Mordlichter - Madita Winter - E-Book
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Mordlichter E-Book

Madita Winter

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Beschreibung

Eine Ermittlerin im Polarkreis.

Anelie Andersson hat es an eine Polizeistation im nordschwedischen Polarkreis verschlagen. Hier lebt man fast das ganze Jahr in Eis und Schnee. Als sich eine Frau bei ihr meldet, weil ihr siebzehnjähriger Sohn verschwunden ist, macht Anelie sich an die Arbeit. Bald wird der Junge aufgefunden; er ist – in Felle gehüllt – überfahren worden. Doch offenbar wurde er zuvor irgendwo gefangen gehalten. Je intensiver sie ermittelt, desto mehr sagen Anelie ihre Erfahrung und Intuition, dass es um mehr geht als um einen Unfall. Sie findet heraus, dass in den letzten Jahren mehrere Menschen ebenfalls spurlos verschwanden. Und dann werden zwei deutsche Touristen vermisst ...

Ein spannender Plot – mit einem einzigartigen Schauplatz: der hohe Norden Schwedens.

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Seitenzahl: 428

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Über das Buch

Anelie Andersson hat es der Liebe willen aus Stockholm an eine kleine Polizeistation im nordschwedischen Polarkreis verschlagen. Dafür hat sie ihre Karriere als Leiterin der Mordkommission aufgegeben. Bis auf einen kurzen, intensiven Sommer lebt man hier fast das ganze Jahr in Eis und Schnee, und für wenige Kilometer braucht man oftmals Stunden. Insgeheim wünscht sie sich einen großen Fall – denn ansonsten droht ihrer Station die Schließung.  

Als sich eine Mutter bei ihr meldet, weil ihr siebzehnjähriger Sohn vermisst wird, macht Anelie sich routinemäßig an die Arbeit. Wenig später wird der Junge unter mysteriösen Umständen überfahren aufgefunden. Offenbar wurde er irgendwo gefangen gehalten. Er konnte sich jedoch – kaum bekleidet – befreien und ist dann auf der Flucht tödlich verunglückt.  

Vorher war der Junge auf einer Party, die er jedoch verließ, um sich mit einer unbekannten Person zu treffen? Hatte er eine Freundin? Hatte er sich in ein Verbrechen verstrickt?  

Mit Hilfe ihres Mannes, der sich wie kein zweiter in der Wildnis auskennt, gräbt sich Anelie immer tiefer in den Fall. Sie findet heraus, dass es in den letzten Jahren weitere unaufgeklärte Vermisstenfälle in der Gegend gegeben hat – und alle deuten auf ein ähnliches Muster hin. Dann verschwinden zwei deutsche Touristen.

Über Madita Winter

Hinter Madita Winter verbirgt sich das Autorenpaar Madita und Stefan Winter, das tatsächlich in der Abgeschiedenheit auf einer Halbinsel in der nordschwedischen Wildnis lebt. Die deutsche Journalistin und Autorin ist wegen ihres Mannes vor vier Jahren in die Nähe von Jokkmokk gezogen ist. Dort wurde die Idee geboren, Lappland als Kulisse für einen Kriminalroman zu verwenden. So nutzten die beiden die langen Abende, um „Mordlichter“ zu kreieren und zu schreiben. Gemeinsam arbeiten sie bereits an einem zweiten Fall.  

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Madita Winter

Mordlichter

Kriminalroman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

NACHWORT

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Der arktische Mittwinter ist nicht die Zeit der ewigen Dunkelheit, sondern der magischen Nordlichter, der Aurora Borealis, benannt nach Aurora, der Göttin der Morgenröte, und Boreas, dem Gott des Winters und der Nordwinde.

Viele Mythen wurden um die Nordlichter gewoben. So glaubten die Menschen im hohen Norden, dass die Seelen ihrer Verstorbenen in den Nordlichtern weiterleben und nach ihrem Tod am Himmel tanzen.

1

Er steckt fest bis zum Hals, eingeschnürt wie in eine Zwangsjacke. Wütend schüttelt er sich einem nassen Hund gleich, bis sein Oberkörper frei ist. Sein Schneemobil hat sich in den Tiefschnee eingegraben und ist von diesem komplett einverleibt worden, fast so als wäre es kein Schnee, sondern Treibsand. Von dem riesigen Fahrzeug ist kaum noch etwas zu sehen; sein Fahrer ragt wie ein Mann ohne Unterleib aus dem weißen Teppich hervor. Mit einem Ruck schwingt er sich von seinem Gefährt und sucht nach der Schaufel, die seitlich am Sitz mit einem Gurt befestigt ist. Bis er sie unter den Schneemassen findet, beginnt er schon leicht zu schwitzen.

Schneeschaufeln ist eigentlich keine große Sache, aber unter diesen Umständen hier sieht es völlig anders aus. Der Schnee ist federleicht wegen der trockenen Kälte, was die Arbeit keineswegs leichter macht. Von der Schaufel fliegt der Schnee wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm in alle Richtungen, um langsam wieder herunterzurieseln. Über eine Stunde hat er gebraucht, um zwei Meter hinter seinem Schneemobil und an den Seiten den meisten Schnee beiseitezuräumen. Verschwitzt verstaut er die Schaufel wieder, setzt sich auf seinen Skooter, startet den Motor und fährt ihn vorsichtig zwei Meter zurück.

Mach nur keinen Fehler jetzt, ermahnt er sich selbst. Langsam verlagert er sein Gewicht nach hinten, um sich dann mit Vollgas wie über eine Schanze aus dem Schneeloch herauszukatapultieren. Das Manöver gelingt, doch jeglicher Vortrieb am Schneemobil endet schlagartig nach der Landung, und sein Gefährt versinkt erneut im tiefen Schnee. Er ahnt den Grund.

»Fuck!«, schreit er aus vollem Halse.

Durch die abrupte Beschleunigung muss der Zahnriemen der Raupe gerissen sein, eine lästige Panne, die vorkommen kann. Ausgerechnet jetzt, denkt er beunruhigt. Er flucht leise weiter darüber, dass er sich selbst in diese verzwickte Situation gebracht und keinen Ersatzzahnriemen dabeihat, wie es eigentlich üblich ist. Ein Wegkommen mit dem Schneemobil ist nun unmöglich.

Ich habe mich ziemlich in die Scheiße geritten mit dieser verdammten Abkürzung, ärgert er sich über seine eigene Dummheit. Ohne fremde Hilfe wird er hier nicht mehr herauskommen. Er fischt sein Mobiltelefon aus der Innentasche seiner Jacke und tippt mit klammen Fingern eine kurze Nachricht: Stecke mit Schneemobil fest. Weiß nicht, bis wann ich da sein kann. Melde mich asap.

Schnell packt er das Telefon wieder weg. Allein diese kurze Nachricht in der Kälte hat ihm zwanzig Prozent seines Akkus weggefressen. Er muss sehr vorsichtig sein, er braucht es noch, um im schlimmsten Fall Hilfe zu holen.

Er wirft einen prüfenden Blick zum Himmel. In der Ferne sieht er die weißgraue Front, die bedenklich schnell näher kommt. Dieses Wolkenphänomen kennt er gut genug, um zu wissen, dass sich da etwas ganz Übles zusammenbraut. Der Wetterbericht hat zwar einen Schneesturm vorhergesagt, aber eigentlich erst für den kommenden Tag. Nur hält sich der Polarkreis leider nicht an derartige Vorhersagen, er hat seine eigenen Regeln in puncto Wetter, die keiner wirklich durchschaut. Hier oben wirken andere gewaltige Kräfte, und jetzt befindet er sich schlagartig in einer lebensbedrohlichen Situation.

Er muss schleunigst weg, sonst ist er in der Wildnis verloren. Aber zu den anderen kann er nicht zurück. Der Weg ist viel zu weit, und wie sollte er das alles auch erklären? Suchend schaut er sich um. Er weiß, dass es hier irgendwo einen Unterschlupf oder eine Schutzhütte gibt, er muss diesen Ort nur finden. Er weiß aber auch, dass er zehn Kilometer in jede Richtung gehen könnte, ohne auf jemanden in dieser Wildnis zu treffen. Für einen Kilometer braucht man hier zu Fuß unter diesen Bedingungen abseits der Wege durch den tiefen Schnee locker eine Stunde. Er darf jetzt keine weiteren Fehler mehr machen.

