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Max Bischoff, begnadeter Fallanalytiker, ermittelt in seinem 4. Fall – Der neue Thriller von Nr. 1-Bestseller-Autor Arno Strobel Auf einer Beerdigung steht Fallanalytiker Max Bischoff plötzlich einer Frau gegenüber, die seiner großen Liebe Jennifer Sommer zum Verwechseln ähnlich sieht. Aber Jennifer ist seit fünf Jahren tot. Und Max gibt sich noch immer die Schuld daran. Die Begegnung lässt ihm keine Ruhe, und er spricht die Unbekannte an. Sie ist ebenso erstaunt wie er, es gibt keine Verbindung zu Jennifer. Obwohl Max mit aller Macht versucht, das Vergangene ruhen zu lassen, gelingt es ihm nicht. Es ist alles wieder da, das alte Trauma, die inneren Dämonen. Nie wieder wird ein Mensch seinetwegen sterben. Das hat er sich geschworen. Und doch scheint sich genau das zu wiederholen. Denn nur kurze Zeit später verschwindet jemand aus seinem Umfeld. Und Max wird zurückkatapultiert in den Keller, in dem er einst Jennifer fand, und jede Hilfe zu spät kam.
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Seitenzahl: 342
Arno Strobel
Stimme der Angst
Thriller
Auf einer Beerdigung steht Fallanalytiker Max Bischoff plötzlich einer Frau gegenüber, die seiner großen Liebe Jennifer Sommer zum Verwechseln ähnlich sieht. Aber Jennifer ist seit fünf Jahren tot. Und Max gibt sich noch immer die Schuld daran. Die Begegnung lässt ihn nicht los, und er spricht die Unbekannte an. Sie ist ebenso erstaunt wie er, es gibt keine Verbindung zu Jennifer. Max versucht mit aller Macht, das Vergangene ruhen zu lassen, endgültig einen Schlussstrich zu ziehen. Doch dann verschwindet ein geliebter Mensch aus seinem Umfeld. Und obwohl Max sich geschworen hat, dass nie wieder jemand seinetwegen sterben wird, scheint sich genau das nun auf grausame und unaufhaltsame Weise zu wiederholen.
Der neue Thriller von Nr. 1-Bestsellerautor Arno Strobel.
Fallanalytiker Max Bischoff ermittelt in seinem 4. Fall.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Arno Strobel liebt Grenzerfahrungen und teilt sie gern mit seinen Leserinnen und Lesern. Deshalb sind seine Thriller wie spannende Entdeckungsreisen zu den dunklen Winkeln der menschlichen Seele und machen auch vor den größten Urängsten nicht Halt.
Seine Themen spürt er dabei meist im Alltag auf und erst, wenn ihn eine Idee nicht mehr loslässt und er den Hintergründen sofort mit Hilfe seines Netzwerks aus Experten auf den Grund gehen will, weiß er, dass der Grundstein für seinen nächsten Roman gelegt ist. Alle seine bisherigen Thriller waren Bestseller, »Offline«, »Die App« und »Fake« standen wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste.
Arno Strobel engagiert sich für den Opferschutz und ist Förderer des Weißen Rings e.V.
Er lebt als freier Autor in der Nähe von Trier.
www.arno-strobel.dewww.facebook.com/[email protected]
Außerdem bei FISCHER Taschenbuch erschienen:
»Der Trakt«, »Das Wesen«, »Das Skript«, »Der Sarg«, »Das Rachespiel«,» Das Dorf«, »Die Flut«, »Im Kopf des Mörders – Tiefe Narbe«, »Im Kopf des Mörders – Kalte Angst«, »Im Kopf des Mörders – Toter Schrei«, »Offline«, »Die App«, »Fake«, »Der Trip«, »Mörderfinder – Die Spur der Mädchen«, »Mörderfinder – Die Macht des Täters«, »Mörderfinder – Mit den Augen des Opfers«
[Motto]
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
Marvin
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
Max
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
Epilog
Wichtiges Update
Die Vergangenheit vergeht nicht, sie ist immer gegenwärtig.
Werner Hilko Janssen
Der Anruf kam am Dienstagmorgen um kurz nach zehn. Max saß in seiner Wohnung am Esstisch und korrigierte Klausuren. Als er den Namen seines ehemaligen Dozenten und Mentors auf dem Display las, nahm er das Gespräch erfreut an. »Professor Bormann, wie schön, wieder von Ihnen zu hören. Es ist ja eine Ewigkeit her, dass …«
»Nein, hier spricht Marianne Bormann, Herr Bischoff.«
»Frau Bormann«, sagte Max deutlich leiser. Er kannte die Frau des Professors von den Besuchen bei ihnen zu Hause, es war jedoch noch nie vorgekommen, dass sie ihn anrief. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. »Ist alles in Ordnung?«
»Nein, das kann man wirklich nicht sagen.« In ihrer Stimme schwang etwas mit, das Max nichts Gutes ahnen ließ.
»Ich rufe Sie an, um Ihnen zu sagen, dass mein Mann in der vergangenen Nacht verstorben ist. Ich weiß, dass er Ihnen viel bedeutet hat.«
Da waren sie, die Worte, die Max nicht hatte hören wollen.
»Mein herzliches Beileid.« Er merkte, wie brüchig seine Stimme klang, und fühlte sich schrecklich hilflos, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. »Wie …« Er räusperte sich. »Ich meine, er war noch recht jung, wie ist er …«
Sekunden verstrichen, bis Marianne Bormann mit sanfter Stimme sagte: »So, wie er es sich immer gewünscht hat. Im Schlaf. Er ist heute Morgen einfach nicht mehr aufgewacht.«
Gott sei Dank, dachte Max, um sich gleich darauf zu fragen, wie er auf die absurde Idee kam, beim Tod eines geschätzten und aktiven Menschen wie Professor Bormann Dankbarkeit zu verspüren. Die Antwort darauf war einfach: weil ein Herzinfarkt im Schlaf nach Max’ Auffassung eine der angenehmsten Arten des Sterbens war. Auch mit gerade mal Mitte sechzig.
