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Man muss die Leichen feiern, wie sie fallen! Die Eifel – Deutschlands mörderischster Landstrich ist auch die Heimat des wohl durchgeknalltesten Ermittler-Trios aller Zeiten: Omma Brock, Kaplan Florian Unkel und Kommissarin Coltella kämpfen für das Gesetz und sorgen für Chaos. Sie zertrampeln Tatorte, verschusseln Indizien und drangsalieren Zeugen. Ihre haarsträubenden Fälle gibt es nun erstmals in gesammelter Form. Mords-Geschenk: Für Freunde, Familie und Vereine: Ein waschechter Krimi zum Selberbasteln! Mords-Geburtstag: Da werden nicht nur die Kerzen auf der Torte, sondern auch Lebenslichter ausgepustet! Mords-Ostern: Es zittert das Huhn, es bibbert Meister Lampe, denn dieses Jahr bringt der Tod die Eier! Mords-Muttertag: Die Busreise ins Heino-Café endet für Mami unterm Mutterboden!
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Seitenzahl: 387
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Uwe Voehl lebt als Autor und Lektor in Bad Salzuflen. Seine Krimihelden Morgenstern und Dickens wurden von der Kritik als das »perfekteste Aufklärer-Team seit Sherlock und Holmes« gewürdigt. Außerdem ist Uwe Voehl als Dozent für Creative Writing tätig und Redakteur für die Reihe Cotton Reloaded, dem Remake der erfolgreichen Kultserie Jerry Cotton. Seine Erzählungen und Kurzgeschichten wurden mehrmals mit Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem UTOPIA-Literatur-Preis.
Ralf Kramp, geboren 1963 in Euskirchen, lebt in der Vulkaneifel. Er beschreibt in seinen Kriminalromanen aus der Eifel skurrile Typen und ihre haarsträubenden Erlebnisse. Seine schwarzhumorigen Kurzkrimis trugen ihm den Titel »lustigster Krimiautor Deutschlands« (Mord am Hellweg) ein. Zusammen mit seiner Frau leitet er das Kriminalhaus in Hillesheim.
Carsten Sebastian Henn: Der mehrfach ausgezeichnete Kölner Autor Carsten Sebastian Henn (* 1973) gilt als »Deutschlands König des kulinarischen Krimis« (WDR). Seine Reihe um den Ahrtaler Koch und Meisterdetektiv Julius Eichendorff hat mehr als 100.000 Exemplare verkauft. Sein Hörbuch Der letzte Whisky stellt eine Premiere dar: Zum ersten Mal hat Carsten Sebastian Henn das Mikrofon selbst ergriffen, um den zahlreichen Figuren des Kriminalromans eine Stimme zu geben.
Originalausgabe
© 2017 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
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Telefon: 0 65 93 - 998 96-0 · Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Illustrationen: Ralf Kramp
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von © senoldo - Fotolia.com
Print-ISBN 978-3-95441-358-4
E-Book-ISBN 978-3-95441-370-6
Mords-Geschenk
Mords-Geburtstag
Mords-Ostern
Mords-Muttertag
Die handelnden Personen:
A – Eine Person, bei der Gärtnerleidenschaft und kriminalistischer Spürsinn Hand in Hand arbeiten
B – Eine Person, die so lange Sieg um Sieg davonträgt, bis …
C – Eine Person, die beim Gartenbauverein die Zügel fest in der Hand hält
D – Ein Hobbygärtner
E – Eine Hobbygärtnerin
F – Eine Person, die auch gerne gärtnert
G – Und noch ein Hobbygärtner
H – Eine weitere Hobbygärtnerin
legte den schönen Kopf schief und betrachtete das fertige Werk. Ja, das war Gartenkunst in Vollendung! Da passte einfach alles. Die Farben waren aufeinander abgestimmt, die kleinen Sträucher und Blütenkissen bildeten eine dynamische Landschaft, gruppiert um einen kleinen Miniaturteich, in dem ein Springbrunnen aus kunstvoll verformtem Metall für ein munteres Wasserspiel sorgte.
Schon von Kindesbeinen an warvon allen, die ihn kannten, großes Talent, verbunden mit mindestens zwei grünen Daumen bescheinigt worden.konnte gärtnern wie niemand sonst in Welterscheid.musste eine Blüte nur anschauen, schon öffnete sie sich.
Und daher war es auch keine Frage gewesen, dassam großen Wettbewerb des »Eifler Gartenfestes« teilnahm, das jährlich in einem anderen Winkel der Region ausgetragen wurde. In Aachen und Monschau hatte es schon einmal stattgefunden, in Trier, Koblenz und Bad Münstereifel, in Mayen, Ahrweiler und Wittlich. Es folgten Betteldorf, Dümpelfeld und Kalterherberg. Und als irgendwann keine hübschen Flecken mehr übrig geblieben waren, war man irgendwann mitten im Nichts, in diesem kleinen Kaff in der Westeifel gelandet. Immerhin gab es einen halbwegs vorzeigbaren Park hinter dem fürstlichen Herrenhaus, der sich als Austragungsstätte anbot.
Freiherr Götz Eberhard von Welterscheid-Hannover hatte sich nicht kräftig genug gewehrt, und beinahe über Nacht hatten sämtliche Hobbygärtner seinen Schlosspark heimgesucht, hatten Parzellen abgesteckt, begonnen zu roden und zu graben, und betrachteten nun mit Schöpferstolz die Ergebnisse ihrer Gärtnerleidenschaft. Und mitten unter ihnen war auchmit einem drei mal drei Meter großen Landschaftsgärtlein, das den klangvollen Namen »_________________« trug.
Aber nicht nurhatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Rechterhand grenzten der mediterran geprägte Kräutergarten von Kommissarin Carola Coltella und der kunstvoll von Kaplan Florian Unkel gestaltete »Friedhofsgarten zum Schmunzeln« an das »_________________«, und zur Linken präsentierte Welterscheids Dorfdrache Omma Brock das Resultat ihrer im wahrsten Sinne des Wortes schweißtreibenden Betätigung. Man sah es zu ihren Füßen und roch es an ihrem Körper. Ja, man roch es nach kurzer Zeit auch an den Körpern, die ihr zu nahe kamen.
Die meisten der Teilnehmer waren Mitglieder des Gartenbauvereins »Wir zeigen euch was eine Harke ist«. Wie zum Beispiel der glatzköpfige, der am Gärtnern besonders die ausgedehnten Pausen mit Torte und Kaffee schätzte. Und, bekannt dafür bei jedem Gartenfest schon nach dem ersten Bier einzuschlafen. Aber auchmit den großen, groben Händen, die jede Schaufel überflüssig machten, odermit der Kartoffelnase und den Blumenkohlohren. Und wenn jemand wieGemüse über alles liebte, dabei roch wie Porree und eine Haut hatte wie Sellerie, dann durfte sie natürlich nicht fehlen.
Aber da war auch noch. Undfürchteten sie alle.
Seit siebzehn Jahren reistenun schon dem Wettbewerb hinterher und räumte jedes Mal den Pokal ab. Und nur ein einziges Mal, nämlich vor sieben Jahren war ein anderer Sieger geworden. Dabei hatte eine verschleppte Nasennebenhöhlenvereiterung eine Rolle gespielt.
