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Der »kriminelle« Freizeitplaner beinhaltet 11 Kurzkrimis und 125 Freizeittipps rund um den Bodensee sowie für den Hegau und den Linzgau. In den geschilderten Mordfällen lässt der Autor, Ernst Obermaier aus Überlingen, Hauptkommissar Karle Eisele und Inspektor Dirk Hodapp ermitteln und hat dafür extra eine Kriminalpolizeistelle in seine Heimatstadt »verlegt«.
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Seitenzahl: 276
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Ernst Obermaier
Mörderischer Bodensee
Personen und Handlung sind frei erfunden.
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sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlagbild: Mundmaler Lars Höllerer, Überlingen
Mit freundlicher Genehmigung der Vereinigung der mund- und
Da Freizeiteinrichtungen einem ständigen Wandel
unterliegen und Irrtümer vorbehalten sind,
besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben.
Pünktlich um 13.54 Uhr fuhr der Interregio aus Zürich im Bahnhof von Konstanz ein. »Konstanz – Konstanz am Bodensee«, schnarrte es aus dem Bahnhofslautsprecher. Evelyn Meister stieg aus und verließ sichtlich vergnügt den Bahnsteig. Es war Mittwoch, der 13. Oktober. Endlich war es so weit, um 18 Uhr war der Notartermin in Überlingen. Die Vier-Zimmer-Eigentumswohnung ihrer Eltern am Burgberg in Überlingen wurde verkauft, was hieß, es gab Geld, viel Geld. Ihr Vater, ein pensionierter Finanzbeamter, war vor sechs Monaten gestorben, und die Mutter, ein erwachsenes Kind, war ohne ihren Mann mit dem Leben nicht mehr zurechtgekommen und hatte vor zwei Monaten Selbstmord begangen. Sicher hätte man sie retten können, denn Mutter rief nachts um ein Uhr bei ihr in Bern an, stockbetrunken, offensichtlich mit einer Überdosis Schlaftabletten im Bauch und verabschiedete sich von ihr. Unwillkürlich wollte sie damals die Notrufzentrale 112 in Überlingen oder die ihr bekannten Nachbarn anrufen, doch dann überlegte sie es sich anders. Mutter wollte das so, und das ersparte Geld der Eltern sowie der Erlös aus der Wohnung kamen ihr gerade recht, um ihre ständig wachsenden Schulden zu begleichen. Nein, schuldig am Tod ihrer Mutter fühlte sie sich nicht, denn jeder kann tun und lassen was er will, auch wenn sie als ausgebildete Psychologin mit einer eigenen, allerdings schlecht frequentierten Praxis manche seelische Hilfestellung hätte geben können. Ursprünglich wollte sie die direkte Zugverbindung über Basel und Schaffhausen nach Überlingen nehmen, doch da sie schon lange nicht mehr in ihrem geliebten Konstanz gewesen war, entschloss sie sich für diesen Umweg.
Sie stellte ihre Reisetasche für die Dauer des Stadtbummels im Schließfach am Konstanzer Bahnhof ein, denn sie wollte in den nächsten Stunden die Atmosphäre dieser schönen Stadt genießen. Eigentlich hatte sie sich in ihrer Geburtsstadt Konstanz immer wohlgefühlt, doch vor vier Jahren lernte sie einen Mann kennen, einen Ostdeutschen, Manfred Kahle, aus Mecklenburg-Vorpommern. Er fand dank seiner Erfahrungen aus einer früheren Tätigkeit eine lukrative Anstellung beim schweizerischen Anti-Terrorkommando. So musste sie, und vor allem wollte sie, nach Bern umziehen. Nein, verheiratet waren sie nicht, aber verliebt wie am ersten Tag, und das in ihrem Alter von 33 Jahren, auch wenn er, der um fünf Jahre Ältere, ihre Verschwendungssucht verurteilte. Seine krankhafte Eifersucht allerdings gipfelte oft in unschönen Szenen, und sie traute sich schon fast nicht mehr, irgendeinem Mann zuzulächeln. Es waren immerhin noch etwa vier Stunden bis zum Notartermin, der extra eingeschoben wurde, weil es ihr sehr eilig war. In Erwartung des neuen Geldsegens wollte sie ihrem Tick, Schuhe zu kaufen, nachgeben, den sie wohl mit vielen Frauen teilte. Sie, nicht gerade mit den Attributen ausladender Weiblichkeit ausgestattet, bildete sich ein, für ihr Outfit einfach etwas mehr tun zu müssen. In den engen Jeans kam ihre schlanke Figur so richtig zur Geltung, und der pinkfarbene Pulli mit dem darübergezogenen, kurzen schwarzen Lederjäckchen taten ein Übriges, um sexy zu wirken. Das leicht gebräunte schmale Gesicht mit den grau schimmernden Augen sowie das kurz geschnittene braune Haar mit den durchzogenen lachsfarbenen Streifen unterstrichen die positive Erscheinung der jungen Frau. Dass sich die Konturen ihres knapp geschnittenen Slips unter den weißen Jeans abzeichneten, war ihr bewusst, um nicht zu sagen gewollt. Seit sie mit ihrem Freund zusammen war, stand sie, im Gegensatz zu der Zeit vor der Bekanntschaft, zu ihrer Sexualität. Heute genoss sie die Blicke der Männerwelt, die ihre Erscheinung unverhohlen mit gierigen Augen abtasteten.