»Vor nicht allzu langer Zeit hat er nach einem Arzttermin damit begonnen, seine Angelegenheiten zu regeln. Er hat wohl geahnt, dass es jederzeit passieren kann. Ich weiß noch nicht, wann die Beerdigung sein wird, aber ich werde Sie gern informieren, wenn Sie das möchten.«
»Ja, bitte. Kann ich etwas für Sie tun? Brauchen Sie Hilfe in irgendeiner Form?«
»Nein, danke. Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich denke, ich komme klar. Wie ich schon sagte, mein Mann hat für diesen Fall alles sehr gut geregelt. Ich melde mich wieder bei Ihnen.«
Max legte das Telefon zur Seite und gab sich dem Gefühl der Leere hin, die entsteht, wenn ein geschätzter Mensch plötzlich nicht mehr lebt. Leere und Trauer. Er senkte den Kopf und schloss die Augen, und sofort kamen die Erinnerungen. An Bormanns Vorlesungen, denen Max stets mit brennendem Interesse gelauscht hatte. An gemeinsame Gespräche bei einem Glas Wein, als Max schon im aktiven Dienst der Kripo gewesen war und sich Rat zu aktuellen Fällen von dem erfahrenen Fallanalytiker Bormann geholt hatte. An seinen feinen Humor und diese spezielle Art, ihm, wenn sie über einen Fall redeten, Fragen zu stellen, die meist dazu führten, dass Max selbst auf Lösungsansätze kam, die er zuvor nicht gesehen hatte.
Und nun war Bormann gestorben.
Irgendwann gab Max sich einen Ruck und griff wieder nach dem Telefon. Er musste mit jemandem reden. Mit dem Menschen, der ihn wie kein anderer kannte und der wusste, welchen Stellenwert Professor Bormann in seinem Leben gehabt hatte.
»Professor Bormann ist tot«, begann er ohne Umschweife, nachdem seine Schwester Kirsten das Gespräch angenommen hatte.
»Wie geht es dir?«, kam ebenso schnörkellos ihre logische erste Frage.
Es war kalt. Zu kalt für die Jahreszeit, obwohl drei bis vier Grad Anfang März gar nicht so ungewöhnlich waren.
Max schlug den Kragen seines Mantels hoch, um sich vor dem unangenehmen Wind zu schützen.
Er stand nur zwei Meter hinter Professor Bormanns Witwe und betrachtete den Hügel frisch aufgeworfener Erde neben dem gähnenden Loch, in das der Sarg mit seinem Mentor hinabgelassen worden war. Ein kalter Körper, der nichts mehr mit dem zu tun hatte, was den Menschen Bormann ausgemacht hatte. Bedeckt mit der ebenso kalten Erde, dem endgültigen Verfall preisgegeben.
Während der Priester von der Liebe Gottes predigte, löste Max den Blick vom Grab und sah sich um. Gut einhundert Menschen waren gekommen, um dem Professor die letzte Ehre zu erweisen. Sie standen rund um das Grab und lauschten den Worten des Geistlichen, verstärkt durch ein Mikrophon, so dass man sie auch in den hinteren Reihen verstehen konnte.
Max kannte kaum einen der Anwesenden, und ihm fiel auf, dass er zwar den Kontakt zu seinem ehemaligen Dozenten aufrechterhalten hatte, ihm aber so gut wie nichts über sein Umfeld bekannt war und er keinen seiner Freunde je getroffen hatte. Er wusste lediglich von Bormanns Weg vom Psychologiestudium über seine langjährige Tätigkeit für die Kripo bis hin zum Lehrstuhl an der Kölner Hochschule. Der Professor war ein Einzelkind gewesen und hatte seinen Vater früh verloren.
Max’ Blick blieb an einer Frau hängen, ihm gegenüber etwa zwanzig Meter entfernt, die ihn unverwandt ansah. Plötzlich hatte er das Gefühl, der Boden unter ihm beginne zu schwanken.
Dieses Gesicht, die dunklen, langen Haare … Bilder blitzten vor ihm auf, Szenen, Momente, und die Gefühle, die damit einhergingen, waren so tief, so schmerzhaft … Max wandte den Kopf ab, blickte angestrengt in eine andere Richtung und versuchte einzuordnen, was gerade geschah. Er hoffte, dass er einer Täuschung erlegen war, dass sein Verstand ihm einen Streich spielte. Ausgelöst vielleicht durch den Tod seines Mentors, mit dem er sich vor ein paar Jahren intensiv über diese Frau unterhalten hatte, in die er sich am Anfang seiner Karriere beim KK11 verliebt hatte und die ihm nach kurzer Zeit brutal wieder genommen worden war. Deren Ebenbild ihm – falls ihm sein Kopf nicht gerade etwas vorgaukelte – rund fünf Jahre nach ihrem Tod gegenüberstand.
Gegen seinen Willen sah er sie wieder an, betrachtete sie genauer. Das ebenmäßige Gesicht war dezent geschminkt, die dunklen Haare fielen ihr glatt auf die Schultern. Genau so, wie Jenny sie getragen hatte.
Einer der Männer neben ihr machte einen kleinen Schritt zur Seite, und Max konnte sehen, dass sie eine schwarze Jeans trug, die ihre sportliche Figur betonte. Sie mochte Anfang bis Mitte dreißig sein, so alt, wie Jenny wäre, wenn sie noch leben würde. Die Ähnlichkeit war frappierend.
Während Max die Frau betrachtete, sah auch sie ihn unablässig an, jedoch weder auf eine provokante noch auf eine abweisende Art. Eher neugierig, fragend.
Erneut wandte Max sich ab und senkte den Kopf, und plötzlich brach sein innerer Widerstand in sich zusammen, und Bilder der Erinnerung fluteten seinen Verstand, die nichts mit dem verstorbenen Professor zu tun hatten, sondern mit ihr. Diese Bilder waren von grausamer Klarheit und Präzision. Er sah sich wieder in den Kellerraum kommen, sah Jenny dort sitzen …
Er betrachtet ihren Körper, der eine einzige blutige Wunde ist, und weiß nicht, wo er sie anfassen soll. Sein Blick fällt auf den Arm, in dem eine Kanüle steckt, die in einen Kanister hängt. Jennys Blut fließt aus ihr heraus in den Behälter. Mit einem beherzten Griff zieht Max sie ihr aus dem Arm, presst den Daumen auf die Wunde und drückt so fest zu, dass der Blutstrom versiegt.
Hinter sich hört er Geräusche, dann seinen Namen. Böhmer.
