Mörderische Delikatessen - Sabine Steck - E-Book

Mörderische Delikatessen E-Book

Sabine Steck

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Beschreibung

Der erste Fall für Emma Ferrari! Aromatische Öle, feinste Weine, bunte Pasta und cremiger Mozzarella: Der kleine Feinkostladen Alimentari del Sole ist ein sinnliches Fleckchen Italien im gemütlichen Himmelsricht an der Donau. Hier schaltet und waltet die Italienerin Emma Ferrari, die ihr Lädchen heiß und innig liebt. Bald wird sie sich ihren Traum erfüllen und das blaue Haus, in dem sie ihr Geschäft hat, endlich kaufen. Doch dann macht ihr Vermieter Roland Seelig einen Rückzieher: Emma soll ihr Kaufangebot verdoppeln, sonst ist das Alimentari Geschichte und ihr Traum zerplatzt.  Emma ist incazzata: stinksauer. Aber sie kommt kaum dazu, eine Lösung zu suchen, denn am nächsten Morgen findet sie Seelig in der Teeküche ihres Ladens – mausetot! Wenig später steht Kommissar Gieseking vor der Tür, der das Alimentari zum Tatort erklärt. Und sie zur Hauptverdächtigen. Natürlich liegt es Emma gar nicht, untätig abzuwarten, bis sich alles fügt. Sie ist fest entschlossen, den Mörder selbst zu finden. Tatsächlich treten bald Geheimnisse zutage, die ein neues Licht auf die Ereignisse in Himmelsricht werfen. Und dann taucht zwischen Spaghetti und Bruschetta plötzlich ein Verdächtiger nach dem anderen auf …

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Seitenzahl: 511

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Sabine Steck

Mörderische Delikatessen

Der erste Fall für Emma Ferrari

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Bruschetta, Balsamico und ein pikanter Mord …

Aromatische Öle, feinste Weine, bunte Pasta: Der kleine Feinkostladen Alimentari del Sole ist ein sinnliches Fleckchen Italien im gemütlichen Himmelsricht an der Donau. Hier schaltet und waltet die Italienerin Emma Ferrari, die ihr Lädchen heiß und innig liebt. Bald wird sie sich ihren Traum erfüllen und das blaue Haus, in dem sie ihr Geschäft hat, endlich kaufen.

Doch dann ändert der Verkäufer Roland Seelig seine Pläne: Nicht nur das Haus, auch ihr Alimentari soll es bald nicht mehr geben! Emma ist fassungslos. Nur kommt sie gar nicht dazu, eine Lösung zu suchen, denn am nächsten Morgen findet sie Seelig in der Teeküche ihres Ladens – mausetot. Wenig später steht die Kripo vor der Tür, die das Alimentari zum Tatort erklärt. Und sie zur Hauptverdächtigen.

Natürlich liegt es Emma gar nicht, untätig abzuwarten. Sie ist fest entschlossen, den Mörder selbst zu finden. Und tatsächlich taucht zwischen Tomate und Mozzarella plötzlich ein Verdächtiger nach dem anderen auf …

Vita

Sabine Steck ist in Deutschland geboren und hatte als Unternehmerin zunächst einen ganz anderen Weg eingeschlagen, bevor sie entschied, ihrer Leidenschaft zu folgen und sich hauptberuflich dem Schreiben zu widmen. Heute ist sie Autorin und lebt in Norditalien, wo sie in ihrem Schreibretreat einen Rückzugsort für andere Autor:innen schafft, die sie berät und unterstützt. In ihre Krimis um Emma Ferrari lässt sie ihre Liebe zu ihrer Wahlheimat und zur italienischen Kulinarik einfließen – die unter Umständen auch in einem kleinen Örtchen in Bayern zu finden ist. 

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Copyright © 2024 by Sabine Steck

 

Redaktion Kaja Sturmfels 

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01862-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Ob du glaubst, du kannst es oder du kannst es nicht: Du wirst auf jeden Fall recht behalten.

Henry Ford

1. Kapitel

«Hört euch das an!»

Emma ließ vor Schreck einen Karton voller Taralli fallen, der krachend auf dem Boden landete, als ihre Freundin Helene zur Tür hereinstürmte und dabei triumphierend die Tageszeitung schwenkte.

«Dio mio, Leni!», schnaufte sie. «Wenn das eine Flasche Olivenöl gewesen wäre!»

«Dir auch einen schönen Nachmittag, Helene!» Emmas Freundin Anna, die hinter der Käsetheke stand, warf der jungen Frau einen tadelnden Blick zu, den diese aber geflissentlich ignorierte.

«Du bist auf Seite zwei im Lokalteil, Emma. Das ist echt ’n Ding! Hör mal: Himmelsricht und seine größten Sehenswürdigkeiten!»

«Wirklich? Lass sehen!»

Emma stieg eilig von der Trittleiter, die sie benutzt hatte, um das Knabbergebäck ins Regal zu räumen, ließ den Karton Taralli auf dem Boden liegen und griff nach der Zeitung. Noch auf dem Weg zu einem der beiden Stehtische nahe der Fensterfront, an denen sie ihren Kunden gelegentlich kleine Leckereien servierte, schlug sie das Blatt auf und sah neugierig hinein. Auch Anna, die gerade an der Kühltheke die Unordnung des lebhaften Vormittagsgeschäfts beseitigte, ließ den Käse für einen Moment Käse sein und gesellte sich zu Emma.

«Das kleine Fleckchen Himmelsricht hat zwei große Attraktionen: die mittelalterliche Burgruine und den Laden von Tante Emma …» Emma ließ die Zeitung sinken und verdrehte kopfschüttelnd die Augen. «Non ci credo … ich kann nicht glauben, dass die tatsächlich Tante Emma geschrieben haben!»

«So heißt das bei uns nun mal.» Helene grinste. «Du solltest dich nach all den Jahren allmählich daran gewöhnt haben.»

«Ja, ich weiß schon, dass es Tante-Emma-Laden heißt», murrte sie. «Aber …»

«… jeder denkt sofort an heile Welt und will dort einkaufen», unterbrach Helene sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. «Außerdem hat es einfach so was Schnuckeliges, finde ich. Das ist toll!»

«Mag sein, aber das klingt steinalt, und ich bin doch nicht die Tante von diesem Knaben da!» Emma beugte sich über den Artikel. «Benedikt heißt er, das hatte ich schon wieder vergessen.»

Benedikt Kramer, der junge Reporter, der vor wenigen Tagen im Dorf gewesen war, um für einen Artikel über die Region zu recherchieren, hatte schon während seines kurzen Aufenthalts nicht mit seiner Begeisterung für Emmas kleinen Feinkostladen hinterm Berg gehalten und den Begriff da bereits mehrmals benutzt, weil er es so passend fand, dass sie tatsächlich Emma hieß. Trotzdem hatte sie insgeheim gehofft, er würde in seinem Artikel darauf verzichten.

«Jung genug wäre er gewesen, um dein Neffe zu sein», neckte Anna.

Helene lachte. «Den hätte ich ja auch gern kennengelernt. Vielleicht wär er mein Typ gewesen. Wie sah er denn aus? War er Single?»

«Ich habe ihn nicht gefragt.» Schulterzuckend beugte sich Emma wieder über die Zeitung und las weiter. «Nicht nur Tagestouristen und Urlauber, sondern auch die Bewohner der näheren und weiteren Umgebung zieht es besonders aus zwei Gründen in den kleinen Ort Himmelsricht: Zum einen lockt die gut erhaltene Ruine der mittelalterlichen Burganlage mit vielseitigen Wanderwegen und einem fantastischen Blick hinaus in die Donauebene zu ausgedehnten Spaziergängen. Bei klarer Sicht kann man in der Ferne sogar die Alpengipfel erkennen. Zum anderen ist da der zauberhafte Tante-Emma-Laden der attraktiven Italienerin Emma Ferrari. Wer bei diesem Namen nur an rote Autos denkt, verpasst das Beste: italienische Leckereien vom Feinsten …»

«Das hat er geschrieben?», unterbrach Anna und grinste bis über beide Ohren. «Attraktive Italienerin und rote Autos … ich fasse es nicht.»

«Infatti. Tatsächlich, das hat er.» Emma war schon lange daran gewöhnt, mit ihrem für Italien reichlich gewöhnlichen Namen in Deutschland erst einmal mit vielen Pferdestärken in Verbindung gebracht zu werden. Das jetzt in der Zeitung zu lesen, fand sie trotzdem etwas befremdlich. Als hätte Italien außer Rennautos nichts weiter zu bieten! «Das kann wirklich nur einem Mann einfallen», murmelte sie.

«Ach komm, das ist doch halb so wild», verteidigte Helene den Reporter. «Jetzt lies lieber weiter.»

«Die Spezialitäten aus vielen Regionen des Stiefels sind von herausragender Qualität und rechtfertigen die Tatsache, dass der Ruf von Emma Ferrari weit über die Landkreisgrenzen hinausreicht. Betritt man ihr fabelhaftes kleines Lädchen, findet man sich in einer sinnlich-betörenden Welt der Düfte und Aromen wieder, die auf die nächste Reise in den Süden einstimmen. Rechter Hand erwarten den Eintretenden die Leckereien in fester Form als Gebäck in den verschiedensten Variationen, links in flüssiger als eine schier unendliche Auswahl edelster Spirituosen, und dazwischen breitet sich ein Paradies verführerischer Käsesorten aus …»

Wieder ließ Emma die Zeitung sinken und blickte von Helene zu Anna. Es war unübersehbar, dass sich beide das Lachen verbeißen mussten.

