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Spannung auf der beliebten Insel Norderney. Ein 102-jähriges Mordopfer – eine erfolglose Journalistin und ein lebensmüder Pfarrer ermitteln. Auf einer Norderneyer Aussichtsplattform wird ein verbrannter Körper gefunden. Das Opfer ist der 102-jährige Wattführer Josef Monningen. Tilla Flock, die als Journalistin für das Anzeigenblatt hoffnungslos unterfordert ist, will herausfinden, wer dem Inselältesten das angetan hat. Doch zunächst muss sie den einzigen Touristen, der sich in diesem Januar nach Norderney verirrt hat, aus den eiskalten Fluten retten: Hark Herforth, ein psychisch angeschlagener Pfarrer, wird von Tillas Energie und Ermittlerdrang sofort mitgezogen. Während sich die beiden immer tiefer in den Fall verstricken, wächst ihre Freundschaft. Als sie auf ein gefährliches Geheimnis stoßen, fürchtet der lebensmüde Pfarrer plötzlich um sein Leben und das seiner neuen Freundin. Dieser Norderney-Krimi ist so mitreißend wie ein friesischer Herbststurm!
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Seitenzahl: 339
Joachim F. Kuck
Kriminalroman
Ein 102-jähriges Mordopfer. Eine Insel in Aufruhr.
Auf einer Norderneyer Aussichtsplattform wird eine verbrannte Leiche gefunden. Das Opfer ist nicht irgendwer, sondern der 102-jährige Wattführer Josef Monningen. Tilla Flock, die als Journalistin für das Anzeigenblatt hoffnungslos unterfordert ist, will um jeden Preis herausfinden, wer dem Inselältesten das angetan hat. Doch zunächst muss sie einen einsamen Touristen, der sich in diesem Januar nach Norderney verirrt hat, aus den eiskalten Fluten retten: Hark Herforth, ein psychisch angeschlagener Pfarrer, wollte seinem Leben ein Ende setzen. Doch Tillas Tatendrang verleiht ihm neue Energie. Während die beiden immer tiefer in den Fall eintauchen, wächst ihre Freundschaft. Und als sie der Wahrheit auf die Spur kommen, fürchtet der lebensmüde Pfarrer plötzlich um sein Leben und um das seiner neuen Freundin.
Der erste Fall für Journalistin Tilla Flock und Pfarrer Hark Herforth.
So mitreißend wie ein friesischer Herbststurm!
Joachim F. Kuck, geboren 1979 in Wesel, bekam die Liebe zur Kreativität in die Wiege gelegt. Aus seinem künstlerisch geprägten Elternhaus zog er in die Film- und Fernsehwelt, um später zu einem Technologieunternehmen zu wechseln. Seine Bücher schrieb er immer dann, wenn sich Zeit fand – nachts neben dem Babybett, tagsüber im Zug oder an der Nordsee, mit der er sich tief verbunden fühlt. Joachim Kuck lebt mit seiner Frau und seinen Kindern im Bergischen Land.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Martha Wilhelm
Covergestaltung bürosüd, München
Coverabbildung www.buerosued.de
ISBN 978-3-644-01957-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für meine Kinder
und meine Frau.
Für meine Eltern
und meine Brüder
und meine Schwester.
Für unsere Liebsten.
Bojen allesamt,
in ewig stürmischer See.
Als der älteste Bewohner der Insel starb, wurde der jüngste geboren. Fast zeitgleich schrien sie auf, der Greis mit dem Siegelring und das Baby, das ein Feuermal am Hals trug. Blut tropfte hier wie da, im winzigen Krankenhaus, das nicht einmal einen Kreißsaal hatte, und weit oben auf der Düne, wo die Klinge erst in die Brust, dann in den Hals des alten Mannes getrieben wurde. Die dritte Nacht im Januar war es. Neujahrsfrost. Beißender Nordseewind. Ihr Skalpell hatte die Ärztin für den Kaiserschnitt gebraucht, anders als die Gestalt, die in den Schatten des Aussichtspunktes gewartet hatte, um den ältesten Wattführer des Eilands mit einem von Rost und Dreck überzogenen Fleischermesser zu ermorden. Und während die Mutter zusah, wie ihr Junge gewogen und gemessen und gewaschen wurde, sank der uralte Mann auf die Bank, von der aus man das erste Grau des anbrechenden Tages über dem Meer erblickte. Was seiner Kehle an Atem noch entwich, klang rasselnd. Einhundertundzwei Jahre hatte er auf seiner Insel verbracht, um jetzt, als die Gestalt ihn mit einer giftig-bleiernen Flüssigkeit übergoss, die Augen zu schließen. Er spürte den Schmerz nicht mehr, so wie er das Streichholz nicht hörte, das in der Finsternis hinter ihm angezündet wurde. Der Mann mit dem Siegelring zuckte nur, als er in Flammen aufging und einer menschlichen Fackel gleich die ganze Aussichtsdüne orangerot beleuchtete. Plötzlich, während das Feuer ihn fraß und seine Haut verschmorte, tat er etwas gänzlich Seltsames.
Er verzog sein Gesicht.
Zu einem Lächeln.
Tilla Flock spürte eine Kälte in ihren Knochen, die nicht vom Wetter kam. Die rote Winterjacke ihrer Schwester hielt den Wind ab, ebenso wie die Stiefel und die Handschuhe. Salz und Sturm mochten Tillas Haar strähnig machen, mehr aber auch nicht. Diese Kälte, dieses eisig ungute Gefühl, kam aus der Tiefe.
Tilla hatte noch nie eine Leiche gesehen.
Sicher, viel konnte von dem alten Josef Monningen nicht mehr übrig sein. Hoch oben auf der Georgshöhe war er verbrannt und mit ihm der Zaun und ein Teil der Düne. Aber als Tilla jetzt an die Absperrung herantrat, die den steilen Aufstieg zu Monningens Fundort von der Promenade trennte, wusste sie nicht, ob sie ohnmächtig werden würde, wenn sie den Leichnam aus der Nähe sah. Er rauchte längst nicht mehr, immerhin, aber mit jeder Windwallung stank es nach Fleisch und Feuer, und Tilla war klar, dass –
«Nichts riecht nach Feuer und Fleisch, was kein Feuer und Fleisch ist», murmelte sie.
«Was?», fragte der junge Polizist vom Festland, der die Stufen nach oben bewachte. Tilla kannte ihn nicht.
«Nichts», antwortete sie. «Kann ich rauf?»
