Morgenländische Märchen (79 Kindermärchen des Orients) - Wilhelm Ruland - E-Book

Morgenländische Märchen (79 Kindermärchen des Orients) E-Book

Wilhelm Ruland

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Beschreibung

Dieses eBook: "Morgenländische Märchen (79 Kindermärchen des Orients)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Wilhelm Ruland (1869-1927) war ein deutscher Schriftsteller. Von 1898 bis 1902 war er Redakteur und Verlagsdirektor in Leipzig. Er unternahm ausgedehnte Reisen in den Nahen Osten und ließ sich schließlich in München nieder. Wilhelm Ruland verfasste Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke; besonders erfolgreich war sein Rheinisches Sagenbuch. Inhalt: Altindische Märchen (Der königliche Einsiedler, Der verkleidete Jüngling, Die Hexe, Der König und sein Diener, Die Freundinnen, Der Jagdfalke, Der Muschelbläser, Die Vergeltung, Die Frau des Händlers, Die Augen des Königssohnes, Die Geschichte eines Dichters, Die Brautwerber, Der Stern des Einsiedlers, Der Verschwender, Die tote Braut, Madasena und der Gärtner, Das Zauberpferd, Der Statthalter und der Dieb, Der Hirtenkönig, Der Schatzgräber, Der Königserbe, Die Wundersalbe, Der goldene Baum im Meere, Die abgebissene Nase, Die drei zarten Frauen, Das Knabenopfer, Der entsagende Landesfürst, Der starke Dulder, Das Ernteopfer, Die Tochter des Froschkönigs, Die Frau mit dem kalten Herzen, Die Pforten der Hölle, Die Brautgeschenke, Der unermüdliche Jüngling, Die Schwestern, Der geprellte Dieb, Sonnenschein und Mondschein, Helokander) Arabische Märchen (Dichterlohn, Das bärtige Tier, Die Sklavin, Die Beduinin, Menschen die das Lachen verlernten, Der sterbende König, Der Heilkünstler, Der freigebige Arme, Das wundertätige Almosen, Der nächtliche Einbrecher, Der Diener der ausgleichenden Gerechtigkeit, Der Wanderer von Bagdad, Die umstrittene Börse, Der Esel des Gerechten, Die heilige Gastfreundschaft, Der ungerechte Fürst, Hatim der Gütige, Die Zauberquelle, Der Todesengel, Der Edelsinn Jafars, Ein Kriegsgrund, Der Sohn Adams und die Tiere, Der betörte Derwisch, Agha der Barmakide, Achmed der Träumer, Die sterbende Gazelle,

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Wilhelm Ruland

Morgenländische Märchen (79 Kindermärchen des Orients)

Altindische Märchen + Arabische Märchen

e-artnow, 2014
ISBN 978-80-268-1467-2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Erster Teil. Altindische Märchen
Der königliche Einsiedler
Der verkleidete Jüngling
Die Hexe
Der König und sein Diener
Die Freundinnen
Der Jagdfalke
Der Muschelbläser
Die Vergeltung
Die Frau des Händlers
Die Augen des Königssohnes
Die Geschichte eines Dichters
Die Brautwerber
Der Stern des Einsiedlers
Der Verschwender
Die tote Braut
Madasena und der Gärtner
Das Zauberpferd
Der Statthalter und der Dieb
Der Hirtenkönig
Der Schatzgräber
Der Königserbe
Die Wundersalbe
Der goldene Baum im Meere
Die abgebissene Nase
Die drei zarten Frauen
Das Knabenopfer
Der entsagende Landesfürst
Der starke Dulder
Das Ernteopfer
Die Tochter des Froschkönigs
Die Frau mit dem kalten Herzen
Die Pforten der Hölle
Die Brautgeschenke
Der unermüdliche Jüngling
Die Schwestern
Der geprellte Dieb
Sonnenschein und Mondschein
Helokander
Zweiter Teil. Arabische Märchen
Dichterlohn
Das bärtige Tier
Die Sklavin
Die Beduinin
Menschen, die das Lachen verlernten
Der sterbende König
Der Heilkünstler
Der freigebige Arme
Das wundertätige Almosen
Der nächtliche Einbrecher
Der Diener der ausgleichenden Gerechtigkeit
Der Wanderer von Bagdad
Die umstrittene Börse
Der Esel des Gerechten
Die heilige Gastfreundschaft
Der ungerechte Fürst
Hatim der Gütige
Die Zauberquelle
Der Todesengel
Der Edelsinn Jafars
Ein Kriegsgrund
Der Sohn Adams und die Tiere
Der betörte Derwisch
Agha der Barmakide
Achmed der Träumer
Die sterbende Gazelle
Die Stadt des Paradieses
Der blinde Scheich
Das Preislied Fatmas
Die Rose von Schiras
Der hinkende Hassan
Der Geist der Wüste
Der erste Tote
Die Blume des ewigen Lebens
Der Schatzesel
Der kluge Kerim
Der Holzwurm
Die Ameisenkönigin
Die ungleichen Brüder
Die schöne Semrude
Die Königin von Saba