»Einen Arzt, schnell«, stößt Max hervor. Seine Stimme klingt unnatürlich fremd. Keine Sekunde wendet er sich dabei von Jenny ab. Sie lebt noch, das weiß er. Ihr Herz hat schließlich gerade noch das Blut aus ihrem Körper gepumpt. »Jenny«, flüstert er, »bitte, bleib bei mir. Bitte.« Wieder wandert sein Blick über ihren Körper. Er muss sie befreien. Sofort. Mit zittrigen Fingern löst er die Riemen, durch die ihre Beine gespreizt werden. Er zwingt sich dazu, das verstümmelte Fleisch zwischen ihren Oberschenkeln nicht anzusehen. Er weint, flucht, während seine Finger immer wieder von den Knoten abrutschen. Schließlich hat er es geschafft, kann den schlaffen Körper gerade noch auffangen, als er nach vorn kippt. Vorsichtig hebt er sie hoch und legt sie auf der Pritsche ab. Nichts an ihr deutet darauf hin, dass sie noch lebt.
Irgendwann zieht jemand ihn am Arm. Es ist ein Sanitäter, der ihn verständnisvoll ansieht. Eine Ärztin beugt sich über Jenny.
Er lässt es geschehen, dass man ihn ein Stück zur Seite schiebt. Zwei Sanitäter sind damit beschäftigt, Jennys Arm abzubinden, ein dritter kommt gerade in den Raum, mehrere dunkle Plastikbeutel mit Schläuchen in den Händen. Blutkonserven. Der Nebel um ihn herum lichtet sich einfach nicht. Max lehnt an der Wand wie ein Gegenstand, den man dort abgestellt hat, und beobachtet die Ärztin, Jennys Blut auf ihrer weißen Hose. Mittlerweile sind noch weitere Leute in den Raum gekommen. Wahrscheinlich Kollegen. Entweder sie sprechen nicht, oder er hört nicht, was sie sagen. Es ist ihm egal. Sein Fokus liegt auf Jenny, wie ein Scheinwerfer, der, auf eine bestimmte Stelle gerichtet, alles andere in tiefer Dunkelheit versinken lässt.
Irgendwann richtet die Ärztin sich auf. Langsam. Viel zu langsam. Und auch die Sanitäter lassen von Jenny ab. Max drückt sich von der Wand ab. »Warum … hören Sie auf?«, hört er sich sagen. »Geht es ihr besser?«
Der Blick der Ärztin. Max kennt ihn, aber sein Verstand wehrt sich vehement dagegen zu akzeptieren, was er ausdrückt. Nein. NEIN!
»Nun sagen Sie schon, wie steht es um sie? Sie schafft es, oder?«
Die Frau antwortet nicht. Sie sieht ihn nur mitfühlend an, während die Sanitäter bereits damit beginnen, ihr Material zusammenzuräumen.
Niemand kümmert sich um Jenny. Sie liegt nackt auf der schmutzigen Pritsche, allein, unbeachtet. Und noch während er nach einer Möglichkeit sucht zu verstehen, was gerade geschehen ist, spricht die Ärztin das Unfassbare, das Undenkbare aus.
»Tut mir leid.«[1]
Um Max herum entstand Bewegung, die ihn zurück in die Gegenwart holte. Der Priester hatte sich abgewandt und verließ, gefolgt von vier Messdienern in schwarz-weißen Gewändern, das Grab.
Einige der Trauernden machten sich ebenfalls auf den Weg, die meisten jedoch kondolierten Marianne Bormann, der Witwe.
Auch sie. Die Frau, die Jenny so sehr glich, war nur noch wenige Meter von Marianne Bormann entfernt, und während sie sich langsam näherte, waren ihre Augen unentwegt auf Max gerichtet. In ihrem Blick lag die gleiche Verletzlichkeit, wie er sie manchmal bei Jenny gesehen hatte.
Max beobachtete, wie sie Marianne Bormann die Hand gab und ein paar Worte zu ihr sprach, die er nicht verstehen konnte. Als sie sich abwandte und ging, folgte er ihr.
Nach zwanzig Metern hatte er zu ihr aufgeschlossen und sagte: »Entschuldigen Sie bitte.«
Sie blieb stehen und sah Max wenig überrascht an, als hätte sie damit gerechnet, von ihm angesprochen zu werden. »Ja?«
»Bitte fassen Sie es nicht falsch auf, dass ich Sie einfach anspreche, dazu noch bei einer Beerdigung, aber … kennen wir uns?«
Bevor sie antwortete, sah sie Max in die Augen und schien über seine Frage nachzudenken. Dann schüttelte sie mit einer langsamen Bewegung den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.« Ihre Stimme klang sanft und auf eine Weise traurig, die Max berührte.
»Sie sehen jemandem sehr ähnlich. Einer Frau, die ich mal sehr gut gekannt habe.«
Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Seltsam, mir ging es mit Ihnen ganz genauso. Ich hatte auch das Gefühl, Sie zu kennen.«
»Vielleicht sind wir uns ja tatsächlich schon mal begegnet?«
»Ich weiß es nicht, aber wenn es so ist, kann ich mich nicht daran erinnern, wo das gewesen sein könnte. Sie sagten, Sie haben diese Frau sehr gut gekannt. Das klingt, als hätten Sie sie geliebt.«
»Ja, das habe ich.« Max’ Mund fühlte sich plötzlich trocken an.
»Was ist passiert?«
»Sie ist tot.«
»Das tut mir sehr leid.«
»Sie hieß Jenny«, sagte Max spontan. »Jennifer Sommer. Sagt Ihnen der Name etwas?«
Was immer er sich als Reaktion erhofft hatte, trat nicht ein. Da war kein Aufblitzen des Erkennens in ihren Augen, als sie den Namen hörte, und auch kein Anzeichen dafür, dass sie darüber nachdachte.
Stattdessen reichte sie Max die Hand und sagte: »Nein. Mein Name ist Dominique. Dominique Klauber.«
»Max Bischoff«, entgegnete Max. Ihre Hand fühlte sich zart und verletzlich an. »Nochmals: Sorry, dass ich sie so plump angesprochen habe, aber …«
»Wie lange ist das her?«
»Was?«, fragte Max irritiert.