«Wer sind Sie?»
«Zeitung.»
«Nee. Geh mal weg hier», sagte der Polizist und zog seine Kappe tiefer. Anfang Januar. Eisregen. Tilla seufzte.
«Ich hab eine Verbindung zu dem Fall. Eine intime.»
«Aha.»
«Die Bank, die mit Monningen verbrannt ist. Auf der bin ich gezeugt worden.»
«Guter Einstieg für die Trauerrede», antwortete der Polizist, als sein Funkgerät rauschte. Er drehte sich weg.
Tilla machte einen Schritt zurück. Natürlich konnte sie versuchen, den Berg hochzuklettern, vielleicht an der Rückseite, die erdig war und durchzogen von Dünengras. Aber nicht nur am Fuß der Hügelkette standen Polizisten. Oben, auf dem Kamm, sah Tilla ein Trio von Beamten bei Josef Monningens Überresten, kaum mehr als Silhouetten vor den grauen Wolken des Morgens. Keiner hatte gehört, als Tilla von unten gerufen hatte, wenn auch gedämpft genug, um die Illusion von Pietät zu wahren. Oder man hatte sie gehört, aber nicht beachtet. Beides konnte sich Tilla vorstellen.
«Heya», zischte sie einer Gruppe von Jungen zu. Mit BMX-Rädern lungerten sie unweit der Fluttore herum, die das Wintermeer von der Stadt fernhalten sollten. Tilla wusste nicht, was sie sagen wollte, aber noch ehe sie einen Plan schmieden konnte, hatte sie einen Geldschein hervorgezogen, den sie jetzt den Jungen entgegenhielt. Manchmal tat sie Dinge, die sie erst später verstand. Wenn überhaupt.
«Fünf Euro», sagte sie, «wenn ihr den Cop ablenkt.»
«Cop? Was bist du denn für eine?»
«Polizist. Cop. Meine Güte. Seid ihr Deutschlehrer?»
«Zehn Euro», sagte ein Junge mit pechschwarzen Haaren, wild und wütend geföhnt. Tilla blickte ihn scharf an.
«Sechs. Aber ihr haltet den Polizisten auf. Damit ich Fotos vom Fundort machen kann.»
«Neun. Und wir kriegen die Bilder von der Leiche.»
«Freak. Sieben, ohne Bilder», sagte Tilla.
«Acht Euro.» Der Junge grinste so selbstsicher, dass Tilla ihm das Geld am liebsten ins Maul gestopft hätte. Stattdessen fluchte sie, während ihre gelben Stiefel in den Matsch auf der Rückseite der Dünen einsanken, kaum eine Minute nachdem sie der Gruppe den Mittelfinger gezeigt hatte und losgezogen war, um die Anhöhe direkt an der Strandpromenade heimlich zu erklimmen.
Manchmal tat sie Dinge, die sie erst später verstand.
So klamm war die Erde, so nass die Abhänge, dass Tilla Flock sich wie bei einer vertikalen Wattwanderung fühlte. Bald kletterte sie weniger, als dass sie vielmehr aufwärts stolperte. Längst war die Jacke ihrer Schwester dreckig genug, um für ein heftiges Streitgespräch in der Zukunft zu sorgen. Tilla ging die Argumente durch, die sie anführen würde, aber in keinem Szenario kam sie gegen die kühle Strenge einer Ariane Flock an. Tilla wischte sich über die feuchte Stirn.
«Ernsthaft?», bellte plötzlich eine Männerstimme von oben, und erst jetzt bemerkte Tilla, dass drei Männer vom Tatort aus auf sie herabstarrten. Einer der Teenager stand neben ihnen, ganz offensichtlich stolz darauf, Tilla Flock verpfiffen zu haben. Heimlich zeigte er ihr den Mittelfinger.
«Verpiss dich», zischte Tilla ihn von der Seite an, als sie den Dünengipfel erreicht hatte. Sie keuchte. Ihre Nase lief. So voller Schlamm waren ihre Stiefel, dass sie ihr jetzt doppelt schwer erschienen. Ein älterer Polizist mit wettergegerbter Haut schüttelte fassungslos den Kopf.
«Was soll das werden?», fragte er.
«Hier … herrscht immer noch … Pressefreiheit.»
«Was hat jetzt Pressefreiheit mit irgendwas zu tun?»
«Stimmt es, was die Wache sagt, Paps? Dass unser Josef tot ist? Dann muss ich berichten. Die Leute wollen Infos.»
«Meine Güte, Tilla, der Mann ist noch …»
«Noch nicht kalt? Darf ich das zitieren?»
«Das alles», grollte Enno Flock, «ist für mich schon schwierig genug. Würdest du bitte dein Drama ein bisschen zurückfahren? Nur heute?»
«Da liegt ein Haufen Asche. Woher wisst ihr, dass das Monningen ist?», antwortete Tilla, als hätte sie ihren Vater nicht gehört. Längst blickte sie an ihm vorbei. Die Form eines Menschen war auf den Resten der verkohlten Bank zu erkennen, schwarz und starrverkrampft im Tod. Identifizieren konnte sie die Person nicht.
«Sein Ring», antwortete Helge Weingärtner, ein viel jüngerer Polizist, dessen rostrote Locken an eine Perücke erinnerten. Einen dünnen Flaumbart ließ er sich wachsen, zumindest versuchte er das, aber die Haare gingen farblich im fleckigen Rot seiner Gesichtshaut unter. Er fror sichtlich.
«Ah. Familiensiegel», sagte Tilla. Weingärtner nickte.
«Muss noch dunkel gewesen sein, als er herkam. Hat sich mit Benzin übergossen und angezündet. Melodramatisch.»
«Selbstmord? Josef Monningen? Ihr verarscht mich.»
«Die Leute reden von Problemen mit der Kneipe», raunte Enno Flock. «Aber du musst jetzt wirklich gehen, Tilla.»
Am Fahnenmast flatterte das blau-weiße Wappen der Insel. Tilla blickte die lange, steile Treppe hinunter.
«Worin hat Josef das Benzin mitgebracht?», fragte sie.
«Hier», rief der dritte Mann. Er war so füllig, dass er kaum das Gleichgewicht wahren konnte, als er sich über den nicht zerstörten Rest des Zauns beugte. Tatsächlich lag ein gelber Kanister am Fuß der Düne, wo die Promenade weiter zu den Strandcafés führte. Jetzt beugten sich auch Weingärtner, Tilla und ihr Vater über den sturmverwitterten Holzbalken.
