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1871: Robert Gerwig, der Erbauer der Schwarzwaldbahn, wartet auf seine Anstellung bei der schweizerischen Gotthardbahn. Gleichzeitig spielt sich hinter den überlieferten historischen Daten im Schwarzwald eine spannende Kriminalgeschichte ab. Ein italienischer Arbeiter stürzt vom Hornberger Viadukt und stirbt. Wusste er etwa zu viel? Oder war er selbst, wie der Oberingenieur Walter Grieshaber und der italienische Vorarbeiter Giuseppe, in dubiose Geschäfte verwickelt?
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Seitenzahl: 279
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Ernst Obermaier / Dieter Stein
Schwarzwaldbahn
Ein historischer Kriminalroman um Robert Gerwig
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag (Ernst Obermaier):
Mörderischer Schwarzwald? (2017),
Mörderischer Bodensee? (2017), Tödliches Asyl (2016)
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung:/E-Book Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © Schwarzwaldmuseum Triberg, Wallfahrtstraße 4, 78098 Triberg
ISBN 978-3-8392-5680-0
Als der damalige Kultur- und Verkehrsamtsleiter der Stadt St. Georgen im Schwarzwald Ernst Obermaier im November 1973 als einer der fünf Ehrengäste der Stadt an der Hundertjahrfeier anlässlich der Eröffnung der Schwarzwaldbahn in Triberg teilnahm, ahnte er noch nicht, dass ihm vier Jahrzehnte später die Idee zu einem Kriminalroman rund um Robert Gerwig kommen sollte. Seiner Meinung nach fehlte neben den zahlreichen Veröffentlichungen zu Gerwig und der Schwarzwaldbahn ein Kriminalroman, der den Leserinnen und Lesern in spannender Form die historische Bedeutung dieses Jahrhundertwerks näherbringt. Vor Ort suchte er sich mit Dieter Stein einen kompetenten Partner. Seit Jahren sind Stein und Obermaier nicht nur beruflich, sondern auch freundschaftlich und schriftstellerisch verbunden.
Nun: Es folgten Stunden umfangreicher Recherchen im Internet, und die Autoren begeisterten sich immer mehr für die damalige industrielle Revolution nach dem Krieg gegen Frankreich und der Gründung des Deutschen Reiches unter Kaiser Wilhelm I. mit seinem Reichskanzler Otto von Bismarck. Zahlreiche Erfindungen und vor allem der Bau von Straßen und Eisenbahnlinien prägten diese Zeit. Herausragend dabei war sicher der 1867 begonnene Bau der Bergstrecke von Hausach nach Villingen und die am 10. November 1873 fertiggestellte Schwarzwaldbahn, die auf die Entwicklung dieser Region einen entscheidenden Einfluss hatte. Dass die umfangreichen Sammlungen der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe zu Gerwig und der Schwarzwaldbahn im September 1942 bei einem Luftangriff verbrannten, verdeutlichen die Schwierigkeiten einer detaillierten historischen Beschreibung.
Ein Artikel des Gremmelsbachers Karl Volk im Begleitbuch zum Musical der Schwarzwaldbahn, das im Jahre 2011 mit neun ausverkauften Vorstellungen in Triberg aufgeführt wurde, half bei den ersten Formulierungen. Als eine wahre Fundgrube erwies sich das Privatarchiv von Werner Oppelt in Triberg. Darin vor allem die Nachforschungen von Albert Kuntzemüller, die er in seinem Buch »Robert Gerwig« 1949 im Freiburger Verlag von Erwin Burda veröffentlichte, unterstützten die schwierige Suche nach belegten historischen Daten. Die Einblicke dieses Autors in die Archive von Luzern und Bern, der Schweizerischen Bundesbahnen und dem Eidgenössischen Bundesarchiv lieferten Hintergrundmaterial zu Gerwigs Tätigkeit als Oberingenieur der Gotthardbahn. Stein befragte außerdem die in Triberg lebenden Nachkommen der damaligen italienischen Bauarbeiter der Schwarzwaldbahn. So entstand dieses Buch rund um die Schwarzwaldbahn und ihren genialen Erbauer Robert Gerwig mit historischen Fakten in einer erfundenen und hoffentlich spannenden Kriminalgeschichte.
Als fachlicher Lektor konnte der Triberger Eisenbahnexperte Armin Kienzler gewonnen werden. Mit seinem fundierten Fachwissen und als exzellenter Kenner der Historie unterstützte er die Autoren mit Rat und Tat.
Allen weiteren Mitwirkenden gilt ebenfalls ein herzlicher Dank, besonders Stadtmarketingleiter Nikolaus Arnold und dem Schwarzwaldmuseum Triberg für die Einblicke ins Archiv.
Kopfüber stürzte Sergio vom hohen Holzgerüst. Seine rechte Stiefelspitze touchierte noch den Balken, auf dem er und sein Arbeitskollege soeben sicher gestanden waren. Dies änderte zwar die Fallrichtung, doch es verhinderte seinen Sturz nicht. Glücklicherweise bekam er nach wenigen Metern mit einer Hand ein hervorstehendes Teil des Gerüsts zu fassen. Sofort griff er mit seiner zweiten Hand zu und konnte sich schwingend in die aufrechte Lage pendeln. Die Rinde des Fichtenstammes scheuerte an seinen Händen. Er blutete. Egal! Überlebt! Laut schrie er um Hilfe. Nun wurden auch die anderen italienischen Bauarbeiter auf Sergio aufmerksam, die mit ihm im Schwarzwald am Aufbau der Stahlbrücke arbeiteten, die nach ihrer Fertigstellung das Reichenbachtal bei Hornberg überspannen sollte. Neugierig beobachteten sie, wie ihr Kollege Giuseppe vorsichtig abwärts zu Sergio kletterte. Zwischen den beiden entspann sich dabei eine lautstarke Diskussion, die wegen der Entfernung und dem vorherrschenden Baulärm unterging. Gespannt verfolgten die Augenzeugen die Rettungsaktion. Giuseppe zog Sergio an den Händen, doch dieser wollte diese Hilfe nicht annehmen und krallte sich stattdessen fester an das Gerüst. Irgendwie gelang es Giuseppe, Sergios Hände vom Stamm zu lösen. Mit dem durchdringenden Schrei »Mordio!« fiel Sergio 20 Meter talwärts und prallte auf dem steilen Wiesenhang auf. Sein Körper überschlug sich mehrmals und blieb dann regungslos liegen. Gespannt beobachteten die Männer auf dem Gerüst, wie sofort einige Helfer zum Verunglückten eilten. Vorneweg Antonio, Sergios bester Freund. Er beugte sich über den liegenden Körper, bekreuzigte sich und faltete die Hände zum Gebet.