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Wiederholter Aufenthalt im Orient führte mich dazu, diese ausgewählten Märchen zu sammeln. Vieles ist altes Erbgut, das Jahrhunderte hindurch verschüttet war. Ich sah von Tanger bis Kairo groß und klein sich im Kreis um ihn kauern, sobald auf dem Marktplatz im Eingeborenenviertel des berufsmäßigen Märchenerzählers Stimme ertönte: »Jetzt höret wieder eine Geschichte!«

Meine freie Fassung macht daher diese nachdenklichen Geschichten auch für die reifere Jugend geeignet. Ich hoffe, daß die Einfalt und schlichte Tiefe dieser alten Märchen dem abendländischen Leser mancherlei verschwingende Werte erschließt, an denen das Morgenland so reich ist.

Erster Teil. Altindische Märchen

Inhaltsverzeichnis

Der königliche Einsiedler

Inhaltsverzeichnis

Ein König saß eines Tages am Fenster seines Palastes, als seine Gemahlin hinzutrat, um eigenhändig seine Haare zu ordnen. Da bemerkte sie bei ihm das erste graue Haar und sprach: »Herr, ein Sendbote ist für dich angekommen.« Der König befahl, er möge erscheinen. Die Königin zeigte ihm das graue Haar und sprach: »Siehe hier dieses ehrwürdige Haar! Es mag als König unter den anderen gelten; denn ist es nicht ein Sendbote der Gottheit?«

Der König betrachtete es nachdenklich und entgegnete: »Das erste graue Haar ist wie ein Schwert des Greisenalters, das mit der Jugend und dem Mannesalter aufräumt.« Hierauf versank er in Sinnen und wurde niedergeschlagen. Da redete die Königin, welche jünger war, ihm also zu: »Wenn du um deiner vorgerückten Jahre willen beschämt und bekümmert bist, dann laß durch Trommelschlag verkünden, daß niemand in Gesprächen oder Reden dein Alter erwähnen darf.«

Dieser Vorschlag mißfiel dem König, und er erwiderte: »Ich schäme mich meines Alters nicht, wohl aber bin ich bedrückt, wenn ich an folgendes denke: Sobald bei meinen Ahnen die ersten Sendboten des Alters auf ihrem Scheitel sich zeigten, stiegen sie herab vom Thron und überließen ihren Platz der Jugend. Sie selber zogen sich als fromme Büßer in die Waldeinsamkeit zurück. Mich muß erst ein anderer an diesen heiligen Brauch meiner Vorfahren erinnern. Darum will ich noch heute der Königswürde entsagen. Weil unser Sohn aber noch Milch am Munde hat, werde ich dich, die du ein kluges Weib bist, dazu ausersehen, daß du den Knaben zu meinem würdigen Nachfolger erziehst.«

Die Königin erwiderte: »Dies sei fern von mir. Ich werde wie dein Schatten an deiner Seite bleiben, wohin du auch immer pilgern magst. Unser Kind soll unter deinen erprobten Ratgebern heranwachsen wie ein junger Baum des Waldes.« Alsdann übergab der König seinem Sohn die Herrschaft über die Stadt, welche Potana genannt ward, und ging als Einsiedler in die Wälder, begleitet von der Königin und deren Amme. Sie errichteten eine Hütte aus Schilf und führten ein gottgefälliges Leben. Es begab sich, daß die Königin nochmals Mutter eines zweiten Sohnes wurde. Das Kind glich jenen Waldkräutern, die im Dunkel derart leuchten, daß sie Lampen ähneln, die kein Öl bedürfen. Neun Tage nach der Geburt des Knaben starb dessen Mutter, und bald darauf starb auch die Amme, wie wenn sie den Wunsch gehabt hätte, ihrer Herrin zu folgen.

Seitdem nährte der Vater das Kindlein mit Büffelmilch, und er behütete es mit erhöhter Zärtlichkeit. Vater und Sohn verbrachten den Kreislauf der Jahre in der Lebensweise frommer Einsiedler. Ihre Speise waren Früchte, Getreide und wilde Reiskörner sowie die Milch der Kühe.