«Das ist Bullshit», sagte Tilla. Ihr Vater schnaubte.
«Erleuchte mich. Warum ist das, äh, Bullshit?»
«Die Kneipe. Hast du irgendwas von offenen Rechnungen gehört? Von Kündigungen? Das wäre Tagesgespräch! Niemand geht hier heimlich pleite. Hat ein Insulaner mal gesagt.»
«Wer?»
«Du. Bei Mamas Laden.»
Keine Antwort von Tillas Vater. Möwen schrien.
«Außerdem war der Josef nicht mehr beim Skat in der Teestube. Seit Monaten. Willst du wissen, warum?»
«Macht es einen Unterschied, wenn ich Nein sage?»
«Er kann die Karten nicht mehr hochnehmen. Rheuma.»
«Der Mann ist ja auch hundertdrei Jahre alt.»
«Hundertzwei», sagte Tilla. «Und jetzt soll er mit Gelenken über dem Verfallsdatum einen Benzinkanister hochwuchten? Voll genug, die halbe Georgshöhe bei Regen abzufackeln? Klar.»
Es dauerte einen Moment, bis Enno Flock die Worte seiner Tochter verarbeitet hatte, und einen weiteren, bis er akzeptieren konnte, dass sie recht hatte. Er richtete sich auf und mit ihm zwei Polizisten und eine dreckverkrustete Journalistin in der grellroten Jacke ihrer Schwester. Sie alle drehten sich um und starrten den Leichnam an. Flocken von Asche wurden ins Dünengras geweht, grauschwarz an grün.
«Ermordet», sagte Tilla. «Josef. Wurde. Ermordet.»
«Kein Wort zu irgendjemandem», fauchte ihr Vater. «Du hast Nachrichtensperre.»
«Du kannst mir keine Nachrichtensperre verpassen.»
«Dann hast du Hausarrest.»
«Ich bin fünfunddreißig, Papa!»
«Benimm dich zur Abwechslung so!», rief Enno Flock, bevor er seiner Tochter ganz nah kam. «Tilla. Kannst du dir vorstellen, was hier los sein wird? Bei so was kommt das LKA auf die Insel. Forensiker. Reporter. Von echten Zeitungen!»
«Echte Zeitungen. Danke. Wertvolles Feedback.»
«Ich brauche Ruhe in diesem Chaos. Ordnung. Struktur. Wenn du wieder Fragen stellst, die keiner hören will, machst du mein Leben noch schwerer als ohnehin schon!»
Tilla atmete tief durch. Sie blickte hinab auf das Gelb, das durch den Nordseeschlamm auf ihren Gummistiefeln hervorblitzte, und dann auf die tiefbraunen Winterschuhe ihres Vaters, die er schon vor Jahrzehnten getragen hatte.
«Ich sitze also in der Redaktion. Und mache nix.»
«Nur für einen Tag.»
«Ein Tag ist eine Ewigkeit!»
«Tilla», sagte Enno Flock, «du stehst morgens auf, wann immer du willst, und dann tust du, was immer du willst, und abends gehst du schlafen, wann immer du willst. Glaubst du wirklich, dass ein einziger Tag in deinem Lebensentwurf einen Unterschied macht?»
Tilla wandte sich ab, bevor ihr Vater sehen konnte, wie sehr seine Worte sie getroffen hatten. Sie zwang sich zu einem Nicken, bevor sie die Hände tief in die Taschen ihrer Jacke – nee, Arianes Jacke, denn du hast es noch nicht mal geschafft, dir eine eigene Winterjacke zu kaufen – steckte und auf Monningen hinabblickte. Noch immer lag der Kadaver schwarz verkohlt da, beide Arme grotesk abgeknickt und die Beine verzerrt, als würde er versuchen, davonzulaufen. Die Mundhöhle war ein Loch aus Asche. Die Augen leer.
Tilla schluckte.
Nein, vom Wind kam die Kälte in Tilla Flocks Knochen nicht. Sie kam von der Trauer um einen alten Bekannten, vom Ekel über seinen entstellten Körper und von der Wut auf seinen Mörder. Am ehesten aber kam die Kälte von der Scham, denn Tilla wusste, dass ihr Vater recht hatte. Sie war keine Journalistin und keine Ermittlerin. Eigentlich war sie überhaupt nichts. Sie wohnte bei ihren Eltern, sie hatte weder Freund noch Kinder, und tatsächlich machte es fast keinen Unterschied, ob sie morgens zur Arbeit erschien oder im Bett blieb. Fast alles war egal im Leben von Tilla Flock, und niemand auf der Welt würde ausgerechnet ihr zutrauen, die Verbrennung von Josef Monningen aufzuklären.
Niemand.
Hark Herforth musste kotzen.
Zumindest glaubte er das. Es war nicht neu für ihn, dieser Krampf im Magen und das Gefühl von Fremdkörpern in der Kehle. Aber auch wenn er den Drang, sich zu übergeben, oft genug unterdrücken konnte, schaffte Hark es ausgerechnet jetzt und hier nicht. Ohne Rücksicht auf die Reifen zog er seinen Wagen auf den Standstreifen und bremste, um die Tür aufzustoßen und sich keuchend nach draußen zu beugen.
Und zu warten.
Autos rauschten an ihm vorbei.
Nichts kam.
Hark zerrte sich zurück in seinen Sitz. Erst fühlte er seinen Puls, der zu schnell war, dann legte er den bleichen Handrücken auf die ebenso bleiche Stirn, um die Temperatur seines Körpers zu schätzen. Zuletzt streckte er den Kopf und rieb mit den Fingern abwärts am Hals entlang, immer wieder, vom Haar bis zum schneeweißen Priesterkragen, der ihm viel zu eng erschien. Doch Hark spürte keine Knoten, die Siechtum und Tod bedeuten würden. Seine Augen im Rückspiegel waren müde, aber ohne geplatzte Adern. Sein Rücken schmerzte, ebenso wie sein geblähter Bauch, aber nicht mehr als sonst. Immerhin. Pater Hark Herforth musste sterben, das glaubte er, wusste er, und es war nur eine Frage der Zeit, bis man die Krankheit fand, die ihn richten würde. Aber heute, jetzt und hier, lebte er noch, und er fuhr dem Meer entgegen.
Den Wellen. Dem Wind.
«Arschloch», sagte Hark mit einem Blick gen Himmel.
Keine Antwort.