Antonio war starr vor Schreck. Sein bester Freund: tot! Erst nach einer Weile wurde er sich der Tragweite dieses Ereignisses vollauf bewusst. Am Abend vorher hatte ihm Sergio überglücklich von seiner Liebe zu der jungen Schwarzwälderin Maria Winterhalder erzählt. Und was sollte nun aus ihrem geplanten »Aufstand« werden, bei dem sie für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen wollten, schoss es ihm blitzartig durch den Kopf. Nun hatte er einen für ihn äußerst wertvollen Menschen auf eine so tragische Weise verloren.
Der leitende Oberingenieur Walter Grieshaber, der für einen reibungslosen und möglichst unfallfreien Arbeitsablauf vor Ort verantwortlich zeichnete, traf ein. Nicht, dass dies hier der erste Todesfall war, doch jeder Tote war einer zu viel. Natürlich waren sich alle bewusst, dass es auf einer Baustelle immer wieder zu Unfällen kommen kann, wie beispielsweise beim Bau der österreichischen Semmeringbahn, wo über tausend Menschen ihr Leben, jedoch meist krankheitsbedingt, verloren hatten. Dagegen hielten sich die bisherigen Todesfälle beim Bau der Schwarzwaldbahn in Grenzen. Mit knappen Kommandos befahl der Oberingenieur einigen Umherstehenden, Sergios Leiche mit einer Bauplane zu bedecken, um den Leichnam nicht den Blicken der mittlerweile großen Anzahl von Gaffern auszusetzen.
»Ich gehe jetzt zur Bauleitung, um Gerwig von diesem schrecklichen Unfall zu berichten«, informierte Grieshaber Antonio, welcher den Schock noch nicht ganz überwunden hatte.
»In Ordnung, Capitano«, gab Antonio zur Antwort und der Oberingenieur machte sich unverzüglich auf den Weg zum Büro von Robert Gerwig. Obwohl das Planungsbüro in der Nähe des Unfallortes lag, dauerte es einige Minuten, denn er musste sich zwischen herumliegendem Baumaterial und Baugerätschaften und um die Pferdeställe herum den kürzesten Weg suchen. Ganz wohl in seiner Haut war ihm nicht, denn er wusste genau, welche unangenehmen Konsequenzen dieser tragische Unfall mit sich bringen würde. Von einem von ihm zu verfassenden ausführlichen Protokoll über den Hergang des Unfalls, bis hin zur ausgedehnten polizeilichen Untersuchung ganz abzusehen. Nun würde eine weitere wichtige Arbeitskraft fehlen. Kam es doch im Vorjahr aufgrund des Krieges gegen Napoleon III., der in der Schlacht bei Sedan am 1. September 1870 entscheidend besiegt wurde, schon zu einer eklatanten Zeitverzögerung, da die deutschen Arbeiter zum Militär eingezogen und die italienischen Bauarbeiter entlassen wurden. Grieshaber fürchtete insgeheim schon die cholerische Reaktion von Robert Gerwig. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass Gerwig durchaus zu heftigen Ausbrüchen neigte und schon bei geringeren Vorfällen die Contenance verlor.
Wahrscheinlich, so dachte er, brütet Gerwig wieder mit seinem Tunnelblick über den Bauplänen und lässt dabei jegliches Gefühl für die Außenwelt vermissen. Dabei geriet Grieshaber trotz seiner angespannten Verfassung leicht ins Schmunzeln, denn ihm schien sein Wortspiel mit dem Tunnelblick sehr passend. Diesen Tunnelblick des Oberbaurats kannten seine engsten Mitarbeiter nur zu gut. Akribisch arbeitete Gerwig seine Pläne aus und verlangte anschließend eine exakte und detailgetreue Umsetzung.