«Sinnlich-betörend? ’tschuldigung», prustete Helene schließlich heraus. «Ich glaub, es war ganz gut, dass ich nicht da war. Wenn der so geschwollen daherredet, wie er schreibt, bleib ich lieber Single!»

Emma sah sich um. Obwohl der Artikel nicht unbedingt ausgefeilt raffiniert war, traf er ins Schwarze. Für sie war ihr Lädchen tatsächlich ein sinnliches Kleinod.

Es fing schon draußen vor der Tür an. Der obere Teil des Hauses war weiß gestrichen und hatte hellgraue Holzfenster und dunkelblaue Läden. In der Mitte der Vorderseite prangte ein geräumiger Balkon mit gedrechseltem Holzgeländer, ebenfalls in Blau.

Im Erdgeschoss zogen zwei große Schaufenster die Blicke der Kundschaft an, und die in ihrer Mitte liegende Tür lud sie geradezu in den Laden ein. Die geschnitzte Fassadenverkleidung war aus demselben Holz gefertigt wie der Balkon darüber und auch im gleichen Meerblau gestrichen. Diese Bauweise hatte Emma von Anfang an begeistert und sofort an einen wolkigen Sommerhimmel über dem Meer erinnert.

Besonders originell hatte sie allerdings die Markise gefunden, die an heißen Tagen ihre Auslagen vor zu viel Sonne schützte: Sie zeigte das typisch bayerische Rautenmuster und bildete so einen witzigen Kontrast zu ihren italienischen Produkten.

Eine niedrige Stufe führte zur Tür, die ein melodisches Bimmeln hören ließ, wenn man sie öffnete. Die altmodische Klingel hatte Emma von der Vorbesitzerin des Ladens übernommen und liebte sie heiß und innig, denn der Klang gab ihr stets ein Gefühl von Geborgenheit und Nachhausekommen. Und er sorgte dafür, dass niemand unbemerkt hereinkam und unnötig lang auf Bedienung warten musste, wenn sie oder Anna gerade im Lagerraum beschäftigt waren.

Hatte man Stufe, Tür und Klingel hinter sich und betrat den Laden, so sah man sich bereits der gut bestückten Kühltheke gegenüber. Eine Vielzahl leckerer Käsesorten, eingelegte Oliven mit verschiedenen Aromen wie Chili, Knoblauch oder Kräutern sowie gefüllte Peperoni verlockten zum Kosten. Ein paar wenige, aber ausgesuchte Wurstwaren wie Salami mit und ohne Knoblauch, luftgetrockneter Schinken und Mortadella rundeten diesen lukullischen ersten Eindruck ab. Sowohl Emma als auch Anna achteten stets darauf, dass die Köstlichkeiten immer frisch waren und einladend präsentiert wurden.

Wer sich hier sattgesehen hatte, konnte die Aufmerksamkeit auf die Holzregale richten, die rechts und links die Wände bedeckten sowie um die beiden tragenden Säulen im Inneren des Lädchens herumliefen. Auch sie stammten von der scheidenden Vorbesitzerin. Sie waren beste Handarbeit aus Massivholz und hatten mit den Jahren eine dunkle Farbe angenommen. An den tragenden Elementen hatte sich der Schreiner mit kleinen Schnitzereien verewigt, die Emma bis auf den heutigen Tag nicht entschlüsseln konnte. Vom Tannenzapfen bis hin zum Olivenzweig war jede Deutung möglich, und Helene hatte schon einmal scherzhaft angeregt, sie könnten ein Gewinnspiel daraus machen und der kreativsten Deutung einen Feinkostkorb in Aussicht stellen.

Gleich zu Beginn, als Emma den Laden übernommen hatte, war von ihrem Steuerberater der Vorschlag gekommen, die schweren, wuchtigen Regale gegen leichtere auszutauschen, in denen mehr Ware Platz fand, doch Emma hatte die Idee abgelehnt. Lieber brachte sie ein paar Flaschen Wein weniger unter, als auf diese stimmungsvollen Relikte einer anderen Zeit zu verzichten.

Diese beherbergten links von der Eingangstür die alkoholischen Leckereien wie sonnengelben Limoncello und nussbraunen Nocino. Daneben standen goldfarbene, im Eichenfass gereifte Grappas oder tiefdunkle Kräuterliköre. Daneben fand sich Olivenöl für unterschiedliche Ansprüche und Vorlieben: hellgrünes vom Gardasee und leichtes, beinahe ins Gelbe changierendes aus den venetischen Hügeln sowie gehaltvollere, fast grasgrüne Varianten aus der Toskana und Süditalien. Dazu gab es eine Reihe ausgesucht feiner Essigspezialitäten und ein paar besondere und lang gereifte Balsamicosorten. Die Regalfächer darunter quollen über von in Öl oder Salzlake eingelegtem Gemüse, scharfen oder milden Nudelsoßen und verschiedenen Pestos in bunten Gläschen, in denen nicht nur Basilikum, sondern auch getrocknete Tomaten, Pistazien und Mandeln Verwendung gefunden hatten.

Erntefrisches Gemüse und sonnengereifte Tomaten vom Biohof in der Nähe drapierte Emma in geflochtenen Körben vor den Regalen. Um dem liebevoll geführten Hofladen keine Konkurrenz zu machen, hielt sie das Angebot aber bewusst reduziert und beschränkte sich auf eine saisonale Auswahl, die sich gut mit ihren eigenen Köstlichkeiten kombinieren ließ. Besonders die Verbindung aus regionalen Birnen und italienischem Gorgonzola war letzten Herbst der Renner gewesen, noch vor den heimischen Kürbissen und den leckeren Esskastanien aus Südtirol.

Neben dem Regal auf der linken Seite hatte Emmas ganzer Stolz Platz gefunden: eine chromblitzende Siebträger-Kaffeemaschine mit zwei Brüheinheiten sowie Heißwasser- und Dampffunktion. Auch die beiden Holztische, ebenfalls noch aus dem Originalfundus des Lebensmittelladens, hatten hier ihren Standort.

Auf der gegenüberliegenden Seite, also rechts der Eingangstür, lagerten die Kalorien in fester Form. Besonders die früher mal relativ kleine Ecke mit Knabbereien wie Taralli, Grissini und verschiedensten Biscotti uferte allmählich ein bisschen aus, und die Auswahl an bunten Nudelspezialitäten, gefärbt mit Spinat, Safran, Sepiatinte oder Rote Bete, in Schleifchen-, Bonbon- oder Nestform, wurde immer unüberschaubarer. Aber wie sollte Emma bei der schier unbegrenzten Vielfalt an kulinarischen Köstlichkeiten ihrer Heimat nicht hin und wieder über die Stränge schlagen? Und vor allen Dingen: Sie konnte unmöglich ihre Kunden enttäuschen, die von ihr inzwischen erwarteten, dass sie immer wieder neue ausgefallene Delikatessen aus dem Mediterraneo heranschaffte.

«Na ja», resümierte Emma schließlich und wandte sich wieder ihren Freundinnen zu, «vielleicht mag er in den Ausführungen etwas übertrieben haben. Aber links flüssig, rechts fest und dazwischen alles Käse – das passt.»

Anna schmunzelte. «Warte nur, wenn uns ab morgen die Leute die Bude einrennen. Da kann keiner widerstehen!»

«Ich drücke euch die Daumen», sagte Helene. «Gut, dass der Reporter nicht bei uns im Wirtshaus eingekehrt ist. Wer weiß, was der über unseren altmodischen Gasthof geschrieben hätte …»

Emma winkte ab. «Sicher nur Gutes, schließlich ist es bei euch total gemütlich. Im Grunde ist es auch gar nicht so wichtig, was da steht, Hauptsache, wir kommen gut weg. Und das tun wir.»

«Genau», bestätigte Anna. «Wichtig ist, dass überhaupt über uns geschrieben wird. Besonders jetzt, wo Emma das Haus kauft.»

Emma nickte nachdenklich. In der gegenwärtigen Phase gab es tatsächlich kaum etwas Wesentlicheres als konstant gut laufende Geschäfte. Und kostenlose Werbung in einer überregionalen Zeitung war etwas, das sie gar nicht hoch genug schätzen konnte, denn eine Annonce mit einer solchen Verbreitung hätte sie eine Stange Geld gekostet.

«Hat sich eigentlich die Bank schon gemeldet?» Helenes Blick sprühte vor Neugier. «Die wollten sich vor dem Wochenende entscheiden, oder?»

Emma atmete tief ein und schüttelte den Kopf. «Ja, das wollten sie. Aber noch habe ich nichts gehört.»

«Ach, es ist ja auch erst Mittag. Ich bin sicher, dass du den Kredit bekommst. Du hast es so was von verdient, dass dir hier endlich der ganze Laden samt Haus gehört.»

«Danke, cara.»

«Gern.» Helene lächelte. «Und jetzt muss ich wieder rüber, ich hab gleich eine Patientin.»

«Möchtest du die Zeitung zurück?» Emma hielt ihr das Blatt entgegen.

«Behalt sie und rahm dir den Artikel ein.» Ihre Freundin grinste. «Gehst du heute wieder mit mir auf den Burgberg?»

«Bleibst du noch so lange im Laden?», fragte Emma an Anna gewandt.

«Natürlich. Die Zwillinge kommen erst später aus der Schule, ich habe also Zeit.»

«Gut, dann bis nachher, Leni.»