Die beste Option, die ihm bleibt, ist, auf seiner eigenen Spur so schnell wie möglich, solange es noch hell ist, zurück zu dem Winterweg zu finden, den er für eine vermeintliche Abkürzung verlassen hat. Zum Glück hat er die Schneeschuhe mitgenommen. Sie sind auf dem Gepäckträger des Schneemobils befestigt. Er legt die Schneeschuhe auf den freigeschaufelten Boden, schlüpft hinein, zieht die Handschuhe aus und zurrt die Riemen fest, während er darauf achtet, mit der blanken Haut kein Metall zu berühren. Seine Haut würde sofort daran kleben bleiben, was unangenehme Verletzungen zur Folge hätte. Schnell zieht er die Handschuhe wieder an und packt seine Stirnlampe ein; ohne sie ist er in der Dunkelheit verloren. Hoffentlich reicht die Batterie noch, denkt er mit einem flauen Gefühl im Bauch und stapft los.

Ohne die großen ovalen Teller unter seinen Füßen würde er bis über beide Knie trotz seiner eigenen Schneemobilspur im Schnee versinken. Ein Zusammenpressen des Schnees durch ein einziges Darüberfahren mit dem Schneemobil erzeugt noch keinen festen Untergrund, ist aber hundertmal angenehmer als abseits im wirklich tiefen Schnee. So kommt er wenigstens einigermaßen voran, wenngleich ihn sein Tempo an Zeitlupe erinnert. Er arbeitet sich auf seiner eigenen Spur quälend langsam zum Winterweg zurück. Trotz der Kälte schwitzt er stark. Da er nicht mit einem schweißtreibenden Fußmarsch gerechnet hat, trägt er nicht das bewährte Zwiebelprinzip. Wenn er nun stehen bleibt, wird er durch die feuchte Unterkleidung zu frieren beginnen, ein Teufelskreis. Deswegen darf er keine Pause einlegen, er muss ohne Unterlass weitergehen.

Während er sich Schritt für Schritt durch den Wald kämpft, ärgert er sich über sich selbst. Warum ist er nur auf diese Schnapsidee gekommen, den vorgespurten Winterweg zu verlassen, um querfeldein zu fahren und eine Abkürzung zu nehmen? Wegen dieser unüberlegten Entscheidung steckt er jetzt in diesem Schlamassel und liegt nicht in ihren Armen, wie eigentlich geplant. Er weiß nicht, worüber er sich mehr ärgert, über diese fatale Fehlentscheidung oder über das verpasste Rendezvous. Die Wut hat einen Vorteil, sie lenkt ihn ab von der Angst, die unaufhörlich in ihm aufsteigt.

Äste peitschen ihm ins Gesicht, Schnee fällt von den überladenen Ästen auf ihn herunter, sein Puls hämmert in seinem Hals. Er hat das Gefühl, dass seine Ader unter dem Druck platzen müsste. Er stolpert, stürzt, taucht unter im tiefen Schnee. Mühsam rappelt er sich wieder auf, schüttelt den Schnee ab und setzt seinen Weg fort. Er weiß, wenn er jetzt nachlässt oder hier zurückbleibt, ist er in ernster Gefahr. Er hat nicht vor, zur Eismumie zu erstarren.

Zweieinhalb Stunden später erreicht er den vorgespurten Winterweg. Die Musher, die Schlittenhundeführer, spuren diese Wege mit ihren Schneemobilen mit Beginn jedes Winters, indem sie mehrfach darüber fahren, den Schnee verdichten und so ihren Hunden einen idealen Laufuntergrund für ihre langen Schlittentouren verschaffen.

Die Dunkelheit bricht herein, obwohl es erst früher Nachmittag ist. Der Schnee schenkt ihm noch für einige Zeit eine milchige Helligkeit. Er hat jedoch gerade gar keine Augen für die Schönheit dieser winterlichen Zauberwelt, die ihn so schmeichelnd umgibt. Er nimmt das Glitzern der Eiskristalle nicht wahr, die wie silberne Weihnachtskugeln an den Bäumen hängen. Er sieht nicht die bizarr verformten Kiefern, die Schnee und Eis in futuristische Skulpturen verwandelt haben. Er übersieht den puderweichen Schneeteppich, der sich zwischen die Bäume wie eine weiße Düne gelegt hat und deren Stämme sanft hüllt. Er kennt diesen Anblick nicht nur zur Genüge, er ist auch viel zu erschöpft, durchgefroren, durstig und hungrig, als dass er auch nur einen Blick an diese magische Winterwelt verschenken könnte.

Unbeirrt setzt er einen Fuß vor den anderen, er muss einfach nur weitergehen in Richtung Straße. Suchend lässt er seinen Blick schweifen. Plötzlich entdeckt er etwas in der Ferne, es sieht aus wie ein Licht, das zwischen den Bäumen hervorschimmert. Er reibt sich die Augen und starrt erneut in diese Richtung. Er war hier schon in dieser Gegend unterwegs gewesen, kann sich aber nicht erinnern, eine Hütte gesehen zu haben. Kein Zweifel, dort gibt es Licht, was auf Menschen schließen lässt. Ein Seufzer der Erleichterung entweicht seiner trockenen Kehle. Jetzt ist er sicher, er muss es nur noch bis dorthin schaffen.

Für einen Moment glaubt er, einen Schatten zwischen den Bäumen gesehen zu haben. Ich sehe schon Gespenster. Wahrscheinlich nur ein Tier, redet er sich Mut zu. Der Wald ist immer voller Leben, bei Tag und bei Nacht. Er spürt das Klopfen seines Herzens, hört seinen rasselnden Atem. Das Licht, das ist sein Ziel, alles andere hat keine Bedeutung. Zielstrebig läuft er darauf zu und bemerkt nicht die Gestalt, die ihn seit einiger Zeit heimlich beobachtet wie ein lauerndes Tier.

2

Die Espressomaschine faucht wie ein kleiner silberner Drache. Während ich damit beschäftigt bin, diesem dampfenden Ding einen kohlrabenschwarzen Espresso mit einer wunderbaren Crema abzuringen, schlurft Daniel in die Küche. Ich drehe mich um, sein stahlblauer Blick trifft mich wie ein Blitz. Ich spüre augenblicklich dieses warme Kribbeln in meinem Bauch. Eine angenehme Ruhe breitet sich in mir aus, als ich ihn so verschlafen in der Küche stehen sehe. Mein Blick folgt ihm. Daniel lässt sich schwer auf einen Stuhl am Küchentisch fallen und gähnt herzhaft. Er ist gestern Abend erst sehr spät aus Kiruna zurückgekommen und noch müde von einer anstrengenden Arbeitswoche, die hinter ihm liegt.

Ich gebe ihm meine Tasse mit dem duftenden Espresso. »Ein Doppelter, der weckt Tote«, locke ich ihn.

»Danke, du rettest damit mein Leben.« Genussvoll leert er die Tasse in einem Zug. »Kann ich noch einen haben? Und einen Kuss?«

Ich wende mich der Espressomaschine zu und wiederhole die gleiche Prozedur, die ich blind und im Schlaf beherrsche. Ich reiche ihm seine zweite Tasse, küsse ihn und setze mich zu ihm an den Küchentisch.