Und in diesem Jahr hatte sich Gastgeber Fürst von Welterscheid-Hannover sogar noch etwas Besonderes ausgedacht. Seine Parkanlagen und der fürstliche Gemüsegarten waren seit Langem die Domäne von. Da wuchs kein Halm am falschen Platz, da gedieh kein Kräutchen an der Stelle, für die es nicht bestimmt war. Dafür sorgtemit hartem Regiment. Aber nicht nur auf dem fürstlichen Anwesen, sondern auch im Vorsitz des Gartenbauvereins sorgteschon seit Jahren für Zucht und Ordnung. Etwa __________ groß, __________ haarig und von __________ Statur, wusstesich stets durchzusetzen. Der Verein lag in Sachen Demokratie und Mitbestimmung meistens irgendwo zwischen Moskau und Nordkorea. Gleichzeitig war die Rosenzucht das liebste Hobby von, und mit Einverständnis des Fürsten war die grandiose Idee entstanden, der neuesten Züchtung, einer edlen Duftrose von schüchternem Altrosa, höchstoffiziell den Namen des diesjährigen Wettbewerbssiegers zu verleihen. Was für ein Ansporn!
Mit einem wohlgefälligen Nicken, leisem Getuschel und eifrigem Kritzeln auf den Notizblöcken bahnte sich die Jury den Weg an den Ausstellungsgärten vorbei. Von den Kräutern in Kommissarin Coltellas Beet stiegen betörende Düfte in die Sommerluft. Sie hatte ihr Kunstwerk auf den Namen »Il Paradiso« getauft. Bienen umsummten den Lavendel und die üppigen Blüten des Wilden Salbeis. Sie hatte extra klobige ockerfarbene Steine aus ihrer italienischen Heimat eingearbeitet, die ihr Assistent Winfried zu Clairvaux mühselig und mit bloßen Händen vom Kofferraum ihres fünfhundert Meter weiter auf dem Parkplatz abgestellten Autos herangeschleppt hatte.
Auch das symbolische Doppelgrab, das Kaplan Unkel gleich nebenan mit einem geradezu klassischen Schick versehen hatte, fand Gnade vor den Augen der Jury, wie man von ihren Gesichtern ablesen konnte. Es gab blasse Nelken in Reih und Glied und kleine Buchsbaumsträucher. Letztere hatte der Kaplan mit der Bastelschere zur Büste von Papst Benedikt zurechtgeschnippelt. Ohne Nase. Und mit nur einem Ohr. Und da war ein Meer von Stiefmütterchen, das eine kunstvoll selbstgebackene Grableuchte aus Salzteig umspülte. Aus einer versteckten Box erklang der neueste Kirchenschlager des Kaplans, eingespielt mit Bontempi-Orgel und Nasenflöte. Der schmissige Text entstammte dem ersten Buch Mose »Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das sich besamte, ein jegliches nach seiner Art, und Bäume, die da Frucht trugen und ihren eigenen Samen bei sich selbst hatten, ein jeglicher nach seiner Art.« Der Kaplan segnete die Jury vorsichtshalber rasch mit einem ordentlichen Schwall Weihwasser. Konnte nie schaden, so was.
Als Nächstes folgte der Abschnitt von , und die Augenbrauen der Juroren tanzten freudig erregt in die Höhe. Was für eine Pracht, schienen ihre Blicke sagen zu wollen. Hier beherrschte jemand das Gärtnerhandwerk, keine Frage. »_________________«, der Titel für das Kunstwerk war wirklich passend.
Und schließlich war Omma Brock mit ihrer Kreation an der Reihe. »Garten der Lüste« hatte sie mit Filzstift auf ein Stück Pappkarton gekrakelt. Sie hatte ein paar Windlichter aus alten Lenorflaschen gebastelt, in denen geklaute Kirchenlichter flackerten. In einem Autoreifen wucherten Brennesseln, von denen Omma Brock steif und fest behauptete, es handle sich um eine seltene Orchideenart. Die Krönung aber war ein lebensgroßer Plastikflamingo, von dem die Farbe in großen Plocken abblätterte. Drei Tage vorher hatte er noch mit seinen beiden Brüdern als Werbefigur auf dem Vordach der Welterscheider Eisdiele gestanden.
Die Jury steckte ihre Köpfe zusammen und wisperte angestrengt. Mit verkniffenen Mienen schritt man weiter.
Und dann kam der Garten von !
Vielmehr: Er verbarg sich vor den neugierigen Blicken der Anwesenden unter einer großen, grünen Plastikplane. Gewiss war eine große Enthüllung mit Tusch und Applaus geplant. Alle Köpfe drehten sich hin und her, man hielt Ausschau auf dem weitläufigen Gelände, aberwar nirgends zu sehen. »Nun aber flott«, sagte einer der Juroren ungeduldig. »Wir wollen endlich das Kunstwerk bestaunen.« Und mit einem Fingerzeig bedeutete er zwei anderen Gärtnern, die Plane zu beseitigen.
Darunter war nichts als Erde. Ein großes, quadratisches frisch umgegrabenes Stück Erde. Keine Blüten, keine Blätter, kein Zierrat. Erde. Und mitten darauf, mit ein wenig dekorativer Erde bedeckt, der Körper von , der sich nicht mehr rührte und dessen Arme und Beine weit ausgebreitet lagen.
Augenblicklich brach ein Tumult los. Menschen riefen und gestikulierten wild durcheinander. Es wurde gerempelt und geschubst und Handyfotos geschossen.
»Nichts anfassen!«, rief Carola Coltella laut und rupfte den Polizeiausweis aus der Innentasche ihres grünen Country-Steppjäckchens. Alles verstummte. »Jeder bleibt an seinem Platz!« Sie stapfte zu der freigelegten Parzelle und stemmte die Hände in die Hüften. »Da wollte offenbar jemand die Konkurrenz aus dem Weg schaffen. Oder besser: unter die Erde.«
»Auweiauwei, voll die Delle im Kopf«, knurrte Omma Brock. »Bestimmt mit einem von den Gartenzwergen dahinten ausgeknockt.« Sie zeigte auf den Garten von.
»Wie bitte?«, kam es vonempört zurück. »Meine Gartenzwerge haben noch keinem was getan.«
»Ist das da in der Brust nicht eine Einstichstelle?«, fragte Kaplan Unkel, der ohne Unterlass Kreuzzeichen schlug. »Vielleicht mit einem Pflanzstab erstochen oder so.«
»Oder mit nem Spargel«, grunzte Omma Brock.
»Sieht mir eher aus, als wäre er erwürgt worden«, murmelte Coltella, die neben dem Körper kniete und versuchte, etwas zu erkennen. »Anscheinend mit einem Rosendraht.«
»Moment mal«, sagte plötzlichund beugte sich zu der Plastikplane hinunter. Neben der Leidenschaft fürs Gärtnern gab es da ja auch noch das jahrelange Studium der Kriminalliteratur. Da blieb natürlich was hängen. »Auf dieser Plane werden wir natürlich nur die Fingerabdrücke vonfinden, das ist ja klar. Aber manchmal …« Und es folgte eine Kunstpause, wie sie die großen Ermittler in allen Kriminalfilmen auch immer einbauten. »Manchmal hinterlässt ein Täter doch unerwartet Spuren. Manchmal ist es nur ein Haar …« Mit spitzen Fingern hieltein __________ Haar in die Höhe. »mit seiner Glatze kann es schon mal nicht gewesen sein.« Irgendwo weiter hinten atmete jemand erleichtert auf. »Rosendraht … Hmmm …«schritt langsam um die Parzelle herum. »… und ein Stiefelabdruck der Größe __________, wenn mich nicht alles täuscht. Wenn man die übliche Rechenformel anwendet, kommt man auf etwa __________ Körpergröße. Und sehen Sie mal hier, Frau Kommissarin: Wenn man genau hinsieht, kann man noch das Wasser aus dem Mundwinkel rinnen sehen. Ertränkt wurdezu allem Überfluss auch noch. In der Regentonne da hinten, vermute ich mal. Nein, meine Gartenfreunde, hier geht es nicht um schnöde Konkurrenz. Hier geht es nicht um Ringelblumen und Rankgitter, hier geht es um – ja, ich gebrauche ein großes Wort – um Ehre! Hier hat jemand eine Person gleich vier Mal ermordet, es war jemand, der ein großes Unglück zu verhindern versucht hat. Jemand wie …« Ein schneller Ruck nach links, und ein ausgestreckter Zeigefinger wies auf eine Gestalt, die bisher fast unbeteiligt an der Seite gestanden hatte:.