Helene verabschiedete sich mit einem lässigen Winken und trat den Rückweg zu ihrer Physiotherapie-Praxis im Nachbarhaus an – deutlich gelassener als den Hinweg. Dabei klimperten ihre vielen bunten Fußkettchen im Takt ihrer Schritte und begleiteten das Bimmeln der Türklingel.

Emma ließ die Zeitung auf dem Tischchen liegen und machte sich mit einem Lächeln wieder an die Arbeit. Sie würde den Artikel später zu Ende lesen, das Wichtigste wusste sie ja schon: Ihr kleines Reich wurde in den höchsten Tönen gelobt. Was wollte sie mehr?

Außer …

«Der Mozzarella ist alle – kann das sein?» Annas alarmierte Stimme riss sie aus ihren Gedanken. «Ich dachte, es wäre noch welcher da …»

«Er ist draußen im Lager in der Kühlung, Anna. Die Lieferung kam Gott sei Dank heute Morgen an. Ich hätte die gute Frau von Hohenfels ungern enttäuscht.»

«Das hätte sie dir auch nicht so schnell verziehen.» Anna lachte. «Ich hole ihn.»

Die alte Dame kam regelmäßig am Freitagnachmittag vorbei, um sich eine Portion des frischen Käses zu gönnen, und hätte mit ihrem Unmut sicher nicht hinterm Berg gehalten. Ihre Tochter Konstanze hatte sehr eindrücklich geschildert, mit welch langem Gesicht die über neunzigjährige Freifrau Isadora einmal ohne ihren geliebten Weichkäse nach Hause zurückgekehrt war. Die Erinnerung ließ Emma schmunzeln.

«Bitte tun Sie mir das nie wieder an, Emma», hatte Konstanze von Hohenfels ihren Bericht geschlossen. «So möchten Sie meine Mutter nicht erleben – und ich auch nicht noch mal.»

Seit geraumer Zeit veränderte sich die Beziehung zu der jüngeren der adligen Damen ins Freundschaftliche, und Konstanze von Hohenfels nannte Emma bereits beim Vornamen. Beim vertrauten Du waren sie allerdings bislang noch nicht angekommen.

Als Anna mit der Packung aus dem Lager kam und sie auf der Arbeitsfläche hinter der Kühltheke abstellte, war Emma gerade mit dem Einräumen der Knabbereien fertig.

«Komm, wir machen Pause und probieren gleich mal, was ich da bestellt habe», schlug sie vor. «Ich bin schon neugierig, was der pure Mozzarella für ein Aroma hat, bevor wir ihn mit Öl und Tomaten kombinieren.»

In den letzten Wochen war es so turbulent gewesen, dass sie und Anna mittags durchgearbeitet hatten, um die Regale aufzufüllen und alles in Ordnung zu bringen, ehe am frühen Nachmittag der nächste Schwung Kunden kam. Doch heute Vormittag hatte Emma immer mal wieder Zeit gehabt, Wein und Nudeln nachzulegen. Es bot sich also an, die momentane Ruhe für eine gemeinsame Mittagspause zu nutzen.

Emma öffnete den Isolierbehälter, halbierte eine Mozzarellakugel und schnitt sie in Scheiben. Sie verteilte den Käse auf zwei Teller und trug sie an den Tisch, auf dem noch immer die Zeitung auf sie wartete. Einen der Teller schob sie zu Anna hinüber.

Nach dem ersten Bissen schloss Emma genießerisch die Augen und spürte dem Aroma nach, das sich auf ihrem Gaumen ausbreitete. Einige Sekunden herrschte Schweigen um sie herum. Nichts war zu hören, nicht einmal vom Marktplatz drang ein Laut herein.

In ihrer italienischen Heimat an der Amalfiküste würde jetzt sicher jeden Moment ein Mofa oder eine Vespa knatternd die Stille unterbrechen, dachte Emma. Hier war es schließlich ein Traktor, der um die Kurve tuckerte und dem andächtigen Verkosten ein Ende setzte.

«Kennst du noch irgendwas, das so aromatisch nach nichts schmeckt wie frischer Mozzarella?», meinte Emma anerkennend. «Mamma mia, der ist wirklich wunderbar. Die Mühe, an den ranzukommen, hat sich gelohnt.»

«Was ist an dem so besonders?» Anna begutachtete die milchweiße Leckerei eingehend, ehe sie sich den nächsten Bissen in den Mund schob.

«Das ist ein kleiner Familienbetrieb, der noch alles per Hand herstellt. Ihre Büffel grasen an den Hängen des Vesuvs, drum heißt er auch ‹Mozzarella del vulcano›. Die Böden sind dort besonders reich an Mineralien, und das gibt der Milch diese eigene Würze.»

Anna schmunzelte, nickte aber zustimmend. «Mozzarella del vulcano … bei dir klingt so was immer wie eine italienische Oper!»

«Apropos, wir brauchen unbedingt Musik.» Emma wischte sich die Finger an ihrer Schürze ab und griff nach ihrem Smartphone. «Allerdings nicht unbedingt Oper, oder?»

«Ramazzotti tut’s auch.» Anna nahm noch einen Bissen.

«Ist es dafür nicht ein bisschen zu früh?» Emma konnte sich den kleinen Wortwitz nicht verkneifen.

«Für Eros kann es nicht früh genug sein!»

«Höchstens zu spät», neckte Emma. «Ich glaube, du bist die Einzige, die noch Eros Ramazzotti hört!» Sie scrollte durch ihre Playlist. «Wie wäre es damit?»

Einen Moment später schmetterte die raue Stimme von Adriano Celentano Azzurro durch den Laden.

Anna schüttelte den Kopf. «Viel altmodischer geht es nicht?»

«Gib es ruhig zu: Die Stimme macht immer wieder Gänsehaut», sagte Emma fröhlich. «Außerdem passt sie sicher gut zu den frischen Ochsenherztomaten. Und genau so eine spendiere ich uns jetzt noch. Wenn du magst, kannst du inzwischen ein bisschen Ciabatta aufschneiden.»

Während Anna das Brot holte, suchte Emma ein besonders schönes Exemplar aus dem Tomaten-Korb vor der Theke. Drum herum hatte sie ein paar Töpfe mit üppig wuchernden Küchenkräutern drapiert, das sah besonders einladend aus. Erst gestern hatte ihr Eva von der Dorfgärtnerei frischen Nachschub gebracht – im Moment war das rotblättrige Basilikum der ganze Stolz der jungen Gärtnerin, die die Pflanzen selbst heranzog. Nun zupfte Emma ein paar der duftenden Blätter ab und nahm noch eine kleine Flasche Balsamicoessig und eine große mit Olivenöl aus dem Regal. Als sie die Tomate in dünne Scheiben schnitt und abwechselnd Mozzarella und Basilikumblätter darauf verteilte, erfüllte der intensive, charakteristische Duft den ganzen Raum.

«Hier», sagte sie, als sie Anna ihren Teller mit der fertigen Insalata Caprese reichte.

Die sog tief die Luft ein. «Das riecht einfach herrlich nach Sommer und Süden», stellte sie fest und bediente sich großzügig an dem goldfarbenen Öl.

Emma nickte, nahm noch einen Bissen Mozzarella und prüfte kritisch die Konsistenz und das Gefühl am Gaumen. «Hmm … semplicemente fantastico.»

«Oh ja.» Anna tunkte ein Stückchen Ciabatta in den kleinen See aus Olivenöl und Balsamico, der in ihrem Teller schwamm. «Der Mozzarella vom alten Importeur war innen etwas wässriger, stimmt’s?»

Emma nickte ihrer Freundin anerkennend zu. «Ja genau, du Feinschmeckerin! Der junge Mann, der die Lieferung heute Morgen gebracht hat, war übrigens auch ziemlich … lecker. Der hätte Helene sicher gefallen.» Sie garnierte eine weitere Scheibe Mozzarella liebevoll mit Basilikum. «Schade nur, dass das Verfallsdatum so kurz ist …»

Das Brotstück, das Anna sich gerade in den Mund schieben wollte, blieb kurz vor seinem Ziel in der Luft stehen. «Aha! Habe ich was verpasst?»

«Nein, nicht das von dem ragazzo, das vom Käse.»

Emma nahm sich eine Scheibe vom Brot, legte sie an den Rand ihres Tellers und ließ langsam etwas Olivenöl darauf tropfen. Eine Prise Salz vollendete die Komposition, bevor sie in die knackende Kruste biss und genussvoll die Augen verdrehte.

Schmunzelnd sah Anna sie an.

«Was ist? Habe ich Basilikum zwischen den Zähnen?»

«Nein, alles in Ordnung. Ich finde es einfach nur schön, wie sehr du diese Dinge genießen kannst. Darum bist du auch so eine gute Verkäuferin.»

«Das bist du doch auch, Anna.»

«Ach was.» Anna wehrte das Lob bescheiden ab, aber Emma erkannte deutlich, dass sie sich darüber freute. «Die Leute kommen wegen dir in den Laden, Emma, nicht wegen mir. Du strahlst einfach mit jeder Handlung aus, wie überzeugt du von dem bist, was du unserer Kundschaft anbietest.»

«Das tue ich wohl. Ich kann gar nicht anders, das habe ich einfach in mir. Aber wir ergänzen uns gut.»

Emma war sich der Tatsache bewusst, dass sie keine Produkte verkaufte, sondern ein Lebensgefühl. Ihr Lebensgefühl: den Genuss und die Lebensqualität ihrer italienischen Heimat. Und es imponierte ihr, wie sehr Anna sich mit ihren Ideen und Projekten identifizierte und dass sie die sorgfältig ausgewählten italienischen Produkte fast genauso liebte wie sie selbst.