»Dass die Frau, die Sie geliebt haben, gestorben ist.«
»Etwa fünf Jahre.«
»Wie ist sie gestorben?«
Als Max zögerte, sagte sie: »Es tut mir leid, das geht mich nichts an. Sie müssen darauf nicht antworten.«
»Sie ist ermordet worden.«
»Das ist ja schrecklich.« Sie legte Max sanft eine Hand auf den Oberarm, zog sie aber sofort wieder zurück. »Entschuldigen Sie.«
»Wofür?« Max sah sich um. Etwas in ihm wollte nicht, dass diese Begegnung schon vorbei sein sollte. Es war fast, als hätte er noch einmal die Chance, in Jennys Nähe zu sein.
»Es ist wahrscheinlich völlig unpassend, aber … würden Sie eine Tasse Kaffee mit mir trinken? Ich lade Sie ein.«
Sie sah ihn unverwandt an, und wieder meinte Max, Neugier in ihrem Blick zu erkennen. »Ja, gerne«, entgegnete sie dann, und sie setzten ihren Weg über den festgetretenen Schotterweg fort. Max überlegte, worüber er sich mit ihr unterhalten sollte. Nicht, dass ihm nichts eingefallen wäre. Ganz im Gegenteil, alle mühsam weggeschlossenen Gefühle und Erinnerungen an Jenny fluteten seine Gedanken, und obwohl er wusste, dass diese Frau neben ihm nichts mit Jenny zu tun, sie nicht einmal gekannt hatte, drängte alles in ihm danach, mit ihr über Jennifer Sommer zu reden. Er tat es nicht.
Dominique hingegen fragte: »Erzählen Sie mir von ihr?«, als sie auf den Ausgang des Friedhofs zugingen.
»Das ist nicht so einfach. Ich habe damals lange gebraucht, bis ich damit klargekommen bin, dass Jenny nicht mehr …«
»Ja, das kann ich verstehen.«
»Warum waren Sie auf der Beerdigung von Professor Bormann?«, erkundigte sich Max in dem Versuch, das Thema zu wechseln. »Woher kannten Sie ihn?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Eigentlich gar nicht. Mein Vater hat ihn gekannt, und da er im letzten Jahr gestorben ist, dachte ich, ich gehe an seiner Stelle zu der Beerdigung.«
Sie hatten den Ausgang erreicht, als Dominique stehen blieb und Max ansah. »Sie sagten, ich sehe fast genauso aus wie Jenny. Können Sie verstehen, dass ich gern etwas über sie erfahren würde?«
»Ich kenne ein Café in der Nähe.« Max deutete mit einer Kopfbewegung nach vorn. »Gehen wir. Und ja, ich denke, ich verstehe das.«
Max war schon öfter an dem Café vorbeigefahren, aber noch nie hineingegangen. Es war nicht sehr groß, Max zählte sechs Tische, von denen zwei besetzt waren, als sie eintraten. Die Einrichtung schien wahllos zusammengewürfelt, was sich auf den zweiten Blick aber als bewusst gewähltes Konzept herausstellte, weil sich verschiedene Elemente mehrfach wiederfanden. Die nicht abgeschliffenen Lackreste auf dem Holz einer kleinen Vitrine tauchten ebenfalls auf einem hüfthohen Regal neben dem Fenster auf. Das Senfgelb des Retro-Sessels an einem der Tische war das gleiche wie das des Lampenschirms über dem Tisch daneben. Alles in allem wirkte der Raum gemütlich.
Sie hatten Glück, ein schöner Platz direkt am Fenster war noch frei.
Nachdem sie einander gegenüber Platz genommen hatten, betrachtete Max Dominiques ebenmäßiges Gesicht und versuchte, das Gefühlschaos in seinem Inneren zu ordnen.
Sie bemerkte es und lächelte verlegen. »Ist die Ähnlichkeit so groß?«
»Es gibt schon Unterschiede, aber ja, Sie gleichen ihr tatsächlich sehr. Wie eine Schwester.«
Dominique hob mit der Andeutung eines Lächelns, das seltsam traurig wirkte, die Hände. »Ich bin Einzelkind.«
Max bestellte einen Cappuccino, Dominique schloss sich an. Als der junge Mann, der ihre Wünsche aufgenommen hatte, wieder gegangen war, sagte Max: »Sie erwähnten auf dem Friedhof, ich komme Ihnen ebenfalls bekannt vor.«
Dominique nickte, ohne darüber nachzudenken. »Ja, das ist richtig.« Sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach. »Es gab vor einiger Zeit jemanden, den ich sehr mochte. An ihn haben Sie mich erinnert. Wahrscheinlich ging es mir da ähnlich wie Ihnen mit mir und Jenny. Nur dass Sie diesem Mann nicht so sehr gleichen. Er war einfach ein ähnlicher Typ Mann wie Sie.«
»Verstehe«, sagte Max, obwohl er nicht alles verstand. »Ein Freund.«
»Ja, ich denke, man kann sagen, er war ein Freund.«
Der junge Mann brachte die Getränke und stellte sie mit einem freundlichen Lächeln vor ihnen ab.
»Sie sprechen von ihm in der Vergangenheit. Ist er kein Freund mehr?«
»Nein, er … er hat nicht in mein Leben gepasst.« Sie nahm einen Schluck und stellte die Tasse wieder ab. »Und Sie? Konnten Sie sich nach Jenny wieder verlieben?«
Max versuchte noch, Dominiques Erklärung zu verstehen, und sah sie angesichts des abrupten Themenwechsels überrascht an. Seit Jennys Tod hatte es ihm widerstrebt, mit Fremden über sie zu sprechen, aber die Ähnlichkeit zwischen ihr und Dominique Klauber führte dazu, dass diese Frau ihm ein geradezu irrationales Gefühl von Vertrautheit vermittelte.
»Es ist … schwierig«, wich er aus. Dabei dachte er an Jana Brosius, die einst seine Studentin war, dann mit ihm gemeinsam einen Fall an der Mosel gelöst hatte und mittlerweile … ja, was war sie mittlerweile? Eine Freundin?
Dominique nickte. »Verstehe.« Sie fixierte einen Punkt auf dem Tisch, als sie leise hinzufügte: »Alles, was mit Beziehungen zusammenhängt, scheint schwierig zu sein.«
Max verdrängte die Gedanken an Jana. »So wie mit dem Freund, der keiner mehr ist?«
»Ja«, sagte Dominique und wandte den Kopf ab. Max entdeckte einen blauen Fleck hinter ihrem Ohr, der sich bis zum Nacken hinunterzog. Sie bemerkte seinen Blick und drehte ihm das Gesicht mit einer schnellen Bewegung wieder zu. Gleichzeitig strich sie wie zufällig die Haare über die Stelle, als fühle sie sich ertappt.