Doch bevor sie sich dem Kaufrausch hingab, nahm sie sich die Zeit für einen kurzen Rundgang durch die Altstadt von Konstanz, um ihre Jugenderinnerungen aufzufrischen. So lenkte sie ihre Schritte vom Bahnhof aus durch die Unterführung in Richtung Hafen1, dem Ausgangspunkt der Weißen Flotte und der Katamarane mit ihrer stündlichen Schnellverbindung nach Friedrichshafen. Endlich wieder einmal Seeluft schnuppern. Das Zeppelindenkmal und die mächtige, sich drehende Statue der Imperia2 würdigte sie nur für einen kurzen Augenblick. Am See entlang, der in der warmen Herbstsonne glitzerte, unter den immer noch grünen Platanen, steuerte sie als erstes Ziel die Voliere im Stadtgarten an, die vom Verein für Kanarienzucht und Vogelfreunde Konstanz seit Jahrzehnten die Heimstatt von zahlreichen Sittichen und Kanarienvögeln ist. Schon als Kind stand sie oft lange vor dem Käfig, denn Mutter wollte ihr den Wunsch eines eigenen Wellensittichs nicht erfüllen. Angeblich wegen einer Vogelallergie des Vaters. Auch heute amüsierte sie sich köstlich über diese putzigen Vögel, besonders über einen Beo. Dieser indische Singvogel mit dem schwarzen Gefieder und dem leuchtend gelben Halsschmuck flog sofort auf die Stange hinter dem Gitter und absolvierte sein Repertoire. Er imitierte Entengeschnatter in verschiedenen Tonlagen, lachte wie ein Mensch und miaute wie eine Katze, was bei Evelyn einen Lachkrampf verursachte. Weiter ging sie in Richtung Rheinbrücke, querte beim Inselhotel3 die stark frequentierte Straße und bog in die Inselgasse am Stadttheater vorbei ein. Das Gebäude erweckte Erinnerungen in ihr an amüsante und bewegende Vorstellungen, die sie vor Jahren mit ihren Eltern erlebte. Nun stand das mächtige Münster4 vor ihr. Die ursprünglich im 8. Jahrhundert erbaute und später eingestürzte Kirche wurde im 14. und 15. Jahrhundert gotisch umgestaltet und erweitert und 1680 mit barocken Elementen eingewölbt. Von 1846-1860 kam der Turmaufsatz hinzu. Das Münster gilt heute noch als die wichtigste Sehenswürdigkeit der Bodenseestadt. Nach einem kurzen stillen Gebet für ihre verstorbenen Eltern warf sie kurz einen Blick durch die kleine Glaspyramide hinunter zum freigelegten Grundriss eines Kastells, das etwa 300 Jahre nach Christus als Stützpunkt für das römische Militär diente. Anschließend informierte sie sich im gegenüberliegenden Wessenberghaus5, welche Ausstellung gerade auf dem Programm stand. Wenige Schritte weiter, ab der St. Stephanskirche, galt ihre Aufmerksamkeit den zahlreichen Geschäften und Kaufhäusern in der ausgedehnten Fußgängerzone. Nach einigen für sie erfolgreichen Einkäufen besichtigte sie den sehenswerten Innenhof des Rathauses6 in der Kanzleistraße, bevor sie sich in einem Straßencafé auf der Marktstätte mit Blick auf den Kaiserbrunnen7 einen großen Eisbecher mit Früchten und viel Sahne genehmigte.
Zur gleichen Zeit saßen die beiden Kriminalbeamten Karle Eisele und Dirk Hodapp in ihrem Büro in der Überlinger Innenstadt. Kriminal-Hauptkommissar Karle Eisele, 52 Jahre, war mit Leib und Seele Polizist. Es störte ihn kaum, wenn ihn seine Bekannten Bulle nannten. Eigentlich lautete der Vorname von Eisele Karl, doch seit er sich in seiner Heimatstadt Überlingen am Bodensee der Karle-Vereinigung angeschlossen hatte, die sich für die Erhaltung der alemannischen Mundart einsetzt, nennt er sich »Karle«. Die einzige Voraussetzung zum Beitritt dieser Vereinigung war der Vorname Karl. Von kleiner Statur, mit leichtem Bauchansatz und hoher Denkerstirn, schauten aus dem rundlichen Gesicht zwei wache Augen hinter der randlosen Brille hervor. Das energisch vorspringende Kinn deutete auf einen hohen Durchsetzungswillen hin. Nach seiner erfolgreichen Tätigkeit als Polizist im Bodenseekreis war er zur Kriminalpolizei Friedrichshafen gegangen. Inzwischen war er wieder in Überlingen als Außenstelle der Kripo. Das hieß nicht, er wäre nur für Mordfälle zuständig. Dafür ereigneten sich in dieser Gegend gottlob nicht genügend Morde. Aber wenn ein Mord passierte, war er der erste Ansprechpartner.
Sein hochgewachsener, eher magerer, 25 Jahre junger Assistent Dirk Hodapp, war ein richtiges »Bodensee-Früchtle«, was ein Rheinländer in etwa mit »Kölsche Jung« übersetzen würde. Seine moderne Kurzhaarfrisur war in der Mitte des Kopfes nach oben gekämmt und das dunkelblonde Haar künstlich mit blonden Spitzen aufgehellt. Manchmal hatte er die Haarpracht mit einer Baseballkappe verdeckt, unter der dann ein blasses, sommersprossiges Gesicht mit wasserblauen Augen, langer Nase und dünnen Lippen hervorschaute. Hodapp war meist schlecht gekleidet und nicht gerade der Typ, den sich gut situierte Damen als Schwiegersohn vorstellen. Vielleicht auch ein Grund, warum er, obwohl er gerne heiraten würde, noch ledig war. In seinem Beruf als Kriminalbeamter galt er als sehr tüchtig, was sein Chef Eisele zu schätzen wusste, auch wenn er ihn wegen seiner mageren Figur oft neckte und meinte, Hodapp würde höchstens zwei Krankheiten bekommen können, entweder Hautjucken oder Knochenfraß.