Der am 2. Mai 1820 in Karlsruhe geborene Robert Gerwig kannte den Schwarzwald gut. Berief ihn doch das badische Innenministerium bereits 1850 zum provisorischen Direktor der neuen Uhrmacherschule von Furtwangen. Er entwarf und baute unter anderem die Albtalstraße von Albbruck nach St. Blasien, die Straße von Vöhrenbach über die Friedrichshöhe nach Villingen sowie die Hochrheinbahn von Waldshut nach Konstanz. Planungen für die Schwarzwaldbahn gab es bereits in den 1840er-Jahren. Doch fehlten damals noch die technischen Voraussetzungen, um die schwierigen geologischen Formationen, besonders bei der vorgesehenen Linie durch die Wutachschlucht, zu überwinden. Der Verlauf der Trasse über Schiltach und Schramberg wäre bautechnisch einfacher gewesen, doch führte dieser über württembergisches Gebiet und wurde deshalb aus militärstrategischen Gründen verworfen. Um einen Anschluss an die geplante Gotthardbahn zu schaffen und vor allem aus kriegstechnischen Überlegungen, beauftragte das badische Wasser- und Straßenbauamt den Ingenieur Robert Gerwig mit der Planung der Schwarzwaldbahn. Zuerst baute man die einfacheren Streckenabschnitte von Offenburg bis Hausach und von Engen bis Singen. Dann erst folgte die schwierige Verbindung dieser beiden Trassen mit dem problematischen Streckenabschnitt zwischen Hausach und St. Georgen. Die Überwindung von 650 Höhenmetern auf 40 Kilometern ermöglichte erst die damals revolutionäre industrielle Entwicklung der Schwerindustrie und des Bergbaus. Die machte sich Robert Gerwig zunutze und schuf für die damalige Zeit geniale Lösungen. Und nun lag ihm ein angebot als leitender Oberingenieur für den Bau der Gotthardbahn vor. Er fühlte sich geehrt und geschmeichelt und innerlich formulierte er bereits eine Zusage.
Ohne anzuklopfen, stürmte Oberingenieur Walter Grieshaber in Gerwigs Büro. Verwundert schaute Gerwig zu seinem engsten Mitarbeiter auf, einem mittelgroßen, rothaarigen und sommersprossigen Mann. Schnell überdeckte Gerwig den Brief, den er vom Präsidenten des Verwaltungsrats der im Bau begriffenen Gotthardbahn, Dr. Alfred Escher aus Zürich, erhalten hatte, mit einem Bauplan. Er herrschte seinen Adjutanten an: »Kann er nicht etwas gesitteter eintreten!«
Grieshaber wunderte sich, dass Gerwig ganz allein anzutreffen war, denn meistens scharte er ein paar wichtige Mitarbeiter um sich, mit denen er die aktuelle Situation an der Baustelle besprechen konnte. Dass bei einem Projekt wie diesem für ausreichend Gesprächsstoff gesorgt sein würde, dessen war sich der Oberingenieur bewusst, zumal er oft mit am Tisch saß, wenn es um wichtige logistische Themen wie die Koordination der Baugerätschaften oder die termingerechte Materialdisposition ging. Natürlich stand immer auch der Einsatz von Mitarbeitern im Mittelpunkt, denn ein reibungsloser Ablauf des vorgegebenen Zeitplans war nur durch akribische Personaldisposition gewährleistet. Grieshaber informierte seinen Vorgesetzten Robert Gerwig aufgeregt über den Unfall.
Dieser, ärgerlich über diese Störung, weil er den für ihn so wichtigen Brief aus Zürich nicht vollständig lesen konnte, herrschte seinen Untergebenen an: »Müssen Sie mich stören? Es ist nicht der erste Todesfall, und es wird auch nicht der letzte sein. Derartige Bauwerke fordern einfach ihre Opfer.«
»Ich dachte, es wäre in diesem Fall für Sie wichtig. Sie pflegen sehr wenig Kontakt zu den Arbeitern. Nur zu den Vorarbeitern Giuseppe Bredari und Sergio Pantone, deshalb …«
»Wer ist es denn?« Ungeduldig unterbrach ihn Gerwig.
»Sergio Pantone!«
»Ausgerechnet Sergio Pantone, ausgerechnet er. Warum gerade er«, fluchte Gerwig vor sich hin, denn er wusste, dass außer dem unsäglichen menschlichen Verlust auch das Arbeitsklima gewaltig leiden würde. Sergio war, im Gegensatz zu den meisten italienischen Arbeitskollegen, der deutschen Sprache etwas besser mächtig, manche Wörter sogar mit einer leichten Schwarzwälder Dialektfärbung. Auch sprach Pantone das bessere und dialektfreiere Italienisch, was eine einfachere Verständigung mit den Vorgesetzten ermöglichte. Für Gerwig zählte Sergio im Gegensatz zu dem ihm unsympathischen Giuseppe zu den Arbeitern mit der höchsten Bildung. Oft wunderte er sich über die ausgezeichneten Kenntnisse dieses einfachen Arbeiters.
Er wandte sich an Grieshaber: »Bitte kümmern Sie sich um alles Notwendige. Veranlassen Sie, dass die Angehörigen durch unseren italienischen Kontaktmann vor Ort informiert werden und vor allen Dingen, sagen Sie jegliche Unterstützung für eine angemessene Beerdigung von Sergio hier auf dem Friedhof zu. Außerdem ordern Sie unverzüglich weitere Arbeiter zur Verstärkung an, denn wir brauchen jeden Mann, um die zeitlichen Vorgaben zu erfüllen«, beauftragte Gerwig seinen Oberingenieur.
»Wird erledigt«, gab ihm dieser zur Antwort und verließ genauso hektisch, wie er gekommen war, Gerwigs Büro.
Als Grieshaber wieder an der Unfallstelle eintraf, fand er die Situation völlig verändert vor. Außer den immer noch vorhandenen Schaulustigen fanden sich mittlerweile mehrere Beamte des Polizeireviers aus dem zuständigen Distrikt Wolfach ein, um möglichst genau den Unfall zu protokollieren. Dies verwunderte ihn doch sehr, denn er hätte nicht damit gerechnet, dass die polizeiliche Obrigkeit so kurzfristig in Hornberg eintreffen würde.
»Ach, das ist reiner Zufall, wir waren anderweitig in der Nähe, da wir in einem Gasthaus einen Streitfall zu klären hatten. Und dieser Baustellenunfall sprach sich schnell herum, deshalb sind wir so bald am Unglücksort. Wir sind ja hier auf dem Land«, bedeutete ihm der dienstbeflissene Beamte süffisant lächelnd.