«Es ist wie ein Stück Italien mitten in der deutschen Provinz», sagte Anna manchmal geradezu euphorisch.

Anna war ein Glücksfall für Emma – in vielerlei Hinsicht. Die beiden hatten sich bei Emmas Ankunft in Himmelsricht vor zweiundzwanzig Jahren auf Anhieb gemocht. Damals hatte Anna ihr geholfen, den Kulturschock zu überwinden, nachdem sie im tiefsten Winter von der sonnigen Amalfiküste nach Deutschland gezogen war. Bis über beide Ohren verliebt, aber ansonsten völlig unvorbereitet, hatte sie gefroren wie noch nie in ihrem Leben und war auch mit dem wortkargen einheimischen Menschenschlag eine ganze Weile nicht warm geworden. Anna hatte sie schließlich nicht nur sprichwörtlich hinter dem Kachelofen hervorgezogen, sondern sie tatsächlich durch sämtliche Nachbarhäuser geschleift, bis sie in ihrem näheren Umfeld jedes Kind und jeden Greis persönlich kannte. Vielleicht war es sogar noch mehr Annas Verdienst, dass Emma in Himmelsricht geblieben war, als das ihrer damals großen Liebe Korbinian – der war nämlich notgedrungen seiner Arbeit nachgegangen und hatte vom anfangs ernüchternden Alltag seiner angebeteten Italienerin vieles gar nicht mitbekommen.

Nach der Scheidung vor vier Jahren hatte wiederum Anna sie darauf gebracht, dass die Betreiberin des Lebensmittelladens im Dorf jemanden suchte, der ihre Nachfolge übernehmen wollte. Emma wollte unbedingt. Seitdem war viel passiert, und nun betrieb sie ihr eigenes kleines Alimentari. Und Anna, der sie den Hinweis zu verdanken hatte, war ihre unverzichtbare rechte Hand geworden.

Eine warme Welle der Zuneigung schwappte über Emma hinweg, während sie ihrer Freundin zusah, wie sie mit einem Rest Brot den Teller ausputzte. Das Läuten des Handys riss sie aus ihren Betrachtungen, und sie verschluckte sich an ihrem letzten Stück Tomate. Hustend griff sie zu ihrem Telefon.

«Oh, Madonna mia, das ist die Bank», sprudelte sie aufgeregt heraus und zerzauste ihre sowieso schon wirren Haare noch mehr. «Drück mir die Daumen, Anna, jetzt geht’s um alles oder nichts!»

«In bocca al lupo!», wünschte Anna nach italienischer Manier und streckte die überkreuzten Finger in die Luft. «Viel Glück.» Dann nahm sie die inzwischen leeren Teller an sich und verschwand mit ihnen nach hinten in den kleinen Aufenthaltsraum, der ihnen als Spül- und Teeküche diente.

Emma räusperte sich die Stimme frei und musste zweimal über den grünen Button streichen, bis sie endlich die Verbindung hergestellt hatte.

«Hier spricht Emma Ferrari …»

«Frau Ferrari, wie schön, dass ich Sie gleich erreiche.» Laut und scheppernd dröhnte ihr die Stimme des Bankberaters entgegen, der sie dankenswerterweise gar nicht mehr zu Wort kommen ließ, sondern sich gleich in einem Redeschwall verlor, den Emma im schwungvollen bayerischen Dialekt über sich hinwegschaukeln ließ, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Er rekapitulierte ihre Kreditanfrage, zählte nochmals die Argumente auf, berichtete von den Abwägungen, die er getroffen hatte, und kam dann endlich irgendwann zum Punkt. «Also, in kurzen Worten: Die Kreditabteilung hat zugestimmt, Sie haben das Darlehen.»

Dann verabschiedete er sich knapp und bündig.

«Siiiiiiii!», schrie Emma, nachdem sie aufgelegt hatte. «Anna! Sie haben Ja gesagt!»

«Daran habe ich keinen Moment gezweifelt», behauptete ihre Freundin und kehrte zurück in den Verkaufsraum.

«Ach wie herrlich – komm her! Ich freu mich so!» Kurzerhand packte Emma sie und wirbelte sie ein paar Mal um ihre eigene Achse.

«Hey, du verrücktes Huhn! Pass auf deine Flaschen auf!», quietschte Anna und bugsierte die außer Rand und Band geratene Emma um einen Stapel mit Getränkekartons herum.

«Ach, was machen schon ein paar Scherben, wenn es um so viel mehr geht», widersprach Emma atemlos, hörte aber auf, sich zu drehen, und gab Anna frei. Die ließ sich zum Verschnaufen wieder auf den Bistrohocker fallen, auf dem sie zuvor gesessen hatte. «Die monatliche Rate ist zwar so hoch wie der Arbergipfel, aber was soll’s? Das schaffe ich schon. Und jetzt, nach dieser tollen Werbung in der Zeitung, kann gar nichts mehr passieren.»

«Und wir denken uns noch ein paar tolle Aktionen aus, um wirklich alle, die den Artikel gelesen haben, in den Laden zu holen.»

«Ja, das machen wir! Wir könnten jeden Samstag einen anderen Aperitif verkosten lassen und jeden zweiten Donnerstag im Monat den Schinken des Tages einführen …»

«… und montags ist Nudeltag, und wer drei Packungen kauft, kriegt ein Glas Tomatensoße geschenkt», nahm Anna den Faden auf.

«Oh ja, da fällt uns sicher noch ganz viel ein. Aber erst mal müssen wir das unbedingt feiern.» Emma strahlte. «Wenn Helene nachher wiederkommt, köpfen wir eine schöne Flasche Prosecco und stoßen darauf an.»

2. Kapitel

Emma fühlte sich aufgedreht, und das Herz pochte ihr bis in den Hals. Diese Kreditzusage war einer der wichtigsten Meilensteine in ihrem Leben. Seit ihrer Scheidung von Korbinian arbeitete sie auf ihren Traum hin: ihr kleiner Feinkostladen in ihrer eigenen Immobilie.

Das hübsche alte Häuschen in der historischen Ortsmitte von Himmelsricht war perfekt für ihre Zwecke – nicht umsonst hatte es jahrzehntelang den kleinen Lebensmittelladen des Dorfes beherbergt. Gegenüber, neben der uralten, ausladenden Linde an der rechten Seite des Dorfplatzes, fand sich das seit Generationen alteingesessene Wirtshaus der Familie Straub, ein Stück weiter standen die Tische von Bärbel Müllers Eisdiele. Auch von da aus konnte, wer dort gerade seinen Eiskaffee schlürfte oder sein Spaghetti-Eis verzehrte, Emmas Reich überblicken.

An der rückwärtigen Seite des Gebäudes gab es einen Parkplatz und eine Tür ins Treppenhaus, von wo aus man in den Laden, in einen kleinen Waschraum und ins Warenlager gelangte. Letzteres war nicht übermäßig geräumig, doch das hatte auch sein Gutes: So kam Emma wenigstens nicht in Versuchung, allzu sehr über die Stränge zu schlagen und wesentlich mehr Ware zu bestellen, als sie verkaufen konnte. Im ersten Stock befand sich eine hübsche Wohnung mit Balkon und Blick auf den Dorfplatz. Momentan stand sie leer, aber Emma würde dort einziehen, sobald die Formalitäten erledigt waren. Das kleine Apartment am Rand von Himmelsricht, das sie bisher bewohnte, würde sie so schnell es ging kündigen.

Emma hatte das schnucklige Gebäude vom ersten Moment an heiß und innig geliebt, und der Gedanke, hier immer bloß die Mieterin zu sein, war ihrer italienischen Seele die ganze Zeit zuwider gewesen. Was, wenn ihr der miesepetrige Vermieter Roland Seelig eines Tages die Kündigung ausspräche und sie sich etwas Neues suchen müsste? Allein die Möglichkeit, dass das trotz ihres Mietvertrags durchaus passieren könnte, war für sie eine bedrohliche Vorstellung, die sie all die Jahre mühsam in die hinterste Ecke ihres Kopfes verbannt hatte.

Zum Glück würde sich dieses Risiko endlich in Wohlgefallen auflösen, sobald sie nächste Woche beim Notar die Verträge unterzeichnet hätten.

Emma hatte Anna verschwiegen, dass sich beim Gedanken an die schwindelerregend hohe Rate, die sie künftig würde aufbringen müssen, ihr Magen nervös zusammenzog. Dass sie bei allem Enthusiasmus auch Zweifel hatte. Zukunftsängste. Und dennoch überwog die Freude, die ihren unerschütterlichen Optimismus zurückkehren ließ. Sie schob ihre Sorge beiseite und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie dann ja auch keine Wohnungsmiete mehr würde bezahlen müssen, was wiederum ein wichtiger Ausgleich war.

Gemeinsam mit Anna würde sie künftig auf neue Ideen und attraktive Events setzen. Annas Kinder waren inzwischen Teenager, die seit geraumer Zeit darauf bestanden, als Erwachsene betrachtet zu werden. Also würde sie Anna bei nächster Gelegenheit fragen, ob sie ganztags bei ihr arbeiten wollte. Und alles Weitere würde sich zeigen. Jetzt war sie erst mal überglücklich, die größten Hürden auf dem Weg zu ihrem Traum gemeistert zu haben.

Und es gab zwei wichtige Personen, denen sie die Neuigkeit unbedingt mitteilen wollte. Mit dem Handy am Ohr ging sie im Laden auf und ab.