»Ich denke, es wird Zeit für mich zu gehen.« Mit einer fast hektischen Bewegung schob sie ihren Stuhl zurück.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Max.
»Ja, ich … ich muss nur einfach nach Hause.« Es klang abweisend, und Max spürte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.
Sie stand auf und zog ihren Mantel an, den sie auf einem der freien Stühle abgelegt hatte.
»Hatten Sie einen Unfall?«, fragte Max unvermittelt und erhob sich ebenfalls.
»Was? Nein, wie kommen Sie denn darauf?«, antwortete sie nervös und machte den Eindruck, als könne sie plötzlich gar nicht schnell genug von Max wegkommen.
»Wegen des blauen Flecks.«
»Was?«, wiederholte sie.
»Hinter Ihrem Ohr.«
»Ach das … das ist nichts. Ich habe mich nur gestoßen. Ich hatte es schon völlig vergessen. Jetzt muss ich aber wirklich los.«
»Wartet jemand auf Sie?«
»Ja.«
Max nickte und betrachtete noch einmal dieses fremde und doch auf eine fatale Art vertraute Gesicht, in dem er jetzt nicht mehr nur Nervosität, sondern auch eine Spur von Angst zu erkennen glaubte.
Mit einem Griff in die Innentasche seines Sakkos zog er eine seiner Visitenkarten der Uni hervor und reichte sie ihr.
»Falls Sie mal Hilfe brauchen oder mit jemandem reden möchten.«
Dominique sah die Karte in seiner ausgestreckten Hand an, als wisse sie nicht, um was es sich dabei handele.
Schließlich gab sie sich einen Ruck und griff danach. »Danke«, hauchte sie, wandte sich ab und verließ das Café, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Max setzte sich wieder und sah Dominique durch das Fenster nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Als der Kellner an seinem Tisch vorbeikam, bat er um die Rechnung und versuchte dann herauszufinden, was er bei dem Gedanken an Jenny empfand. Liebte er sie noch immer? So viele Jahre nachdem sie gestorben war? Ja, er liebte sie noch, aber auf eine Weise, wie man nur jemanden lieben kann, der nicht mehr lebte.
Erneut wanderten seine Gedanken zu Jana Brosius, doch bevor er sich selbst die nächste Frage stellen konnte, stand der Kellner mit geöffneter Geldbörse neben ihm und lächelte ihn an.
Kurz darauf verließ Max das Café und ging zurück zum Friedhof, auf dessen Parkplatz er seinen Wagen abgestellt hatte.
Minuten später bog er auf die Straße ein und musste nicht lange darüber nachdenken, wohin er fahren würde. Aufgewühlt, wie er war, gab es nur einen Menschen, mit dem er in diesem Moment reden wollte. Seine Schwester Kirsten.
Als er auf den Klingelknopf neben ihrer Wohnungstür drückte, wartete er jedoch vergebens darauf, dass die Tür geöffnet wurde. Nachdem er es ein zweites Mal erfolglos versucht hatte, zog er sein Handy hervor und wählte ihre Nummer. Das hätte er schon tun sollen, bevor er losgefahren war, hatte aber vor lauter Gefühlschaos nicht daran gedacht.
Zwar besaß er einen Schlüssel zu ihrer Wohnung, allerdings nur für Notfälle. Ein solcher lag jedoch nicht vor, wie Max Sekunden später feststellen konnte, als Kirsten das Gespräch mit einem fröhlich klingenden »Hallo, Bruderherz« annahm.
»Hallo. Wo bist du denn? Ich stehe vor deiner Tür.«
»Max, bitte … ich arbeite heute, das solltest du wissen.«
Sie hatte recht, das wusste er. Eigentlich. Montag, Mittwoch und Donnerstag arbeitete Kirsten jeweils bis sechzehn Uhr in der Stadtverwaltung, und es war Donnerstag.
»Stimmt. Ich bin wohl etwas durcheinander.«
»Die Beerdigung. War es schlimm?«
»Seine Frau hat sich unglaublich tapfer geschlagen. Sie hatte sogar tröstende Worte für manche Leute, die ihr kondoliert haben.«
»Max … war es für dich schlimm?«
»Es ging. Ich hatte ja ein paar Tage Zeit, mich darauf vorzubereiten.« Er dachte darüber nach, ob er Kirsten am Telefon von der Begegnung mit Dominique erzählen sollte, sagte jedoch stattdessen: »Ich komme am frühen Abend zu dir, dann können wir bei einem Glas Wein in Ruhe darüber reden, okay?«
»Geht es dir sehr schlecht wegen Professor Bormann?«
»Sehr schlecht? Nein, das kann man so nicht sagen. Ich habe ihn einfach sehr geschätzt.«
»Du weißt, dass ich mich immer freue, wenn du mich besuchst. Heute Abend kommt eine Kollegin zu mir, deswegen wird das vielleicht nicht der Rahmen sein, um über Professor Bormann zu reden, aber du kannst trotzdem gern dazustoßen, wenn du möchtest. Sie wird sicher nichts dagegen haben.«
»Nein, nein, dann komme ich lieber morgen zum Frühstück vorbei, wenn dir das recht ist.«
»Ja, prima, gute Idee.«
»Um neun? Ich bringe Brötchen mit.«
»Ja, ich freue mich. Bis morgen.«
»Bis dann.«
Max steckte das Handy weg und machte sich auf den Weg zurück zum Auto. Da Kirstens Wohnung sich ebenso wie seine in Unterbilk befand, warf er nur zehn Minuten später den Schlüsselbund in die Schale auf der Kommode seiner kleinen Diele und ging ins Badezimmer.
Nachdem er sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, sah er in den Spiegel und fuhr sich über die kurzen, dunkelblonden Haare. Dann stützte er die Hände auf dem Waschbeckenrand ab und blickte sich selbst in die blauen Augen. »Was zum Teufel passiert hier gerade?«, murmelte er, bevor er sich abwandte und ins Wohnzimmer ging. Dort legte er sich auf die Couch.