Hark startete den Wagen. Er atmete durch, bevor er zurück auf die Autobahn fuhr. Schnee auf den Scheiben.
Als er die ersten Windräder passierte, die vom Inland bis zur Küste die Autobahn säumten, merkte Hark, dass sich sein Herz beruhigte. Später würde er seinen Puls noch einmal messen, um die Werte ordentlich im schwarzen Notizbuch zu notieren. Zum siebten Mal. Allein an diesem Tag.
«Raus», hatte sein Nachbar zu ihm gesagt, «hau schon ab», obwohl Hark am liebsten zu Hause geblieben wäre. Immer blieb er zu Hause, weil er es hasste, Unruhe in die gequälte Eintönigkeit seines Lebens zu bringen. Aber sein Nachbar hatte ihn gedrängt, bis Hark die Reisetasche gegriffen hatte und zum Auto gehumpelt war, wenn auch fluchend.
«Entspann dich, Hark. Auch Inseln haben Ärzte.»
«Fantastisch. Badeärzte. Wenn ich mich unterkühle.»
«Samstag bis Samstag. Du wirst es überleben.»
«Dein Wort in – in seinem Ohr», hatte Hark entgegnet, bevor er eingestiegen war. Seine linke Hand hatte sich kälter angefühlt als die rechte. Ein plötzliches Kribbeln im Fuß. Infarkt, hatte Hark Herforth gedacht, auf der Autobahn vielleicht, dann ist die ganze Sache ohnehin vorbei.
Es war kein Infarkt gekommen.
Hark trat das Gaspedal durch. Die Straße war leer, nicht so leer wie in seiner Kindheit, aber frei genug, um den schwächlichen Motor des Kombis auszureizen. Zwei Stunden trennten Hark von der Fähre, die ihn über das Meer bringen würde, wie damals. Hark hatte die Insel seit Jahrzehnten nicht gesehen, genauso wenig wie die Nordsee oder überhaupt etwas, das hinter den Grenzen seiner Stadt lag. Tatsächlich sah er nur seine Wohnung und seine Kirche und viel zu selten die Geschäfte, die dazwischenlagen.
Schmeckte sein Speichel sauer?
«Fahren Sie», hörte Hark die Worte seines Dekans im Kirchenschiff widerhallen, in dem sie vor ein paar Tagen gesessen hatten. «Eine Woche Urlaub wird Ihnen guttun.»
«Aber die Gemeinde, die braucht mich doch.»
«Ich sage Ihnen etwas», hatte der Dekan geantwortet. Älter war er als Hark, größer und wuchtiger, und er wirkte selbst sitzend, als könne ihm nichts etwas anhaben. Keine Krise. Kein Zweifel. Keine Krankheit. Hark hatte sich klein neben ihm gefühlt, ganz fehl am Platz, wie ein Schüler, der in der Bank zu nah an seinen Lehrer gerutscht war.
«Die Gemeinde braucht nicht Sie, sondern irgendeinen Mann mittleren Alters, der lesen kann und ein bisschen lauter singt als der Rest der Truppe. Nicht besser. Lauter.»
«Das … das validiert meine Position nicht wirklich.»
«Ich bin nicht derjenige, der Ihre Position validiert, Hark», hatte der Dekan geantwortet.
«Wer dann?»
«Was glauben Sie?»
Herforth hatte kurz zum Altar geblickt, als wäre die Antwort offensichtlich, aber sein Dekan hatte nur geseufzt.
«Sie selbst, Mann. Und um ehrlich zu sein, momentan validieren Sie wenig. Wo ist Ihr Esprit? Ihre Lebensfreude?»
Keine Antwort. Ein Husten, irgendwo in der Kirche.
«Die Kirche», hatte der Dekan mit gesenkter Stimme gesagt, «wir operieren nicht am offenen Herzen, wissen Sie? Ich verlange nicht viel. Lächeln Sie ein bisschen mehr.»
Ein Zittern war in Harks Fingern aufgestiegen. Unruhe in den Muskeln. Der Dekan hatte auf Hark herabgeblickt.
«Machen Sie Urlaub. Essen Sie. Feiern Sie, und um Gottes willen, Herforth, legen Sie sich in die Sonne.»
Tiefgrau hingen die Wolkentürme über der Tankstelle.
Der Regen war stärker geworden, jetzt gerade, als Hark das Auto unnötigerweise volltankte. Gereicht hätte der Sprit noch bis zur Fähre und zurück, aber Herforth musste pinkeln, fast stündlich, auch wenn er nicht musste. Er zahlte, ohne sich einen Kaffee zu holen, weil er niemals Kaffee trank und selten etwas anderes als Wasser. Seine Kopfhaut juckte.
Noch eine Stunde.
Im Tunnel unter der Ems staute sich der Verkehr.
Vergeblich hoffte Hark darauf, dass der Wechsel von der Dunkelheit ins Tageslicht ihn berühren würde. Dass die Ausfahrt aus dem Untergrund ein spirituelles Ereignis wäre, profund genug, um seine Seele für die Reise ans Meer zu öffnen. Stattdessen schmerzten seine Augen, und Lichtflecken flimmerten, was Hark im Geiste die Symptome für Gehirntumore rezitieren ließ. Viele waren es nicht, die ihm einfielen, weil er sich selten konzentrieren konnte, wenn er etwas las.
Er beließ es bei den Lichtflecken und Kopfschmerzen, nicht ohne sich selbst daran zu erinnern, dass er fast immer Kopfschmerzen hatte und ständig Blitze vor den Augen sah.
Ja, Hark Herforth würde sterben.
Bald.
Vielleicht.
Runter von der Autobahn, auf die Landstraße.
Das Radio blieb stumm. Zu launisch war Hark für Musik. Wenn er etwas gefunden hatte, das er gern hörte, dann war sein Geist schon weitergezogen, als wäre er eine Karawane, für die keine Oase gut genug war. Hark konzentrierte sich lieber auf sich selbst, auf jedes Geräusch seines Magens, auf das herzrhythmische Rauschen in den Ohren, das stärker wurde, je länger Hark Herforth darüber nachdachte. Es war nie weg, dieses Rauschen, sondern begleitete ihn auf jeder Fahrt, bei jedem Schritt, vor allem aber in den quälenden Stunden, bis Hark es nachts schaffte, in den Schlaf zu finden. Ewig lag er dann wach, und der Gedankensturm tobte, kreiste nur um das baldige Ende und die Krankheit, die ihm vorausgehen würde, und um alles, was Hark in seinem Leben nicht gesehen und erlebt –
Die Hupe des entgegenkommenden Wagens ließ Hark das Lenkrad hektisch herumreißen. Er hatte seine Spur verlassen. Unbemerkt, wie so oft, wenn sich alles nur noch um seinen Körper drehte, der sich zu alt anfühlte, um den nächsten Jahren zu trotzen oder auch nur den nächsten sieben Tagen.
