Verkehr gezogen und damit wahrscheinlich viele Menschen gerettet. Und jetzt läuft da so ein Kerl herum und entführt kleine Mädchen. Ich möchte gar nicht daran denken, was er ihnen alles antut.

Versteh mich nicht falsch, ich will dich nicht dazu drängen, zur Polizei zurückzugehen, aber ich kenne dich und bin mir sicher, dass dir genau diese Dinge durch den Kopf gehen. Und der Gedanke, dass du aus Angst um mich den Job aufgegeben hast, von dem du schon als Junge geträumt hast, ist für mich nur schwer zu ertragen.«

»Wir hatten diese Diskussion doch schon ein paarmal, Kirsten. Und du weißt, dass es nicht nur darum geht. In der Summe ist man als Polizist chancenlos, weil die Bedingungen nicht vergleichbar sind. Während die, hinter denen man her ist, tun und lassen, was sie wollen, und sich einen Dreck um Gesetze scheren, ist man als Polizist an die Dienstvorschriften gebunden und muss bei jedem Schritt, den man tut, damit rechnen, dass irgendjemand eine Dienstaufsichtsbeschwerde einreicht oder – noch schlimmer – dass einem intern vom eigenen Vorgesetzten auf die Füße getreten wird, weil der Angst vor einem Shitstorm im Internet oder um seine Karriere hat.

So ein Schwein steht da und spuckt einem lächelnd ins Gesicht, und man kann so gut wie nichts dagegen tun, ohne ein Disziplinarverfahren befürchten zu müssen. Die zielen auf einen, Kirsten, und bis man darüber nachgegrübelt hat, ob und wie man darauf nach Dienstvorschrift angemessen reagieren darf, haben sie schon jemanden erschossen.

Und selbst wenn man es schafft, ein paar dieser Typen zu fassen, lässt irgendein übersozial eingestellter Richter sie entweder mit einer lächerlichen Strafe davonkommen, oder er spricht sie gleich wieder frei. Weil sie eine schwere Kindheit hatten. Oder bei der Tat sturzbesoffen waren.

Die Sorge um die Täter lässt bei manchen dieser fürsorglichen Juristen die Schicksale der Opfer vollkommen in Vergessenheit geraten. Dieser Kampf ist einfach nicht fair, und als Polizist kann man ihn letztendlich nur verlieren.«

Es entstand eine Pause, in der Max seinem eigenen schnellen Atem zuhörte.

»Ach Max.« Kirsten seufzte. »Du hast recht, wir hatten die Diskussion schon einige Male, und jedes Mal stelle ich fest, mit wie viel Herzblut du noch immer an diesem Beruf hängst, in den du aber auf keinen Fall zurück möchtest. Wäre da das Angebot von diesem Mann nicht etwas, über das du zumindest nachdenken solltest? Du könntest dabei helfen, diesen Kerl zu schnappen, ohne dich mit den Dienstvorschriften herumärgern zu müssen.«

»Schlägst du mir gerade vor, ich soll als Privatdetektiv arbeiten?«

»Ich schlage dir vor, dass du deinem Herzen folgen sollst, Max.«

Als er darauf nicht antwortete, weil er nicht wusste, was er dazu sagen und wie er die Gedanken ordnen sollte, die wie ein Bienenschwarm durch seinen Kopf surrten, fügte Kirsten mit fester Stimme hinzu: »Du solltest es tun.«

»Ich … ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich muss nachdenken. Morgen Vormittag habe ich noch in der Uni zu tun. Danach komme ich zu dir, und wir kochen was Leckeres zusammen, was hältst du davon?«

»Das ist eine tolle Idee. Ich freue mich. Also bis morgen.«

»Bis dann.«

Max legte das Telefon zur Seite und stand auf. Die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, begann er, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Er fühlte sich so aufgewühlt wie schon lange nicht mehr. Robert Benz hatte ihn mit seiner Geschichte und seinem Angebot in eine Zwickmühle zwischen zwei extremen Gefühlswelten gebracht.

Da war einerseits die Wut darüber, dass er wieder über Dinge nachdenken musste, die er gerade im Begriff gewesen war, erfolgreich zu verdrängen.

Andererseits fühlte es sich mit einem Mal an, als würde frische Energie durch seinen Körper fließen, als wäre eine Trägheit von ihm abgefallen, die in den letzten Monaten wie eine nasse Decke auf seinen Schultern gelegen hatte. Auch das war ein Resultat seiner Begegnung mit Benz.

Sein Blick fiel auf das Notebook, das zugeklappt auf dem Esstisch lag. Mit zwei entschlossenen Schritten hatte er den Tisch erreicht, setzte sich und klappte den Monitor hoch.

Als das Gerät bereit war, öffnete er Google und tippte ein:

vermisste mädchen in köln

Die Ergebnisliste war lang und beinhaltete überwiegend Links zu Online-Zeitungsberichten, die – mal reißerisch und mal sachlich – über die verschwundenen Mädchen berichteten.

Nach wenigen Minuten stand Max auf, nahm sich einen Notizblock und einen Stift aus der obersten Schublade der Kommode und setzte sich wieder. Dann begann er mit seiner Recherche.

Artikel nach Artikel las er durch, erfuhr meist die immer gleichen Dinge und machte sich Notizen, wenn er irgendwo Informationen fand, die er noch nicht kannte.