Dominique Klauber … Abgesehen von der Tatsache, dass sie Jenny nicht nur unglaublich glich, sondern auch einen ganz ähnlichen Stil bezüglich Kleidung und Make-up, ja sogar bei ihrer Frisur hatte, schien es Max, dass da etwas war, das sie sehr belastete, ihr vielleicht sogar Angst machte. Max schloss die Augen. Dieser blaue Fleck hinter ihrem Ohr, die schüchterne Art, mit der sie redete und auf Fragen antwortete. Die Traurigkeit, die sogar mitschwang, wenn sie lächelte … All das ließ ihn vermuten, dass etwas in ihrem Leben nicht stimmte.
Dass diese Frau ihm bei der Beerdigung seines Mentors gegenübergestanden und ihn unentwegt angesehen hatte, war entweder kein Zufall gewesen, oder aber das Schicksal spielte ein sehr sonderbares Spiel mit ihm.
Max öffnete die Augen und richtete sich wieder auf. Er musste sich ablenken, sonst würden seine Gedanken sich für den Rest des Tages um Dominique Klauber drehen. Und um Jenny.
Er setzte sich ans Kopfende des Esstischs und korrigierte weiter die Klausuren, die seine Studentinnen und Studenten einen Tag vor Bormanns Tod geschrieben hatten.
Gegen sieben Uhr, es war schon seit einiger Zeit dunkel draußen, stand er auf und ging in die Küche, wo er sich ein Lachsfilet im Honigmantel mit Feldsalat zubereitete. Nachdem er eine halbe Stunde später das Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte, verließ er die Küche und blieb hinter dem Eingang zum Wohnzimmer stehen. Sein Blick ruhte auf dem niedrigen Phonoschrank, auf dem sein Plattenspieler stand. Er liebte den klaren Klang von Schallplatten und hatte sich im Laufe der Zeit nicht nur eine sündhaft teure Anlage, sondern auch eine beachtliche Sammlung an Vinylalben zugelegt.
Er machte ein paar Schritte darauf zu, sank vor den LPs in die Hocke und ließ den Blick über die dünnen Rücken der Plattencover wandern, bis er gefunden hatte, was er suchte.
Permanent Vacation von Aerosmith. Einen bestimmten Song darauf hatte er oft mit Jenny gehört.
Vorsichtig zog er die schwarze Scheibe aus der Hülle, legte sie auf den Plattenteller, hob den Tonarm ab und zählte die Songs von außen nach innen. Auf der schmalen Leerspur vor dem neunten Song setzte er die Nadel ab und ging zurück zur Couch. Bei den ersten Takten zu Angel schloss er die Augen und sang den Text leise mit.
Dann gingen seine Gedanken auf Wanderschaft.
Es war drei Minuten vor neun am Morgen, als Max an der Tür von Kirstens Wohnung klingelte. Eine Dreiviertelstunde später saßen sie bereits bei der dritten Tasse Kaffee. Kirsten hatte ihre Hand auf die ihres Bruders gelegt und sah ihn lächelnd an. »Es ist völlig normal, dass deine Gedanken sich nach dieser Begegnung wieder um Jenny drehen. Du hast sie sehr geliebt.«
Max nickte. »Ja, das stimmt. Aber ich glaube, was mir gerade mehr zu schaffen macht, ist diese fast schon unheimliche Ähnlichkeit zwischen Dominique und Jenny.«
»Du nennst diese fremde Frau beim Vornamen, wenn du an sie denkst? Das wirkt für eure kurze Begegnung sehr vertraut.«
Max nickte. »Ja eben. Es fühlt sich tatsächlich vertraut an, wenn ich an sie denke. Das liegt wohl daran, dass sie so viel mit Jenny gemein hat, und damit meine ich nicht nur ihr Aussehen. Auch die Art, wie sie sich bewegt, wie sie spricht … es ist einfach unheimlich.«
»Ist es das tatsächlich, oder kann es eher sein, dass du diese Ähnlichkeiten sehen willst?«
Max sah seiner Schwester in die Augen und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Du sagtest, sie hat dich während der Beerdigung die ganze Zeit über angeschaut. Hältst du es für möglich, dass eure Begegnung kein Zufall war?«
Max lehnte sich zurück. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Natürlich ist das möglich. Aber warum? Ich kenne sie nicht. Was kann sie von mir wollen?«
»Du hast ihr deine Telefonnummer gegeben?«
»Ja. Weil es mir so vorkam, als könne sie vielleicht Hilfe brauchen.«
Kirsten neigte den Kopf zur Seite und sah ihn schweigend an.
»Tja, aber das erklärt trotzdem nicht ihre Ähnlichkeit mit Jenny.«
»Was ist mit Jana?« Die Frage kam so unvermittelt, dass Max seine Schwester überrascht ansah.
»Was meinst du?«
»Du hast in den letzten Wochen recht viel Zeit mit ihr verbracht.«
»Ja, wir haben an der Mosel eng zusammengearbeitet und dabei festgestellt, dass wir uns sympathisch sind.«
Kirstens rechte Braue wanderte nach oben. »Sympathisch.«
»Ja.«
»Gut, nennen wir es so. Ändert die Begegnung mit dieser Frau und das, was sie in dir ausgelöst hat, etwas daran?«
»Nein, natürlich nicht, warum sollte …« Max stockte und schüttelte den Kopf. »Jenny hat mir sehr viel bedeutet, doch das ist über fünf Jahre her. Ich werde sie nie vergessen, und die Gedanken an sie sind schmerzlich, weil ihr Tod so schrecklich gewesen ist. Aber ich habe mittlerweile genügend Abstand, dass Platz für etwas Neues ist. Das soll nicht heißen, dass Jana und ich … ich meine, dass da zwischen uns …«
Kirsten lachte auf und legte erneut die Hand auf seine. »Schon gut, ich verstehe, was du meinst.«
Auch Max verzog den Mund zu einem Lächeln. »Ja, ich weiß, dass du das tust. Du verstehst immer, was ich meine.«
Eine halbe Stunde später verließ Max die Wohnung seiner Schwester und machte sich zu Fuß auf den Weg zurück nach Hause. Er hatte vor, die restlichen Klausuren zu korrigieren und dann – wie jeden Dienstag und Freitag – gegen sechzehn Uhr eine Runde zu joggen. Diese Stunde, in der er ein Stück weit am Rhein entlanglief, war ihm schon so sehr zur Gewohnheit geworden, dass er sich unwohl fühlte, wenn er sie ausfallen lassen musste.