«Ciao, Mamma! Alles gut bei dir?», meldete sich Raffaella in ihrer gewohnt temperamentvollen Art.

«Ich habe gute Neuigkeiten, tesoro», rief Emma ins Telefon und lachte.

«Sag bloß, du bekommst das Geld! Du klingst so glücklich, da kann es eigentlich nicht anders sein, oder?» Ihre Tochter hatte natürlich mit ihr mitgefiebert und war beinahe so aufgeregt gewesen wie Emma selbst.

«Sììì! Gerade hat die Bank angerufen und mir die Zusage gegeben.»

«Wie toll! Herzlichen Glückwunsch. Bald sind ja Semesterferien, dann komme ich dir beim Umzug in die neue Wohnung helfen, wenn es so weit ist, va bene?»

Emmas Herz wurde weit. Sie konnte das Strahlen im Gesicht ihrer Tochter buchstäblich sehen. Wenn sie so klang wie jetzt gerade, dann leuchteten Raffaellas Augen, und zwei Grübchen tauchten in ihren Wangen auf. Die hatten sie als Kind unwiderstehlich niedlich aussehen lassen und wirkten wohl auch jetzt noch, denn gelegentlich wickelte sie schon mal einen übellaunigen Dozenten um den Finger.

«Fantastico, tesoro. Ich freu mich schon sehr auf dich, aber ich verspreche dir, wir werden nicht nur arbeiten.»

«Das hoffe ich schwer. Weiß es denn Papa schon?»

«Den rufe ich gleich an. Zuerst solltest du es erfahren.»

«Ach, Mammina. Ich habe ja nie daran gezweifelt, aber trotzdem tantissimi auguri! Und lass dir von Papa keine Angst machen, ja?»

Emma lachte. «Bestimmt nicht. Ti amo, tesoro!»

«Alles Gute, ich hab dich auch lieb. Ich muss jetzt los, mein nächstes Seminar fängt gerade an. Aber du darfst mich am Sonntag zum Frühstück ausführen.»

Emma lächelte. Raffaella war sparsam und konnte gut mit Geld umgehen, drum ließ sie sich hin und wieder gern von ihrer Mamma einladen.

«Das machen wir, ich freu mich drauf. Ciao, amore, bis Sonntag.»

Mit einem glücklichen Lächeln beendete Emma das Gespräch. Ihre Tochter war ihr ganzer Stolz. Sie wuchs zu einer selbstständigen jungen Frau heran und hatte Spaß an ihrem Studium in Regensburg. Die ersten Tage in der WG waren nicht leicht für Raffaella gewesen, sie hatte ein bisschen Heimweh gehabt, und da es mit dem Auto gerade mal eine Dreiviertelstunde nach Hause war, hatten sie sich anfangs noch jedes Wochenende gesehen. Aber mit ihrer offenen Art und dem italienischen Temperament hatte sie schnell Freunde gefunden und war nun rundum glücklich.

Emma blieb am Schaufenster stehen und wählte die Nummer ihres Ex-Mannes.

«Brenner?»

«Stell dir vor, ich habe den Kredit, Korbinian!», fiel sie gleich mit der Tür ins Haus.

«Dir auch einen schönen Nachmittag, Emmi!» Was von jemand anderem wie ein Tadel hätte klingen können, kam von ihm mit einem Schmunzeln in der Stimme.

«Ja, auch das. Ich bin völlig aus dem Häuschen.»

«Verständlicherweise. Herzlichen Glückwunsch. Endlich geht dein Traum in Erfüllung! Und so großartig, wie du den Laden in Schwung gebracht hast, wird das auch in Zukunft ein Bombenerfolg. Du hast sicher schon ein Konzept dafür, wie ich dich kenne, oder?»

«Ja, natürlich», sagte sie voller Begeisterung. «Die Ideen sprudeln nur so.»

«Das kann ich mir gut vorstellen.» Korbinian lachte leise. «Ich kenne niemanden, der so kreativ ist wie du, wenn es um Ideen und ihre Umsetzung geht.»

«Und wenn mir nichts einfällt, dann sicher Anna.»

«Stimmt, ihr zwei seid schon ein tolles Team.»

Emma lächelte. «Ja, das sind wir.»

«Wenn du doch mal weitere Unterstützung nötig hast, weißt du ja, wo du mich erreichst. Oder wenn du jemanden zum Reden brauchst …»

Einen Moment lang war Emma versucht, ihm so wie früher von ihren Bedenken zu erzählen, aber sie wusste, dass er dann sofort seine Hilfe anbieten würde. Und die würde sie auf keinen Fall akzeptieren.

«Danke für das Angebot, aber …»

«… du wirst es nicht annehmen», vollendete Korbinian ihren Satz.

Er kannte sie einfach zu gut nach all diesen Jahren. Korbinian hatte lange gebraucht, um das Ende ihrer früher einmal so glücklichen Ehe zu verkraften, und Emma hatte gelegentlich den Eindruck, als würde er noch immer auf einen Neubeginn hoffen – aus ihrer Sicht vergeblich.

«Jetzt kann ja gar nichts mehr schiefgehen», winkte sie ab. «Heute war übrigens ein Artikel in der Zeitung über das Alimentari, das ist ein großartiger Werbeeffekt. Es heißt zwar Tante Emma, aber na ja … die Werbung zählt.»

«Stimmt, den habe ich auch gelesen und fand das mit der Tante ziemlich charmant.»

«Ich eigentlich nicht. Aber inzwischen macht es mir nichts mehr aus.»

«Vielleicht lieber Donna Emma? Das fände ich eine sehr passende und charmante Bezeichnung für dein Alimentari. Und, Emmi …» Hier machte er eine kurze Pause, und Emma ahnte schon, was jetzt kommen würde. «Falls doch mal was schiefgeht, kannst du immer auf mich zählen.»

«Ich weiß. Danke dir.» Er hätte es nicht zu erwähnen brauchen. Auch sie kannte ihn gut genug, um dessen sicher sein zu können.

«Ich meine ja nur, für den Fall. Im Autohaus hättest du auch Kontakte nach Italien und müsstest kein so großes Risiko eingehen wie mit dem Laden und dieser Immobilie. Du weißt, du musst es mir nur sagen.»

Emma wandte sich um, ging langsam durch den Laden und streifte mit der freien Hand über die Basilikumtöpfchen, die sofort einen intensiven Duft verströmten. «Es ist lieb von dir, dass du dir Sorgen um mich machst, aber du kennst mich doch. Das schaffe ich schon.»

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung sagte ihr, dass er die Abfuhr durchaus verstanden hatte, aber darauf konnte und wollte Emma keine Rücksicht nehmen. Viel zu lange hatte sie auf den Moment gewartet, in dem sie endlich auf eigenen Füßen stehen und ihren langjährigen Traum verwirklichen konnte.

«Kommst du heute Abend auch zur Vereinsversammlung?», wechselte nun Korbinian das Thema, und der Tonfall seiner Stimme war genauso sanft wie zu Beginn ihres Telefonats. Das hatte Emma schon immer an ihm geschätzt: Er war nicht nachtragend – und er war ihr ein wichtiger Freund geblieben, obwohl ihre Liebesbeziehung zu Ende war.

«Ja, natürlich bin ich auch da.»

«Na gut, dann sehen wir uns ja später. Ich habe jetzt einen Kundentermin, soll ich dich nachher abholen?»

«Ma no, treffen wir uns direkt beim Strauberwirt. Ciao.»

Das Telefon noch in der Hand, trat Emma wieder ans Fenster und blickte hinaus, ohne etwas wahrzunehmen. Schon immer hätte Korbinian es gern gesehen, dass sie in der großen Autovertretung in der Nachbarstadt arbeitete, die er seit Jahren erfolgreich leitete.

Meine schöne Frau und meine schönen Autos unter einem Dach vereint, was will ein Mann mehr?, hatte er manchmal scherzhaft gesagt. Doch Pferdestärken waren, trotz des Namens, nie Emmas Ding gewesen.

Sein Vorschlag, so gut er auch gemeint war, hatte ihr wieder vor Augen geführt, warum aus ihren eigenen Plänen an seiner Seite nichts hatte werden können und woran ihre Ehe letzten Endes gescheitert war: Korbinians Risikobereitschaft bewegte sich im negativen Bereich. Er war als Angestellter erfolgreich, doch ihm fehlte der unternehmerische Geist, der Emma umtrieb. Das war es, was Raffaella gemeint hatte: Korbinian fürchtete die Unwägbarkeiten der Selbstständigkeit und hielt damit auch nicht hinterm Berg.

Was für Emma zu Beginn ihrer Liebe noch Geborgenheit gewesen war, hatte ihr mit den Jahren die Luft zum Atmen genommen und sie dazu gebracht, die Sicherheit aufzugeben, die sie irgendwann erdrückt hatte. Sie hatte Freiheit gewollt. Und diesem Wunsch war sie heute einen gehörigen Schritt näher gekommen.

3. Kapitel

Eine Bewegung vor dem Fenster lenkte Emmas Aufmerksamkeit wieder ins Hier und Jetzt. Die Tür zu Helenes Physiotherapiepraxis öffnete sich, und eine junge Frau kam heraus. Emma erkannte Susann Hillmeier, die künftige Schwiegertochter ihres Vermieters. Sie winkte Helene, die auf der Schwelle stehen geblieben war, noch einmal zu, ehe sie herüberkam. Ein paar Schritte vor dem Eingang zum Alimentari hielt sie inne und lächelte Emma durchs Fenster an, die daraufhin zu ihr vor die Tür trat.

«Hallo, Frau Ferrari. Ist die Luft gerade rein?»