Der ist aber für einen Polizisten sehr gesprächig, obwohl wir uns überhaupt nicht kennen, dachte Grieshaber, denn er fand es eigenartig, dass ein Uniformträger so redselig war und ohne Aufforderung über Dienstgeheimnisse plauderte. Anhand der schicken Uniform vermutete Grieshaber, dass es sich hier um einen höheren Beamten handeln musste. Er kannte sich in der Rangordnung der polizeilichen Staatsdiener nicht aus, was ihm normalerweise keinerlei Kopfzerbrechen verursachte. Im Grunde seines Herzens waren ihm sämtliche Uniformträger von vorneherein äußerst suspekt. Immer wenn er einen sah, rührte sich bei ihm sein schlechtes Gewissen.
Dabei verschwieg ihm der Gendarm den tatsächlichen Grund seiner Anwesenheit. Gerwig hatte ihn brieflich vor zwei Tagen gebeten, sich diskret um den in letzter Zeit vermehrt auftretenden Schwund von Baumaterialien zu kümmern.
Bevor sich Walter Grieshaber weiteren Gedanken hingeben konnte, sprach ihn der Polizist jetzt wesentlich ernster an: »Sind Sie für diese Baustelle verantwortlich? Und wie hat sich das Ereignis eigentlich zugetragen?«, wollte der Polizeibeamte wissen, der seinen Dienstausweis zückte und dem verblüfften Oberingenieur möglichst nahe unter die Nase hielt. Er wies sich als zuständiger Polizeihauptmann Friedrich Schuler aus.
»Das sind gleich zwei Fragen auf einmal«, meinte Grieshaber und versuchte dem Hauptmann, der ihm nicht mehr so sympathisch erschien, so gut er konnte, zu antworten. »Sie haben recht. Ich bin der Baustellenleiter hier, doch ich war nicht direkt am Unfallort. Sie sehen ja, was auf dieser Baustelle los ist und ich muss überall zur gleichen Zeit sein«, meinte er und zeigte mit seinem Zeigefinger und nicht ganz ohne Stolz auf die im Bau befindliche Stahlkonstruktion, welche nach Fertigstellung der Eisenbahn die Züge über den Schwarzwald führen sollte. Grieshaber erklärte dem Beamten in groben Zügen wie sich das tragische Geschehen seiner Meinung nach ereignet hatte, denn er selbst befand sich nicht in unmittelbarer Nähe der Absturzstelle. Deshalb rief er Antonio herbei, der dem Polizisten Rede und Antwort stehen sollte. Dieses Unterfangen schlug erwartungsgemäß fehl, denn der Italiener verharrte immer noch im Schockzustand und brachte fast keine Silbe heraus. Dazu kamen erschwerend die fehlenden Sprachkenntnisse des Polizisten sowie des italienischen Gastarbeiters hinzu. Deshalb bat Oberingenieur Grieshaber den Hauptmann, die weitere Befragung durch die Polizei zu verschieben, obwohl er selbst ein wenig Italienisch sprach.
»Wir müssen uns um einen Dolmetscher kümmern«, stellte der Gendarm fest und gab einem seiner Beamten entsprechende Anweisungen.
»Wir sehen uns wieder, wenn wir einen Übersetzer gefunden haben.«
Der Beamte entfernte sich militärisch grüßend von Grieshaber.
Gerwig war sichtlich erleichtert, dass er die Leiche von Sergio nicht in Augenschein nehmen musste, denn dieser Sturz ging ihm gewaltig an die Nerven. Er war jedoch Pragmatiker genug, um sich von solch außergewöhnlichen Umständen nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Schließlich beklagten sie schon einige tote Arbeiter beim Bau der Schwarzwaldbahn. Während er sich dem Brief von Doktor Escher nochmals intensiv widmete, der sein Interesse bekundete, ihn als Oberingenieur an die geplante Gotthardbahn zu berufen, rief der Kuckuck der hölzernen Uhr an der Wand zur vollen Stunde.
Dieses Angebot ehrt mich sehr und wäre ein weiterer Schritt in meiner Karriere. Ich werde es mit meiner Frau besprechen und Lina wird nicht gerade begeistert sein, denn wenn ich in der Schweiz bin, sieht sie mich noch weniger, dachte er und steckte den Brief in seine Jackentasche. Der Ruf des Kuckucks erinnerte Gerwig an einen dringenden Sitzungstermin bei der Oberdirektion des Straßen- und Wasserbauamts wegen der Finanzierung des gewaltigen Bauvorhabens am nächsten Tag in Karlsruhe, auf den er sich noch intensiv vorbereiten musste. Als Abgeordneter der Zweiten Kammer der Badischen Ständeversammlung und Projektleiter der Schwarzwaldbahn war für ihn diese Ausschusssitzung von unerhörter Wichtigkeit, denn Gerwig musste Fakten schaffen, um seine Geldgeber von der Notwendigkeit zusätzlicher Mittel zu überzeugen. Dass er noch eine Menge Geld benötigen würde, war ihm klar. Doch dass die Fertigstellung aller drei Bauabschnitte der Strecke der Schwarzwaldbahn im Jahre 1873 die damals unvorstellbare Summe von 50 Millionen Mark verschlingen würde, war ihm in diesem Augenblick nicht bewusst.