Alle Anwesenden schraken zusammen und hielten den Atem an.
Bis auf. Die Schultern sackten hinunter, das Kinn sank auf die Brust. Im nächsten Augenblick brachen sich die Tränen Bahn, und ein konvulsivisches Zucken schüttelte den Körper. »Ich musste es tun«, kämpften sich die Worte mühsam zwischen dem nun folgenden Geheule und Geschniefe durch. »Ich hatte gar nichts gegen , wirklich nicht, aber trotzdem musste ich die Notbremse ziehen. Die Katastrophe verhindern.hätte wieder gewonnen, das war doch schon vorher klar. Und dann hätte meine wunderschöne, kleine Rose, mein altrosa Liebling, von jetzt an bis in Ewigkeit den blöden Namengetragen! Können Sie sich das vorstellen?«
Nein, das konnte niemand.
Keine Rose hatte solch ein Schicksal verdient. Selbst wenn sie ganz doll stach.
Coltella winkte ihrem Assistenten, der sofort ein paar Handschellen hervorzauberte. Sie nickteanerkennend zu. »Donnerwetter. Scharfer Verstand!«
»Leck mich en de Täsch«, sagte Omma Brock. »Das wär ja wirklich fies gewesen mit dem Namen. Da hätte ja ›Omma Brock‹ noch besser gepasst.“
»Der Gerechte gedeiht wie die Palme, er wächst wie die Zedern des Libanon. Psalm 92,13«, murmelte Kaplan Unkel. »Eigentlich ein rasanter Text für ein Kirchenlied.«
»Gut gemacht«, sagte einer aus der Jury und klopfteanerkennend auf die Schulter. »Ich will nicht zu viel verraten, aber ich habe den Eindruck, dass wir uns einig sind, wer der Sieger ist.«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht. Und da war auch ein Hauch von Stolz.
Die wunderschöne Rose würde schon bald einen wohlklingenden Namen erhalten. Den schönsten Namen der für eine Rose nur denkbar war. Einen Namen der in die Gesichte der internationalen Rosenforschung eingehen würde. Es war der Name: !
von Ralf Kramp
Severin Scholzen war alt. Sehr alt. Er zählte nicht weniger als 106 Jahre und war somit unbestreitbar der älteste Mensch der Eifel. Wie er so dasaß in seinem Bett, den ovalen, fast völlig kahlen Schädel auf ein voluminöses Kissen gebettet, ein Lächeln auf den schmalen, bläulichen Lippen, die sehnigen Hände auf der schmalen Brust gefaltet, die Augen in Verzückung halb geschlossen, da konnte eigentlich keiner der Anwesenden einen Zweifel daran hegen, dass er demnächst auch noch Johannes Heesters überrunden würde. Den ollen Hitzbechers Fränz aus Wittlich hatte er immerhin schon hinter sich gelassen. Der war vor ein paar Wochen mit 105 Jahren gestorben – beim Nacktbaden im Meerfelder Maar. Und heute hatte Severin Scholzen Geburtstag und wurde 106. Schon zu früher Stunde hatte sich eine Schar gutgelaunter Gratulanten um sein Bett versammelt und sang munter »Zum Geburtstag viel Glühüüück«, und Severin Scholzen lächelte still und zufrieden.
Auch Kaplan Florian Unkel sang aus voller Brust mit. Welch ein herrlicher Tag für die Gemeinde Welterscheid! Ein echter Methusalem in ihrer Mitte, ein weiser Mann mit einem wahrhaft biblischen Alter!
Der Kaplan warf einen besorgten Blick zu der Frau, die an Severin Scholzens Seite saß und unentwegt dessen Kopfkissen zurechtzupfte. Wie hatte die Familie des Alten ausgerechnet auf Omma Brock als Pflegerin verfallen können? Hatte sich da denn niemand Besseres gefunden?
»… lieber Severin, zum Gebuuuurtstag viel …«
Omma Brock war mit weitem Abstand die letzte Person, in deren Obhut er sich gebrechliche, alte Menschen vorzustellen vermochte. Sie war rücksichtslos und brutal. Sie knackte Paranüsse mit den bloßen Händen und warf immer wieder Katzen über die Friedhofsmauer, wenn sie es wagten, in ihrem Garten herumzustromern. War sie wirklich die Richtige, um einen zerbrechlichen Greis zu hegen und zu pflegen?
Der Gesang aus zwölf Kehlen endete, und alle klatschten vergnügt in die Hände.
Was fummelte Omma Brock denn fortwährend an dem Geburtstagsopa herum? Kaplan Unkel registrierte verunsichert Sorgenfalten auf ihrer breiten Stirn. Waren das etwa Schweißtropfen, die da perlten? Warum war sie denn nur so fahrig? So kannte er sie ja gar nicht.
»So, und nun singen wir den Kanon Viel Glück und viel Segen!« Scholzens Tochter Ingeborg strahlte vor Freude darüber, dass ihr Vater an seinem Jubeltag so gut beieinander war. »Das Lied magst du doch besonders gern, nicht wahr, Vater?«
Aber Severin Scholzen schüttelte jetzt unvermittelt den Kopf und murmelte leise etwas Unverständliches.
»Nein? Nicht noch ein Lied?« Die Tochter zog die Augenbrauen in die Höhe.
Omma Brock reckte sich vor, schob ihren bulligen Kopf in die Nähe des zahnlosen Mundes und lauschte konzentriert. Hinter ihren dicken Brillengläsern rollte sie angestrengt die Augen hin und her.
»Was sagt er?«, fragte Kaplan Unkel vorsichtig. »Soll es vielleicht ein anderes Lied sein? Vielleicht etwas aus der Mundorgel?«
Und in diesem Augenblick verschlug es ihm die Sprache, weil er plötzlich erkannte, wie Omma Brocks Hand sich heimlich unter den Kopf des Alten schob und ihn hin und her wackeln ließ. Und das Murmeln, das nun wieder leise zu hören war, kam nicht über des Opas Lippen, sondern entwich Omma Brocks runzligem Mundwinkel!
»So, Leute, Schluss im Dom. Der Oppa muss jetzt ’ne Runde Heia machen, sonst klappt der uns bei der Fete heute Nachmittag zusammen, kapiert?« Omma Brock richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und machte ein paar wedelnde Handbewegungen in Richtung Tür, so als wolle sie eine Schar Hühner hinausscheuchen.
»Aber, er hört doch so gerne Geburtstagslieder und …«
»Dem geht das Geplärre auf den Zeiger. Der horcht jetzt schön ein Stündchen an der Matratze, damit er nachher ordentlich feiern kann, kapiert?«
Irritiert fügten sich die Familienmitglieder Omma Brocks Anordnungen und verließen nach und nach das Zimmer.
Nur Kaplan Unkel blieb. Und als sich schließlich die Tür hinter dem letzten Enkel geschlossen hatte, platzte es aus ihm heraus: »Frau Brock! Sagen Sie mal, was geht hier eigentlich vor sich?«
»Was soll denn schon los sein?« Omma Brock schlug verärgert gegen das Bettgestell, sodass der Jubilar begann, langsam zur Seite wegzusacken. Rasch fasste sie mit der Hand nach und verhinderte das Schlimmste. »Himmel, Arsch und Zwirn, der ist müde!«, fluchte sie. »Und jetzt Tschüssikowski, Herr Kaplan!« Sie fischte heimlich eine Blechdose vom Nachttisch und ließ sie ungesehen in der Tasche ihrer Kittelschürze verschwinden. Sie konnte doch unmöglich dem Kaplan beichten, dass sie dem alten Sack ein Döschen Red Bull verabreicht hatte, damit er nicht schon vor seiner Fete wieder einknackt, und dass ausgerechnet diese Medikation Severin Scholzens kalten Abgang bewirkt hatte.