Emma sah sie irritiert an. «Die Luft?»

«Na, Hugo natürlich. Ist er da?»

Mit gerunzelten Brauen hob Emma die Schultern. Was wollte Susann von ihrem Kater? «Ich habe ihn heute noch nicht gesehen, aber das muss nichts heißen. Warum denn?»

«Ich hab’s doch nicht so mit Katzen.» Sie grinste schief.

Tatsächlich dämmerte es Emma, dass Susann das schon einmal erwähnt, sie es aber wieder vergessen hatte. So oft kam die junge Frau nicht zu ihr in den Laden, dass sie sich ihre Vorlieben und Abneigungen gemerkt hätte.

«Stimmt», rettete sie sich aus der Verlegenheit. «Jetzt, wo Sie das sagen. Aber wie gesagt … ich weiß es nicht. Er taucht ja gern mal irgendwo auf, wo man ihn nicht vermutet. Und bekanntermaßen haben Katzen die Angewohnheit, sich gerade an die Menschen ranzumachen, die sie nicht so sehr schätzen, weil die sie nämlich in Ruhe lassen.»

«Uh – auch das noch!» Susann machte ein erschrockenes Gesicht, lächelte aber gleich wieder und schob den Henkel ihrer Handtasche die Schulter hoch.

Strahlend pink stachen Emma Susanns Fingernägel ins Auge. Sie war Nagelkünstlerin, und wenn sie nicht gerade im Salon der örtlichen Friseurin ihre Kundinnen mit Design am Finger versorgte, lief sie selbst für ihr Können Reklame. Emma fragte sich zum wiederholten Male, wie sie das mit der linken Hand hinbekam. Sie selbst wäre dafür nicht zu gebrauchen.

«Wissen Sie, ich habe gerade sowieso nicht so viel Zeit, ich komme einfach ein anderes Mal wieder, wenn er ganz sicher weit weg ist», beschloss sie nun.

«Ist gut», antwortete Emma und sah der jungen Dame nach, die zu ihrem Auto ging.

Ein merkwürdiger Auftritt.

Schulterzuckend drehte sie sich um und kniff die Augen etwas zusammen, weil die Sonne sie blendete. Strahlend blau leuchtete die Fassade ihres Ladens in der Sonne. Die beiden Schaufenster rechts und links des Haupteingangs waren Annas Steckenpferd, darum ließ sie ihrer Freundin dort gern freie Hand. Anna hatte einen guten Blick für das Arrangement der Gegenstände und sah sofort, was sich besonders ansprechend drapieren ließ und was die Kundschaft anziehen würde. Emma hatte schon mehr als einmal erlebt, dass Leute ihren Laden betraten und ausdrücklich das verlangten, was im Schaufenster dekoriert war.

Auch diesmal hatte Anna sich selbst übertroffen. Bunte Pasta, leckere Soßen, Wein und Öl waren zu verlockenden Ensembles zusammengestellt. Dazwischen ein Badetuch und Strandschlappen sowie eine Sonnenbrille im Retrostyle, das gefiel Emma. Sie würde die nächsten Tage passend dazu eine Schürze mit sommerlichem Zitronenmuster tragen. Sie hatte festgestellt, dass sich, ebenso wie bei Annas Schaufenstern, immer gerade die Schürzen am besten verkauften, die sie selbst anhatte. Einmal hatte eine Kundin sie so lange bekniet, bis sie ihre eigene dekorative Schürze mit verschiedenen Pastasorten darauf ausgezogen und ihr überlassen hatte, weil das Modell nicht mehr vorrätig gewesen war.

Anna tauchte hinter der großen Scheibe auf und sah sie fragend an. Mit einem hochgereckten Daumen signalisierte Emma ihre Anerkennung. Anna rückte noch zwei alte Holzkisten zurecht, von denen Emma keine Ahnung hatte, wo sie die aufgetrieben haben könnte, und drapierte ein Küchentuch hübsch darüber. Emma war begeistert. Darauf würden ein paar ihrer Kräutertöpfchen hervorragend passen.

Vielleicht, überlegte sie, sollten sie auf der anderen Fensterseite noch ein bisschen mehr auf die kleinen Haushaltsartikel setzen, die für sie untrennbar zu den Delikatessen gehörten und bei ihrer Kundschaft sehr beliebt waren: Schneidbretter aus Olivenholz, Flaschenstöpsel mit Verzierungen aus Muranoglas, elegante Dekanter und Wasserkaraffen oder antike Weingläser aus dem Piemont. Dazu handbestickte Tischdecken, die sich ebenso gut verkauften wie ihre Schürzen und nach denen sie immer wieder gefragt wurde.

Prüfend sah Emma an der Fassade hoch – die bald ihre Fassade sein würde, dachte sie mit vorsichtiger Zuversicht. Dann würde sie ein neues Schild anbringen, von dem sie schon lange träumte: Emmas Alimentari del Sole.

Ihr Blick wanderte weiter zu der Gasse, die das Gebäude vom Nebenhaus trennte, in dem Helene ihre Physiotherapiepraxis betrieb. Die Hintereingänge der beiden Häuser lagen sich direkt gegenüber. Auch das Fenster des einen von Helenes zwei Behandlungszimmern wies zu Emmas Seite und traf sich fast genau mit dem kleinen Fensterchen der Teeküche. Gelegentlich, wenn sie einen sehr vollen Tag und kaum eine Pause hatte, winkte Helene einfach nur herüber und brachte ihren Hunger und ihr Bedauern darüber, keine Zeit zum Essen zu haben, mit dramatischen Grimassen zum Ausdruck. Für Emma war es ein gutes Gefühl, ihre Freundin so nahe bei sich zu wissen.

Sie drehte sich um, vor ihr öffnete sich der idyllische Dorfplatz mit seinen malerischen Gebäuden, dem Kopfsteinpflaster und den bunten Blumenrabatten, die den Platz säumten. Wenn, wie gerade eben, kein Auto vorbeifuhr, sondern nur die Vögel in den Hecken zwitscherten und ein paar Kinder lachten, konnte Emma sich fast vorstellen, eine italienische Piazza vor sich zu haben. Helenes Großmutter, Therese Obermüller, die unter der uralten Linde neben dem Gasthof saß, komplettierte das Bild und erinnerte Emma einmal mehr an die italienische Tradition des «Spazierensitzens», das in ihrer alten Heimat gern auch zu mehreren gepflegt wurde. Emma winkte hinüber zu ihr, doch das Sehvermögen der alten Dame reichte nicht mehr aus, sodass diese ihren Gruß nicht bemerkte. Wahrscheinlich würde sie ihren Platz unter dem Baum bald aufgeben und sich in den Schatten der Markise vor dem Alimentari setzen. Sie liebte es, sich an den verschiedenen Düften zu erfreuen, die aus dem Laden drangen, hatte sie ihrer Enkelin einmal gestanden.

Emma hatte ihre neue Heimat im Laufe der Jahre ebenso liebgewonnen wie ihre alte. Natürlich war Himmelsricht nicht Amalfi, aber auf seine Weise war das gemütliche Örtchen für sie inzwischen genauso malerisch und romantisch. Ein laues Lüftchen wehte von den nahen Feldern in den Ort herein und brachte das Versprechen eines warmen Sommerabends mit. Irgendwo musste der Bauer eines der umliegenden Höfe eine Wiese gemäht haben, denn der Geruch von frischem Heu lag in der Luft. Emma liebte diesen Duft, er war für sie untrennbar mit Sommer und Sonne verbunden. Auf gewisse Weise beinahe so wie manche Aromen, die sie als Kind schon eingesogen hatte und nie vergessen würde: Rosmarin. Basilikum. Reife Tomaten. Der schmelzende Käse auf der Pizza, die ihre Großmutter für sie mit extra vielen Oliven belegte …

Emma verdrängte ihre sehnsüchtigen Gedanken und kehrte in ihr Lädchen zurück. Helene war mit Susann ja fertig, bald würden sie zu ihrem kleinen Spaziergang aufbrechen.

Tatsächlich dauerte es keine fünf Minuten, bis Helene zu ihr und Anna in den Laden kam. Allerdings sah sie um die Nase ziemlich blass aus.

«Ich habe Hunger wie ein Wolf, aber gleichzeitig ist mir total schlecht», verkündete sie und steuerte sofort die Kaffeemaschine an.

«Schlecht? Warum denn das?», fragte Anna.

«Hat dich die Hillmeier Susann schwindlig geredet?» Emma lachte.

Helene verzog das Gesicht und warf ihren blonden Zopf über die Schulter zurück, als sie sich auf den Holzstuhl fallen ließ, auf dem sie am Morgen bereits gesessen hatte. «Hast du sie gesehen? Sie war ja wieder aufgetakelt, Mannomann! Und leider hatte sie dazu ein so aufdringliches Parfüm drauf, dass es mir nach einer Weile richtig auf den Magen geschlagen ist.» Sie hob den Arm und schnupperte an ihrem Shirt. «Ich bilde mir sogar ein, dass ich das jetzt auch mit mir rumtrage. Puh.»

«Ich rieche nichts», beruhigte Emma sie, «also mach dir keine Sorgen deswegen.»

Helene ließ von ihrem Shirt ab. «Dann ist es ja gut. Aber im Ernst, das war sehr unangenehm. Sagen kann ich dazu ja nichts, sonst ist sie wieder beleidigt.»

Emma gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Dass die Freundin von Roland Seelig junior ziemlich dünnhäutig war, wusste sie bereits, denn hin und wieder kam diese auch in die Pilatesstunde, die Helene jeden Dienstag- und Freitagabend in der Schulturnhalle abhielt.