»Übrigens hast du im Schlaf geredet und laut gelacht.«

»Echt?« Er schiebt die Unterlippe vor und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Kann mich überhaupt nicht erinnern, was ich geträumt habe.«

»Ich bin davon aufgewacht«, seufze ich. »Und dann habe ich ewig gebraucht, um wieder einzuschlafen.«

»Tut mir leid.«

»Deinen Schlaf möchte ich haben. Dich könnte man nachts wegtragen, du würdest es nicht merken.«

Darum beneide ich ihn. Mein Job hat mir schon vor vielen Jahren Schlafstörungen beschert, mit denen ich mich bis heute herumschlage. Häufig liege ich nachts wach und versuche, meinen Kopf auszuschalten, der ratternd wie ein lautes Getriebe einen Gedanken nach dem anderen ausspuckt. Nicht immer gelingt es mir. Dann brauche ich mehrere Espressi am nächsten Morgen, um in Gang zu kommen. Jetzt schlürfe ich das schwarze Gebräu, genieße für den Augenblick mit geschlossenen Augen den wunderbaren Geschmack und Geruch. Dann stelle ich die Tasse in die Spülmaschine.

»Ich muss los.« Ich küsse Daniel auf die Nasenspitze und will gehen.

Er hält mich zurück und zieht mich auf seinen Schoß. »Wollen wir zusammen mittagessen? Danach fahre ich zum Flughafen und hole Liv ab.«

»Wieso nimmt sie sich denn keinen Leihwagen wie sonst?«

»Sie musste ihren Führerschein für einen Monat abgeben, weil sie zu schnell gefahren ist.«

»Na so was.« Ich kuschle mich an ihn. »Wie lange will deine Schwester diesmal bleiben?«

»Wer weiß das schon«, sagt Daniel. »Also mittagessen?«

Ich löse mich von ihm und stehe auf. »Um eins im Restaurants des Museums.«

»Ich werde da sein.« Er lächelt. »Du auch?«

Im Job vergesse ich nie etwas. Warum nur?, denke ich ertappt. Ich ignoriere seine schnippische Bemerkung, die auf meine Vergesslichkeit und Unpünktlichkeit bei privaten Verabredungen abzielt.

Dann wappne ich mich für die arktische Kälte, die mich draußen erwartet. Über meiner Uniform, die ich hier leider tragen muss, ziehe ich eine wattierte Hose und schlüpfe in den Daunenanorak. Dann folgt ein Overall und zu guter Letzt die gefütterten Winterstiefel, Mütze, Schal, Handschuhe. Dieses Ritual, das sich mehrmals am Tag während der langen Wintermonate wiederholen wird, ist mir so selbstverständlich geworden wie das tägliche Zähneputzen. In diesem Outfit fühle ich mich warm eingepackt, jetzt kann nichts mehr schiefgehen.

»Ich nehme den Volvo, dann kannst du mit dem Jeep zum Flughafen fahren.« Ich winke Daniel zum Abschied. »Bis später, mein Schatz.« Ich schnappe mir meinen Helm, der im Flur auf dem Boden neben dem Schuhregal liegt, öffne die Tür und trete nach draußen.

Die Kälte trifft mich wie ein hinterhältiger Faustschlag. Ich schnappe nach Luft, die sofort auf meinen Schleimhäuten brennt. Das Thermometer, das draußen neben der Tür an der Wand hängt, zeigt minus 31 Grad Celsius. Noch ist es dunkel, Sterne funkeln am Himmel, es verspricht ein sonniger Tag zu werden, sobald die Sonne gegen halb zehn Uhr am Horizont auftauchen wird.

Ich schwinge mich auf mein Schneemobil und drücke den Startknopf. Mein Lynx Commander springt augenblicklich an, obwohl er die Nacht im Freien bei eisigsten Temperaturen gestanden hat. Dieses Gefährt ist genügsam und verlässlich, denke ich zufrieden und klopfe anerkennend mit einer Hand auf den Lenker, während ich bei laufendem Motor darauf warte, dass die Armaturenanzeige mir ein warm up finished anzeigt. Ich schiebe den Schal über die Nase, setze den Helm auf, und als das Cockpit mir grünes Licht gibt, gebe ich Gas und fahre los. Ich liebe diese Fahrten auf dem Schneemobil. Ich spüre den eisigen Fahrtwind, aber er macht mir schon lange nichts mehr aus.

Ich gleite von unserer Halbinsel, auf der unser großes Blockhaus, das Gästehaus sowie mehrere Nebengebäude stehen, hinunter ans Ufer, weiter über den zugefrorenen See und fliege auf der bereits vor Monaten von uns vorbereiteten Spur übers Eis, auch wenn diese jetzt kaum noch zu sehen ist. Im Sommer fahren wir mit dem Auto über einen langen Feldweg zu unserem Haus, aber im Winter, wenn die Seen zugefroren sind, ist das der direktere und bessere Weg auf die Halbinsel. Der letzte Schneesturm, der Samstagnacht unsere Region getroffen hat, hat neue Schneemassen aufgetürmt und unsere Bemühungen, Wege freizuräumen und anzulegen, mit einem Schlag weggefegt. Diese Sisyphusarbeit gehört hier zum jahreszeitlichen Spiel.

Die Winterkälte hat das ganze Land im Griff. Der erstarrte See mutet wie eine Mondlandschaft an und ich wie der dazugehörige Astronaut auf seinem Raumfahrzeug für einen Außeneinsatz. Nur die dunklen Baumstämme sorgen für einen Kontrast in dieser bizarr schönen Winterlandschaft, die unter einem weichen Schneeteppich versunken liegt. Trotz all ihrer Tücken liebe ich diese Jahreszeit. Sie verwandelt den arktischen Norden vollends in einen magischen Ort. In Lappland gibt es nicht vier, sondern acht Jahreszeiten, der eigentliche Winter ist die längste und dauert von Dezember bis März, in meinen Augen ist es die schönste Phase hier oben.

Nach wenigen Minuten Fahrt erreiche ich das andere Ufer, wo der Volvo parkt. Er hängt an einem Stromkabel, das aus einem Stromkasten auf unserem Parkplatz kommt. Dieses Kabel ist mit dem Ölkreislauf des Motorblocks verbunden und heizt über eine Art Tauchsieder alles vor, damit der Motor bei dieser extremen Kälte gewärmt wird und leichter starten kann.

Ich parke das Schneemobil neben dem Volvo und ziehe den Schlüssel ab. Dann befreie ich die Windschutzscheibe und die Heckscheibe von den Schutzüberzügen und lege sie in den Kofferraum. Ich schäle mich aus dem Overall und werfe ihn zusammen mit dem Helm auf die Rückbank. Auch der Volvo springt ohne Murren an, obwohl er die ganze Nacht draußen gestanden hat und die Temperaturen zwischendurch sicher auf minus 40 Grad gesunken waren. Hier muss einfach alles funktionieren, sonst bist du verloren. Damit alles funktioniert, investiert Daniel sehr viel Zeit und Geld in unser Equipment und unseren Gerätepark. Das nächste Haus liegt zwei Kilometer weit entfernt, das nächste Dorf namens Randijaur acht Kilometer.

Langsam fahre ich von unserem Parkplatz auf die Hauptstraße. Links und rechts der Fahrbahn türmen sich die Schneemassen als weiße Dünen auf, die die Räumfahrzeuge im Lauf des Winters regelmäßig an den Rand geschoben haben. Ich konzentriere mich auf die Fahrt, denn Rentiere oder Elche springen häufig unvermittelt aus dem angrenzenden Wald auf die Fahrbahn oder stehen bereits auf der Straße. Bei diesem diffusen Licht sind die Tiere sehr schlecht zu sehen, vor allem Rentiere mit hellem Fell, die keinerlei Anstalten machen, die Straße zu räumen. So niedlich diese Tiere aussehen, so dumm sind sie leider auch. Sie wollen einfach nicht lernen, welche Gefahren auf der Straße lauern, was sie nur allzu oft mit ihrem Leben bezahlen.

In der Ferne entdecke ich ein Schneeräumfahrzeug, das ich bald eingeholt haben werde. Na prima, denke ich, das wird heute mal wieder ewig dauern, wenn ich im Schritttempo hinter dem Ungetüm bis ins vierzig Kilometer entfernte Jokkmokk her zockeln muss, wo sich die einzige Polizeistation in einem Umkreis von 120 Kilometern befindet.