»Aber Frau Brock, irgendwie sieht Herr Scholzen aus, als ob er …«
Sie schob Unkel gewaltsam zur Tür. »Heute Nachmittag ist hier Halligalli. Da kommen der Landrat und das Fernsehen, weil das alte Gerippe da 106 Jahre alt ist. Und deshalb ist jetzt hier Ruhe im Karton!«
Unkel wollte noch etwas einwenden, aber die rabiate Seniorin hatte ihn bereits hinausgeschubst und die Tür hinter ihm geschlossen. Ahnte dieser Himmelskomiker etwa, was passiert war? Gott sei Dank war Unkel so dusselig wie fünf Meter Feldweg.
Sie stellte sich breitbeinig vor das Bett und murmelte: »Mann, Mann, Mann, kalt wie ’ne Packung Fischstäbchen.« Sie betrachtete noch einmal die Blechdose, zermalmte sie mit der Linken und knurrte: »Ne Dose Red Bull. Mit zwei kleinen Schnäpschen drin. Nehm ich auch jeden Tag zum Frühstück. Das haut doch keinen um, oder?«
Jetzt hieß es, den alten Severin Scholzen durch diese blöde Geburtstagsfete zu kriegen, ohne dass irgendjemandem auffiel, dass er schon längst den Löffel abgegeben hatte. Das würde nicht leicht werden …
von Carsten Sebastian Henn
Die Sonne goss kübelweise goldenes Licht über Welterscheid aus, der Wind rauschte in den Bäumen wie der Rhein bei Schaffhausen – und die ganze Feiergesellschaft hielt sich die Ohren zu. Und zählte mit. Neunzehn, zwanzig, einundzwanzig.
Bumm, Bumm, Bumm.
Endlich vorbei. Das waren nach Unkels Meinung auch genug Salutschüsse. Ebenso viele erhielt nur der Kaiser. Gott sei Dank hatte der Dorf-Kanonier nicht auf 101 Schuss bestanden, wie bei der Geburt eines Thronfolgers. Severin Scholzen hatte kein einziges Mal gezuckt. Nerven wie Drahtseile, und das in dem Alter!
So, jetzt konnte es endlich mit der Feier losgehen! Unkel war für eine Rede vorgesehen, doch er hatte eine Überraschung. Oh, was würde sich die Gästeschar freuen! Er würde nämlich singen, einen selbst getexteten Schlager. Jetzt musste er sich nur noch diesen Alleinunterhalter angeln, damit der ihn auf dem Keyboard begleitete. Sascha Gutzeit hieß der und trug ein Ziegenbärtchen wie der Leibhaftige persönlich, ein kleines Männchen mit Hut, ein Gnom, ähnlich einem Gartenzwerg, konnte man sagen – oder einem Schlumpf. Glücklicherweise nicht in Blau. Wo steckte der denn bloß? Wahrscheinlich bei seinem Keyboard im Gemeindesaal. Was würde der sich freuen, wenn Unkel ihm die Noten gab. In der Kirche konnte er seiner künstlerischen Ader ja leider nicht freien Lauf lassen, wobei er schon ein paar Choräle für kirchliche Feiertage verfasst hatte, die im Gotteslob deutlich unterrepräsentiert waren: für den Kindermord von Bethlehem am 28. Dezember, das Fest des Heiligen Willibrord am 7. November und die Beschneidung des Herrn am 1. Januar. Echte Jubelarien waren es geworden. Wenn gleich eine Zugabe verlangt wurde, könnte er vielleicht ein Medley daraus zum Besten geben.
Die Saaldekoration hatte seine Tochter übernommen, die den Welterscheider Blumenladen besaß. Der Jubilar hielt Blumen dagegen für Gemüse. Deshalb hatte man ihm, dem ehemaligen Metzger zuliebe, Ketten aus Mettwürsten, Plockwurstgirlanden und Schinkenröschen in die Dekoration eingearbeitet. Es roch appetitlich, aber Severin Scholzen ließ sich seine Freude nicht anmerken, als er hereingerollt wurde. Unbeweglich die Miene, der Mann hatte sich im Griff. Bei der letzten Beichte hatte er Unkel gestanden, dass er am liebsten ohne das ganze Gesocks von Familie feiern würde, in einem Steakhaus, ohne dass sein dusseliger Arzt etwas davon mitbekam. Mit einer vollbusigen Kellnerin. Da könne Gott ja wohl nichts gegen haben, der hätte die großen Tüten ja schließlich gemacht.
Unkel wies erfolglos darauf hin, dass in der Bibel nichts über große Tüten stand. Und überhaupt verstände er nicht, warum Kellnerinnen Tüten tragen sollten, die hätten doch Tabletts.
Da war Sascha Gutzeit! Er war in Wirklichkeit noch viel kleiner. Durfte bei McDonald’s sicher noch die Kindertüte bestellen. Er trug einen Glitzeranzug und fummelte an irgendwelchen Kabeln herum.
»Grüß Gott, Herr Gutzeit. Hier ist das Lied, über das wir geredet haben.« Unkel drückte es ihm in die Hand. »Wir sollten es gleich zu Beginn spielen, noch vor der Rede des Landrats, um die Stimmung aufzupeitschen.«
»Von welchem Lied …?«
»Es ist ein Foxtrott.«
»Ah ja. Aber ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen.«
»Ich hatte Ihnen auf den Anrufbeantworter gesprochen. Mehrmals. Da habe ich Ihnen alles erklärt. Sollen wir kurz proben?«
»Sie waren das?« Sein Gesicht verzog sich, als habe man ihm gerade das Hirn durch die Nase herausgezogen. »Also, ich will gleich …«
»Wunderbar. Ich singe es Ihnen nochmals vor. Das kriegen Sie schon hin:
Methusalem wurde 969 Jahre alt.
Und das wird Severin Scholzen auch bald.
Methusalem ist der älteste Mensch in der Bibel
Severin Scholzen isst gern eine Zwiebel.
Jered wurde 962 alt, 97 Kilo samt Darminhalt,
Noah mit 950 starb, der ging quasi jung ins Grab,
Mahalalel zählte 895 Lenzchen, Henoch nur 365 Jährchen.
Sein Opa war der Noah,
ein echter Bibelstar.
Welterscheid, oh Welterscheid, du bist die schönste Eifelmaid,
Welterscheid, oh Welterscheid, schöner als ein Hochzeitskleid!«
Unkel strahlte. Das war groß, wie gemacht für den Eurovision Song Contest der Kirchenlieder.
»Aber da ist ja gar kein richtiges Versmaß drin«, beschwerte sich Gutzeit. »Und zwischendrin reimt es sich nicht. Und wo ist der Refrain?«
»Ich sehe es eher als Choral.«
»Und isst Herr Scholzen wirklich gerne Zwiebeln?«
»Da habe ich mir etwas künstlerische Freiheit erlaubt.«
Plötzlich erklangen die Kirchenglocken. Unkel liebte ihren Klang, und wie sie seine Schäfchen zu ihm riefen. Doch um diese Uhrzeit sollten sie stumm sein. Und das Geläut war keineswegs von grandioser Harmonie, sondern völlig aus dem Takt, rumpelnd, als sei Stockhausen dem Grab entstiegen und glöcknerte den Totensonntag aus Licht.