Die beiden Mädchen waren sieben und neun Jahre alt und im Abstand von zehn Tagen nach der Schule verschwunden. Beide gingen in unterschiedliche Grundschulen. Da das Verschwinden der Kinder an die Fälle sechs Jahre zuvor erinnerte, hatte die Staatsanwaltschaft entschieden, für die Suche die Fotos im Internet zu veröffentlichen. Die Jüngere der beiden, Lea, hatte schulterlange blonde Haare und eine Stupsnase, die ebenso wie die Haut unter den grünen Augen mit Sommersprossen übersät war.

Die neunjährige Sofia war ein eher dunkler Typ mit langen schwarzen Haaren und fast schwarzen Augen. Max überlegte, dass ihre Familie vielleicht aus einem südlichen Land wie Italien oder Spanien stammen konnte. Weder Freundinnen noch Lehrer konnten hilfreiche Angaben machen. Es gab keine Zeugen und niemanden, der in der Nähe der Schulwege etwas Ungewöhnliches beobachtet hatte. Weder im familiären Umfeld noch in der Nachbarschaft der Mädchen gab es Anhaltspunkte oder auffällige Personen. Lea und Sofia waren einfach spurlos verschwunden.

Max ließ den Stift fallen, lehnte sich im Stuhl zurück und schloss die Augen.

Du möchtest ein Kind entführen. Ein Mädchen. Du tust das nicht zum ersten Mal, du verlässt dich nicht auf den Zufall. Tagelang hast du um die Mittagszeit, wenn die Schule für die meisten Kinder zu Ende ist, die Gegend beobachtet. Du hast dich nicht an eine Stelle gestellt, das könnte jemand sehen und sich anschließend an dich erinnern. Nein, du spazierst einfach herum. Vielleicht in einer Nebenstraße oder einer schmalen Gasse in der Nähe der Schule. Dort kommen zwar nicht so viele Kinder vorbei, aber dort wird auch niemand bemerken, wenn du … Nein, stopp, keine schmale Gasse. Es muss eine Straße sein, wo du dein Auto parken kannst. Kinder in dem Alter kann man heute nicht mehr einfach mit Schokolade oder einem Lolli dazu bringen mitzugehen. Schon gar nicht, nachdem du nach sechs Jahren entschieden hast, wieder in deinem alten Revier zu jagen. Es muss schnell gehen. Du musst sie mit einer Frage an dein Auto locken, dann muss alles innerhalb weniger Sekunden geschehen. Also eine Nebenstraße.

Warum entscheidest du dich für Lea? Hat sie bestimmte Merkmale, die sie für dich interessant macht? Hast du sie schon vorher beobachtet und ausgesucht, oder trifft es sie, weil sie in einem für dich günstigen Moment vorbeikommt?

Max beugte sich nach vorn und betrachtete erneut eingehend die Fotos der beiden Kinder, nachdem er sie in zwei Fenstern nebeneinander auf dem Monitor platziert hatte. Die Mädchen waren vollkommen unterschiedlich.

Max sah am Monitor vorbei in die Ferne.

Du hast Lea in deinem Auto. Wahrscheinlich hast du sie betäubt, damit sie dir während der Fahrt keine Schwierigkeiten macht. Wo fährst du mit ihr hin? Zu dir nach Hause? In den Wald? In ein Versteck? Und dann die Frage aller Fragen: Was machst du mit ihr? Und was tust du danach?

Max’ Blick richtete sich wieder auf den Monitor, auf die Gesichter der beiden kleinen Mädchen, und erneut formulierte er die Worte in seinem Kopf: Was machst du mit ihr?

Max stand auf, ging zum Couchtisch und griff nach seinem Handy und der Visitenkarte von Robert Benz.

6

Er sitzt auf dem Küchenstuhl und starrt die Puppe an, die noch immer auf dem Tisch liegt. Einzelheiten kann er mittlerweile nicht mehr erkennen, denn die Dämmerung ist schon weit fortgeschritten. Es kommt ihm nicht in den Sinn aufzustehen, um das Licht anzuschalten.

Das Geschirr hat er abgeräumt, aber die Puppe hat er nicht angefasst. Alles in ihm hat sich dagegen gesträubt. Zum wiederholten Mal löst sich sein Blick von der kleinen, gehäkelten Figur mit den blonden Wollhaaren, um sich auf den Rucksack zu heften, den er auf die Bank neben sich gestellt hat. Auf Lenis Platz. Daneben liegt ihre Strickjacke. Und wie schon hundertmal in der letzten Stunde fragt er sich, wie es möglich sein kann, dass die Gegenstände in seinem Haus aufgetaucht sind. Nach so langer Zeit. Diese persönlichen Dinge, die Leni dabeihatte, damals.

Kann es wirklich sein, dass sie wieder da ist? Aber falls das tatsächlich wahr sein sollte – wo ist sie? Und warum stellt sie ihren Rucksack im Flur ab, legt die Puppe auf den Tisch und verschwindet dann wieder?

Beim Läuten des Telefons schreckt er auf. Warum erscheinen Töne in der Dunkelheit lauter und greller?

Das Gerät liegt mit dem Display nach unten auf der Arbeitsplatte neben dem Herd, zeichnet sich als schwarzer Fleck im schummrigen Restlicht ab. Er steht auf und greift danach, nimmt das Gespräch an und sagt: »Benz?«