Ich lehne den Kopf gegen die Kopfstütze und versuche, die Fahrt zu genießen. Eigentlich ist es egal, ob ich eine halbe Stunde früher oder später dort ankomme. Außer ein bisschen Papierkram gibt es derzeit nichts zu tun. Der jährliche Wintermarkt, der immer am ersten Februarwochenende stattfindet, wird mir mehr polizeiliche Arbeit bescheren, wegen der vielen Touristen, genauso wie das spektakuläre Red Bull Nordenskiöldsloppet Ende März. Aber noch ist in Jokkmokk nichts von dem bevorstehenden Trubel zu spüren.

Das Dreitausend-Seelen-Örtchen liegt in der Mitte der nordschwedischen Provinz Norrbotten im Polarkreis und gilt als das Zentrum der Samen, der schwedischen Urbevölkerung, die hier im Norden noch immer der Rentierzucht nachgeht. Der jährlich stattfindende Wintermarkt, den es seit über 400 Jahren gibt, ist ein typischer Sami-Markt, auf dem die Rentierzüchter Messer, Felle, Trockenfleisch, Trachten und sonstige Produkte anbieten und der Jahr für Jahr Tausende von Touristen aus aller Welt anlockt. Wer nicht schon im Vorjahr ein Quartier reserviert hat, steht auf verlorenem Posten. Jedes freie Bett ist für die Zeit des Wintermarkts belegt, ob in den wenigen Hotels oder den privaten Unterkünften. Aber bis dahin ist noch Zeit, und es herrscht die gemütliche Ruhe vor dem bevorstehenden Ansturm.

Da ich keinen Zeitdruck habe, verzichte ich auf den waghalsigen Versuch, das große Schneeräumfahrzeug vor mir zu überholen, und zockle geduldig hinter dem monströsen Gefährt her. Ich suche im Radio nach einem Sender, entscheide mich dann anders und schalte das Radio aus, um meinen Gedanken nachzuhängen.

Etwas bereitet mir seit einiger Zeit ziemliche Sorgen und kostet mich Schlaf, weil ich nachts darüber nachdenke und keine Lösung finde. Wegen der wenigen Vergehen in der Gegend hier oben hat das Polizeipräsidium in Lulea bereits konkrete Überlegungen angestellt, die kleine Polizeistation in Jokkmokk aufzugeben. Ich müsste dann in Lulea arbeiten, was eine Katastrophe für mich wäre.

Der tägliche Weg nach Jokkmokk ist nicht ohne Tücken, vor allem im Winter. Aber wie alle Nordschweden bin ich inzwischen längst daran gewöhnt, lange Strecken unter widrigsten Bedingungen zurückzulegen. Hier gibt es die sogenannten nordschwedischen Meilen, eine Meile gleich zehn Kilometer. Am Anfang hatte es bei mir für Verwirrung gesorgt, wenn Daniel mir sagte, unser Ziel sei sechs Meilen entfernt und wir 60 Kilometer weit fahren mussten.

Für die rund 40 Kilometer von zu Hause in die Polizeistation brauche ich zwischen 30 und 50 Minuten je nach Wetterlage und Jahreszeit. Die Fahrt nach Lulea würde mich jedoch einfach zweieinhalb bis drei Stunden Autofahrt kosten, zu weit, um dorthin täglich zur Arbeit hin- und am selben Tag wieder zurückzufahren. Dann müsste ich mir ein Zimmer in Lulea nehmen und könnte nur noch an den freien Tagen oder am Wochenenden nach Hause fahren. Vor dieser Vorstellung graut es mir.

Daniel arbeitet als leitender Ingenieur in einer Mine im 230 Kilometer entfernten Kiruna. Dort bleibt er eine ganze Woche, sieben Tage am Stück, um im Anschluss die nächsten sieben Tage freizuhaben. So sieht die normale Arbeitswoche in einer Mine aus. Müsste ich in Lulea arbeiten und er in Kiruna, würde das lange Trennungsphasen nach sich ziehen. Undenkbar ein solches Leben. Ich bin nicht von Stockholm hierhergezogen, um eine Fernbeziehung zu führen. Wie ich es auch drehe und wende, Lulea ist nicht machbar für mich. Hoffentlich überlegen die es sich noch einmal, denke ich unglücklich, denn sonst wäre ich bald meinen Job los. Ich habe nichts anderes gelernt. Was sonst sollte ich im Polarkreis tun?

Daniel ist der Grund, warum ich vor drei Jahren von Stockholm nach Lappland gezogen bin. Ich habe damals meine Position als leitende Kriminalkommissarin gegen die Leitung einer kleinen, unbedeutenden Polizeidienststelle getauscht und damit das turbulente Leben in einer modernen Metropole gegen die Abgeschiedenheit in der rauen Wildnis. Alles der Liebe wegen. Ich habe es nie bereut. Es war meine freie Entscheidung, und ich habe die richtige Wahl getroffen, auch wenn das viele anders sehen mögen. So beschaulich die Arbeit hier in dieser kleinen Polizeistation ist, so wichtig ist sie mir. Ich bin gerne Polizistin. Nur dass ich hier eine Uniform tragen muss, nervt mich. Aber das ist mein kleinstes Problem.

Wenn ich meinen Job behalten will, würde ein echter Fall, zum Beispiel ein Mord, auf einen Schlag alles verändern. Dann würden die in Lulea verstehen, wie wichtig dieser abgelegene Außerposten ist, und eine Schließung wäre wahrscheinlich vom Tisch. Eine Mordermittlung, das wär’s, denke ich und ahne nicht, wie schnell mein Wunsch in Erfüllung gehen soll.

3

Auf meinem Schreibtisch liegt eine Vermisstenanzeige. Im Stehen überfliege ich die Meldung. Ein Siebzehnjähriger aus Mattisudden wird seit heute Morgen vermisst. Die Mutter hat bei unserem zentralen Notruf angerufen, und dieser hat es nach Lulea weitergeleitet.

Von dort ging die Anzeige per E-Mail an uns. Ich lege die Meldung aus der Hand, um mich aus meiner Winterhaut zu schälen. Hier drinnen herrscht eine Bullenhitze; meine Kleidung ist für das genaue Gegenteil ausgelegt. Meine Daunenjacke und meine Schuhe entwickeln bei derartigen Plusgraden die Qualitäten eines Backofens.

Ich schäle mich aus meiner warmen Hülle, bis ich in meiner ungeliebten Uniform dastehe, und werfe alles auf einen Stuhl, der an meinem kleinen Besprechungstisch in der Ecke steht. In meinem spartanisch eingerichteten Büro gibt es zwar ein paar Kleiderhaken, aber ich habe jetzt keine Lust, alles ordentlich aufzuhängen. Ich erwarte keinen Besuch. Deswegen ziehe ich auch die Uniformjacke aus, unter der ich ein T-Shirt trage. So fühle ich mich schon besser.

Dann gehe ich nach nebenan. Arne, mein älterer Kollege, steht wie gewohnt in seinem Büro am Fenster in einer Wolke aus Zigarettenqualm und starrt hinaus in die Dunkelheit. Er dreht sich nicht um, als er mich eintreten hört. Ich schiebe mich an ihm vorbei und reiße das Fenster auf. Sofort schlägt er es wieder zu.

»Hey, willst du mich umbringen?«, raunzt er mürrisch. »Hast du schon mal aufs Thermometer geschaut?«

»Frische Luft hat noch niemandem geschadet. Dieser Qualm hier drinnen ist ja nicht auszuhalten.«

In der spiegelnden Fensterscheibe sehe ich, dass meine Wangen gerötet sind von der Kälte oder der Hitze. Gegen mich wirkt Arne weiß wie der Schnee vor dem Fenster. Ich unternehme einen zweiten Versuch, das Fenster zu öffnen, um durchzulüften, aber Arne hält mich davon ab.

»Ich muss nicht auch noch krank werden.«

»Dann erstickst du lieber, oder?«

»Wir sind nicht verheiratet, schon vergessen«, schimpft er.

»Zum Glück«, knalle ich ihm an den Kopf.

»Bald bist du mich eh los«, raunzt er.