Unkel ließ die Notenblätter einfach fallen und stürmte in seine Kirche. Zitternd führte er den Schlüssel zum Schloss, doch die Tür zum Glockenturm war nur angelehnt. Das Glockengeläut hatte nachgelassen. Und als Unkel eintrat, wusste er auch warum. Erst im letzten Jahr hatten die Messdiener für ein neues Glockenseil gesammelt – und nun hing ein toter Mann daran und pendelte langsam aus.
Das Seil konnte man jetzt sicher vergessen. Das war sehr schade. Obwohl in Unkels Blick auch ein wenig Bewunderung lag: Der Cowboyknoten war super gebunden. Besser wurden sie im Wilden Westen auch nicht aufgeknüpft.
Ein Toter bei Severin Scholzens Wiegenfest! Er würde ihm ganz tief in die Augen sehen müssen, wenn er ihm die Sache nachher beibrachte. Der arme Alte reagierte immer sehr sensibel, wenn es um das Thema Tod ging.
von Uwe Voehl
Er starrte direkt auf ihre Brust. Also, eigentlich auch nicht. Also nicht so direkt direkt. Er guckte genau in das tiefe Tal, das zwischen ihnen lag. Carola Coltella fühlte sich unbehaglich unter diesem stieren Blick.
Obwohl der Mann ganz eindeutig tot war. Toter konnte man mit einem kunstvoll um den Hals geknoteten Glockenseil gar nicht sein. In Gedanken nannte sie den Toten jetzt schon Tom. Tom Dooley.
»Losschneiden!«, befahl Coltella, deren italienischer Familienname auf Deutsch »Das Messer« hieß. In manchen Situationen erinnerte sie tatsächlich an ein Schneidwerkzeug: Dann stach sie so schnell zu wie ein Klappmesser – und nicht nur ihr Verstand war scharf. Ihre Kurven waren es auch. Aber da sie diese bewusst nicht als Waffe einsetzte, waren im Kollegenkreis Wortspielereien in dieser Hinsicht tabu. Coltellas eiskalter Blick hätte jeden aus dem Stand heraus getötet.
Einzig ihr Assistent, Winfried zu Clairvaux, hatte gewisse Narrenfreiheiten bei ihr. Er lispelte. Vielleicht streichelte sie ihm daher manchmal mitleidig über den Seitenscheitel – natürlich nur verbal.
Langsam trat Coltella näher an den Toten heran. Das Seil bewegte sich noch immer leicht hin und her, sodass man fast den Eindruck gewinnen konnte, der Gehenkte würde jeden Augenblick wieder zum Leben erwachen.
»Warum hat ihn noch niemand untersucht?«, fragte sie streng. »Wo stecken denn Kalle und seine Crew?« Normalerweise ließ es sich Kalle nicht nehmen, vor ihr am Tatort zu sein.
»Den nennt man jetzt in Kollegenkreisen Doc Holiday«, grinste Clairvaux. »Hat noch sechs Monate Resturlaub abzufeiern und macht Dauerferien in der Karibik.«
»Und die andern?«
»Müller Hitzefrei. Latzner Hitzschlag. Gehring Sonnenstich …« Clairvaux zählte nach und nach die Namen an den Fingern ab. Dabei geriet er ebenfalls ins Schwitzen.
Coltella unterbrach ihn, bevor er das ganze Präsidium auflistete. Das hätte nämlich bis zum nächsten Morgen gedauert.
Sie waren also die einzigen Beamten vor Ort. Und dann war da noch Thaddäus Thod, der einzige Leichenbestatter in Welterscheid, außerdem der einzige in der ganzen Eifel, der auch privat im Leichenwagen unterwegs war. Sein Wahlspruch lautete: Der Tote darf erst gar nicht erkalten. Man munkelte, dass Thod nicht wenige Welterscheider noch lebendig unter die Erde gebracht hatte – und was er mit den Frauen anstellte, mochte man sich gar nicht ausmalen. Beweisen konnte man das alles nicht, aber es galt allgemein als schlechtes Omen, wenn man ihm begegnete. Es hieß: Schneller als der Tod ist nur Thod selbst.
Jetzt tanzte er hibbelig auf seinen dürren, langen Beinen um den Baumelnden herum wie eine Spinne, die ihre Fäden um das zappelnde Opfer immer enger schnürt.
»Also schön, Clairvaux, dann müssen wir ihn eben vom Seil nehmen. Fangen Sie schon mal an.«
»Ich?« Clairvaux schluckte.
»Ja, losbinden!«, krächzte Thod erwartungsvoll. »Los!« Er rieb sich die Hände. »Als hätte ich’s geahnt, habe ich erst gestern einen frischen Eichensarg gezimmert. Die Größe haut hin! Allerdings müssen wir uns vorher über die Kosten einigen – sonst muss ich einen Kindersarg nehmen und ihn da reinquetschen. Wäre schade um die schöne Figur …«
Coltella war der Leichenbestatter schon immer unsympathisch gewesen. »Was haben Sie hier überhaupt so schnell zu suchen?«, fragte sie.
»Den alten Severin ehren. Feiert ja gleich nebenan. Zu jedem Geburtstag schenke ich ihm einen Kondolenzbrief.« Er machte eine bedeutungsvolle Geste. »Sein Gedächtnis ist nicht mehr das beste. Er vergisst jedes Jahr, dass wir eine Wette am Laufen haben.«
»Was für eine Wette?«
»Dass er eher die Kurve kratzt, als ich in Ruhestand gehe.«
»Wie alt sind Sie?«
»88, aber ich mach so lange, bis ich den alten Knacker unter die Erde gebracht habe.« Er kicherte, sodass sein Kopf mehr denn je wie ein Totenschädel wirkte.
Coltella wandte sich mit Grausen ab.
Clairvaux hatte unterdessen mit Hilfe einer Räuberleiter und zweier herbeigeeilter Neugieriger den Toten vom Seil befreit. Nicht, dass diesem das irgendwie half. Er sah danach sogar noch blasser aus. Außerdem waren auf seinem Hals nun äußerst unschöne Strangfurchen zu erkennen, die das Seil verursacht hatte.
»Was meinen Sie, Clairvaux, liegt vitales Erhängen vor?«
»Sie meinen, er hat sich selbst umgebracht?«
»Nein, das ist eine Frage, die nur die Experten klären können. Was ich meine war: Lebte er noch, bevor er stranguliert wurde? Sehen Sie hier: typische Tränenabrinnspuren, außerdem eine Blutung aus dem linken Ohr, eindeutig vitale Zeichen.«
Thod wurde bei dem Wörtchen »vital« zusehends nervöser: »Vital oder nicht, der Leichnam muss schnellstens unter die Erde. Bei dieser Hitze garantiere ich sonst für nichts. Ich höre bereits die Maden unruhig mit den Beinchen scharren.«
Tatsächlich umkreiste den Toten schon ein Schwarm träger Schmeißfliegen.
»Er kommt nicht unter die Erde, sondern ins Kühlfach«, widersprach Coltella. »Unsere Kollegen in Köln müssen sich den mal genau angucken. Wenn sie zum Beispiel Mikrofasern an den Händen finden, weist das darauf hin, dass er sich selbst erhängt hat. Halt! Was ist das denn?« Sie beugte sich nieder und tastete die Brust des Toten ab. Rasch knöpfte sie sein Hemd auf. Zu sehen war ein faustgroßes Brandzeichen. Eine Art Rose.
Sie musste plötzlich an ihren Vater denken. Der hatte bald Geburtstag. Siebzig Jahre, ein runder Geburtstag. Ein paar Rosen würden da nicht reichen. Außerdem verwelkten die so schnell in der Hitze. Ihr Vater lebte in Italien.