Einatmen. Ausatmen. Reiß dich zusammen.
Auch nachdem die Landstraße ihn endlich zur Küste und auf die Autofähre gebracht hatte, lag die Sorge noch immer wie ein nasskalter Umhang auf Harks Schultern. Der Mittagshimmel mochte sich über der Insel öffnen, und Hark mochte am Bug des Schiffes wie ein standfester Priester mit flatterndem Mantel wirken, ein Mann des Glaubens, dessen Leben so erfüllt war, wie sein Tod es sein würde. Aber nichts konnte Pater Herforth die Angst nehmen. Sie blieb bei ihm, als der Hafen in Sicht kam, und sie blieb bei ihm, als er durch die Straßen fuhr, durch die er seit dreißig Jahren nicht gefahren war. Sie umgab ihn, als er hinter der Pension parkte und an der Rezeption für sein Zimmer unterschrieb, immer fürchtend, dass seine Unterschrift anders aussehen würde als sonst. Die Mitarbeiter würden auf Harks Ausweis starren, und dann würden sie über ihn tuscheln, ihn, diese abnorme Attrappe eines Menschen.
Hark schnappte nach Luft.
«Sie bleiben bis Samstag?», fragte die erstaunlich junge Rezeptionistin, ganz und gar herzlich und ohne Ironie in der Stimme. So schmächtig wirkte sie hinter dem Tresen, so blass und verloren mit ihren schmalen Schultern, dass Hark zu ihr hinabblicken musste wie zu einem Kind. Das Hotel war dunkel, aber kuschelig. Cremefarbene Kissen auf den Sesseln, die im verglasten Vorbau des Hauses standen. Holzknarzende Treppen unter Teppich. Strohblumen. Kunstdrucke.
«Ja», sagte Hark schwach, «Samstag bis Samstag.»
«Darf ich Ihnen das Zimmer zeigen?»
«Ich war schon mal hier, ganz früher», antwortete Hark, obwohl er sicher war, dass er durch die Gänge irren würde, um dann erbärmlich an der Rezeption um Hilfe zu betteln. Aber Hark fand sein Zimmer, und der Schlüssel passte, und noch bevor das Gepäck verstaut und die Tür zum Balkon mit Blick auf das Meer geöffnet worden war, hatte Hark mit schwerem Atem das Wasser in der Dusche aufgedreht. Er riss sich seine Kleidung und seinen Priesterkragen vom Leib, um den viel zu heißen Strahl auf seiner Haut zu fühlen und sich an den Fliesen hinabgleiten zu lassen. Farben sah er nicht mehr. Stattdessen war seine Welt schwarz. So lag Hark Herforth da, überwältigt und beinahe betäubt von echten und eingebildeten Schmerzen, im Augenblick und noch für die ganze Stunde, die jetzt folgen sollte.
Ich kann das nicht mehr, dachte Hark.
Ich kann das nicht mehr.
Tilla Flocks Insel fühlte sich leer an.
Totenstill.
Jetzt, in den ersten Januartagen, gab es kaum Gäste. Viele Geschäfte waren geschlossen, die meisten Pensionen boten keine Herberge, und wenn nicht gerade Handwerker vom Festland die Ferienwohnungen mieteten, dann lagen ganze Straßenzüge wie verwaist da. Es mochte gebaut und renoviert werden, aber man sah die Arbeiter und Helfer weder an den schneeverwehten Stränden noch in den wenigen Cafés, die zumindest für ein paar Stunden am Tag geöffnet hatten. Als Tilla mit ihrem Fahrrad einsam über die Promenade fuhr, den Blick auf das aufgewühlte Meer gerichtet, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass hier in ein paar Monaten kein Durchkommen sein würde, so dicht an dicht würden sich die Touristen aneinanderdrücken.
Tilla bog ab, in Richtung Stadt.
Ihre Hände waren eiskalt und rot.
Kein Spaziergänger wanderte durch den kahlen Laubwald, der Küste und Ortskern voneinander trennte. Kein Hund rannte über die Wiese, auf der seit Jahren ein Hotel hätte stehen sollen. Rollläden verschlossen Fenster. Morsche Holzgitter versperrten Strandkörbe, die unter Vordächern standen. Es kreuzte kein Auto, als Tilla über die Inselstraßen fuhr, und selbst in der Fußgängerzone musste sie nicht bremsen. Erst, als der blassgelbe Altbau mit der übergroßen roten Haustür und der Balkon, der von klassischen Säulen getragen war, in Sicht kamen, ließ Tilla ihr Rad ausrollen. Sie schloss es nicht ab. Wie Gerippe wirkten die Bäume vor dem Gebäude.
«Morgen», sagte Tilla Flock, als sie die Redaktion betrat.
Man konnte den Raum kaum Redaktion nennen. Ein Büro war es, gerade groß genug für drei Personen. Zeitungen hingen gerahmt an den Wänden. Nein, keine Zeitungen, eher selbst kopierte Blätter in Zeitungsoptik, kaum größer als der Rabattprospekt vom Supermarkt. Zwei Tische waren besetzt. Ein kleinerer in der Ecke nicht.
«Bist spät», antwortete eine drahtige Frau, ohne von ihrem Computerbildschirm aufzublicken. Sie besetzte den größten Arbeitsplatz, wobei sie mit der Lehne ihres Stuhls beinahe an die Lehne des Mannes stieß, der an seinem Tisch ausgeschnittene Werbeanzeigen und Texte, Grußkarten und Fotos auf großen weißen Blättern anordnete. Der Mann trug Kopfhörer, aber ob er Musik hörte und ob das der Grund war, aus dem er sie nicht grüßte, wusste Tilla nicht.
«Ich war an der Georgshöhe», antwortete Tilla, während sie ihre Jacke auszog, «bei Josef. Also – dem Rest von ihm.»
«Ist das nicht meine Jacke?»
«Meine ist in der Reinigung.»
«Warum holst du sie nicht ab?»
«Weil», sagte Tilla mit einem leisen Stöhnen, «ich sie vergessen hatte. Und das ist inzwischen so lange her, dass es viel zu peinlich wäre, sie noch abzuholen. Jetzt hängt sie doof da.»