Ich beiße mir auf die Zunge und verdränge den Gedanken daran, dass Arne in einigen Monaten in Pension gehen wird. Wir streiten wie ein altes Ehepaar jeden Morgen frotzelnd. Ich kenne Arne inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er ein notorischer Morgenmuffel ist. Deswegen lässt mich seine schlechte Laune am Morgen eigentlich kalt, ich verspüre nur eine diebische Freude, ihn gelegentlich zu ärgern. Auch wenn er mich morgens bisweilen nervt, kann ich gut damit leben. Denn spätestens in einer Stunde ist er wie ausgewechselt. Sein Humor, der dann die Überhand gewinnt, ist unschlagbar.

Arne deutet auf die Mappe in meiner Hand. »Hast du die Meldung schon gelesen?«

»Was ist davon zu halten?«

»Was schon?« Er winkt ab. »Wie immer wird auch dieser Kerl wieder auftauchen, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hat. Und falls er im Freien rumliegt, ist er höchstwahrscheinlich längst erfroren.« Er grinst schief.

»Das wollen wir mal nicht hoffen. Ich werde mich trotzdem sofort darum kümmern.«

»Brauchst du mich?«, will er wissen.

Diesmal winke ich ab. Er ist noch zu schlecht gelaunt.

Arne zündet sich eine neue Zigarette an, während er die andere im Aschenbecher ausdrückt. »Umso besser. Ich muss nachher zum Sami-Treffen wegen des bevorstehenden Wintermarktes.«

»Ernährst du dich eigentlich davon?«, frage ich stichelnd mit Blick auf die Kippe.

Er rollt mit den Augen. Bevor er noch etwas sagen kann, suche ich das Weite. Ich verziehe mich in mein rauchfreies Büro und vertiefe mich in die Meldung aus Lulea. Tyra Berg hat ihren Sohn Stellan als vermisst gemeldet. Er wollte übers Wochenende mit Freunden in die Berge fahren und war von diesem Trip nicht zurückgekommen. Die Mutter hat es erst am heutigen Montagmorgen bemerkt, als sie ihren Sohn für die Schule wecken wollte. Da sein Handy ausgeschaltet ist, konnte sie ihn nicht erreichen. Ich telefoniere kurz mit ihr und kündige mein Kommen an. Was wir zu besprechen haben, lässt sich besser Auge in Auge klären als durchs Telefon. Dann breche ich auf.

Mattisudden liegt neun Kilometer östlich von Jokkmokk entfernt. Nach einer kurzen Autofahrt erreiche ich das Haus. Die Frau, die mir die Tür öffnet, hat dunkle Ränder unter den Augen, in denen sich pure Angst spiegelt. Ich stelle mich vor und zücke meinen Dienstausweis. Tyra Berg nickt unmerklich, tritt zur Seite und lässt mich herein. Tropische Hitze schlägt mir entgegen.

In Rekordtempo schlüpfe ich aus meinen warmen Sachen und aus meinen Stiefeln, wie hier vorausgesetzt wird. Dann folge ich der Frau ins Haus bis in die Wohnküche, wo Tyra mir mit einer Handbewegung andeutet, dass ich auf der Eckbank Platz nehmen soll.

»Seit wann genau vermisst du deinen Sohn?«, frage ich sie. Wie in Schweden üblich, duze ich sie und spreche sie mit dem Vornamen an.

»Ich habe es erst heute Morgen gemerkt.«

Ich sehe, dass sie sich dafür schämt.

»Was hatte Stellan denn vor?«

Tyra schenkt zwei Tassen Kaffee ein. »Er war übers Wochenende mit seinen Freunden aus der Schule unterwegs. Sie sind am Samstagmorgen aufgebrochen und wollten zu einem Blockhaus in den Bergen. Gestern Abend wollte er zurück sein. Da mein Mann und ich auf einen Geburtstag eingeladen waren, haben wir nicht gemerkt, dass er nicht zurückgekommen ist. Erst heute Morgen ist es mir aufgefallen. Sein Bett war unbenutzt, sein Schneemobil ist auch nicht da. Ich habe seine Freunde angerufen …« Sie bricht ab und kämpft mit den Tränen.

»Was sagen seine Freunde dazu?«

Tyra fängt sich wieder. »Sie verstehen es nicht. Sie haben mir erzählt, dass Stellan das ganze Wochenende bei ihnen gewesen sei«, sagt sie mit leiser Stimme, »und dann alleine zurückgefahren sei.«

»Was ist mit seinem Handy?«

»Da läuft nur die Mailbox.«

Tyra kann nun die Tränen nicht mehr aufhalten, aber ich kann ihr keine große Verschnaufpause gönnen. Sie darf weinen, wenn ich fort bin, jetzt brauche ich so viele Informationen wie möglich.

»Kannst du mir Stellans Telefonnummer aufschreiben?«, bitte ich sie. »Und hast du ein aktuelles Foto von ihm?«

Tyra putzt sich die Nase, öffnet ihre Handtasche, zieht ein Foto von Stellan heraus und gibt es mir.

Wow, was für ein attraktiver Bursche!, denke ich. Stellan hat lange blonde Haare, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat. Nur die Schläfen sind ausrasiert. Ein hübscher Wikinger. Ich drehe das Foto um und notiere Stellans Handynummer auf die Rückseite, die Tyra mir diktiert.

»Ich werde sofort eine Ortung von Stellans Telefon beantragen, um festzustellen, wann und wo es das letzte Mal eingeschaltet war und mit wem Stellan zuletzt telefoniert hat«, informiere ich sie. »Ist das schon öfter vorgekommen?«

Tyra schaut mich ratlos an.

»Ich meine, hat Stellan zum Beispiel schon einmal etwas anderes gemacht, als er dir erzählt hat? Ist er früher mal von zu Hause weggelaufen? Wie ist denn eure Beziehung?«, bombardiere ich sie mit meinen Fragen.

Sie schüttelt heftig den Kopf. »Nein, nie. Er lügt mich nicht an. Stellan hat alle Freiheiten, er muss nichts heimlich tun.«

»Hat er eine Freundin? Oder äh … einen Freund?«, korrigiere ich mich.

»Stellan ist nicht schwul«, antwortet Tyra entrüstet. »Im Gegenteil, die Mädchen stellen ihm nach.«

Das wundert mich nicht. »Tyra, das beantwortet aber nicht meine Frage.«

»Nein, er hat im Moment keine feste Freundin.«

Ich kann spüren, dass sie lügt oder zumindest nicht die ganze Wahrheit sagt. Lügner können ihre Mimik nicht komplett kontrollieren. Dieses leichte Zucken um die Augen ist ein verräterisches Indiz.

»Stellan ist sehr attraktiv«, hake ich nach. »Das kann ich gar nicht glauben, dass er zurzeit keine Freunde hat. Oder hat er es dir nur nicht erzählt?«

Sie schweigt.

»Tyra?«

»Emil, mein Mann …«, hebt sie stockend an, »er will nicht, dass Stellan jetzt schon was Festes hat. Er soll nach der Schule studieren, und dazu muss er weg von hier.«

»Hat er nie eine Freundin mit nach Hause gebracht?«

»Doch schon.« Tyra rückt zögerlich mit der Wahrheit heraus.

»Aber nur wenn dein Mann nicht zu Hause war?«

»Ja.«

»Darf ich Stellans Zimmer sehen?«, frage ich.

Tyra nickt und geht voraus. Die Schlafzimmer befinden sich im oberen Stockwerk. Alle Türen stehen offen.

Ich werfe einen schnellen Blick in die Räume. »Hat Stellan Geschwister?«

»Ja, Greta und Leo. Die Zwillinge sind zehn Jahre alt. Ich bin das zweite Mal verheiratet. Stellan stammt aus meiner ersten Ehe. Deswegen trägt er auch den Nachnamen seines leiblichen Vaters. Hier ist sein Zimmer.« Tyra bleibt an der Tür stehen und lässt mich eintreten.

»Darf ich?«, frage ich und deute auf den Kleiderschrank. Tyra nickt, und ich öffne den Schrank.