Nochmals ging sein Blick auf die reich verzierte Kuckucksuhr, die Gerwig als Geschenk von Johann Baptist Beha aus Eisenbach erhalten hatte. Dieser stattete 1862 zum ersten Mal die bis dahin schmucklosen Uhren mit allerlei Schnitzwerk sowie geschnitzten Elfenbeinzeigern und Eisengewichten in Tannenzapfenform aus. Zu dieser Kuckucksuhr hatte Gerwig ein fast schon intimes Verhältnis, denn sie erinnerte ihn an Beha, mit dem er sich noch immer freundschaftlich verbunden fühlte, obwohl die meisten diesen Mann als knorrigen Eigenbrötler bezeichneten. Aber da Robert Gerwig nach der Devise »nur Nullen sind rund« lebte, kümmerte er sich nicht um deren Geschwätz. Deshalb liebte Gerwig seine »Beha-Uhr« in seinem Baustellenbüro. Auch in seiner Karlsruher Privatwohnung hing ein besonderes Exemplar an der Wand. Doch seine Kuckucksuhr im Büro war ein wirklich einzigartiges Exemplar, denn Beha hatte ihm eine persönliche Widmung auf die Rückwand geschrieben. Und darauf war er besonders stolz. Gerwig erinnerte sich, wie er 1850 als eine der ersten Aktionen in seiner Funktion als Schulleiter der neuen Uhrmacherschule Furtwangen den Wettbewerb »vaterländische Künstler« startete, aus dem die jetzige »Bahnhäusleform« der Kuckucksuhr hervorging.
Mit der Produktion dieser Uhr konnten die Schwarzwälder Bauern den langen Winter überbrücken und ihr karges Einkommen aufbessern.
Jäh wurden seine Gedanken unterbrochen, als sich Grieshaber nochmals meldete.
»Das ging aber schnell!« Unwirsch blickte Gerwig von seinen Plänen hoch.
»Sie werden es nicht glauben, Herr Oberbaurat, aber die Polizei ermittelt schon vor Ort und die kümmern sich jetzt um alles. Die Leiche soll möglichst schnell zur Untersuchung nach Wolfach geschafft werden. Für was das gut ist, weiß ich nicht. Vermutlich hat sich Sergio das Genick gebrochen, denn einen Sturz aus 20 Meter Höhe überlebt wohl keiner. Eine Befragung der Zeugen wurde wegen Sprachschwierigkeiten auf später verschoben.«
»Mit der Polizei würde ich auch gerne sprechen, doch«, mit einem kurzen Blick auf die Uhr, »dafür reicht leider meine Zeit nicht mehr. Ein dringender Termin in Karlsruhe.«
Ungeduldig hörte sich nun Gerwig den knappen Bericht von Grieshaber über das Gespräch mit der Polizei und der Situation am Unfallort an und verabschiedete dann barsch seinen Oberingenieur mit der Zusage, sich bei der Eisenbahngesellschaft um Gelder für neue Arbeiter und um die fälligen Abschlagszahlungen zu bemühen. Das bereitete Gerwig allerdings die wenigsten Sorgen.
Nach dem Sieg über Frankreich dürfte es auch dem letzten Antimilitaristen klar sein, wie wichtig eine funktionierende Eisenbahn für die Truppenbewegungen und den damit verbundenen Nachschub ist. Seit der Gründung des Deutschen Reiches herrschte eine euphorische Aufbruchsstimmung im ganzen Land. Er als nationalliberaler Abgeordneter war sich sicher, egal was die Schwarzwaldbahn einmal kosten würde, am Geld sollte die Fertigstellung nicht scheitern. Schließlich schöpfte die Staatsbahn aus öffentlichen Geldern sowie aus den Reparationszahlungen der Franzosen für den verlorenen Krieg. Außerdem berief man sich im Karlsruher Gremium der Staatsbahn immer auf »Allerhöchstherrliche Verordnungen«.
»Vergessen Sie auf keinen Fall, wie besprochen, sich um den Personalnachschub zu kümmern. Und erledigen Sie auch den Papierkram mit der Polizei. Berichten Sie mir, wenn ich zurück bin«, rief Gerwig dem hinauseilenden Grieshaber noch nach. Gerwig zog seinen weißen Arbeitsmantel aus und da er immer auf ein gepflegtes Äußeres Wert legte, stellte er sich vor den Spiegel, tupfte mit einem Stofftaschentuch seine hohe Stirn trocken, kämmte seine welligen Haare und zupfte ein hervorstehendes Härchen aus einer Augenbraue. Ein gepflegter kurz geschorener Vollbart umrahmte sein markantes Gesicht. Umständlich putzte er sich noch seine markante Nase, rückte seine Fliege zurecht, knöpfte seinen Rock zu und setzte seinen Hut auf. Endlich kam die bestellte Einspännerkutsche mit Klappverdeck. Er stieg in das Gefährt und rief dem Kutscher zu: »Beeile er sich!«
Rechtzeitig erreichten sie den Bahnhof von Hausach. Der Kessel der Lokomotive stand bereits unter Volldampf und zur Abfahrt nach Offenburg bereit. Gerwig machte es sich in seinem Abteil der ersten Klasse gemütlich und fand sogar die Muße, sich seinen Unterlagen zu widmen. Später hing er seinen Gedanken nach. Am Bahnhof Offenburg stieg er um auf die 1852 fertiggestellte Rheinstrecke Mannheim–Basel, bei der nur noch die Rheinbrücke fehlte, um den badischen mit dem Schweizer Bahnhof zu verbinden. Heute Abend, nach der Sitzung, kann ich nach Tagen endlich wieder bei meiner Frau in Karlsruhe sein, dachte er. Gerwig sehnte sich nach seiner Ehefrau Caroline, die er liebevoll Lina nannte, und freute sich auf das Wiedersehen mit ihr. Damals, im Juli 1846, heiratete er die Tochter des großherzoglichen badischen Direktors der Hofdomänenkammer Carl Ludwig Beger. Dass daraus noch eine große Liebe zu der um ein Jahr älteren Frau entstehen würde, konnte er damals nicht ahnen.