Sie konzentrierte sich wieder auf die merkwürdige Tätowierung. Die wirkte frisch. Also nicht well done oder medium. Eher bloody rare, wie der Engländer sagen würde.
Coltella erhob sich: »Wer immer ihm das angetan hat, es muss höllische Schmerzen verursacht haben.« Da fiel ihr Blick auf den Boden. Just eben hatte sich ein Sonnenstrahl durch das hohe Buntglasfenster gewagt und spielte nun mit etwas Glitzerndem. »Was haben wir denn da Feines?«, fragte Coltella spitz.
Auf dem Boden, unweit dort, wo der Tote gehangen hatte, halb versteckt unter dem Altar, lag eine Mundharmonika.
»Ein äußerst seltenes Fabrikat«, erklärte Clairvaux, der die Mundharmonika aufgehoben hatte und nun die Gravur auf dem Instrument genauestens untersuchte. »Ich kenne Johnson, ich kenne Hohner. Aber was ist Sascha für ’ne Marke? Sascha Gutzeit?«
von Ralf Kramp
Aus dem Geburtstag war nun irgendwie die Luft raus. Der Landrat hatte den Stellvertreter des Stellvertreters seiner Stellvertreterin geschickt, und das Fernsehteam interessierte sich eindeutig mehr für die baumelnde Leiche als für den 106-Jährigen. Sie konnten ja nicht ahnen, dass die beiden längst gleich kalt waren. Nur Omma Brock wusste das, und das sollte auch hübsch so bleiben.
Sie bewachte den Alten wie ein Schießhund. Oder eher wie ein Schießnashorn. Dabei futterte sie unentwegt die Wurstdekoration weg. Jeder, der sich ihm näherte, wurde barsch abgewiesen. Den Kaplan, der Scholzen umständlich davon hatte in Kenntnis setzen wollen, dass ausgerechnet an seinem Jubeltag ein Toter aufgefunden worden war, hatte sie verjagt, gratulierenden Kinderchen hatte sie die verpackten Doppelherzflaschen und die Geschenkpackungen Corega Tabs entrissen, und alte Weggefährten, die am Stock gehend den Jubilar ansteuerten, drehte sie im rechten Winkel um, sodass sie weiter zur Damentoilette taperten.
Neben dem Alten sitzend hatte Omma Brock eine ausgefuchste Technik entwickelt, die es ihr erlaubte, ihren Arm so hinter seinem Rücken herzuführen, dass er rechts von ihm wieder auftauchte und den eigenen Arm ersetzte, den sie unter der karierten Decke verborgen hielt. Mit seiner fleischigen Rechten mit den knotigen Gelenken hantierte Scholzen nun munter herum und wirkte dadurch nicht halb so tot wie er es war. Er klatschte sich im Takt der Musik ausgelassen auf die rechte Wange und popelte zwischendurch auch mal gelangweilt in der Nase.
Wenn ein enges Familienmitglied sich näherte und Fragen stellte, machte der Alte in seinem Rollstuhl ein paar abgehackte Bewegungen mit dem Oberkörper und knurrte etwas Unverständliches, das so dumpf klang, als trage er einen Blecheimer über dem Kopf.
»Papa, gleich ist alles geschafft. Dann bringt die liebe Frau Brock dich ins Bett, und du kannst dich endlich ausruhen«, sagte Ingeborg Scholzen sanft und betrachtete irritiert die Finger seiner Rechten, die unentwegt Erdnüsse aus einer Schale fummelten und hoch durch die Luft in Omma Brocks Mund schnippten.
Plötzlich fiel ihr Blick auf eine Gruppe junger Leute am Buffet. Dort stand auch Marie, ihre strahlend schöne Tochter. Sie lachte und wickelte sich die langen, braunen Haare um die Finger, während sie sich mit dem fremden Musiker unterhielt.
»Bald haben wir noch ein großes Geburtstagsfest. Jetzt ist das Kind schon beinahe 18. Wo sind nur all die Jahre geblieben, Papa?«
Severin Scholzen wiegte versonnen den Kopf hin und her. Kullerte da eine Träne seine eingefallenen Wangen hinunter? Nein, es war eine Erdnuss.
Omma Brock war erleichtert. Sie würde jetzt noch zwei Stückchen Mett-Torte verputzen und sich ein paar Wurstgirlanden in die Handtasche stopfen. Dann würde sie Scholzen nach Hause rollen und ihn in die Poofe stecken. Und wenn er am Morgen mausetot gefunden würde, wäre sie wieder fein aus der Sache raus.
Scholzen rülpste laut, und seine Tochter sah ihn irritiert an.
Ingeborgs Mann kam aus dem Nebenraum und wedelte freudestrahlend mit dem Handy. »Sensation, Sensation!«, rief Günther Tillmann mit sich überschlagender Stimme. »Vater, sie wollen dich als Ehrengast! Sie wollen dich tatsächlich als Ehrengast dabei haben!« Tillmann trug den Namen seiner Firma, einer Imbisskette, auf dem Hemdkragen gestickt: McEifel. In orange. Und er trug ein auberginefarbenes Jackett mit Glanzeffekt. Sowie ein Toupet. All das sagte sehr viel über seinen Charakter aus. Während er sein Armanitelefon in der Jacketttasche verstaute, erklärte er aufgeregt: »Ingeborg, Schatz, dein Vater wird der Star der Eröffnungsfeier der Kreis-gar-ten-schau!« Er klatschte dem Opa übermütig gegen die Wange. Der beschwerte sich mit dumpfem Genuschel.
»Schau wie er sich freut!«, jubilierte Tillmann und strahlte seine Frau an. »Er hat gesagt, er freut sich tierisch drauf!« Dann wandte er sich an Omma Brock. »Und Sie, Frau Brock, Sie werden dafür Sorge tragen, dass mein Schwiegervater putzmunter und kerngesund bleibt, nicht wahr?« Er kam so nahe mit seinem Gesicht an das ihre, dass er den bläulichen Schatten auf ihrem frisch rasierten Kinn sehen konnte. »Sie tragen die Verantwortung für den alten Knaben, dass wir uns da richtig verstehen.«
Omma Brock schluckte so laut, dass es sich anhörte wie ein Pflasterstein, der in ein Regenfass fiel. Schöne Scheiße, dachte sie, zu früh gefreut.
Unruhe kam auf, als die Polizei den Raum betrat. Allen voran eine schlanke Mittvierzigerin in High Heels, die ihren Polizeiausweis wie ein Kruzifix vor sich hertrug. Als sie Severin Scholzen und seine Familie erreicht hatte, warf sie Omma Brock einen skeptischen Blick zu. Es war nicht das erste Mal, dass sie einander begegneten. Und nicht zum ersten Mal ging es dabei um eine Leiche. Omma Brock schien in diesem Moment ihren Gedanken nachzuhängen und knabberte an einem Windlicht aus bunter Sülze von der Tischdekoration.
»Mordkommission, mein Name ist Coltella, ich untersuche die Umstände, die zum Tod des Mannes in der Kirche nebenan geführt haben. Ich hätte ein paar Fragen an Sie.«
Ingeborg Tillmann griff nach der Hand ihres Vaters. Sie war heiß und verschwitzt und fühlte sich an wie Raufasertapete. »Wir haben davon gehört, Frau Kommissarin, aber ich weiß nicht, wie wir Ihnen …«
»Clairvaux, das Foto!«
Der Bursche an der Seite der Kommissarin zog eine Fotografie hervor und reichte es ihr.
»Hat jemand von Ihnen schon einmal diesen Mann gesehen?«
Der Tote hatte grotesk verrenkte Züge. Kaum möglich, jemanden anhand dieses Fotos zu identifizieren. Das Bild ging herum.