»So ruhig war es schon lang nicht mehr. Zurzeit gibt es kaum Straftaten zu bearbeiten. Und das ist gut so. Endlich können wir uns in das neue Fahndungsprogramm am Computer einarbeiten. Ich bin mir sicher«, so Eisele zu Hodapp, »dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm ist. Sicher gibt es genügend Straftaten, von denen wir beide keine Ahnung haben.«
Evelyn Meister löffelte mit Genuss die letzten Tropfen des Himbeersirups aus dem Eisbecher, bezahlte und machte sich auf den Weg, die im Bahnhofsschließfach eingestellte Reisetasche zu holen. Gleich um die Ecke holte sie am Bahnhof ihre Tasche ab, fuhr mit dem Stadtbus nach Wallhausen und bestieg das Schiff8, das sie zum gegenüberliegenden Städtchen Überlingen mit seinen etwa 21 000 Einwohnern brachte. Am Landungsplatz angekommen, fuhr sie mit dem Taxi zum Notar, wo die Käufer, ein Ukrainer mit seiner deutschstämmigen Frau, bereits warteten. Diese alten Hochhauswohnungen lassen sich nur noch an Ausländer oder Russlanddeutsche verkaufen, mit diesen Worten hatte sie der Immobilienmakler vor sechs Wochen empfangen, der den Verkaufsauftrag entgegennahm. Ihr war es egal, und sie freute sich über den schnellen Abschluss, der nur möglich war, weil die Wohnung relativ preiswert angeboten wurde. Auch der Notar verstand sein Geschäft gut und wickelte den Kaufvertrag zügig ab. Das gerufene Taxi brachte sie anschließend rasch zum Hochhaus auf dem Burgberg von Überlingen.
Otto Kerschbaumer konnte mit seinem jetzigen Leben mehr als zufrieden sein. Er war seit drei Jahren Verwalter des Hochhauses in Überlingen. Immerhin 80 Wohneinheiten, von denen es sich gut leben ließ. Nicht mitgerechnet die Schmiergelder für Sanierungen und sonstige Aufträge, die er von den Handwerkern bekam. Bekannt als »Mister Fünfprozent« war ihm alles recht, was Geld einbrachte. Dabei sah es erst gar nicht so gut für ihn aus. In seiner Heimat nahe München musste er sich nach einer abgebrochenen Banklehre als Versicherungsagent, Pharmareferent und als Boss einer Drückerkolonne durchs Leben schlagen. Nach weiteren Tätigkeiten arbeitete er als verdeckter Werber für eine Sekte, hielt Vorträge und Seminare für die »Suchenden«, bis er in Überlingen eine der bekannten Heilfastenkuren9 aufsuchte. Bei einem Spaziergang im nahe gelegenen Stadtgarten10 lernte er eine vermögende Dame aus dem Bodenseegebiet kennen. Sie schlenderten entlang der Stadtgräben11 und nahmen Platz in einer der lauschigen Lauben am Goldfischteich. Durch anregende Gespräche kamen sie sich immer näher. Sie lud ihn am nächsten Tag zu einer etwas außergewöhnlichen Pferde-Kutschfahrt12 ein. Von da ab sahen sie sich täglich. Bereits nach einem halben Jahr kam es dann zur Hochzeit, denn die lebenslustige Susanne Gottwald war von seiner Person und seinen Umgangsformen gegenüber Damen sehr angetan. Er, mit rotblondem gekräuseltem Haar, Oberlippenbart, brauner Haut und dunklen Augen, hatte für sein Alter von 40 Jahren zwar ein leichtes Übergewicht, doch tat dies seiner dynamischen etwa 1,70 m großen Erscheinung keinen Abbruch. Die niedrige, breite Stirn und seine leicht wulstigen Lippen gaben ihm ein etwas animalisches Aussehen, doch gerade das zog viele Frauen an. Schon vor der Heirat wohnte er bei Susanne Gottwald in der Überlinger Hochhauswohnung. Das Leben am Bodensee gefiel ihm ausnehmend gut. Seine Geliebte und spätere Ehefrau zeigte ihm ständig neue Sehenswürdigkeiten in diesem so abwechslungsreichen Dreiländereck. Besonders war sie kulturell interessiert, und so besuchte sie mit ihm Kirchen wie die größte Barockbasilika in Weingarten sowie viele Stationen der Oberschwäbischen Barockstraße13 in der Bodenseeregion, die auch das schweizerische St. Gallen14 einschließt. Besonders angetan hatte es hier Kerschbaumer die sehenswerte Stiftsbibliothek in St. Gallen mit den Wiegen- und Frühdrucken und den alten Handschriften sowie der kostbare Klosterschatz. Oft fuhren sie mit dem Auto um den See mit wechselnden Besichtigungen. Mal war es ein Spaziergang im mediterran anmutenden Städtchen Arbon15 oder die Fahrt mit der Zahnradbahn von Rorschach16 nach Heiden, die Besichtigung der Markthalle17 in Staad, die noch nach dem Konzept von Friedensreich Hundertwasser erbaut worden war. Gerne fuhr er mit seiner Frau auch in Bregenz18 mit der Seilbahn auf den Pfänder mit dem herrlichen Blick auf den Bodensee und die Alpen. Der Alpenwildpark sowie die Greifvogel-Flugschau mit Adlern, Milanen, Uhus, Geiern und Falken bedeuteten für Kerschbaumer immer wieder ein Erlebnis. Zurück ging es dann am deutschen Ufer entlang, wobei sie meist noch in der Maximilianstraße von Lindau19, dem Zentrum der Inselstadt, in einem schönen Lokal einkehrten.