Kurz erinnerte er sich an seinen beruflichen Aufstieg. Sein aus Pforzheim stammender Vater, Ministerialrevisor Christian Gerwig, schickte ihn auf die polytechnische Schule in Karlsruhe, wo er 1841 sein Ingenieurstudium mit dem Prädikat »Vorzüglich« abschloss. Noch im gleichen Jahr begann er als Praktikant bei der Großherzoglichen Oberdirektion des Wasser- und Straßenbauamts. Dieser Behörde unterstellte man auch den Eisenbahnbau.
Anfang 1844 berief ihn der Landesherr als Ingenieur in die Oberdirektion des badischen Wasser- und Straßenbaus. Bereits zwei Jahre später leitete er ein selbstständiges Referat, das sich neben dem Straßenbau auch mit dem Eisenbahnbau beschäftigte. Zwischendurch bewährte er sich als Schulleiter der Uhrmacherschule in Furtwangen und förderte den Bau von Kuckucksuhren im Schwarzwald. Zu Beginn des Jahres 1857 erhielt er den amtlichen Auftrag, den Entwurf von Oberbaurat Johann Sauerbeck zum Bau einer Eisenbahnlinie an den Bodensee über den Schwarzwald zu überarbeiten. Sein Vorgänger Sauerbeck hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die badische Hauptbahn von Mannheim nach Basel geplant und gebaut. Bereits Ende des Jahres legte er einen Entwurf mit neuartigen Kehrtunnels vor. Dies brachte ihm zwar eine hohe Aufmerksamkeit ein, doch schienen den Experten seine geplanten engen Kurven mit einem Radius von nur 180 Metern für einen Langholztransport ungeeignet. Dies musste auch der junge Ingenieur einsehen. Doch diese Niederlage ließ ihm keine Ruhe und so legte er 1865 nach gründlichen Untersuchungen eine verbesserte Lösung mit zwei Doppelschleifen bei Niederwasser und Triberg sowie einem Kurvenradius von 300 Metern vor. Dies überzeugte die Verantwortlichen und er erhielt den Auftrag zum Bau der Schwarzwaldbahn.
Seine Gedanken schweiften nun wieder zurück zu seiner Ehefrau. Sie und der Schwiegervater waren für ihn Familie, da seine Mutter bereits 1842 und sein Vater 1850 verstorben war.
Sein Bruder Leopold starb im letzten Jahr und sein um ein Jahr jüngerer Bruder Lothar bereits 1844 im Alter von nur 23 Jahren. Seine drei Schwestern waren aus Karlsruhe weggezogen, deshalb sah er sie selten. Er, der älteste Sohn, lebte noch und er wollte sein zukünftiges Leben der Eisenbahn widmen.
In Baden-Oos stieg ein älterer Herr zu, der den Zubringer aus der Kurstadt Baden-Baden genommen hatte, um hier auf die Hauptbahn in Richtung Karlsruhe–Mannheim umzusteigen. Er nahm neben Gerwig Platz und begann sofort ein Gespräch: »Das hätten Sie sehen sollen. Diese glänzenden Augen der Knaben und Mädchen, als das Dampfross in den Bahnhof einlief. Ich glaube, zukünftig wollen alle Knaben Lokomotivführer werden.«
»Das wäre gut«, antwortete Gerwig. »Der Bedarf an Lokomotivführern wird stetig steigen. Denken Sie nur, wenn erst die Schwarzwaldbahn fertig ist.«
»Und wissen Sie, gnädiger Herr, wann das sein wird?«
»Dies dürfte in etwa zwei Jahren so weit sein.«
Die beiden Männer diskutierten nun ausgiebig über das Thema »Schwarzwaldbahn« und der ältere Herrwunderte sich über die Kenntnisse des − seiner Schätzung nach − etwa 50-jährigen Mannes. Dabei verschwieg Gerwig dem Kurgast aus Baden-Baden nicht nur, dass er der Erbauer der Schwarzwaldbahn war, sondern auch, dass er den erst kürzlich fertiggestellten Friedrichstollen der Kurstadt von den Thermalquellen am Florentinerberg zum Friedrichsbad geplant hatte.
Kurz vor Rastatt stand der Herr plötzlich auf und wollte das Fenster etwas öffnen. Sofort zeigte Gerwig auf ein Schild:
Bekanntmachung
Das reisende Publikum wird zur Verhütung von Unglücksfällen darauf aufmerksam gemacht,
daß es gefahrbringend sein kann, sich während der Fahrt seitwärts aus dem Wagen zu biegen,
oder gegen die Thüren sich anzulehnen, was auch durch §. 25 des Transport-Reglements
ausdrücklich untersagt ist.
»Ich wollte nur etwas frische Luft schnappen«, entschuldigte sich der Mann.