Darin befinden sich die für einen Teenager typischen Kleidungsstücke, ein paar Jeans, Hemden, Hoodies, T-Shirts. Ich schließe die Schranktüren und widme mich dem Schreibtisch. Hier steht ein Laptop, daneben liegen ein paar Mappen, Bücher, Krimskrams.

»Was hat Stellan denn für seinen Ausflug mitgenommen?«

»Seinen Schlafsack, Schneeschuhe, Sachen zum Wechseln, etwas zu essen und zu trinken, was man halt für einen solchen Trip braucht.«

»Mmh … den Laptop … den würde ich gerne mitnehmen. Vielleicht finden wir ja ein paar Mails, die uns mehr verraten.«

Tyra nickt. Sie wirkt wie in Trance und würde vermutlich zu allem »Ja« und »Amen« sagen, was ihr Stellan zurückbringt.

»Wie heißt Stellans Vater?«, frage ich weiter.

»Oscar Lund. Er ist Däne und lebt in Kopenhagen.«

Ich horche auf. »Könnte Stellan zu seinem Vater gefahren sein?«

Tyra schüttelt den Kopf. »Ich habe Oscar schon angerufen. Dort ist er nicht.«

Ich packe den Laptop unter den Arm und gehe hinaus. Tyra begleitet mich nach unten zur Haustür, die in diesem Moment aufgeht. Ein Mann tritt ein.

»Das ist Anelie, die Polizistin unserer Polizeistation. Wegen Stellan«, sagt Tyra zu ihm und dann an mich gerichtet: »Das ist Emil, mein Mann.«

Schon aus professioneller Gewohnheit mustere ich ihn von Kopf bis Fuß. Der Mann ist untersetzt, sehr muskulös, mit einem markanten Gesicht. Die Nase ist platt und breit, vermutlich mehrfach gebrochen. Vielleicht hat er früher einmal geboxt.

»Hey, Emil«, begrüße ich ihn. Ich verzichte darauf, ihm meine Hand zu geben; wer weiß, ob er sie mit einem Schraubstockgriff zerquetscht.

»Weißt du schon etwas von Stellan?«, fragt er.

»Leider nein«, antworte ich ehrlich. »Welche Schule besucht er?«

»Das Gymnasium in Jokkmokk«, antwortete Emil.

»Dann fahre ich jetzt dorthin und höre mich um.« Ich gebe Tyra meine Visitenkarte. »Und falls Stellan sich melden sollte oder auftaucht, ruft mich bitte sofort an.«

»Das werden wir«, ruft mir Emil hinterher.

Auf der Fahrt nach Jokkmokk lasse ich die letzten Minuten Revue passieren. Tyra hat Geheimnisse vor ihrem Mann, Stellans Stiefvater, und sie macht sich sehr große Sorgen um ihren Sohn. Den Instinkt einer Mutter sollte man nie unterschätzen. Mich überkommt ein komisches Gefühl, das ich lange nicht mehr gespürt habe. Irgendetwas sagt mir, dass mein schändlicher Wunsch von heute Morgen auf dem besten Weg ist, in Erfüllung zu gehen. Ich fühle mich schrecklich. Ob ich mich eines Verbrechens schuldig gemacht habe mit meinem egoistischen Wunsch?

4

Quälend langsam kommt er zu sich und richtet sich mit einem Stöhnen auf. Sein Kopf dröhnt, wie er es noch nie erlebt hat. An der Rückseite seines Kopfes kann er mit seinen Händen eine große Beule ertasten. Verdammt, denkt er verstört und wütend, was ist denn hier los? Er schlägt die Augen auf, es ist stockdunkel, und er ist blind wie ein Maulwurf. Seine Hände greifen trotz ausgestreckter Arme ins Leere. Das Einzige, was er mit seinen steif gefrorenen Fingern ertasten kann, ist der eiskalte Boden unter ihm, auf dem er sitzt. Die Luft riecht modrig nach Erde.

So benommen wie er ist, kann er sich auf nichts hier einen Reim machen, und dass er überhaupt nichts sehen kann, macht die Lage nicht besser. Denk nach, für all das hier muss es ja schließlich eine Erklärung geben. Was ist geschehen?, grübelt er und sucht in seinem Gehirn nach Antworten, um die letzten Stunden zu rekapitulieren. Nach und nach tauchen erste Erinnerungsfetzen auf. Als Erstes fällt ihm wieder ein, wie er mit seinem Schneemobil im Tiefschnee stecken geblieben und zu Fuß weitergelaufen ist, bis er in der Ferne im Wald ein Licht entdeckt hat. Dorthin ist er gegangen und war zu einer kleinen Holzhütte gekommen. Er hat durch das einzige Fenster gesehen, drinnen brannte zwar Licht, aber er konnte niemanden entdecken.

Dann endet dieser Film abrupt. Er fühlt erneut die Beule an seinem Hinterkopf und erinnert sich an den Schlag, der ihn am Kopf getroffen hat. Dieser Augenblick, als ein gewaltiger Schmerz ihn durchzuckte und ihm schwarz vor den Augen wurde, ist das Letzte, woran er sich erinnern kann. Jetzt liegt er hier in völliger Dunkelheit und hat nicht den Hauch einer Ahnung, was inzwischen geschehen ist, geschweige denn wie lange er hier schon ist. Er hat jegliches Zeitgefühl verloren.

Seine Kehle ist wie ausgedorrt, sein Mund strohtrocken, und sein Gehirn produziert wirre Bilder. Dazu friert er erbärmlich, die eisige Kälte kriecht in jede Faser seines Körpers. Er tastet sich ab, so gut es geht. Kein Wunder, dass ihm so kalt ist, seine Schuhe, Socken und Handschuhe sind verschwunden. Wo zur Hölle sind meine Sachen geblieben? Ohne Schuhe ist er verloren, so kann er nicht weg, und ohne Handschuhe kann er seine Hände kaum noch bewegen. Der Schmerz, den die Kälte verursacht, ist unerträglich. Mit eiskalten Fingern versucht er, seine Füße warm zu rubbeln. Er zieht die lange Unterhose so weit wie möglich aus seiner Hose nach unten heraus und steckt die nackten Füße hinein.

Eine große Hoffnungslosigkeit überflutet ihn, und er beginnt schlagartig zu weinen. Das passiert ihm nie, aber jetzt lässt er seinen Tränen freien Lauf. Warum soll er sich zusammenreißen, hier sieht ihn keine Menschenseele. Noch nie in seinem Leben hat er sich so einsam, elend, verloren und verlassen gefühlt wie in diesem Moment. Eingerollt wie ein Embryo liegt er auf dem kalten Untergrund und zieht seine Beine so eng wie möglich an seinen Körper.

Er weiß nicht, wie lange er in dieser Position verharrt hat, aber irgendwann versiegen seine Tränen. Er richtet sich auf und reibt sich die Augen. Fragen über Fragen wirbeln wie Schneeflocken durch seinen Kopf. Wo ist er? Warum ist er hier? Und wer hat ihm das angetan? Er zermartert sich das Gehirn, findet aber keine logische Erklärung für all das. Immer wieder versucht er die Geschehnisse Revue passieren zu lassen, um zwischen den einzelnen Szenen neue Antworten zu finden.

Wie bei einem Puzzle setzt er Stück für Stück ein Bild zusammen, das er nicht vollenden kann, es fehlen einfach zu viele Teile. Wie er es dreht und wendet, er landet immer wieder bei dieser Hütte. Ob sich jemand dort aufgehalten hat, hat er nicht sehen können, aber es hatte Licht gebrannt, und aus dem Kamin war Rauch aufgestiegen. Dann hatte ihn ein Schlag von hinten getroffen und zu Boden gestreckt. Dieser Schlag war wie aus dem Nichts gekommen, jemand hatte ihn hinterrücks angegriffen. Aber warum? Ob ihr Mann ihm gefolgt ist? Das übersteigt im Moment seine Vorstellung, auch wenn es die einzige logische Erklärung zu sein scheint.