Wöchentlich einmal ging er in die Sauna, abwechselnd in die Thermen20 von Überlingen, Meersburg oder Konstanz. Nach Konstanz fuhr er mit der Autofähre von Meersburg nach Konstanz-Staad oder während der Sommersaison mit dem Schiff. Auf dem Sonnendeck der Schiffe oder im Passagierbereich der Fähren sprach er immer gezielt allein reisende Damen an, erklärte ihnen bei klarer Sicht die einzelnen Berggipfel wie Säntis, Altmann, Churfirsten und Glarner Alpen und brillierte mit seinem Wissen über den Bodensee. Derart beeindruckt sagten die Damen nicht nein, wenn er sie an Land zu einem Gläschen Bodensee-Weißherbst einlud. Oft ergab sich daraus ein intensiver Urlaubsflirt, der in den Hotelzimmern der Damen seinen Höhepunkt erreichte. Irgendwie kam ihm seine Frau auf die Schliche und enttäuscht von ihm reichte sie bereits nach einem Jahr die Scheidung ein. Zum Glück für ihn hatten sie Gütergemeinschaft vereinbart. So bekam er sozusagen die in der neunten Etage gelegene Eigentumswohnung in Überlingen als Morgengabe, da seine Frau noch im Besitz von weiteren Immobilien war. Es störte ihn nicht, dass sich seine Frau aufgebracht beim Auszug aus der gemeinsamen Wohnung mit den Worten verabschiedete: »Eines Tages lasse ich dich umbringen.«
Wie es der Zufall wollte, wählten die Wohnungsbesitzer in der nächsten Eigentümerversammlung die Verwaltung ab, ohne einen geeigneten Kandidaten vorweisen zu können. Da sprang er in die Bresche und bot sich als »Banker« an, die Geschäfte vorerst kommissarisch zu führen. Im Laufe der Zeit gewann er, nicht zuletzt durch diverse Kaffee- und Teestunden bei den älteren Bewohnern, das Vertrauen der Eigentümer und wurde bei der nächsten Wahl zum Verwalter bestellt. Kleinere Bauchschmerzen verursachten ihm derzeit nur seine Sektenbrüder, denen er per E-Mail mitgeteilt hatte, er werde nicht mehr für sie arbeiten, und die »Baumafia«, die nicht bereit war, die anstehende Sanierung anstatt mit fünf nun mit zehn Prozent zu honorieren. Auch sein Hormonspiegel stieg in letzter Zeit in für ihn ungewohnte Höhen. Es boten sich momentan nicht die tollen Sex-Dates an, die er dank des Internets ohne große Mühen vereinbarte, da ihn die Vorbereitung der Sanierung viel Zeit kostete.
Im Stillen nannte er sein Hochhaus »Hohenblocksberg«. Dies auch als Erinnerung an die schönen gemeinsamen Wanderungen mit seiner Ex-Ehefrau auf die Hegau-Vulkane21 Hohentwiel, Hohenkrähen, Hohenstoffeln und Hohenhewen in der Gegend von Singen und Engen. Im Gegensatz zu den erloschenen Hegau-Vulkanen brodelte es in seinem »Vulkan« recht kräftig. Da waren beispielsweise der alte, ständig betrunkene Rechtsanwalt in der zweiten Etage, der wohl bald seine Zulassung verlieren würde, oder die junge Lebedame in der 6. Etage, die ihre Einkünfte aus dem horizontalen Gewerbe erwirtschaftete. Ferner wohnten da noch der amerikanische »Historiker«, der vermutlich als Spion für sein Land tätig war, und die zwei südländisch wirkenden Männer, von denen nicht einmal der Hausverwalter wusste, ob es Albaner oder Rumänen waren, geschweige denn, wie sie ihr Geld verdienten. Es war bekannt, dass Agenten, Terroristen, Mafiosi und andere zwielichtige Gestalten gerne in der Anonymität eines Hochhauses untertauchten. Er hätte noch viele Individuen im Haus aufzählen können, doch mitten in seine Überlegungen schrillte die Haustürklingel, und über die Sprechanlage informierte er sich, wer ihn jetzt am Abend noch stören wollte. Er drückte auf den Türöffner, und kurz darauf summte der Lift bis hoch in die 9. Etage. Als die Tür aufging, stand Evelyn Meister vor ihm.
»Ich möchte noch kurz in die Wohnung meiner Eltern, um mich zu vergewissern, ob die Renovierung beendet ist und die Entrümpelungsfirma den Rest abgeholt hat. Hier ist noch die Einladung zur Eigentümerversammlung für übermorgen, Freitag, für die nun die neuen Besitzer zuständig sind.«
Eigentümerversammlungen fanden meist in der ersten Jahreshälfte statt, doch hatte der Hausverwalter Kerschbaumer für den 15. Oktober eine außerordentliche einberufen, um die anstehende Fassaden- und Fenstersanierung genehmigen zu lassen. Evelyn Meister empfand diese Begegnung mit dem Hausverwalter als sehr unangenehm. Er hatte einen bestimmten Geruch an sich, den sie absolut nicht leiden konnte. Der stinkt!, dachte sie. Außerdem kam er ihr beim Sprechen sehr nahe und hielt nicht die erforderliche Gesprächsdistanz ein, die, wie sie einmal gelesen hatte, gerade so weit entfernt sein soll, dass man mit der Hand dem Gegenüber keine runterhauen kann.