Gerwig lächelte. »Frische Luft schnappen? Das wäre Ihnen nicht gut bekommen. Unser Erste-Klasse-Waggon hängt direkt hinter der Lokomotive.«
Als der Zug in den Karlsruher Bahnhof einfuhr, begann es leicht zu regnen und Gerwig ärgerte sich darüber, weil er keinen Schirm im Gepäck hatte. Aber zum Glück trug er einen breitrandigen Hut, sodass er nicht befürchten musste, auf dem Bahnsteig nass zu werden. Er blickte auf seine Taschenuhr. Eile war nicht angesagt. Ihm blieb noch genügend Zeit bis zum Termin bei den badischen Staatsbahnen. Er entschloss sich, vor dem Bahnhof eine Pferdedroschke zu nehmen, denn der Weg von der Kriegstraße, die südlich außerhalb der Stadt lag, bis zum Gebäude der Großherzoglichen Oberdirektion schien ihm doch bei diesem Wetter zu lang und zu nass. Der Kutscher verlängerte diesen Weg noch mehr. In der irrigen Annahme, sein Fahrgast wäre ein Fremder, fuhr er, auf ein größeres Salär hoffend, so manchen Umweg. Vorbei am 1865 gegründeten Karlsruher Thiergarten, an der imposanten evangelischen Stadtkirche mit den Säulen und der klassizistischen Dachkonstruktion und vorbei am mächtigen Ständehaus. Gerwig bereitete es sichtlich Spaß, gemächlich durch die Straßen seiner fächerförmigen Heimatstadt Karlsruhe zu kutschieren. Bei der Sicht auf das Schloss erinnerte er sich an die vermutlich erfundene Geschichte, wonach der Markgraf Karl Wilhelm bei der Suche nach dem Fächer seiner Frau eingeschlafen sei und von einer fächerförmigen Stadt träumte, die er 1725 gründete. Schon von Weitem sah er endlich das Verwaltungsgebäude der Oberdirektion mit dem großen Portal und dem darüber liegenden Balkon, welcher links und rechts von zwei riesigen Karyatiden aus Sandstein getragen wurde. Im Inneren begrüßte ihn Geheimrat Hermann Zimmer, der Direktor der Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaus mit der unterstellten Eisenbahnabteilung, und gab ihm die Hand. »Guten Tag, Robert, bist aber pünktlich!«
Gerwig dankte für den freundlichen Empfang.
Geheimrat Zimmer führte den Ankömmling in sein Büro. »Leg ab! Ich denke, unsere Vorbesprechung dauert vielleicht eine knappe Stunde. Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber ich finde, du siehst müde aus. War die Reise so anstrengend?«
»I wo! Das Reisen mit der Eisenbahn ist entspannend, doch die Vorgänge auf der Baustelle beschäftigen mich sehr.«
»Erzähl!«
»Heute Morgen stürzte ein italienischer Arbeiter, der mir sehr nahestand, vom Gerüst. Tot! Die Materialdiebstähle mehren sich und die Polizei bleibt untätig. Dazu kommen technische Probleme beim Tunnelbau, besonders im langen Sommerauer Tunnel. Kopfzerbrechen bereitet mir auch die Wasserscheide zwischen dem Donautal und dem Hegau mit dem bröckelnden Juragestein. Doch diese Probleme kann ich sicher demnächst lösen.«
»Nichts davon morgen in der Sitzung. Nur Positives! Dafür erwartet dich dann eine Überraschung.«
Gerwig konnte sich diese Überraschung bereits ausmalen, denn sein Schwiegervater deutete beim letzten Treffen an, er hätte da seit Juni etwas angestoßen.
Die beiden Männer einigten sich nun schnell auf die Vorgehensweise für die am nächsten Tag stattfindende Aufsichtsratssitzung. Gerwig bat Geheimrat Hermann Zimmer noch um die Einstellung eines zusätzlichen Ingenieurs für den Bereich Hornberg. Innerlich dachte er dabei an das Angebot der Gotthardbahn. Direktor Zimmer versprach, sich dafür einzusetzen, zumal ihm eine Bewerbung eines jungen und sehr versierten Ingenieurs vorlag. Eine Einladung des Direktors zum Abendessen oder Umtrunk schlug Gerwig aus. Er wollte möglichst schnell zu seiner geliebten Frrau.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit klopfte er an die Tür seines Hauses. Freudig öffnete seine Frau, stürzte auf ihn zu, umarmte und küsste ihn stürmisch.
»Robert, endlich bist du wieder einmal zu Hause. Ich hoffe du bleibst lange. Ich bin immer so allein.«
»Lina, du tust mir unrecht. Wenn es nur irgendwie machbar ist, arbeite ich von zu Hause aus. Du hast doch viele Freundinnen und Personal.«
»Kein Ersatz für dich, mein liebster Robert. Auch wenn du zu Hause arbeitest, brütest du Tag und Nacht über deinen Plänen oder du beschäftigst dich mit deiner botanischen Sammlung. Sag, wie lange bleibst du nun dieses Mal?«
»Leider nur zwei Nächte. Es gibt Probleme auf der Baustelle.«
»Oh wie schade. Komm herein und mach dich frisch. Ich wärme dir inzwischen dein Leibgericht auf: Schäufele, Schupfnudeln und Sauerkraut.«
Gerwig blickte sich in seiner Wohnung um. Wie immer vermisste er diesen Komfort auf der Baustelle, deshalb arbeitete er an seinen Planungen meist von zu Hause aus. Die Schränke, Kommoden, Anrichten und das Sofa im Biedermeierstil, die mit den von Michael Thonet entworfenen Bugholzmöbeln eine harmonische und trotzdem schlichte Eleganz bildeten. Nur einen Blick ins ursprünglich vorgesehene Kinderzimmer wagte er nicht. Schenkte ihm doch seine Frau aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit während ihrer nun inzwischen 25 Jahre dauernden Ehe keine Nachkommen. Während seine Frau in der Küche das Essen zubereitete, legte er schnell den Brief der Gotthardbahn in eine Schublade seines Sekretärs. Heute Abend wollte er mit diesem Inhalt nicht die Wiedersehensfreude stören. Nach dem Essen öffneten sie in trauter Zweisamkeit eine Flasche köstlichen 1865er Muscat Trollinger, ein Geschenk seines Schwiegervaters. Trotz des bisher sehr harmonisch verlaufenden Abends fühlte sich Gerwig nicht sehr wohl in seiner Haut, denn das Verschweigen des Stellenangebots der Gotthardbahn und der heutige Unfall auf der Baustelle gingen ihm nicht aus dem Sinn.
»Lina, wie geht es deinem Vater«, wollte Gerwig von seiner Frau wissen.