«Und dann klaust du einfach meine.»
«Josef Monningen hat sich nicht umgebracht, Arri. Das war Mord», gab Tilla ihrer jüngeren Schwester zurück. Jetzt musste Ariane Flock blinzeln, und auch der Mann mit den Kopfhörern hielt inne, wenngleich er sich nicht umdrehte. Mitten beim Papierschneiden ließ er seine Schere stillstehen.
«Mord?», fragte Thomas Manschott.
«Mord.»
«Woher willst du das wissen?»
«Der Benzinkanister. Das Feuer war so groß, der muss randvoll gewesen sein. Niemals hat Josef den getragen.»
«Warum sollte der auch freiwillig abtreten?», fragte Ariane. «Besser als ein Monningen lebt hier niemand.»
«Die Kneipe soll pleite sein. Angeblich.»
«Die ist doch niemals pleite.»
«Papa ist noch oben. Hab ich ihm auch gesagt.»
«Da stehen die Investoren Schlange, um das Haus zu Ferienwohnungen zu machen. Wenn die Kneipe pleitegeht, wischt sich Monningen die Tränen mit Geldscheinen ab.»
«Geht nicht», sagte Thomas. «Das Papier saugt nicht.»
Ariane Flock dachte kurz nach. Dann seufzte sie und zuckte mit den Schultern. Sie trug eine randlose Brille, die sie strenger erscheinen ließ, und wie immer hatte Tilla keine Ahnung, wie die makellose Frisur ihrer Schwester auf dem Weg vom Haus zur Redaktion dem Wind hatte trotzen können. Ihr eigenes Haar blieb selbst frisch gewaschen borstig.
«Warum ermordet man einen ehrenamtlichen Wattführer?», fragte sie, während sie sich auf Arianes Tisch setzte.
«Das wird die Polizei rausfinden», antwortete Ariane.
«Wir müssen mit Josefs Ehefrau reden.»
«Nein, die Polizei muss mit Josefs Ehefrau reden.»
«Oder wir befragen seine Kinder. Wester und Dortje.»
«Nein, die Polizei befragt seine Kinder.»
«Dann untersuchen wir seine Kneipe. In der Siedlung.»
«Du willst in die Siedlung? Bei allem, was du da abgezogen hast? Die lynchen dich. An der Bushaltestelle.»
«Würden wir die Hinrichtung zu den Veranstaltungstipps packen?», fragte Thomas, während er eine Kontaktanzeige auf das Blatt tackerte und die Klammern grob mit Deckweiß übermalte. Tilla knüllte Papier zusammen und warf es nach ihm.
«Echt jetzt», sagte sie zu ihrer Schwester, «ein Mord auf der Insel. Brutal. Bizarr. Das muss dich doch beschäftigen!»
«Nicht sonderlich.»
«Eine Verbrennung, mit Aussicht auf die Windräder am Horizont. Da müssen wir ran! Du, Thomas und ich. Die letzte Bastion des investigativen Journalismus an der Nordsee.»
«Bin raus», sagte Thomas.
«Dann eben du und ich, Arri. Das ist unsere Pflicht.»
Ariane verzog keine Miene. Stattdessen drehte sie den Monitor in Tillas Richtung, und Tilla musste kaum hinsehen, um die Listen zu erkennen. Die Tabellen. Die Rechnungen.
«Was publizieren wir?», fragte Ariane. Tilla stöhnte.
«Den Küstengruß.»
«Nein. Wir publizieren den hyperlokalen Ableger eines regionalen Anzeigenblattes, das der deutschen Zeitung eines europäischen Konzerns gehört, hinter dem internationale Geldgeber stehen. Und wovon leben lokale Anzeigenblätter?»
«Ariane –»
«Wovon leben wir?», fragte Ariane, und es war klar, dass sie Tilla nicht vom Haken lassen würde.
«Wir leben davon, dass Touristen die Anzeigen über den Berichten lesen und in Läden gehen, die Umsatz generieren und dann neue Anzeigen schalten. Das weiß ich doch alles.»
«Glaubst du, irgendein Grillrestaurant will seine Werbung neben Berichten über verbrannte Wattführer sehen?»
«Assoziatives Marketing. Ist hip.»
Mit scharfem Blick legte Ariane den Kopf schief und wartete.
«Nein», antwortete Tilla Flock leise.
«Ich hab dich einmal ausrasten lassen, das hat mich fast die Zeitung gekostet. Wir sind kein Kriminalmagazin. Wir lösen keine Fälle. Je kleiner die Zeitung, desto größer die Nähe. Der Küstengruß ist nicht die letzte Bastion von irgendwas, sondern ein Gruß. Von der Küste.»
«Wir covern Spatenstiche, keine Messerstiche», fügte Thomas hinzu, bevor er aufstand. Summend heftete er eine große Doppelseite mit sorgfältig platzierten Berichten und Bildern an die Wand, wie er es heute noch drei Mal machen würde. Einen Computer hatte er nicht. Nur Papierbögen und Scheren und viel zu viele Klebestifte.
«Was hat Papa dir gesagt, Tilly?», fragte Ariane ihre Schwester. Jetzt klang ihre Stimme sanft.
«Dass ich die Füße stillhalten soll …»
«Du kannst kein Enthüllungsstück über einen großen, bösen Mord auf einer kleinen, lieben Insel schreiben.»
«Also? Was mach ich stattdessen?»
«Wir brauchen neue Fotos von der Abbruchkante. Hinter dem Oststrand, beim FKK. Ist größer geworden beim Sturm.»
«Aber ich bin gerade erst gekommen», sagte Tilla.
«Dann solltest du los, bevor es zu gemütlich wird.»
Tilla atmete durch, wohlwissend, dass es keinen Sinn ergab, mit ihrer Schwester zu streiten. Sie griff Arianes rote Jacke, die sie eben erst aufgehängt hatte, nahm einen Kamerarucksack aus dem Regal und stapfte zur Tür.
«Und kauf dir Winterzeugs», hörte sie Ariane rufen, aber da war sie schon wieder draußen, in der Kälte, die jetzt noch schärfer schnitt im Vergleich zur heizungswarmen Redaktion. Nach Kaffee hatte es gerochen, und nach frisch verlegtem Teppich, und nicht zum ersten Mal spürte Tilla Flock, wie sehr sie sich nach einem echten Arbeitsplatz sehnte, der keine milde Gabe ihrer kleinen Schwester war, und einer eigenen Bleibe, nicht unter dem Dach ihrer Eltern.