Einst wurde dem jugendlichen König die Nachricht überbracht, seinem Vater sei während seines Waldlebens ein zweiter Sohn geboren worden, und er überlegte lange: Wie könnte ich meinen jüngern Bruder, nach dessen Anblick mein Herz sich sehnt, ständig in meine Nähe bringen? Auch grämte er sich, weil sein Bruder schon in frühester Jugend die Beschwerden des Büßerlebens auf sich nehmen mußte. Er beschloß, ihn mit List an seinen Hof zu bringen. Er ließ seine Tochter kommen und sprach: »Kleide dich in ein männliches Büßergewand und begib dich in den Büßerwald zu meinem Vater und meinem jüngern Bruder. Errege seine Weltlust und verleite ihn, zu mir zu kommen; denn ich sehne mich nach ihm.«

Die Tochter machte sich auf den Weg und traf im Walde mit dem Jüngling zusammen. Weil er einfältigen Herzens war, hielt er sie für einen jungen Mann und bot ihr die Waldfrüchte an, die er soeben gesammelt hatte. Sie aber verschmähte die wenig schmackhafte Kost und gab ihm von ihrem mitgebrachten süßen Obst zu kosten. Da fand er zum erstenmal die gewohnten Waldfrüchte ungenießbar. Während sie im Grase lagerten, strich er über ihre Hände und fragte: »Wie kommt es, Fremdling, daß deine Hände zierlicher und zarter sind als die meinigen?« Sie antwortete: »Das kommt von den süßen Früchten, die wir drüben in dem anderen Büßerwald in Hülle und Fülle genießen. Würdest du statt der herben Waldfrüchte unsere Zuckerfrüchte essen, dann wären deine Hände zart und zierlich wie die meinigen. Darum folge mir in unsere Einsiedelei, welche Potana genannt wird.« Wie sie dies geredet hatten, sahen sie von fern den Vater des Jünglings herankommen. Da floh sie wie eine Gazelle davon; denn sie fürchtete sich vor dem Fluch eines Büßers, der stets in Erfüllung geht. Während der Vater seiner Hütte zuschritt, irrte der Knabe wie ein Wild im Walde umher, um den jugendlichen Fremdling mit den zierlichen und zarten Händen wiederzufinden. Unterwegs traf er mit einem Menschen zusammen, der einen Wagen mit zwei Pferden lenkte. Seine Frau saß drinnen im Wagen. Der Büßerknabe grüßte die beiden, und die Frau fragte ihn, wohin er wolle. Er antwortete ihr: »Väterchen, ich suche den Weg nach einer Einsiedelei, die Potana genannt wird.« Da hieß ihn die Frau in den Wagen einsteigen, weil auch sie beide dorthin wollten.

Ihren Mann aber hatte sie vorher heimlich gefragt, warum wohl der Knabe sie Väterchen nenne. Jener gab ihr leise den Bescheid: »In diesem Wald, aus dem jener stammt, gibt es keine Frauen; darum hält er dich für einen Mann.« Während der Fahrt fragte der Knabe den Fuhrmann, warum er Gazellen an sein Gefährt spanne. Das sei doch wohl einem Einsiedler nicht erlaubt. Jener erwiderte: »Ei, das ist nun einmal das Los dieser Gazellenart.« Dann gab ihm die Frau Obst zu kosten, und er erinnerte sich sogleich der süßen Früchte, die der verschwundene Fremdling ihm geschenkt hatte, und sein Verlangen, in dessen Einsiedelei zu kommen, wuchs.

So erreichten sie die Stadt, und als sie am Königspalast vorbeifuhren, erblickte die Königstochter den Jüngling. Sie erkannte ihn sogleich wieder, eilte zu ihrem Vater und rief: »Der Knabe, zu dem du mich ausgesandt hast, ist angekommen.« Darüber war der König hocherfreut. Er ließ den Fuhrmann reichlich beschenken, den Knaben aber ließ er auf einem geschmückten Elefanten in den Palast führen. Dort versammelte er seinen Hofstaat und sprach: »Sehet hier meinen jüngern Bruder!« Dann ließ er den Einfältigen durch weise Männer unterrichten und teilte später mit ihm den Thron, nachdem er zuvor eine würdige Gattin für ihn ausgesucht hatte.

Der königliche Einsiedler verbrachte unterdessen kummervolle Jahre. Über die Trennung von seinem Sohn weinte er so viel, daß seine Augen erblindeten. Er wollte nicht, daß es die Menschen draußen in der Welt erführen. Die Bewohner des Büßerwaldes sorgten um sein Wohlergehen.