«Magst du trotzdem was essen, Elena?», lenkte sie ab und benutzte absichtlich die italienische Form des Namens, um die Freundin auf andere Gedanken zu bringen. «Ein Panino mit Salame piccante vielleicht?»

«Meinst du, das hilft gegen die parfümverstopfte Nase?» Helene grinste schelmisch. «Ich glaube, ich nehme lieber erst mal einen Espresso, bevor ich was esse.»

«So wird aus dir nie eine echte Italienerin», seufzte Emma. «Das ist ja so, als würde ich ein Menü mit der Nachspeise anfangen.»

«Weiß ich doch. Aber den Espresso brauche ich jetzt unbedingt. Und dann gern eine Semmel.»

«Die mach ich dir», mischte sich Anna ein.

«Danke! Ich esse unterwegs», rief ihr Helene hinterher.

«Aber das ist ungesund!» Emma schüttelte den Kopf über so viel Unvernunft von einer, die eigentlich von Berufs wegen Bescheid wissen sollte. «Zum Essen soll man sich in Ruhe hinsetzen und es genießen.»

Helene zuckte die Schultern. «Hauptsache, es kommt alles im Magen an. Aber erst möchte ich meinen Espresso!»

Seufzend machte ihr Emma den caffè – bisher war es ihr noch nicht geglückt, Helene den Ausdruck Espresso abzugewöhnen und sie vom korrekten italienischen caffè zu überzeugen. Anschließend tauschte sie im Nebenzimmer ihre Ladenpantoffeln gegen Sneaker.

Es war nur ein kurzer Marsch durchs Dorf zwischen den Häusern hinter ihrem Lädchen hindurch, ehe sie auf den Pfad kamen, der zur Burgruine hinaufführte.

«Was gibt es Neues?», fragte Helene mit vollem Mund. «Ich glaube, du hast was zu erzählen.»

«Woher weißt du … ach, verstehe, das offene Fenster.»

Helene nickte, während sie kaute. «Du bist halt manchmal nicht grad leise, wenn du telefonierst. Aber ich freue mich wahnsinnig für dich. Und ich bin auch wirklich für mich selbst froh, denn eine Nachbarin mit so leckeren Sachen kriege ich hier nie wieder. Deine Hartwurstsemmeln sind echt ein Traum.»

«Hartwurstsemmeln, also wirklich!» Emma machte ein beleidigtes Gesicht, hielt aber nicht lange durch, sondern musste lächeln. Dass Helene aus einem Panino con Salame eine Hartwurstsemmel machte, nahm sie ihr nicht übel, obwohl es ihr anfangs gegen die italienische Ehre gegangen war. Doch dann hatte sie das spitzbübische Grinsen erkannt und begriffen, dass ihre Freundin ihre Mitmenschen einfach gern auf den Arm nahm. Und noch später war ihr aufgegangen, dass Helene Straub das nur mit denen machte, die sie besonders gern mochte.

Inzwischen war aus ihrer anfänglich oberflächlichen Bekanntschaft trotz des Altersunterschieds von fast fünfzehn Jahren eine enge Freundschaft geworden. Das lag auch daran, dass Emma vor ein paar Jahren dafür gesorgt hatte, dass sich Helene erfolgreich gegen ihre Eltern durchsetzen konnte. Die hatten sich verständlicherweise gewünscht, ihre Tochter würde den Familienbetrieb übernehmen. Helene aber hatte von klein auf unbedingt Physiotherapeutin werden wollen – was Emma wiederum ebenfalls verstand. Nach vielen freundlichen Gesprächen, besonders mit Helenes Mutter Adelheid, war den beiden schlussendlich nichts mehr eingefallen, was sie gegen die Berufspläne der Tochter einwenden konnten. Seitdem war die fröhliche Helene mit ihren bunten Pilateshosen und klimpernden Fußkettchen Emmas treuester Fan.

Die beiden Frauen hatten die letzten Häuser hinter sich gelassen und tauchten in den dichten Laubwald ein, der den Burgberg bedeckte. Irgendwo in den Bäumen über ihnen ertönte das ratternde Klopfen eines Spechts.

«Einfach lecker.» Helene schob sich das letzte Stück Panino in den Mund und leckte sich genüsslich einen Krümel vom Finger. «Ich hätte mir zwei davon mitnehmen sollen.»

Emma fragte sich nicht zum ersten Mal, wo Helene die Mengen an Essen hinsteckte, die sie gelegentlich vertilgte. Sie selbst musste seit einiger Zeit höllisch aufpassen, nicht bei jeder Leckerei, die sie sich gönnte, aus der Form zu geraten.

«Wenn das mit dem Hauskauf abgeschlossen ist, werde ich mein Mittagssortiment erweitern, damit du mal was anderes bekommst als immer nur eine Hartwurstsemmel.» Emma verzog das Gesicht bei dem Wort.

«Hey, ich liebe deine Hartwurst!» Helene lachte, wurde dann aber wieder ernst. «Und du ziehst wirklich in die Wohnung im ersten Stock?»

«Ja, darauf freue ich mich schon sehr. Ich hätte mir zwar auch vorstellen können, eine Ferienwohnung daraus zu machen, aber das ist mir zu unsicher. Lieber spare ich mir die Miete.»

«Das verstehe ich. Wenn es nicht der erste Stock wäre, hätte ich mich mit meiner Praxis als Mieterin bei dir beworben. Leider habe ich zu viele Patienten, die nicht gut zu Fuß sind, und ich vermute mal stark, dass man keinen Aufzug einbauen kann. Wie auch immer, das steht ja nun eh nicht zur Debatte.» Sie machte einen großen Schritt über einen Ast und balancierte über die Steine am Wegesrand.

Emma bewunderte die Kondition der jungen Frau. Helene war fit und bewältigte den Anstieg zur Burgruine, während sie abwechselnd quatschte und aß, ohne auch nur leicht außer Atem zu geraten. Emma selbst machte die sommerliche Wärme heute ein bisschen zu schaffen, und sie war froh darüber, dass weite Teile ihres Spazierweges im Schatten dicht belaubter Buchen und Linden lagen. Immer wieder passierten sie Findlinge aus Granit, die größer waren als manche Luxuskarosse. Der Pfad aus festgetretener Erde führte in Bögen um die Hindernisse herum bergauf und war stellenweise so schmal, dass sie hintereinandergehen mussten.

Als sie auf dem Plateau ankamen, wurden sie vom Zirpen der Grillen und einer frischen Brise empfangen, die hier oben kräftiger wehte als unten auf dem Dorfplatz. In einträchtigem Schweigen lehnten sich die beiden Frauen an die uralte Steinmauer, die den Rand des Areals begrenzte. Von hier aus hatten sie einen fantastischen Blick hinaus ins Donautal – so, wie es der Reporter beschrieben hatte.

«Schade, dass es gerade etwas diesig wird», sagte Helene und stützte die Ellenbogen auf die Mauer und das Kinn auf die rechte Handfläche. «Gestern war der Fernblick von hier echt irre.»

«Das stimmt. Aber es ist trotzdem schön, wie sich das Licht im Wasser spiegelt. Schau mal!» Emma wies mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Ferne, wo der Fluss in silbernen Schleifen in der Ebene lag.

«Mhm», machte Helene, dann schloss sie die Augen und wandte ihr Gesicht der Sonne zu.

Es war still hier oben, und Emma genoss es, dass sie mit Helene auch schweigen konnte. Ihre Freundin war angenehm unkompliziert und musste nicht ständig plappern oder gar unterhalten werden. Oft liefen sie ihre Mittagsrunde, ohne mehr als ein paar Worte zu wechseln.

Einige Atemzüge noch genossen sie gemeinsam die Stille und den Ausblick, dann sah Helene auf die Uhr.

«Ich muss wieder, die nächste Patientin kommt bald. Denk dran, die Pilatesstunde fällt heute Abend aus, wegen der Vereinssitzung bei uns im Strauberhof.» Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, und stieß sich von der Mauer ab.

«Als könnte ich das vergessen. Aber wir sehen uns ja trotzdem, schließlich komme ich auch zur Sitzung.»

«Richtig, du wirst ja sogar als die nächste Schützenkönigin gehandelt!» Helene ging voraus über den grasbewachsenen Burgfried zum Weg zurück, der auf der anderen Seite des Hügels wieder ins Dorf hinabführte.

«Ach – wer übertreibt denn da so?» Emma schloss zu ihr auf.

«Korbinian erzählt es jedem, der es hören will.» Ihre Freundin grinste. «Er ist anscheinend wirklich stolz auf deine Schießkünste.»

Emma stöhnte und wusste nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte. «Madonna … das bisschen Schießen ist doch nur Spaß. Ich nehme das überhaupt nicht ernst, und die meisten anderen im Verein auch nicht. Ich gehe hin, weil es gesellig ist und ich Leute treffe, die ich sonst nie sehen würde.» Sie zuckte die Schultern. «Ich unterhalte mich viel lieber, als auf irgendwelche Scheiben zu schießen, auch wenn das manchmal dazugehört.»

Sie ließen die großen Findlinge hinter sich, auf denen die Grundmauern der Burg ruhten, und bogen von dem grasbewachsenen Trampelpfad auf die schmale Teerstraße ein, die an den schmucken kleinen Häusern vorbeiführte.

«Den Hößlbarth trifft der Schlag, wenn du mit der Einstellung auch noch gewinnst.» Helene lachte laut. «Ich freue mich schon auf das Gesicht!»