Otto Kerschbaumer besaß noch den Wohnungsschlüssel vom Immobilienmakler für die Besichtigungen, die er gelegentlich übernommen hatte, und schloss damit die Wohnungstür auf. Gemeinsam mit Evelyn Meister betrat er die heute verkaufte Eigentumswohnung. Um diese Jahreszeit wurde es am Abend schon früh dunkel, und so reichte das Licht, das von den Straßenlaternen in die Wohnung drang, gerade noch aus, um zu erkennen: Die Wohnung war total leer geräumt. Nur in einer Ecke der Abstellkammer hatten die Packer eine Rolle braunes Klebeband und eine Schere vergessen. Der intensive Geruch von Farbe verstärkte die Vermutung, dass die Handwerker die Renovierung erst vor wenigen Stunden beendet hatten. Evelyn ließ im Geist ihre Kindheit Revue passieren, die sie ausschließlich in dieser Wohnung verbracht hatte. Ihre Eltern, die sie als einziges Kind spät bekommen hatten, verwöhnten sie über alle Maßen und boten ihr eine glückliche Kindheit. Im Halbdunkel der leeren Wohnung stieg bei Kerschbaumer immer mehr die Erregung. Schnell schnitt er ein kurzes und noch ein längeres Stück vom Klebeband ab, schlich sich von hinten an die Frau heran, legte ihr die linke Hand um den Hals und klebte ihr mit der rechten Hand den Mund zu. Gleichzeitig nutzte er den Überraschungseffekt und band mit dem langen Klebestreifen beide Handgelenke der Frau zusammen. Alle Abwehrreaktionen erzielten keinerlei Wirkung. Wie ein Tier warf sich der Hausverwalter auf sie. Ihre Tritte beantwortete er mit Schlägen ins Gesicht. Langsam spürte sie, wie ihr Gesicht anschwoll, doch die Vergewaltigung schmerzte noch mehr als die Schwellungen im Gesicht. Endlich ließ er von ihr ab und verschwand.
Als sie einigermaßen wieder zu sich kam, lag sie auf dem Fußboden. Sie war nun allein in der Wohnung. Mit Mühe konnte sie mit den freien Fingerspitzen das Klebeband vom Mund lösen. Mit den Zähnen gelang es ihr, sich von der Fesselung an den Händen zu befreien. Sie fühlte sich schlecht und missbraucht. Da sie noch die Nummer der Taxizentrale eingespeichert hatte, rief sie übers Handy einen Wagen. Fluchtartig verließ sie das Hochhaus und fuhr mit dem Taxi ins bereits gebuchte Hotel. Im Hotelzimmer angelangt, riss sie sich die Kleider vom Leib und stellte sich eine Stunde unter die Dusche. Anschließend kühlte sie ihre Schwellungen mit Eiswürfeln aus der Minibar. Überall entdeckte sie blaue Flecken an sich. Schmutzig fühlte sie sich und angeekelt. Noch immer hatte sie den unangenehmen Geruch des Mannes und des Klebebandes in der Nase. Was tun? Viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Zur Polizei gehen? Dann stand Aussage gegen Aussage. Zum Arzt? Dazu hatte sie jetzt in ihrem Zustand auch keine Lust. Morgen es ihrem eifersüchtigen Lebensgefährten erzählen? Stundenlang lag sie aufgewühlt im Bett und kam kurz vor dem Einschlafen zum Entschluss: Ja, sie würde es ihrem Geliebten sagen. Hoffentlich, dachte die Psychologin in ihr, löst dies keine Überreaktion in ihm aus.
Manfred Kahle, im Ostseebad Zingst geboren, war der Prototyp eines deutschen Mannes. Über 1,80 Meter groß, blondes welliges Haar, blaue Augen und einen braungebrannten muskulösen, durchtrainierten Körper, war er äußerlich genau der Typ, auf den die Frauen fliegen. Sobald es für ihn möglich war, bewarb er sich bei der VoPo, der Volkspolizei der DDR. Von seiner Mentalität her war er aber eher ein Einzelgänger. Nicht oft, aber doch manchmal, prügelte er sich mit seinen Kameraden aus nichtigen Gründen und galt deshalb als jähzornig. Dennoch, aufgrund seiner überdurchschnittlichen dienstlichen Leistungen, bot man ihm eines Tages ganz diskret den Eintritt in den Staatssicherheitsdienst der Deutschen Demokratischen Republik an. Hier machte er schnell Karriere, doch nach der Wende stand er praktisch vor dem Nichts. Schon seit Jahren arbeitslos und durch eine Indiskretion eines Exkollegen als »Stasi-Mann« gebrandmarkt, machte er sich auf den Weg in den Westen, wo er, auf Vermittlung des Arbeitsamtes, in Konstanz eine Hilfsarbeiterstelle in der dortigen Industrie annahm. Im Zug von Offenburg nach Konstanz lernte er Evelyn Meister kennen, die in Konstanz studierte. Sie saß ihm damals im Abteil am Fenster direkt gegenüber. Seine Begeisterung über die vielen Tunnels der Schwarzwaldbahn und die hohen Berge zwischen Hornberg und St. Georgen amüsierte sie. Er kannte von seinen Urlaubsreisen her nur die ehemals sozialistischen Länder Ungarn und Bulgarien. Doch die Erhebungen dieser Länder, soweit vorhanden, konnten mit diesen schönen Schwarzwaldbergen nicht konkurrieren. Zufällig trafen sie sich Tage später beim Einkaufen in Konstanz wieder, was sich noch öfter wiederholen sollte. Schon nach kurzer Zeit fanden sie Gefallen aneinander. Als die Beziehung enger wurde, war er umso erstaunter, dass sie, obwohl sie schon fast 30 Jahre zählte, sich ihre Jungfräulichkeit bewahrt hatte. War er doch immer der Meinung gewesen, die Wessis trieben es schlimmer als die Ossis. Nachdem er bereits nach einem halben Jahr Aufenthalt in Konstanz den tollen Job bei der Schweizer Regierung in Bern bekommen hatte und sie sofort einwilligte, mitzugehen, konnte man von einer einmalig großen Liebe sprechen. Nun hatte sie durch den Tod ihrer Eltern ein kleines Vermögen geerbt, und eine rosige Zukunft lag vor ihnen. Heute kam sie endlich aus Überlingen zurück. Er hatte sich extra freigenommen und zum Empfang liebevoll den Tisch gedeckt. Eine Flasche Sekt lag im Kühlschrank und ihre wertvollsten Sektgläser standen rechts und links neben einer roten Rose auf dem Tisch. Es war sonst nicht seine Art, irgendwelche Hausarbeiten zu übernehmen, aber besondere Anlässe erforderten eben besondere Überraschungen. In freudiger Erwartung hörte er, wie sie die Tür aufschloss, doch als er sie in die Arme nehmen wollte, bemerkte er ihr geschwollenes, grün, gelb und blau verfärbtes Gesicht.