Eine neue Erinnerung taucht schlagartig in ihm auf. Halb bewusstlos hat er mitbekommen, wie jemand sich über ihn gebeugt und dann weggezerrt hat. Ohne zu wissen, was genau passiert ist, begreift er jedoch in diesem Augenblick, dass er Opfer eines heimtückischen Angriffs geworden ist. Jemand muss ihm aufgelauert haben und dann in einem günstigen Moment mit einem Prügel auf seinen Kopf geschlagen haben.

Fassungslos lässt er diese Vorstellung wie eine Filmsequenz vor seinem geistigen Auge immer wieder ablaufen. Alles nimmt allmählich plastische Formen an, ausgenommen der Gestalt, die er hinter sich stehen sieht und die auf ihn eindrischt.

Und nun liegt er hier, wo auch immer. Er vermutet, dass er sich in der Nähe dieser Hütte befindet, denn an eine Fahrt auf einem Schlitten oder Schneemobil kann er sich partout nicht erinnern. Er versucht, ein Bild von der Umgebung in seinem Kopf zu formen. Er sieht gut versteckt hinter großen, eng stehenden Tannen eine kleine, tiefgeduckte Hütte mit einem kleinen Anbau fürs Brennholz, und er erinnert sich an Rentierfelle, die dort auf dem Holzstapel gelegen haben. Mehr fällt ihm nicht ein. Irgendwo hätte doch ein Schneemobil stehen müssen, vielleicht hinter dem Haus, überlegt er. Bei seiner Ankunft hat er nicht darauf geachtet. Er war nur so erleichtert gewesen, endlich eine menschliche Behausung gefunden zu haben und hatte sich in Sicherheit gewogen. Welch ein Irrtum!, wird ihm in dieser Sekunde bewusst.

Seine Augen gewöhnen sich allmählich an die Dunkelheit. Er beginnt, mit seinen Händen die Wände um sich herum abzutasten. Er spürt harten Lehmboden, auch die Wände sind aus Lehm, durchsetzt von Felsen, über seinem Kopf ertastet er Holzbohlen. Nach und nach entsteht ein Bild in seinem Kopf. Er muss in einem Erdloch liegen, das etwa zwei Meter lang und eineinhalb Meter breit sein muss. Er kann nicht stehen, die Höhe schätzt er auf ein Meter fünfzig. Über seinem Kopf gibt es eine Holzklappe, die verschlossen ist. Er drückt mit seinem Rücken dagegen, aber sie bewegt sich nur einen Spalt. Solche Erdlöcher sind nichts Ungewöhnliches. Sie dienen als Lager und Kühlschrank, wobei dieses ungewöhnlich groß ist. Warum bin ich hier eingesperrt?

Er kriecht vorsichtig weiter, bis er an einem Rand auf einen Erdhaufen stößt. Er gräbt darin und stößt auf etwas. Als er es in der Hand hält, begreift er, dass es sich dabei um einen Knochen handelt. Der Größe nach müsste es ein Oberschenkel sein, vermutet er. Sein Stiefvater nimmt ihn oft mit auf die Jagd, er selbst hat sogar schon einen Elch geschossen, ausgeweidet und zerlegt. Er kennt sich mit Knochen ein wenig aus, aber zu welchem Tier dieser hier gehören muss, kann er in der Dunkelheit nicht feststellen.

Er wühlt weiter. Als er einen Schädel zu fassen bekommt, erstarrt er.

Ein Schrei erstickt in seiner Kehle. Der Schädel gehört zu keinem Tier, er ist von einem Menschen. Ein Gedanke steht glasklar im Raum: es muss sich hier um menschliche Gebeine handeln. Er nimmt all seinen Mut zusammen und tastet den Schädel ab. Er fühlt die ovale Form des Schädels, die beiden Öffnungen für die Augen, dann die der Nase, schließlich den Oberkiefer mit Zähnen. Vorsichtig legt er den Schädel zurück auf den Boden.

Mit seinen Händen tastet und gräbt er weiter, bis er einen Gegenstand zu fassen bekommt. Es ist ein Metallstück, vielleicht ein Teil einer Klinge oder eines alten Sami-Messers. Voller Glück presst er den Fund an seine Brust. Neuer Mut überkommt ihn. Er muss etwas tun, um hier herauszukommen, wenn er sein Leben retten will.

In diesem Moment fasst er einen festen Entschluss. Ich werde hier nicht sterben.

5

Zwanzig Minuten später betrete ich das Lapplands-Gymnasium in Jokkmokk, das einzige im Umkreis. Schüler, die nicht in der Nähe wohnen, haben morgens eine lange Anreise mit dem Schulbus. Ich fühle mich augenblicklich in meine eigene Schulzeit zurückversetzt. Irgendwie sehen Schulen alle gleich aus, sie riechen sogar gleich, es ist eine eigentümliche Mischung aus Bohnerwachs, Schweiß und abgestandener Luft. Aber ich bin nicht wegen nostalgischer Erinnerungen hier, sondern wegen Stellan Lund, 17 Jahre jung, der verschwunden ist.

Ich stehe in einem langen, breiten Flur, von dem viele Türen abgehen. Am Ende des Ganges entdecke ich einen Mann, der auf einer Leiter steht und an einer vermutlich defekten Lampe herumschraubt. Ich frage ihn nach dem Weg zum Direktorium.

In diesem Augenblick zerreißt das Läuten der Schulglocke die wohltuende Stille, die bis eben hier noch geherrscht hat. Als würden überall Schleusen geöffnet, werden Türen aufgerissen, und kleine Menschen strömen wie zappelnde Fische aus einem zerborstenen Aquarium in den Flur, überschwemmen die Gänge und erfüllen das Gebäude mit lautem Stimmengewirr und noch lauterem Lachen. Was seit Stunden unterdrückt worden ist, bricht sich nun Bahn. Der Geräuschpegel erreicht schlagartig das Getöse eines startenden Jumbojets. Ich bewege mich durch die lärmende Meute in Richtung Direktorat und finde das Vorzimmer von Klas Bergman, der die Schule leitet.

»Ich möchte bitte den Direktor sprechen. Anelie Andersson.«

Ich zeige der Sekretärin meinen Ausweis. Sie deutet auf eine Tür, hinter der sich offenbar das Büro des Direktors befindet. Ich klopfe und öffne die Tür. Dort sitzen zwei Männer an einem kleinen Besprechungstisch und sehen überrascht zu mir auf.

»Was kann ich für dich tun?«, fragt der ältere der beiden.

»Anelie Andersson. Ich bin von der Polizei, und ich bin dienstlich hier.«

»Aha«, sagt der Mann etwas verdutzt und wendet sich dem anderen zu. »Ich denke, wir sind fertig.«

Der andere Mann starrt mich unverhohlen an. »Anelie.« Er springt von seinem Stuhl auf. »Ich bin’s, Mads. Erinnerst du dich nicht?«

Als ich den Namen höre, klingelt es sofort bei mir. Mads umarmt mich spontan. Ich bin von dieser Reaktion völlig überrumpelt. Der Direktor räuspert sich.

Mads wendet sich an Klas. »Wir kennen uns aus Stockholm, wir waren dort auf derselben Schule. Ja und nun treffen wir uns hier nach zwanzig Jahren wieder. Krass, oder? Was für ein Zufall.«

»Ja … was für eine Überraschung«, murmle ich perplex.

»Das ist allerdings eine Überraschung«, stimmt der Direktor zu, ohne eine Miene zu verziehen. »Wir sind soweit durch?«

Mads nickte. »Ja.« Er packt seine Unterlagen zusammen. Dann reicht er Klas die Hand. »Du hörst von mir. Spätestens übermorgen.« Er schaut zu mir. »Hast du danach Zeit auf einen Kaffee? Ich warte in der Cafeteria hier auf dich.«

»Kann aber dauern.«

»Macht nichts, ich warte auf dich.« Mads verabschiedet sich und verlässt das Büro.

Wir nehmen Platz.

»Um was geht es denn?«, will Klas wissen.