Hark hatte geschlafen.
Er schlief oft, auch am Tage, als würde die Flucht in den Schlaf ihm Ruhe verschaffen vor der Angst um den eigenen Körper. Manchmal ließ er sich auf das Bett fallen, oder auf das Sofa, und während draußen die Wolken vorbeizogen und die Flugzeuge, stellte Hark sich ein anderes Leben vor, irgendwo am fernen Ende der Welt, und dämmerte ein.
Wenn er dann aufwachte, wie er eben aufgewacht war, hatte er manchmal das Glück, für ein paar Minuten nicht nachzudenken. Er existierte einfach. Zumindest bis ihn etwas daran erinnerte, wie zerfressen seine Organe sein mussten, wie infiziert sein Inneres und wie gewiss sein Schicksal. In diesen Momenten kamen die Schmerzen zurück.
Die Sorgen. Das Dunkle.
Als Herforth die Treppe des Hotels hinabstieg, fühlten sich seine Beine schwer an. Hark spürte die Schenkel, die aneinander rieben. Den Druck in seiner Brust, die vom Hemd eingezwängt war. Hark war nicht dick, aber er fühlte sich schwammig, mit zu vielen Rollen, Dellen und einstmals kantigen Wangen, die heute weich und rund waren. Wenn man ihm Fotos seiner Predigten zeigte, Bilder von Taufen und Trauerfeiern, starrte er durch das Papier hindurch. Er lächelte dann, als würde er sich selbst betrachten und zufrieden mit sich sein, obwohl er sich nicht betrachtete und nicht zufrieden war.
Niemals.
Die junge Rezeptionistin mit hilflos hochgestecktem Haar grüßte höflich. Hark grüßte ungelenk zurück, nur um beinahe gegen die Tür zu laufen. Draußen traf ihn der eisige Wind. Hark knöpfte seinen Mantel zu. Er hasste Kälte, weil Kälte sich nach Schüttelfrost anfühlte und nach Unwohlsein.
Als Hark auf die ziegelrot gepflasterte Straße trat, klirrten Seile an den Fahnenmasten gegen Metall. Ein Geräusch, das heute noch so klang wie früher, fand Hark. Er schluckte am Kloß in seinem Hals vorbei. Was auch immer in seiner Kehle stecken mochte, es verschwand nicht. Es war da, immer, einfach so, und während Hark gegen den tief sitzenden Widerstand würgte, erinnerte er sich an die Tage, an denen er noch nicht hatte über jeden Atemzug nachdenken müssen.
An der Küstenlinie wehte der Wind stärker.
Die Krankheit in seinem Kopf war wie ein tollwütiges Raubtier, dachte Hark manchmal, ein Raubtier, das wieder und wieder die Zäune seines Geheges austestete. Irgendwo gab es immer einen wunden Punkt. Irgendetwas stach oder schmerzte oder drückte, als würde Hark kurz vor der Enthüllung seines großen Finales stehen. Doch die Enthüllung kam nicht. Nichts kam. Hark Herforth war zu krank, um gesund zu sein, und doch zu gesund, um krank zu sein.
«Das ist albern», hatte sein Arzt einmal gesagt.
«Was ist daran albern?»
«Man ist krank, oder man ist es nicht.»
«Ich bin krank», hatte Hark geantwortet.
«Sind Sie nicht.»
«Aber wenn ich was fühle, dann muss auch was da sein.»
«Zu viele Menschen haben echte Krankheiten», hatte der alte Mediziner mit seiner gurgelnd klingenden Stimme gesagt, «da brauche ich nicht auch noch eingebildete.»
Hark wusste nicht, warum er gerade jetzt an seinen Hausarzt dachte. Seit Jahren war der Mann tot, qualvoll gestorben an einem echten, widerlichen Krebs. Als hätte er Hark zeigen wollen, wie man es richtig macht.
Hark schlug seinen Kragen hoch. Er hatte die Promenade erreicht, ohne es zu merken, und war ostwärts gegangen, ohne ostwärts gehen zu wollen. Jetzt lag die winterliche See links von ihm und die Anhöhe, von der aus er früher über die Stadt geblickt hatte, rechts von ihm. Sie war abgesperrt, warum auch immer, und selbst ein Polizeiwagen stand vor der Treppe, die auf die Düne führte. Hark kümmerte sich nicht darum. Er wollte weiter. Zum Sandstrand seiner Kindheit.
In der Ferne lief eine einsame Person am Wasser.
Ein roter Fleck in nebelweißer Januarstimmung.
Als Hark vom Steinboden auf den Sand trat, lächelte er. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er seit Jahrzehnten nichts Sandiges unter den Füßen gespürt hatte. Der Gedanke kam ihm beinahe absurd vor, aber je mehr Hark versuchte, ihn zu widerlegen, desto weiter musste er zurückreisen in seinen Erinnerungen, bis er wieder ein Junge war und sonnengebräunt über ebenjenen Sommerstrand rannte, den er jetzt frierend vor sich sah. Und obwohl ihn die Eiseskälte zittern ließ, zog Hark seine Schuhe und seine Socken aus, damit seine Füße in den klammen Boden einsanken.
«Huh», entfuhr es ihm ein wenig zu laut, gerade dann, als eine Läuferin ihn überholte. Sie lächelte ihn von der Seite aus an, als könne sie das Hochgefühl verstehen, aber Hark glaubte fest daran, dass sie sich über ihn lustig machte.
Bald war sie nichts mehr als ein Schemen.
Hark wanderte ohne Ziel. Erst im tiefen Sand, dann immer näher am Wasser, bis endlich die Gischt seine Füße benetzte und Wellen seine hochgekrempelte Hose durchnässten. Die Fluten trafen seine Haut wie Nadelstiche, aber Hark konnte durchatmen und denken, denn sein Kopf konzentrierte sich auf etwas anderes als die Endlichkeit seines Lebens. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das Meer und die Kälte, und als sich Herforth das nächste Mal umsah, war nichts vor ihm und nichts hinter ihm als Strand.
«Huh», sagte er noch einmal.