»Altersgerecht würde ich sagen. Immer wieder klagt er über kleine Zipperleins. Du wirst ihn morgen sowieso treffen«, meinte sie. Lina kuschelte sich immer enger an Robert und gab ihm einen langen Kuss. Zärtlich knöpfte Gerwig ihr Mieder auf und seine Begierde wuchs gleichzeitig mit ihrer Erregung. Während sie sich liebten, ertappte sich Gerwig immer wieder dabei, dass er sehr oft an seine zweite große Liebe dachte: an seine Eisenbahn!
Schneller als erwartet ging dieser unangenehme Tag mit dem Sturz von Sergio Pantone für Walter Grieshaber zu Ende und er freute sich, als das Signal endlich das Arbeitsende verkündete.
»Nur noch schnell nach Hause«, war seine einzige Intension. Ob jedoch der Abend im Familienkreis harmonisch verlaufen würde, dessen war er sich nicht sicher. Gingen ihm doch die Ereignisse der vergangenen Stunden nicht mehr aus dem Kopf. Auch das Protokoll, das er für Gerwig schreiben musste, diente kaum dazu, seine Stimmung anzuheben. Dieser Papierkram war für ihn ein rotes Tuch, auch wenn er im Besitz einer dieser neumodischen Schreibmaschinen war, die ihm die handschriftliche Arbeit ersetzte. Gewiss, es bereitete ihm kein Problem, sich korrekt in Wort und Schrift zu artikulieren, doch er setzte sich lieber mit Bauplänen und mathematischen Berechnungen auseinander. Nicht umsonst zählte er zu den Besten seiner Abschlussklasse. Er wohnte mit seiner Familie im nahe gelegenen Gutach und konnte deshalb die kurze Strecke mit seinem in Offenburg erworbenen Fahrrad mit revolutionärem Pedalantrieb bewältigen. Er liebte diesen Ort, so, wie er seine Schwarzwälder Heimat über alles liebte. Schon aus diesem Grund war er überglücklich, dass er sich als Ingenieur für den Bau der Schwarzwaldbahn hatte bewerben können und Gerwig ihn in sein Team geholt hatte. Durch die Liebe zu seinem Heimatort betätigte sich Grieshaber aktiv auch kommunalpolitisch und er zählte zu den Ersten, die dafür stimmten, dass die Gemeinde Gutach einen Bahnhof erhielt. Als leitender Ingenieur hatte Grieshaber das Privileg, nicht in der Barackensiedlung wohnen zu müssen, sondern konnte nach Arbeitsende die Baustelle verlassen.
Auch für Antonio Ferdani begann der Feierabend. Er lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Sein bester Freund Sergio war tot. Antonio hatte ihn im Frühjahr überredet, mit ihm nach Deutschland zu gehen. Sie arbeiteten als Zimmerleute mit einer sehr schlechten Bezahlung in ihrem Heimatort San Giacomo Filippo, einem armseligen Bergdorf nördlich des Comer Sees. Die für ihre Verhältnisse gute Verdienstmöglichkeit beim Bau der Schwarzwaldbahn und eine gewisse Abenteuerlust lockten sie. Sergios Mutter, die ehrenamtliche Dorfschullehrerin, flehte ihren Sohn vergebens an, am Ort zu bleiben, denn der jüngere Bruder Francesco war noch in der Ausbildung und ihr Mann bei Straßenbauarbeiten ums Leben gekommen. Antonio wollte nicht alleine gehen und überzeugte schließlich Sergio davon, das inständige Bitten der Mutter zu ignorieren. Und jetzt war Sergio tot. Verunglückt? Er konnte es fast nicht glauben, dass ein so sicherer Zimmermann einfach auf dem Gerüst das Gleichgewicht verlor. Sergio lebte sich in Deutschland problemlos ein. Dank seiner offenen und freundlichen Art stieg er rasch zum Vorarbeiter auf. Beliebt bei den Kollegen und auch bei den Vorgesetzten verschaffte er sich schnell Anerkennung und Respekt. Fleißig lernte er die deutsche Sprache, denn seit er in ein deutsches Mädchen verliebt war, stellte er sich seine Zukunft in Deutschland vor. Zu seinen Plänen gehörte auch der Kampf für eine gleiche Bezahlung von deutschen und italienischen Arbeitern. Bei den Unterkünften gab es kaum Unterschiede. Insgesamt befanden sich im Bereich der Baustelle Reichenbacher Stahlbrücke zwei Lagerhütten mit jeweils 40 Schlafplätzen. Eine davon voll mit Italienern, die andere mit 30 deutschen Arbeitern belegt. Die einfachen Holzbaracken, ausgestattet mit Doppelstockbetten, nahe dem Flüsschen Gutach, boten keinerlei Luxus. Von den unzureichenden hygienischen Bedingungen ganz zu schweigen. Einige flackernde Petroleumlampen oder Stalllaternen mit Kerzen sorgten im Innern für eine schwache Beleuchtung. Laut Grieshaber sollte eine neuartige Beleuchtung demnächst die Schlafstätten erhellen. Er wusste, ein Werner von Siemens experimentierte gerade an seinen von ihm erfundenen elektrischen Generatoren herum, die noch nicht einsatzbereit waren. Sobald die Erfindung ausgereift auf den Markt käme, würde er, dem technischen Fortschritt aufgeschlossen, das elektrische Licht installieren lassen. Zwischen den beiden Schlafbaracken befand sich ein weiteres Gebäude mit einer Küche und einem Gemeinschaftsraum für die Arbeiter. Abends nutzten ihn meist nur die Italiener, da sich die Deutschen in den nahegelegenen Wirtshäusern vergnügten. Entlang der Neubaustrecke zwischen Hausach und Engen gab es mehrere derartige Unterkünfte, denn die Eisenbahngesellschaft beschäftigte weit über tausend Arbeiter.