»Was ist denn mit dir passiert?«
Schluchzend gestand sie ihm die Vergewaltigung und hoffte auf eine einigermaßen verständnisvolle Reaktion. Doch das Gegenteil passierte. Er raste durch die Wohnung, trat gegen einen Stuhl, der krachend umfiel, wischte mit einer Handbewegung die Sektgläser einschließlich der Vase mit der Rose vom Tisch. Gläser und Vase zersplitterten am Fliesenboden und er schrie: »Diesen Kerl bringe ich um!«
»Dieser verdammte Dreckskerl, dieser elendige Nimmersatt«, fluchte Johann Schneider in seinem Büro. Der Fluch galt Otto Kerschbaumer, dem Hausverwalter in Überlingen. Schnell hob er die Hand vor den Mund. Hoffentlich hatte dies niemand im Haus gehört. Es war eigentlich nicht sein Büro, sondern das einer Interessengemeinschaft von Bauhandwerkern, die diese Ein-Zimmer-Erdgeschoss-Wohnung in einem Mehrfamilienhaus nahe Donaueschingen als »Schaltzentrale« umfunktioniert hatte. Ziel dieser anrüchigen Handwerkervereinigung war, möglichst viele und große Bauaufträge im Südwesten an Land zu ziehen. Zu seinen Aufgaben als Geschäftsführer zählten unter anderem: Absprachen bei Bauausschreibungen zu koordinieren, eventuelle Konkurrenten unter Druck zu setzen und sich an entsprechenden Stellen die richtigen Leute mit Geld oder anderen Zuwendungen gefügiger zu machen. Vor Jahren hatte ihm dieser Kerschbaumer schon die Hausverwaltung des Hochhauses in Überlingen weggeschnappt, was bei den 80 Wohneinheiten mit je 20 Euro Hausgeld einen monatlichen Einnahmeverlust von 1.600 Euro bedeutete. Nun wollte dieser für die Fassadensanierung und den Fensteraustausch zur Minimierung der Heizkosten auch noch 10 % anstatt der bisher üblichen 5 % kassieren, was bei einem Sanierungsvolumen von etwa einer Million Euro immerhin 100.000 anstatt 50.000 Euro ergab.
Bereits im letzten Jahr konnte Schneider aufgrund der allgemeinen Bauflaute weniger »Tantiemen« ausschütten, und wenn dies weiter so nach unten ging, war sein Job mehr als gefährdet. Auf keinen Fall wollte er Kerschbaumer mehr Geld geben, doch der drohte jetzt sogar mit Enthüllungen. Personen, die in diesem Baukarussell aus der Reihe tanzten, bekamen es dann mit einem so genannten »Auftragsdienst« zu tun. Dafür hatte Schneider eine Topadresse in Stuttgart. Ein Söldner, der in Somalia und Afghanistan bereits für Geld gekämpft hatte, übernahm dann gegen ein gewisses Entgelt die »Einschüchterung« der renitenten Personen, die im Ernstfall auch Mord heißen konnte. Viel wusste man über diesen Söldner nicht, nur dass er gern Schokolade aß. Dafür war das Prozedere einfach. Schneider schickte ein Bild sowie alle Daten und Details über die Zielperson an ein Stuttgarter Postfach, legte je nach Schwere der Aufgabe zwischen 5.000 und 10.000 Euro bei, und meist schon nach wenigen Wochen kam die »Vollzugsmeldung«. Dann wurde die zweite Rate in gleicher Höhe fällig. Geschäftsführer Schneider tätigte derartige »Aufträge« ungern, doch beim Hausverwalter Kerschbaumer blieb ihm wohl keine andere Wahl, um diesen Menschen zur Vernunft zu bringen.