Hark wusste, dass hinter den Dünen ein Restaurant liegen musste. Geschlossen, ganz sicherlich, und ewig weit entfernt, denn die Dünen konnte man von der Brandungszone aus nicht einmal erahnen. Kaum etwas konnte Hark erahnen, bis er eine Stunde gelaufen war und sich vor ihm der Sand zu einer scharf gebrochenen Abhangskante erhob. Wenn Hark sich am Wasser hielt, dann würde der Hügelkamm wie eine Wand über ihm aufragen, drohend und schroff und von unbekannter Länge. Würde Hark jedoch die sandige Anhöhe erklimmen, dann könnte er sich hoch oben auf die Kante setzen und die Füße baumeln lassen. Hark war sicher, dass hier im Frühling Hunderte Kinder in die Tiefe sprangen und rutschten und jauchzend herunterrollten. Jetzt lag der Berg menschenleer und massiv im Nebel.
Hark kletterte.
Ein Fehler.
Der Aufstieg im trägen Sand fiel ihm schwer. Schon nach den ersten Schritten wusste Hark, dass er sich überschätzt hatte. Er verabscheute das Gefühl des wild wütend klopfenden Herzens in seiner Brust, und als er sich in den Dreck fallen ließ und robbte, statt zu klettern, war die Leichtigkeit der Wanderung längst der aufwallenden Panik gewichen. Jetzt war der Wind nicht mehr frisch, sondern brutal, und Harks Haut prickelte nicht mehr, sondern brannte. Als er endlich den Kamm des Hügels erklommen hatte, sank er in sich zusammen, elend und geschwächt und ohne jeden Plan für eine Rückkehr.
Hark blickte auf seine Hände.
Adern. Schwielen. Risse.
Alles wurde plötzlich ganz klein. Alles war plötzlich ganz eng. Todesangst entfaltete sich in Hark Herforth wie eine Blüte im Zeitraffer, sein Atem wurde schneller, und noch ehe das Pochen in seinen Ohren zu einem Hämmern geworden war, fühlte Hark die Taubheit. Da war nur noch ein schrilles Piepen. Wieder blickte Hark zum Himmel, aber auch diesen stummen Fluch beantwortete niemand.
Nur Schmerz. Nur Hass.
Das Meer, dachte Hark.
So tief.
Sein Verstand hatte Mühe, aufzuholen, als Hark sich nach vorn drückte und den Abhang hinunterstolperte. Er lief vorwärts, erst langsam, dann entschlossener, immer dem Wasser entgegen. Vielleicht war er schneller, als er gedacht hatte, oder das Meer hatte sich ihm genähert, um ihn zu umarmen, aber als Hark seine Knöchel noch im ersten Schaum wähnte, spürte er die Brandung schon an den Knien, und als er noch von einer Sandbank unter den Füßen überzeugt war, ging ihm das Wasser schon beinahe bis zum Bauch. Er war bereit, ohne zu verstehen, dass er bereit war. Alles schien jetzt ganz logisch. Gleich würde die See ihn verschlingen, was gut und richtig war und keinesfalls gegen die Ordnung der Dinge verstieß, denn bald würde Hark Herforth ohnehin sterben. Als er keuchend tiefer watete und die Wellen eisig gegen seine Brust schlugen, da war es ihm, als würde er eine Frauenstimme hören –
«Hey!» Da brüllte tatsächlich eine Frau, und dann noch einmal und noch einmal. «Hey! Mann!»
Hark blieb stehen.
Mit einem Schlag war es, als hätte jemand nach einer Party das Licht angeschaltet. Frostkalt schnitt das Wasser in seine Haut. Getier an Harks Beinen. Algen dazwischen. Salz in den Augen.
«Hey», brüllte die Frau, näher jetzt, weil sie ins Meer gerannt war. Erst war sie gefallen und dann wieder aufgestanden.
Hark konnte sich kaum aufrecht halten im Sog der Fluten, aber er wuchtete sich durch die reißenden Wassermassen der Frau entgegen, sosehr ihn die Ebbe auch nach draußen aufs offene Meer ziehen wollte. Einen Moment später hätte die See gewonnen. Einen Moment später hätte sie den Boden unter Hark Herforth verschwinden lassen, sodass er in die Schwärze gesunken wäre, aber jetzt, endlich, spürte er Fingerspitzen unter seinen.
«Hand», keuchte die Frau, «festhalten.»
«Kann … nicht mehr.»
«Lass nicht los. Oder wir gehen beide unter.»
Wie sie es zurück zum Strand schafften, wusste Hark nicht. Aber er fand sich im Freien wieder, abseits der Brandung, wo er gemeinsam mit der fremden Frau im Sand zusammenbrach. Er zitterte zu sehr, um zu sprechen. Die Frau schien gefasster, vielleicht war sie ein Kind der Insel, bestimmt voller Adrenalin. Aber auch ihre Stimme brach, als sie ein ramponiertes Handy aus dem Rucksack zog, um Hilfe zu rufen.
Hark legte sich auf den Rücken.
Die Frau legte sich neben ihn. Drückte sich an ihn.
Und deckte sich selbst und ihn zu.
Mit einer leuchtend roten Winterjacke.
Tilla Flock und Hark Herforth hatten sich einander nicht vorgestellt. Irgendwann musste man irgendwie den Namen des anderen erfahren haben, im Rettungswagen vielleicht, oder beim Badearzt, der beiden nichts als eine harmlose Unterkühlung attestierte. Während ihre Kleider auf der Heizung der Praxis trockneten, erzählte Hark, dass er zu tief ins kalte Wasser gegangen und dann gestolpert sei. Der Fehler eines leichtsinnigen Touristen vom Festland. Man lachte, eingehüllt in Decken, aber der Arzt sah Hark von der Seite an, so wie Tilla ihn später von der Seite ansah, als sie gemeinsam vor Harks Hotel standen. Klamm waren ihre Hosen noch immer, genauso wie ihre Schuhe. Hark zitterte in seinem Mantel. Tilla zog die Nase hoch.
«Gestolpert», sagte sie. «Im Flachen.»
«Ja.»
«Und dann ins Tiefe gefallen. Wie von selbst.»
«Der Boden war abschüssig. Sehr. Abschüssig.»
«Hast du Kaffee auf dem Zimmer?», fragte Tilla, als eine Windböe aufkam. «Mir ist kalt.»
«Ich», setzte Hark an, «ich habe nicht aufgeräumt.»
«Meine Eltern wohnen am Ende der Insel. Und mein Rad steht an der Promenade. Ein Kaffee. Dann verschwinde ich.»
«Okay», konnte Hark nur murmeln. Er spürte, wie sich sein Bauch verkrampfte. Unter dem neugierigen Seitenblick der Rezeptionistin führte er Tilla die Hoteltreppe hoch. Der