Einst erwachte der jüngere der beiden Könige um Mitternacht und gedachte seines Vaters. Er fand keinen Schlaf mehr; denn die Reue über seine Undankbarkeit kroch wie eine Schlange über sein Herz. Frühmorgens begab er sich zu seinem Bruder und sprach: »Erlaube mir, zu meinem Vater zu gehen und seine Füße zu küssen.« Der König erwiderte: »Laß mich mit dir gehen; denn mich beseelt das gleiche Verlangen.«

Alsbald begaben die beiden Brüder sich mit einem großen Gefolge in den Wald und fanden den Vater, wie er vor seiner Schilfhütte saß. Der Greis hörte die Stimmen vieler Menschen, die ehrfürchtig seinen Namen aussprachen, dazwischen das Stampfen und Wiehern von Pferden. Dann vernahm er die Stimmen seiner Söhne, die angesichts des ganzen Gefolges zu ihm sprachen: »Vater, siehe deine beiden Kinder, die gekommen sind, um deine Füße und den Saum deines Gewandes zu küssen!«

Der Greis betastete sie beide und zog sie dann weinend an sein Herz. Und siehe, seine Tränen heilten seine Blindheit. Alle, die es sahen, erstaunten und neigten sich vor der geheiligten Person dieses erhabenen Mannes. Sein Name, welcher Somacandra lautet, lebte seitdem unvergänglich im Gedächtnis der Nachwelt.

Der verkleidete Jüngling

Inhaltsverzeichnis

Ein greiser Brahmane, der einen Bittgang zu einem Heiligtum gemacht hatte, betrat auf der Heimreise einen Garten, der berühmt war als Garten der tausend Palmen. Als er auf einem der verschwiegenen Wege umherwandelte und sich an der reichen Blütenpracht ringsum ergötzte, die süße Düfte verhauchte, da gewahrte er hinter einem Busch einen schöngekleideten Jüngling, der leblos am Boden lag. Er hob ihn auf, trug ihn auf einen Ruhesitz in der Nähe und rief seine Lebensgeister zurück, indem er ihn mit Wasser besprengte. Dabei betrachtete er die zierliche Gestalt und die zarten Gesichtszüge des Ohnmächtigen und sprach zu sich selber: »Man möchte diesen Jüngling eher für ein Mädchen halten.«

Als der Jüngling das Bewußtsein wiedererlangt hatte und von dem Dienst erfuhr, den der Greis ihm erwiesen hatte, senkte er die Augen und wollte sich mit leisen Dankesworten entfernen. Der Alte aber forderte ihn auf zu verweilen und fügte mit mildem Ernst hinzu: »Vergebens verbirgst du vor mir den geheimen Kummer, der deine Augen beschattet; darum gestehe mir als einem silberhaarigen Mann, warum vorher dir die Sinne schwanden.«

Da neigte der Jüngling ein andermal das Haupt und murmelte: »Freudiger Schreck machte mich bewußtlos, und ich schäme mich meiner törichten Verliebtheit und mädchenhaften Weichheit.« Über dieses Geständnis lächelte der Greis in verstehender Nachsicht; dann ergriff er die Hand des Jünglings, sah ihn forschend an und sprach: »Wenn deine Liebe rein ist wie weißer Lotus, dann ist sie eine Eingebung der Gottheit, und du brauchst dich ihrer nicht zu schämen.« »Sie ist so rein wie das klare Mondlicht,« beteuerte der Jüngling; »aber trotzdem werde ich den Gegenstand meiner Liebe niemals gewinnen.«

»Wer ist sie?« fragte hierauf der Greis, und der Jüngling gestand ihm Folgendes: »Sie ist die Tochter des reichen Mannes, dem dieser Garten der tausend Palmen gehört, der seinen Mitbürgern offen steht. Während der beiden Stunden, da der Garten geschlossen bleibt, wandelt sie täglich mit ihren Freundinnen oder Dienerinnen hier umher. Ich sah sie das erstemal, ohne es zu wollen. Seitdem konnte ich dem Zwang nicht widerstehen, sie täglich unbemerkt hinter diesen Büschen zu beobachten. Heute begegneten sich unsere Blicke, und da verließen mich die Lebensgeister.« Er schwieg und wandte verschämt das Antlitz ab.