Einer der Dorfbewohner sagte unsicher: »Ich kann mich ja irren, aber ich glaube, ich habe den gestern im Vorbeifahren auf der Landstraße gesehen. Zerlumpt, mit einem Bündel auf dem Rücken. Ja, ich glaube, das war der Typ.«
Coltella zuckte vielsagend mit den Augenbrauen und bedeutete dann ihrem Assistenten, die Aussage zu protokollieren. »Und noch eine Frage wäre da.« Von irgendwoher hatte sie plötzlich eine Mundharmonika hervorgeholt. »Sagt ihnen vielleicht der Name Sascha Gutzeit etwas?«
Die Mitglieder von Scholzens Familie sahen sich verunsichert an. Auch der alte Opa reckte den Kopf vor, während Omma Brock scheinbar unbeteiligt an dem Z des Schriftzugs Herzlichen Glückwunsch kaute, das ebenso wie die restlichen zwanzig Buchstaben aus Eifeler Landschinken zusammengebastelt war.
»Sascha Gutzeit?«, fragte Ingeborg Tillmann. »Aber das ist doch der Musiker, den wir für …« Sie reckte den Kopf. »Gerade stand er noch bei unserer Tochter Marie, und …«
Doch Sascha Gutzeit hatte das Gebäude verlassen.
von Carsten Sebastian Henn
Aus dem Ofen dampfte es, denn Unkel musste sich seinen Kummer wegbacken. Ein Toter in seinem Glockenturm! Erhängt! Und er hatte nicht mal die letzte Salbung durchführen dürfen. Hätte er doch bloß die Souveränität von Severin Scholzen. Als die Emotionen hochkochten, blieb er eiskalt, und als alle laut diskutierten, blieb er totenstill. Bewundernswert, dachte Unkel. Hoffentlich wäre er bald genauso wie der Alte.
Aber noch musste er sich mit Backen helfen. Drei Kuchen hatten es sein müssen, ein Hefezopf, ein Blech Kirschstreusel, und sogar einen gigantischen Marmorkuchen der zur Grundsteinlegung einer Welterscheider Kathedrale genutzt werden konnte. Unkel blickte gerade auf die sich erhebenden Kunstwerke im Ofen, als das Telefon klingelte. Der junge Kaplan zuckte vor Schreck zusammen und griff sich den Hörer. »Gemeinde Welterscheid, Kaplan Unkel am Apparat.«
»Unkel, Sie Unglücksvogel.« Die Stimme des Herrn, oder das, was dieser in der Eifel am nächsten kam: der Bischof. »Schon wieder ein Mord in Ihrer Gemeinde, das darf ja nicht wahr sein! Und dann auch noch aufgeknüpft am Glockenseil. Können Sie nicht aufpassen? Lassen Sie jetzt jeden sich da erhängen? Was führen Sie für einen Saftladen? Der Mord muss schnell aufgeklärt werden, um nicht zu sagen: sofort. Sorgen Sie dafür, dass bald ein Mörder gefasst wird, und wenn Sie ihn nicht finden, müssen sie eben in den sauren Apfel beißen und sich selbst stellen. Und ich exkommuniziere sie höchstpersönlich, da führt dann kein Weg dran vorbei. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, dieser Schnösel, kommt bald in die Eifel, und da kann ich einen unaufgelösten Mord nicht gebrauchen. Also voran, Unkel.«
»Aber …«
»Sie wollen feilschen? Gut, wenn Sie schnell machen, besorge ich Ihnen vielleicht eine Audienz beim Heiligen Vater. So, und jetzt ist Ruhe im Karton. Gehen Sie mit Gott, aber gehen Sie um Himmels willen.«
Unkel legte den Hörer auf. Exkommunikation, ewiges Höllenfeuer und lebenslang Gefängnis – ohne die Möglichkeit zu backen. Das durfte nicht passieren.
Er holte den Streuselkuchen aus dem Ofen und begann ihn noch heiß in sich hineinzustopfen. Er brauchte Zucker zum Denken, je mehr, desto besser. Als nach drei Stücken sein kompletter Mundraum gefühlte Verbrennungen dritten Grades aufwies, ihm aber immer noch keine Idee gekommen war, begann er, Zucker löffelweise in sich hineinzufüllen.
Ob es an der geballten Süße lag, oder ob Gott Erbarmen mit seinem verrückt gewordenen Schäfchen hatte, Unkel sah auf jeden Fall plötzlich den Knoten des Galgenstranges vor sich.
Er kam ihm irgendwie bekannt vor. Doch wieso?
Er musste noch mehr Zucker essen. Oder den Hefezopf, der jetzt fertig war. Dick mit Butter und Marmelade bestrichen. Bevor er hineinbeißen konnte, blitzte ein Bild auf: seine Welterscheider Kirche – aber da wurde doch nie etwas geknotet. Er holte sein Fotoalbum mit den schönsten Kirchenmomenten aus dem Schrank und blätterte es durch. Die Beerdigung von Muschi Maus – Höhepunkt einer Messe für Haustiere, ein echter Knüller, nur die Extrareinigung der Kirche schlug danach zu Buche. Christi Himmelfahrt, Gründonnerstag, Karfreitag, Ostersamstag, Ostersonntag, Ostermontag, die ganzen Advents- und Weihnachtsmessen … Vierter Advent! Da war er, der Knoten, in Großaufnahme. Und Unkel musste an heiße, gebackene Bohnen aus einer großen Pfanne denken, die über einem Lagerfeuer stand. Ein Westernknoten aus der Westernstadt. Unkel hatte hier vor Jahren mal ein Wochenendseminar belegt: Wie werde ich Cowboy? Bei der Westernchristmette hatte Unkel den Verkündigungsengel mit dem Knoten über der Krippe zum Halten bekommen. Zur Kommunion hatte es Whisky statt Wein gegeben. Das war kein guter Schachzug gewesen. Auf der Titelseite des Trierischen Volksfreunds thronte kurze Zeit später sein abschließender Segen: »In Ewigkeit, yihaa!«
Er musste zur Westernstadt. Sofort. Na ja, nicht ganz sofort. Zuerst musste der Marmorkuchen zu Ende backen. Konnte er den Cowboys gleich was mitbringen.
Unkel machte sich auf den Weg – und war im Handumdrehen da. Denn die Westernstadt Eifel City lag nur eine gute Viertelstunde entfernt von Welterscheid. Karl May hätte sie nicht schöner erträumen können. Es gab keine geteerten Straßen, dafür ein Sheriff Office samt Gefängnis an der Main Street, einen Barbier, eine Postkutschenstation, eine Holzkirche, einen Hinrichtungsplatz mit Galgen, einen Streichelzoo, einen Bestattungsunternehmer, einen Schmied, einen Waffenhändler, ein Zuckerstangenshop, eine regelmäßig geplünderte Bank, eine Goldmine, einen Wickelraum – und am wichtigsten: den Saloon. Etwas entfernt, neben dem Holzfällerlager, gab es noch ein Indianerdorf. Es wurde an jedem ersten Sonntag im Monat niedergebrannt.
Unkel steuerte den Saloon an. Dort befanden sich auch der Tanzsaal für Squaredance-Workshops und das Bordell. Die taten natürlich nur so. Was schlimm genug war.
An der langen Holztheke war wenig los. Nur ein stattliches Freudenmädchen stand neben dem kupfernen Spuckeimer und rauchte eine Zigarette mit Mundstück. Sie war einen guten Kopf größer als Unkel und blies ihm keck den Rauch ins Gesicht. Eine wirklich attraktive Frau, dachte Unkel und erinnerte sich an einen Bibelvers, 1. Buch Mose 3,12: Da sprach Adam: Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß. Dieses Vollweib hätte sicher auch vom Baum genascht. Und noch einen ganzen Korb Äpfel aus dem Paradies geschmuggelt.