Hajo Braun freute sich über den neuen Auftrag, denn er war wie oft knapp bei Kasse. Diesen Auftrag von Schneider wollte er schnell erledigen, um seine Finanzen auszugleichen. Obwohl sein Leben erst 38 Jahre zählte, hatten sich in seinem dunkel gebräunten Gesicht tiefe Falten eingegraben. Kein Wunder. Seine Eltern kannte er nicht. Aufgewachsen war er in einem Kinderheim und im Gegensatz zu seinen vielen Pseudo-Geschwistern schaffte er den Sprung in die bürgerliche Gesellschaft nicht. Nach einigen abgebrochenen Lehrstellen und einer Desertion bei der Bundeswehr landete er als französischer Fremdenlegionär in Afrika. Auch hier verließ er unerlaubt die Truppe und heuerte in Somalia bei einem Warlord an, für dessen Schutz er sorgte. Nach einigen Jahren trieb ihn seine Abenteuerlust nach Afghanistan, wo er sich als Söldner verdingte. Als die Amerikaner dieses Land »befreien« wollten, ging er zurück nach Deutschland und lebte nun in Stuttgart mehr schlecht als recht von der Sozialhilfe. So wie in diesem Fall erhielt er ab und zu Aufträge für »Einschüchterungen«, die seinen meist finanziellen Engpass sprunghaft verbesserten. Er packte sein »Handwerkszeug« zusammen und fuhr mit dem Zug nach Überlingen. Wie gewohnt, saß er im Zugabteil allein, denn sein glatt rasierter Kopf und sein finsterer Gesichtsausdruck schreckten viele Reisende ab, sich zu ihm ins Abteil zu setzen. Genüsslich aß er einen Schokoriegel und streckte seine Springerstiefel auf dem ihm gegenüberliegenden Sitz aus.
Zur selben Zeit tagten an einem geheimen Ort im Schwarzwald die Sektenführer einer Religionsgemeinschaft, der Kerschbaumer lang angehört hatte. Den angekündigten Ausstieg von Kerschbaumer konnte man keinesfalls akzeptieren, denn dafür wusste er zu viel. Wie immer äußerten die Sektenmitglieder sehr unterschiedliche Meinungen zu den möglichen Maßnahmen, mit denen das abtrünnige Mitglied zum Schweigen gebracht werden sollte. Nach längerer Beratung entschied sich das Gremium für eine Denkpause.
Für 17 Uhr war im Konferenzsaal des nahe gelegenen Hotels die außerordentliche Eigentümerversammlung anberaumt. Bereits eine Stunde vorher machte sich Hausverwalter Kerschbaumer auf den Weg, schloss seine Wohnung in der 9. Etage ab und holte den Lift. Kaum eingestiegen, öffnete sich die fast schon geschlossene Türe nochmals einen Spalt. Eine Hand drückte den Knopf für Keller und warf eine entsicherte Handgranate in die Liftkabine. Sofort verschwand die Hand wieder. Die Türe schloss sich nun ganz und der Lift bewegte sich nach unten. Nur wenige Sekunden später zerriss ein unbeschreiblicher Knall die Liftkabine und den darin befindlichen Hausverwalter. Die Wucht der Detonation sprengte ein Riesenloch in den Kabinenboden, und die Leichen- und Kabinenteile stürzten im Liftschacht krachend nach unten. Vielen Hausbewohnern, die diesen Knall hörten und sich gerade für die Eigentümerversammlung herrichteten, stockte der Atem. Nach einer Schrecksekunde eilten sie ins Treppenhaus, wo auf den ersten Blick nichts erkennbar war. Erst nach einer Weile wurde ihnen bewusst: Hier war etwas Schreckliches passiert. Schnell verständigten sie die Polizei.
Während viele Arbeiter und Angestellte bereits am Freitagnachmittag ins Wochenende gehen, arbeiteten Eisele und Hodapp noch in ihrem Büro in der Überlinger Innenstadt an Statistiken, Protokollen und Reiseabrechnungen. Obwohl die Politiker ständig von Entbürokratisierung sprechen, nahm die Büroarbeit von Jahr zu Jahr stetig zu. Eisele freute sich schon auf den Abend. Er würde, mit seiner Frau auf dem Sofa sitzend, den Freitagskrimi im Fernsehen ansehen. Als bekennender Rotweintrinker würde eine Flasche Spätburgunder vor ihm stehen, je nach Laune Überlinger Felsengarten, Birnauer Kirchhalde, Meersburger Sängerhalde, Bermatinger Leopoldsberg oder der süffige Hohentengener Ölberg aus dem südlichsten Weinbaugebiet Deutschlands, das noch zum Anbaugebiet des Bodensees zählt, obwohl es am Hochrhein liegt. Sein Weinvorrat im Keller war gut sortiert, getreu seinem Wahlspruch: »Wer 100 Jahre Wein trinkt, lebt lang«, den er immer wieder zum Besten gab.
Die Tätigkeit der beiden Kriminalbeamten wurde gegen 16.30 Uhr durch ein Telefonat des Polizeipostens jäh unterbrochen. Mord oder Selbstmord in einem Hochhaus von Überlingen. Ein Polizeiaufgebot zur Sicherung des Tatortes sei bereits unterwegs. Eisele und Hodapp schwangen sich flugs in ihr Dienstauto und trafen aufgrund zeitweiligen Blaulichteinsatzes nach wenigen Minuten am Ort des Geschehens ein.
Bereits am nächsten Morgen berichtete die regionale Tageszeitung über das grauenhafte Ereignis:
Mord im Hochhaus
Zerfetzte Leiche aus dem Liftschacht geborgen
Und nach den noch wenig bekannten Fakten folgte der Schlusssatz: »Die Polizei hat noch keine heiße Spur.«
Wieder saßen Eisele und Hodapp in ihrem Büro. Sie hatten die halbe Nacht gearbeitet und nur wenige Stunden geschlafen. Immer noch standen sie unter dem Eindruck dieses gespenstischen Anblicks, der sich ihnen bot, als sie gestern im Hochhaus ankamen. Im abgesperrten Treppenhaus holten Feuerwehrleute über eine Leiter aus dem geöffneten Liftschacht Kabinen- und Leichenteile heraus. Viel war vom Hausverwalter Kerschbaumer nicht mehr übrig. Eigentlich wollte Eisele am Wochenende mit seiner Frau wandern gehen, denn der Hegau, das Bodenseegebiet und die nahen Alpen boten eine Fülle von abwechslungsreichen Wanderungen, die das Ehepaar Eisele nach Möglichkeit kräftig nutzte. Doch bei so einem kapitalen Verbrechen ging die Arbeit selbstverständlich vor.