Er griff in seine Jackentasche, zog das Handy hervor und wählte Janas Nummer. Es dauerte eine Weile, bis sie das Gespräch annahm.
»Hey! Schön, von dir zu hören. Wie war die Beerdigung? Schlimm?«
»Außergewöhnlich. Hast du heute Abend schon etwas vor? Wenn nicht, könnten wir zusammen zum Italiener gehen, und ich erzähle dir davon.«
»Du hast Glück«, entgegnete sie, und Max hörte ihrer Stimme an, dass sie lächelte. »Gerade ist für heute Abend noch ein Termin frei geworden.«
Auch Max musste lächeln. »Das ist kein Glück, sondern eine Fügung des Schicksals. Ich hole dich um halb acht ab, okay?«
Er steckte das Smartphone wieder ein. Er würde Jana von seiner Begegnung mit Dominique Klauber erzählen. Der Gedanke daran fühlte sich richtig an, zumal er ihr vor einiger Zeit auch von Jenny erzählt hatte.
Um kurz nach vier verließ Max in Joggingkleidung seine Wohnung und machte sich auf den Weg. Die kalte, klare Luft tat gut, und er atmete tief durch.
Zwanzig Minuten später führte sein Weg ihn zum Rheinufer, dem er ein Stück weit folgte. Kurz bevor er nach rechts in einen kleinen Park abbiegen wollte, wurde er langsamer. Ein Paar kam ihm entgegen, und beide starrten ihn an. Der Mann war etwa so groß wie Max, aber massiger und vielleicht etwas jünger. Die blonden Haare waren an den Seiten millimeterkurz rasiert, während das lange Deckhaar zu einem Dutt zusammengesteckt war. Max war sicher, ihn nicht zu kennen.
Die Frau hingegen erkannte er sofort. Er war ihr ja erst am Vortag begegnet.
Als sie nur noch wenige Meter voneinander entfernt waren, blieb Max stehen und sagte: »So ein Zufall.«
Sie lächelte unsicher. »Ja, das ist wirklich ein Zufall.«
Max nickte dem Mann zu. »Hallo. Ich bin Max Bischoff.«
Der Blick, mit dem er daraufhin gemustert wurde, war alles andere als freundlich. Statt sich selbst vorzustellen, fragte Dominiques Begleiter, an sie gerichtet: »Ist er das?«
»Es ist wirklich …«, setzte sie an, wurde aber von dem Mann unterbrochen, der zu Max sagte: »Wie ich hörte, haben Sie meine Freundin gestern auf einer Beerdigung angesprochen.«
Max’ Blick wanderte zu Dominiques verängstigtem Gesichtsausdruck und wieder zurück zu ihrem Freund. »Wenn Sie das gehört haben, wird es wohl stimmen.«
»Es ist offensichtlich normal für Sie, fremde Frauen auf Beerdigungen zu belästigen.«
Max schüttelte den Kopf. »Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie da hineininterpretieren, aber wir haben uns lediglich ein wenig unterhalten, weil Dominique einer Frau ähnlich sieht, die ich einmal sehr gut gekannt habe.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Wie originell.«
»Noch mal, ich weiß nicht, was sie sich vorstellen, aber wir haben nur …«
Mit einem Schritt stand der Mann dicht vor Max. »Halten Sie sich von Dominique fern. Sie möchte nichts mit Ihnen zu tun haben.«
Max stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Ist das Ihr Ernst?«
Er registrierte, dass die Augen seines Gegenübers sich kurz verengten, und spannte reflexartig die Muskeln an, als der Mann sagte: »Allerdings.«
Max machte einen Schritt zurück. Er wollte vermeiden, dass die Situation eskalierte, weil er befürchtete, dass Dominique es ausbaden müsste, wenn er es auf eine Konfrontation ankommen ließ. Deshalb hob er eine Hand und sagte mit ruhiger Stimme: »Um es noch mal klarzustellen: Ich habe Ihre Freundin nicht belästigt, sondern mich lediglich mit ihr unterhalten, weil sie jemandem sehr ähnlich sieht. Das war alles.« Nach einem erneuten kurzen Blick zu Dominique fügte er hinzu: »Ich möchte ganz sicher nichts von ihr, okay?«
Eine Weile sahen sie sich in die Augen, als würden sie einen stummen Kampf austragen, dann wandte der Mann sich ab und nickte Dominique zu. »Gehen wir.«
Ohne Max noch einmal anzusehen, senkte sie den Kopf und lief an ihm vorbei.
»Auf Wiedersehen«, flüsterte Max, als die beiden schon einige Meter weit entfernt waren, und sein Gefühl sagte ihm, dass sie sich tatsächlich schon bald wiedersehen würden.
»Ich danke dir«, sagte Jana, eine ganze Weile nachdem Max seine Schilderung beendet hatte, und strich sich dabei eine Strähne ihrer langen, blonden Haare zurück. Sie saßen sich in Max’ Lieblingsrestaurant gegenüber und hatten Gläser mit einem köstlichen Lugana vor sich stehen.
»Wofür?«
Jana senkte den Blick und betrachtete das Weinglas, während sie mit dem Zeigefinger auf dem Tisch einen Kreis außen herum malte. »Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie ich es einordnen soll, dass du mir von dieser sehr persönlichen Begegnung erzählt hast.« Nun sah sie wieder zu ihm auf. »Und ich möchte dir dafür danken, dass du mir dieses Vertrauen schenkst.«
Max nickte. »Ich habe auch darüber nachgedacht, ob ich dir davon erzähle, aber es war mir schnell klar, dass du das wissen solltest.«
»Sagst du mir, warum das so schnell klar war?«
Max sah ihr in die Augen. »Weil du für mich mehr bist als nur eine ehemalige Studentin und Kollegin.«
Die Andeutung eines Lächelns umspielte ihre Mundwinkel. »Was meinst du damit?«
»Das würde ich gern ohne Erklärung so stehen lassen«, antwortete er, ebenfalls lächelnd.
»Und du denkst, mit den beiden stimmt etwas nicht?«, wechselte Jana das Thema.