«Vielleicht komme ich einfach nicht, dann ist das Thema schnell erledigt, und er bleibt gesund», sagte Emma leichthin.

«Spinnst du? Das kannst du nicht machen!»

«Hm, warum nicht?»

Das Treffen war zwar als Pflichttraining vor der Meisterschaft deklariert, und wer fehlte, durfte nicht um den Sieg mitschießen. Aber zwischen ihr und Korbinian ging es ohnehin nur um eine harmlose Spielerei: Seit Jahren trugen sie eine gutmütige Privatfehde darum aus, wer von ihnen beiden beim Schützenvereinsfest die höhere Punktzahl beim Scheibenschießen erreichte. Ein kleiner Wettbewerb, den sie meistens gewann.

Emma war kurz nach ihrer Ankunft in Himmelsricht in den Schützenverein eingetreten, weil Anna und auch Korbinian der Meinung gewesen waren, das würde ihr helfen, Kontakte zu knüpfen und Freunde zu finden. Es hätte Alternativen gegeben, aber sie hatte weder aufs Kochen noch aufs Handarbeiten Lust gehabt, und Helene hatte ihre Sportgruppe erst viel später gegründet. Da war ihr das Kleinkaliberschießen noch am coolsten erschienen, zumal Korbinian dort schon Mitglied war. Aber inzwischen hatte der Reiz nachgelassen, und auch der Zweck war seit Langem erfüllt: Sie hatte mehr Kontakte, als sie pflegen, und eine knappe Handvoll echter Freundinnen, auf die sie stets zählen konnte. Das war mehr als genug, und sie war sehr dankbar dafür.

«Geh hin und zeig’s ihnen!», legte Helene mitten in ihre Gedanken hinein nach. «Das ist Ehrensache. Auf dir ruhen die Hoffnungen aller Frauen im Verein!»

«Ja, der beiden außer mir, verstehe schon.» Emma schüttelte amüsiert den Kopf.

«Meine auch, also enttäusche mich bitte nicht. Ich finde das immer so klasse, wenn die alten Knacker von uns Mädels übertrumpft werden.»

Emma seufzte. «Ja, überredet.» Sie schmunzelte. «Natürlich freut mich so etwas auch. Gerade beim Hößlbarth, der sich immer so aufregt und alle Frauen am liebsten aus dem Verein werfen würde.»

«Und ihr seid ja bei Weitem nicht sein einziges Feindbild. Heute Abend wird es bestimmt hoch hergehen», mutmaßte Helene. «Wenn der Otto auf Roland Seelig trifft, fliegen garantiert wieder die Fetzen.»

«Das habe ich auch gemerkt. Warum ist das eigentlich so?»

«Die beiden streiten immer wieder wegen irgendeiner alten Meisterschaft, bei der angeblich geschoben wurde, aber dass das der einzige Auslöser für ihre Abneigung war, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Auf jeden Fall würde ich das Spektakel an deiner Stelle nicht verpassen wollen …»

«Leni, jetzt aber. Ich habe ja schon gesagt, ich komme.» Sie lachte über den Eifer ihrer Freundin. «Und nächste Woche gewinnt, wer eben gewinnt. Mir ist das wirklich einerlei.» Sie waren inzwischen auf ihrer schmalen Straße angelangt und blieben vor der Hintertür zu Emmas Laden stehen, um sich zu verabschieden. «Ach, und was ich dir noch sagen wollte: Komm nachher doch kurz rüber, wenn du fertig bist. Ich möchte mit dir und Anna gern auf das Lädchen und seine Zukunft anstoßen.»

4. Kapitel

Als Emma die Hintertür öffnete, schob sich ein rostfarbenes, pelziges Etwas zwischen ihren Beinen hindurch ins Treppenhaus.

«Hugo! Da hätte sich die Susann vorhin ja tatsächlich in den Laden trauen können. Wo kommst du denn auf einmal her?»

Ein energisches Mrrroau verkündete, dass der rote Prachtkater nicht gedachte, über seine aushäusigen Aktivitäten Rechenschaft abzulegen. Emma bückte sich, um die zutrauliche Katze zu streicheln, die sich vor einigen Monaten ihren Laden als Zuhause ausgesucht hatte.

Niemand wusste, woher Hugo kam. Als er zum ersten Mal vor ihrem Alimentari aufgetaucht und geblieben war, hatte Emma im ganzen Dorf herumgefragt, doch niemand vermisste einen unkastrierten roten Kater. Nach ein paar Wochen, in denen er so getan hatte, als würden ihm sowohl der Laden als auch seine Betreiberin persönlich gehören, hatte Emma ihn zum Tierarzt gebracht und kastrieren sowie mit einem Mikrochip versehen lassen. Und sie hatte ihm einen Namen gegeben: Ugo, nach dem roten Kater ihrer Kindheit. Daraus war dann das deutsche Hugo geworden, auf das der stolze und ziemlich eigensinnige Vierbeiner inzwischen tatsächlich hörte.

Wenn er Lust dazu hatte.

Hugo schnurrte unter ihren Händen und warf sich einladend auf den Rücken. Trotzdem hütete Emma sich, ihm den Bauch zu streicheln, das konnte er nämlich gar nicht leiden. Eine Erkenntnis, die sie mit ein paar tiefen Schrammen bezahlt hatte. Sie ließ ihn sich daher genüsslich wälzen. Hugo würde sich an seinem bereitstehenden Trockenfutter gütlich tun und sich anschließend mit einem Schläfchen in seinem gemütlichen Katzenbett im Hausflur auf die spätere Jagd vorbereiten.

Katzenklappe besorgen, notierte Emma im Geiste für die nächste Woche und betrat nach einem letzten liebevollen Blick auf den Kater das Lädchen durch die hintere Tür.

Drinnen hörte sie Anna bereits werkeln. Leises Klirren und das Schaben auf den Regalbrettern ließen darauf schließen, dass ihre Freundin gerade am Abstauben war.

«Es sieht einfach einladend aus, wenn alles blitzt und die Flaschen so schön blinken», erklärte Anna ihren Staubwischfimmel gelegentlich, und Emma ließ sie gewähren. Ihre Freundin war ungemein penibel, da konnte sogar sie selbst sich noch eine Scheibe abschneiden, und das wollte was heißen.

«Ich bin wieder da!», rief sie in die geschäftige Stille hinein und erntete einen gedämpften Gruß aus einer Ecke des Ladens. Dort stieg Anna soeben von der kleinen Trittleiter, die Emma selbst vorhin zum Einräumen der Taralli-Päckchen genutzt hatte.

«Na, wie war’s?» Anna pustete sich eine Locke aus der Stirn und legte den Staublappen auf das Leiterchen.

«Schön. Das Wetter ist genial: sonnig, aber nicht zu heiß. Ein richtig schöner Frühsommer. Magst du bleiben und warten, bis Helene rüberkommt? Ich habe einen besonders leckeren Prosecco kalt gestellt.»

Anna nickte. «Was für eine Frage! Ich bleibe auf jeden Fall so lange. Und inzwischen mache ich diese Regalseite hier fertig.»

«Va bene. Ich kümmere mich um die Sachen, die heute Morgen gekommen sind.»

Solange Anna hier war, konnte Emma die Gelegenheit nutzen und sich den Kartons widmen, die zusammen mit dem Mozzarella und anderen Käsesorten schon am Vormittag eingetroffen waren und darauf warteten, ausgepackt zu werden. Diesmal waren vor allen Dingen hochwertige Spirituosen darunter – und etwas, das ihr das Herz weit werden ließ …

Eine kleine, unauffällige Kiste aus Holz, die nach nichts Besonderem aussah, stand am Rand des Stapels von Getränkekartons. Wer nicht wusste, woher sie kam und was sie enthielt, hätte sie glatt übersehen können. Doch für Emma war der Inhalt dieser Kiste wie jedes Mal etwas, das sie bis ins Innerste anrührte: Ihre Mutter hatte frische Zitronen aus dem eigenen Berggarten an der Amalfiküste geschickt.

Hin und wieder wurde sie gefragt, ob sie denn nicht Heimweh nach Italien, der malerischen, weltberühmten Küste oder ihren Eltern hätte. Meistens war die Antwort Jein. Natürlich vermisste sie ihre Eltern und die Nonna, aber sie besuchten sich regelmäßig gegenseitig und führten lange abendliche Videotelefonate. Und sie hatte sich in Himmelsricht schon seit Jahren eingelebt und fühlte sich heimisch.

Wenn aber eine dieser kleinen Holzkisten bei ihr ankam und sie vorsichtig den Deckel aufstemmte und mit geschlossenen Augen tief die erste Nase voller Zitronenduft einatmete, dann stiegen ihr manchmal heiße Tränen in die Augen, und sie fühlte sich klein, allein und einsam. Zum Glück dauerten solche Momente nicht lange, sie verflogen meist rasch und hinterließen ein warmes Gefühl der Dankbarkeit und Liebe.

Früher hatte Korbinian sie in den Arm genommen und zärtlich geküsst, wenn er solche Regungen mitbekommen hatte. Nun war er nicht mehr da, und Emma hatte längst gelernt, mit ihren Emotionen allein fertigzuwerden. Auch dieses Mal blieb ein Lächeln zurück, als die Wehmut verflogen war. Sie machte ein Foto von den duftenden Früchten und schickte es an Raffaella.

Schau, was uns die Nonna aus Italien schickt, schrieb sie dazu.

Das gibt geile Limo, kam es in Sekundenschnelle mit einigen Smileys zurück.