Ich hole das Foto von Stellan hervor und zeige es ihm. »Das ist Stellan Lund. Er geht hier auf diese Schule. Seine Mutter hat ihn heute Morgen als vermisst gemeldet.«

Klas runzelt die Stirn. »Ich frage mal nach.« Er steht auf, verschwindet kurz im Vorzimmer, um nach wenigen Augenblicken zurückzukehren.

»Ja, Stellan ist heute Morgen tatsächlich nicht zum Unterricht erschienen. Ich befürchte nur, dass ich dir da nicht weiterhelfen kann. Du solltest besser mit seinen Mitschülern und Lehrern reden. Er besucht unsere elfte Klasse. Jetzt ist Pause, und die Kollegen sitzen nebenan im Lehrerzimmer. Fangen wir mit ihnen an.«

Ich folge dem Direktor ins Lehrerzimmer. Um einen langen Tisch herum sitzen vier Frauen und sechs Männer unterschiedlichen Alters. Niemand nimmt Notiz von uns. Die Lehrer unterhalten sich miteinander, lesen oder korrigieren vermutlich Klassenarbeiten. Ich kenne einige Gesichter vom Sehen. In einem kleinen Ort wie Jokkmokk läuft man sich immer irgendwo einmal über den Weg.

»Kolleginnen und Kollegen, darf ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten«, sagt Klas. Alle Blicke richteten sich auf ihn. »Ich möchte euch Anelie Andersson vorstellen. Sie ist von der hiesigen Polizeiinspektion und ermittelt wegen des Verschwindens eines unserer Schüler.« Er nickt mir zu.

»Hey«, begrüße ich die Anwesenden. »Es geht um Stellan Lund. Seit gestern Abend fehlt jede Spur von ihm. Kann mir hier jemand etwas zu diesem Schüler sagen?«

Niemand reagiert, alle starren mich nur an. Ich blicke in die Runde, bei einer jungen Lehrerin bleibt mein Blick kurz hängen, weil sie auffallend hübsch ist.

Schließlich meldet sich ein Mann. »Ich unterrichte Sport und Mathematik. Stellan ist in meiner Klasse.«

»Gunnar, kümmerst du dich darum?«, bittet Klas den Lehrer und wendet sich mir zu. »Wenn du etwas brauchst, weißt du ja, wo du mich findest.« Damit verabschiedet er sich.

Ich beginne meine Befragung ohne Umschweife. »Hey, Gunnar, hat Stellan Schwierigkeiten in der Schule? Wie sind seine Noten? Gibt es einen Grund, warum er vielleicht weggelaufen sein könnte?«

Gunnar schüttelt nachdenklich den Kopf. »Stellan hat nur gute Noten. Er zählt zu den Besten.« Er scheint kurz nachzudenken. »Und nein, von Problemen weiß ich nichts.«

»Okay, dann muss ich mit seinen Mitschülern reden.«

»Ich habe jetzt eine Stunde in der Elften«, sagt er. »Komm doch mit. Die Pause ist gleich um.«

Während wir durch die langen Flure gehen, auf denen sich noch Schüler tummeln, mustere ich ihn von der Seite. Ich schätze ihn auf Anfang dreißig. Er sieht gut aus, viel attraktiver als die Lehrer aus meiner Schulzeit. Außerdem ist er sehr gut gekleidet, was hier oben im hohen Norden Schwedens auch nicht unbedingt die Regel ist. Er trägt eine moderne Hüftjeans und einen hellblauen Kaschmirpullover, der das Eisblau seiner Augen wirkungsvoll verstärkt. Seine Schuhe wirken gepflegt und teuer. In Stockholm hätte mich das nicht überrascht, aber hier in Lappland, wo fast alle nur praktische Outdoor- oder Winter-Kleidung tragen, ist das ein ziemlich ungewöhnliches Outfit.

»Wie lange unterrichtest du hier schon?«, frage ich ihn.

»Es ist mein erstes Jahr. Ich komme eigentlich aus Malmö.«

»Freiwillig?«

»Nein.« Er lächelt. »Freiwillig bin ich nicht hierhergekommen. Aber es ist nur für ein Jahr. Es fehlt bei euch einfach an Lehrern.«

Die Pausenglocke läutet erneut, und vor uns verschwinden die Schüler in den Klassenzimmern gerade so, als würde ein Film rückwärts laufen. Wie von einer unsichtbaren Energie angesaugt, tauchen die Fischlein wieder ins Aquarium.

»Hat Stellan eine Freundin?«, frage ich weiter.

»Ob er aktuell eine hat, weiß ich nicht. Aber er war mal mit Helena aus seiner Klasse zusammen. Wie lange das her ist … keine Ahnung. Ich versuche zwar, einen engen Kontakt zu meinen Schülern zu pflegen, aber auch da gibt es natürlich Grenzen.«

»Hat Stellan so was wie einen besten Freund?«

»Meines Wissens verbringt er viel Zeit mit Bjarne. So, da sind wir.« Gunnar öffnet die Tür.

Unser Eintreten ist für die Schüler kein Signal, an ihre Plätze zurückzukehren und Ruhe zu geben. Im Gegenteil, die Jugendlichen ignorieren uns, als wären wir unsichtbar. Ich werfe Gunnar einen fragenden Blick zu, er zuckt nur grinsend mit den Achseln. Dann steckt er zwei Finger in den Mund und lässt einen scharfen Pfiff ertönen.

»An alle Schwerhörigen und Blinden hier im Raum, die Pause ist zu Ende. Hinsetzen!«

Das Kommando wirkt, wenn auch in Zeitlupe. Gunnar wartet gelassen, bis alle Schüler auf ihren Plätzen sitzen.

»Das ist Anelie, sie ist von der Polizeiinspektion Jokkmokk. Es geht um Stellan. Er wird vermisst. Weiß jemand von euch etwas dazu?«

Wie zuvor im Lehrerzimmer bekommen wir auch hier erst einmal keine Reaktion. Stattdessen werde ich wie eine Außerirrdische angestarrt.

»Wo sitzt Stellan denn?«, frage ich.

»Bei mir«, meldet sich ein Junge.

»Das ist Bjarne«, sagt Gunnar.

»Hey, Bjarne. Ich würde mich gerne kurz mit dir unterhalten. Draußen. Begleitest du mich auf den Flur?«

Es folgen ein paar leise Pfiffe und eindeutige Kommentare, die ich überhöre. Dann verlassen wir beide das Klassenzimmer. Bjarne lehnt sich auf dem Flur lässig an den Fenstersims und sieht hinaus. Es ist inzwischen taghell geworden, ein paar Schneeflocken wirbeln verloren durch die Luft.

»Du bist mit Stellan befreundet?«

Bjarne nickt stumm, ohne mich dabei anzusehen.

»Kannst du mir sagen, was Stellan die letzten Tage gemacht hat?«

»Am Freitag nach der Schule waren wir mit dem Schneemobil unterwegs. Danach waren wir noch bei Sten.«

»Sten?«

»Der mit den Schlittenhunden in Mattisudden.« Bjarne sieht weiter aus dem Fenster. »Er hat Welpen, die wir uns ansehen wollten.«

»Und danach?«, frage ich geduldig weiter.

»Sind wir nach Hause. Wir haben uns dann am Samstagmorgen wiedergetroffen, so gegen neun. Dann sind wir mit den Schneemobilen losgefahren.«

»Ihr seid zu einer Hütte und über Nacht geblieben?«

Er nickt.

»Wo ist diese Hütte?«

»In der Nähe von Nautijaur.«

»Wem gehört sie?«

»Meinen Eltern.«

Ich kenne die Gegend ein wenig, es ist alles Sami-Land. Ich bin dort schon mal zum Wandern mit Daniel unterwegs gewesen. »Ich brauche die genauen Koordinaten.«

»Ich maile sie dir«, bietet Bjarne cool an.

Ich krame eine Visitenkarte hervor. »Hier hast du meine Telefonnummer und E-Mail-Adresse. Wer war noch dabei?«

»Ein paar aus der Klasse.«

»Auch Mädchen?«

Er nickt.

»Was habt ihr genau gemacht?«

»Wir sind mit den Skootern im Tiefschnee herumgefahren. Dann haben wir gekocht und gechillt.«