»Howdy, schöner Mann. Ich bin die fesche Lola.« Sie hob ihr lilafarbenes Kleid und entblößte ein strammes Bein mit Netzstrümpfen samt Strumpfhaltern. »Lädst du mich auf einen Whisky ein, Cowboy?«
»Cowb… äh, Churchboy Kaplan Unkel, um genau zu sein.« Er streckte die Hand aus und schüttelte die der jungen Dame. »Kein Whisky für mich, ich habe schlechte Erfahrungen damit gemacht.«
»Yihaa!«, sagte Lola und lachte. »Werd ich nie vergessen. Pitter, einen Whisky, und für den Mann Gottes hier eine warme Milch.« Sie hatte so ein animalisches Lachen, es fuhr Unkel eiskalt den Rücken herunter – und noch eine Etage tiefer.
»Ich müsste etwas über einen Knoten wissen. Meine Vermutung ist, dass es ein Westernknoten ist.«
»Boah, keine Ahnung, Cowboy. Ich hab den Knoten-Workshop nie belegt. Da musst du den Sheriff fragen.«
Unkel zuckte zusammen. »Den … Sheriff?« Oh, nein, nicht der Sheriff, bloß nicht der Sheriff.
»Jau, der Sheriff.«
»Könnte mir nicht auch jemand anders helfen?«
»Nö, mit Knoten kennt sich keiner so gut aus wie er. Der Sheriff ist dein Mann.«
»Er ist sehr speziell.« Unkel hatte panische Angst vor dem Sheriff. Seine dunkelgelben Zähne standen in alle Himmelsrichtungen ab, seine Augen versuchten ihnen nachzueifern, und er spuckte beim Reden eine ätzende Flüssigkeit aus. Na gut, das stimmte nicht, aber dank des Kautabaks war es nicht weit von der Wahrheit entfernt. Das Schlimmste aber: Der Sheriff lehnte Gott als neumodischen Kram ab und betete Manitou an.
Der Sheriff hatte Unkel schon zwölf Schäfchen geraubt.
Unkel griff sich Lolas Whiskyglas und nippte daran. »Yihaa.«
Das Freudenmädchen lachte. »Speziell? Der ist völlig durchgeknallt. Eigentlich kommt er aus dem Elbsandsteingebirge und heißt Dietmar Ostholz, Freunde dürfen ihn Clint nennen. Der tut dir schon nix.« Sie klopfte ihm auf die Schulter.
Ein fester Schlag. Diese Frau hatte wirklich Mumm. Für einen kurzen Moment vergaß Unkel seine Angst vor dem Sheriff. »Ihnen würde ich gerne einmal die Beichte abnehmen …« Was hatte er da gerade gesagt? Der Teufel musste in ihn gefahren sein – oder dieses Teufelsweib.
Lola kam näher. »Dir ist schon klar, dass ich ein Mann bin, oder? Wir haben zu wenig weibliche Schauspieler, deswegen muss ich jetzt die Puffmutter spielen. Ich bin gut, oder?«
Unkel nickte mit verkrampftem Lächeln. Er würde in die Hölle kommen, vermutlich gleich zweimal. Und wenn er dann da wäre, würde er die Spezialbehandlung des Chefs erhalten. Einzelhaft im siedenden Ölkessel.
von Uwe Voehl
Während sie zurück ins Präsidium fuhren, spürte Coltella noch immer den eiskalten Schauder, der sie im Nacken gepackt hielt. Trotz fehlender Klimaanlage und brütender Hitze. Und das hatte nichts mit Tom Dooley zu tun. Er war nicht der erste Tote, dem sie Auge in Auge gegenübergestanden hatte. Wenngleich, das musste sie zugeben, der erste Tote, der noch die Glocke läutete, nachdem er den Löffel abgegeben hatte.
Nein, es lag an Severin Scholzens Blick. Wie ein toter Fisch hatte der Alte sie angestarrt. Widerlich!
Allein wenn sie daran zurückdachte, klickerten Eiswürfel Wirbel um Wirbel ihr Rückgrat hinab. Der starre Blick des Jubilars klebte jetzt noch wie Uhu auf ihrem Dekolleté. Coltella spürte, wie zusätzlich zu dem klebrigen Gefühl eine ganze Armee kribbeliger Ameisen auf ihrem Leib herumspazierte und sich als graupelige Gänsehaut auf ihrem Körper breitmachte. Das war also das Gefühl, das frau verspürte, wenn man sie auszog. Mit den Blicken! Unverschämt! Und das in seinem Alter. Coltella spürte ihr halbitalienisches Blut kochen. Trotz Gänsehaut! Diesem Lustgreis gehörten mal tüchtig die Leviten gelesen! Aber wahrscheinlich war er genug bestraft damit, Omma Brock als Pflegerin an der Seite zu haben. Bunga Bunga mit Omma Brock – davon träumte nicht mal der Teufel!
In diesem Moment unterbrach das Geräusch quietschender Bremsen ihr gedankliches Horrorszenario. Sie wurde nach vorn geschleudert. Zum Glück war sie angeschnallt.
»Clairvaux! Sie Idiot!« Sie kannte ihren Assi. Der ließ in letzter Zeit allzu gern den Vettel raushängen – war er doch unweit des Nürburgrings geboren und hatte bereits als Kind dort manche Runde gedreht. Mit dem Dreirad.
»Ich habe einen Schlumpf erspäht!«, rechtfertigte er sich nun. »Dort!«
Coltella folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger.
Tatsächlich. Im Schatten des einzigen Haltestellenhäuschens Welterscheids duckte sich ein zierliches Männlein in der irrigen Hoffnung, das Auge des Gesetzes möge sein lächerliches Hütchen für eine Tarnkappe halten.
»Los, den schnappen wir uns!«, befahl Coltella und sprang bereits aus dem Astra, ehe Clairvaux auch nur die Handbremse anziehen konnte.
Es schien weniger an der natürlichen Angst der Schlümpfe vor den Menschen zu liegen, sondern vielmehr daran, dass der Bursche tatsächlich etwas zu verbergen hatte. Er nahm die Beine in die Hand und raste los. Aufs offene Feld, das direkt hinter dem idyllischen Wartehäuschen lauerte.
Coltella wurde plötzlich blass und rief Gutzeit eine Warnung zu – doch dieser hörte nichts. Noch nicht einmal den lärmenden Motor des Doppeldeckers, der plötzlich über seinem Kopf auftauchte und zum Tiefflug ansetzte. Wahrscheinlich stellte Gutzeit sogar einen neuen Rekord auf. Im Ackerlauf. Aber es half ihm wenig: Der Doppeldecker raste heran. Nur noch wenige Meter und …
Gutzeit warf sich zur Seite – das Flugzeug raste über ihn hinweg. Nicht jedoch, ohne zuvor die Schleusen geöffnet zu haben. Eine flüssige Güllebetankung erwischte ihn mit voller Breitseite.
Dann hatten Coltella und Clairvaux den Flüchtenden erreicht. Sie halfen ihm auf die Beine.
»Kommen Sie, bevor der Schwarze Baron kehrt macht!«, schrie Clairvaux. »Der Schwarze Baron war Bauer. Dann sollte eine Straße quer über sein Feld gebaut werden. Da ist er übergeschnappt. Er lauert jedem Ahnungslosen auf, der sein Feld betritt!«
Der Doppeldecker hatte einen Halbkreis gezogen und gewendet. Clairvaux und Speedy Gutzeit liefen, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Coltella hatte längst wieder den Astra erreicht und die Türen geöffnet. Die beiden hechteten hinein. Keine Sekunde zu früh. Der fliegende Gülletransporter entlud seine Fracht direkt über dem Wagen. Wie Hageltropfen prasselte es auf den Lack.