»Lassen Sie uns einmal zusammenfassen, was wir bisher recherchiert haben«, so Eisele zu seinem Assistenten. Aufgrund des grausigen Vorfalles fragte der Hausmeister am gestrigen Abend nicht lange nach einem Durchsuchungsbeschluss, sondern öffnete ihnen die Wohnung des Hausverwalters. Wie der allerdings zu einem Wohnungsschlüssel kam, war sein Geheimnis, was die Kriminalbeamten in diesem Moment nicht interessierte. In Ruhe konnten sie sich in der Wohnung umsehen. Da gab es einmal die E-Mail-Nachricht im Postfach des Computers, in der Kerschbaumer seinen Sektenbrüdern den Ausstieg aus der Sekte ankündigte. Offensichtlich arbeitete Kerschbaumer ohne Passwort, was die Durchsuchung des PCs erheblich erleichterte. Bei den Kontoauszügen des privaten Girokontos gab es immer wieder Eingänge von nicht unerheblichen Beträgen einer »Baufirma«, die, so ergaben die Nachforschungen, gar nicht existierte. Im Ordner »Diverse Unterlagen« befand sich eine Aufstellung über die Trennung von Sach- und Vermögenswerten von seiner Exfrau, mit einer handschriftlichen Bemerkung: Dir werde ich das noch heimzahlen. Obenauf lag die Kopie eines Schreibens mit neuerem Datum:
Hallo, Exfrau!
Dein ehemaliger Mieter, der in der Zwischenzeit bei uns im Block eine Wohnung gekauft hat und in den Beirat gewählt wurde, erzählte mir in der letzten Beiratssitzung, er sah dich letzte Woche bei seinem Spaziergang von Minusio nach Locarno. Du kamst hochverliebt mit einem Mann aus einer direkt am Lago Maggiore gelegenen Wohnanlage. Den Tessiner Nachbarn, der im Garten stand, fragte er, ob denn hier Ferienwohnungen zu mieten wären. Dieser, mehrsprachig wie viele Schweizer, antwortete ihm in fließendem Deutsch: Nein, das sind sehr teure Eigentumswohnungen, und die Deutschen, die gerade gegangen sind, müssen ganz gut bei Kasse sein, vor allem die Frau. Erst neulich habe sie sich in der nahen Taverne nach ein paar Gläschen Wein ihm gegenüber gebrüstet, sie hätte diese Wohnung allein gekauft und bar in Schweizer Franken bezahlt.
Offensichtlich hast du mir in unserer kurzen Ehe dein Schwarzgeldkonto in der Schweiz verschwiegen. Da mir aufgrund unseres Ehevertrages die Hälfte zusteht, erwarte ich von dir innerhalb eines Monats die Überweisung von mindestens 50.000 Euro auf mein Konto. Ich sehe mich sonst gezwungen, dich bei den deutschen Finanzbehörden zu melden.
Ciao, mein Goldschatz
Dein Otto
Viele Ordner beinhalteten reine Hausverwaltungsunterlagen. Bei der Korrespondenz von Hausbewohnern drohten oft Eigentümer dem Hausverwalter mit »gerichtlichen Schritten«, und unverhüllte Beleidigungen kamen nicht selten vor.
Die Befragung der Hausbewohner nach ungewöhnlichen Vorkommnissen ergab wenig Greifbares mit Ausnahme der Aussage des Rentnerehepaares Hoger. Diese, im Parterre wohnend und von einigen Bewohnern als »Hauspolizei« betitelt, hatten von ihrer Wohnung aus einen ungehinderten Blick auf den Hauseingang und bemerkten fast jede Personenbewegung. Sie behaupteten, vor zwei Tagen wäre eine weibliche Person gegen Abend völlig aufgelöst und fluchtartig aus dem Haus gestürmt und mit einem Taxi weggefahren. Frau Hoger war sich sicher, es handelte sich um Evelyn Meister, die viele Jahre mit ihren Eltern hier im Hochhaus gelebt hatte.
»Ich glaube«, so Frau Hoger, »sie wohnt jetzt in der Schweiz, denn von Zeit zu Zeit kam Evelyn ihre Eltern besuchen. Hierbei handelte es sich nach meiner Beobachtung immer um ein Auto mit Berner Kennzeichen, das ein besonders attraktiver Mann steuerte.«
Eine weitere Aussage erschien ebenfalls interessant: Die Lehrerin aus der 4. Etage wollte beim Einfahren in die Tiefgarage eine zwielichtige Person gesehen haben, die sich zwischen den geparkten Autos herumtrieb. Die Kollegen von der Polizei fanden nicht viel, außer in der Tiefgarage eine weggeworfene Verpackung eines Schokoriegels und im Treppenhaus einen Metallstift, in der Art, wie sie eventuell zum Abzug einer Handgranate verwendet werden. Der Laborbericht über diesen Metallsplint war nicht vor Montagmittag zu erwarten. Eine Zeitmessung ergab, dass eine gut durchtrainierte Person die Strecke übers Treppenhaus von der 9. Etage bis zum Hauseingang des Wohnblocks unter einer Minute schaffen könnte.