Max zuckte mit den Schultern. »Vielleicht täusche ich mich, aber ich habe das Gefühl, dass sie Angst vor ihm hat.«
»Denkst du, er misshandelt sie?«
»Dieser blaue Fleck am Hals … ich glaube nicht, dass sie sich gestoßen hat.«
»Und? Was hast du nun vor?«
»Nichts. Was soll ich machen?«
»So, wie ich dich kenne, lässt dir der Gedanke, der Kerl könne seiner Freundin weh tun, keine Ruhe. Ich weiß doch, wie sehr es dich aufregt, wenn unschuldige Menschen zu Opfern werden. Und dass sie dich an Jenny erinnert, kommt noch hinzu.«
Für einen kurzen Moment wollten Max’ Gedanken wieder in die Vergangenheit wandern, doch er ließ es nicht zu.
»Trotzdem werde ich nichts tun können. Immerhin ist das alles nur eine Vermutung, und solange sie nicht bestätigt, dass er sie misshandelt … Außerdem möchte ich mit dir nicht den ganzen Abend über andere reden.« Max griff nach seinem Glas. »Zum Wohl.«
Erneut erntete er von Jana ein Schmunzeln. »Sondern?«
»Na, zum Beispiel über dich. Wie läuft es auf der Dienststelle? Hat dir Frau Keskin mittlerweile verziehen, dass du mich nicht hasst?«
Eslem Keskin hatte einen Narren an Jana gefressen und hatte sie ein Jahr zuvor mit Mitte zwanzig schon als Kommissarin auf Probe zum KK11 geholt. Offenbar hatte sie erwartet, Jana in Bezug auf Max beeinflussen zu können, was ihr aber nur kurz gelungen war.
Jana machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, ich glaube nicht, dass sie dich wirklich hasst. Ich denke, sie hat sich da in eine Position verrannt, aus der sie nicht so einfach wieder rauskommt. Wenn ich das richtig sehe, war sie in Hauptkommissar Menkhoff verliebt und hat wohl gehofft, dass aus ihnen ein Paar wird. Sie weiß mittlerweile sicher selbst, dass es unfair ist, dir die Schuld an dem zu geben, was geschehen ist, aber sie hat Angst, vor den Kollegen ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie das eingesteht.«
Max wiegte den Kopf hin und her. »Wenn du recht hast, versteht sie es wirklich ganz hervorragend, den Schein zu wahren. Nach jeder Begegnung mit ihr bin ich aufs Neue sicher, dass sie mich noch weniger ausstehen kann als beim vorhergehenden Treffen.«
Erneut betrachtete Jana ihren Finger, der wieder das Weinglas umkreiste.
»Und wenn ich dich bitte, es mir zu sagen?« Ihre Stimme war eine Nuance dunkler geworden.
»Was?«
»Was das heißt, dass ich mehr bin als nur deine ehemalige Studentin und Kollegin.«
Max sah Jana an und spürte eine Woge der Zuneigung in sich aufsteigen. Sanft legte er die Hand auf ihre und stoppte damit die kreisenden Bewegungen. Er wollte etwas sagen, als plötzlich wieder Bilder aus der Vergangenheit auftauchten. Aber dieses Mal war es nicht das Bild von Jennys geschundenem Körper, sondern das seiner Schwester Kirsten.
Max sah das abgetrennte Glied ihres kleinen Fingers, das dieser kranke Scheißkerl ihm per Post geschickt hatte. Er sah Kirstens Gesicht und die vor panischer Angst geweiteten Augen. Er glaubte zu hören, wie sie um ihr Leben flehte. Und all das wegen ihm.
Max blickte in Janas ebenmäßiges Gesicht und stellte sich vor, jemand würde auch ihr etwas antun, um ihn zu treffen.
Mit einer hastigen Bewegung zog er seine Hand zurück, woraufhin Jana ihn erschrocken ansah.
»Ich …« Er brauchte drei, vier Atemzüge, bis er weiterreden konnte. »Bitte entschuldige. Ich musste gerade an eine schlimme Zeit denken. Es geht um meine Schwester, Kirsten.«
»Du meinst ihre Entführung?«[2]
Max war überrascht. »Du weißt davon?«
Sie nickte ernst. »Ja, die Kollegen haben es mir vor kurzem erzählt. Das muss furchtbar für dich gewesen sein. Aber ich verstehe nicht …« Sie stockte einen Moment, dann nickte sie. »Doch, ich glaube, ich verstehe. Du hast Angst.«
»Ich weiß noch, wie das damals mit Kirsten war. Ich war kurz davor, durchzudrehen. Sie wäre fast gestorben, weil so ein Irrer sich an mir rächen wollte. Damals habe ich mir geschworen, niemanden mehr dieser Gefahr auszusetzen.«
»Indem du niemanden mehr an dich heranlässt?«
»Verstehst du das denn nicht? Jeder, der mir nahesteht, ist gefährdet, weil die Irren da draußen wissen, dass ich über diejenigen verwundbar bin.«
»Ich bin Polizistin.« Als Max nichts darauf entgegnete, sagte Jana: »Du möchtest also für den Rest deines Lebens allein bleiben?«
»Das kann ich nicht beantworten«, antwortete Max ehrlich. »Ich möchte das nicht, aber ich werde diese Gedanken einfach nicht los.« Er sah ihr in die Augen. »Was ich weiß, ist, dass du mir viel bedeutest. Aber ich kann im Moment …«
Jana hob die Hand und legte ihm sanft zwei Finger auf den Mund. »Schon gut, ich verstehe dich.«
»Es ist wirklich nicht so, dass ich …«, setzte er erneut zu einer Erklärung an, doch Jana schüttelte den Kopf. »Es ist gut, Max. Verzeih, dass ich nachgefragt habe. Das war unsensibel von mir. Lassen wir einfach alles auf uns zukommen und sehen, was passiert, okay?«
»Ja, das ist okay.«
Nun war es Jana, die ihre Hand auf seine legte. »Du bedeutest mir übrigens auch viel.« Ihr Mund verzog sich zu einem schelmischen Grinsen. »Und noch mehr, wenn du uns Wein nachschenkst.«
Als Max die Tür seiner Wohnung hinter sich schloss, war es zwanzig nach elf. Er warf den Schlüssel in die Holzschale, zog Jacke und Schuhe aus und ging ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch fallen ließ.