Der Greis sann eine Weile nach; dann begann er: »Wenn ich recht sehe, bist du von edler Herkunft und meines Beistandes nicht unwürdig. Wohlan, wenn du reinen Herzens bist und es bleibst, dann bin ich bereit, dir jene Jungfrau als Gattin zu gewinnen. Allerdings müßt ihr beide mir helfen, ihren Vater zu überlisten.« Der Jüngling dankte dem Greise und fügte hinzu: »Ich verspreche dir, reinen Herzens zu bleiben und werde allen deinen Anordnungen folgen wie ein williges Kind.«

Hierauf gingen sie zusammen in einen Basar. Dort kaufte der Alte ein Mädchengewand und forderte den Jüngling auf, es anzulegen. Dann begab er sich mit dem verkleideten Jüngling in das Haus des reichen Mannes, dem der Garten der tausend Palmen gehörte. Dieser begrüßte den Greis voll Ehrfurcht als Brahmanen und Pilger, und jener segnete ihn mit den Worten: »Die Gottheit, die eine Brücke über das Meer baute und einen Berg in die Hand nahm, möge ständig dein Beschützer sein!«

Der Reiche dankte ihm für den Segensspruch und fragte: »Woher kommst du, ehrwürdiger Vater?« Der Greis erwiderte: »Ich komme von den heiligen Ufern des Ganges. Dort ist meine Heimat. Wegen Hungersnot ist mein Sohn mit seinem Weib und seinem Knaben ausgewandert. Dies Mädchen blieb bei mir. Nun möchte ich die Meinigen suchen und bitte dich, das Mädchen zu hüten, bis ich zurückkehre.«

Der Reiche überlegte bei sich: Wenn ich dieses Mädchen nicht behüte, dann könnte der Greis mir fluchen und mein Besitz möchte mir verlorengehen, weil er ein heiligmäßiger Mann ist, dem die Gottheit alles erfüllt. Darum sprach er: »Es sei.« Er rief seine Tochter und übergab ihr das Mädchen als Gespielin, und der Greis entfernte sich mit herzlichen Dankesworten.

Die Tochter des reichen Mannes gewann die neue Gespielin um ihrer Anmut und Artigkeit willen bald lieb. Eines Tages sprach die neue Gespielin zu ihr: »Du hast einen geheimen Kummer; möchtest du ihn mir wohl anvertrauen?« Darauf entgegnete die Tochter des Reichen: »Laß mich dir gestehen, was mein Inneres bewegt. Als ich vor einiger Zeit im Garten meines Vaters mit meinen Freundinnen umherwandelte, beobachtete mich mehrmals hinter den Büschen verstohlen ein Jüngling. An ihn muß ich immer denken, und ich möchte ihn wiedersehen.« Da sprach die neue Gespielin: »Soll ich dir dazu behilflich sein?« Jene erwiderte: »Tue es.«

Da ergriff das fremde Mädchen ihre Hand und sprach: »Sieh mich näher an; ich bin jener Jüngling.« Da weiteten ihre kindlichen Augen sich erschreckt; aber der verkleidete Jüngling kniete vor ihr nieder und sprach mit gesenktem Haupt: »Tue mit mir, was dir beliebt. Um deinetwillen ertrage ich den Tod.« Da faßte sich die Tochter des reichen Mannes, und sie fragte leise und furchtsam: »Was soll mit uns geschehen?« Der Jüngling erhob sich und rief: »Sei guten Mutes!« Dann überredete er sie, mit ihm heimlich zu fliehen; denn der gütige Greis, auf dessen Anordnung er sich verkleidet habe, erwarte sie beide, und er habe ihm versprochen, alles zu einem guten Ende zu führen.

Am andern Morgen war die Tochter des Reichen und ebenfalls ihre Gespielin nirgendwo im Hause zu finden. Vor dem Vater aber erschien der greise Brahmane, begleitet von einem Jüngling, und sprach: »Herr, ich habe den Sohn meines Sohnes wiedergefunden. Gib mir nun seine Schwester zurück, die ich dir anvertraut habe.« Der Angeredete war ratlos und erwiderte ihm: »Meine Tochter und jenes Mädchen sind verschwunden. Ich lasse überall nach ihnen forschen. Komme nach Sonnenuntergang wieder.«

Darauf entfernte sich der Greis mit dem Jüngling. Eine Stunde darauf fanden die suchenden Dienerinnen die Tochter schlafend und wohlbehalten im Garten. Sie erzählte, was nach ihrer Erinnerung sich zugetragen hatte: sie sei am Abend mit ihrer Gespielin im Garten umhergewandelt, habe jene aus den Augen verloren und bis zur Stunde zwischen Wachen und Träumen auf ihre Rückkehr gewartet. Und sie schloß also ihre Rede: »Mir ist keine weitere Erinnerung geblieben von dem, was inzwischen geschehen ist.« Der Vater herzte zärtlich die wiedergefundene Tochter und gedachte sodann nicht ohne Besorgnis des greisen Brahmanen.

Vor Sonnenuntergang erschien dieser ein zweites Mal, begleitet von dem Sohn seines Sohnes und sprach: »Herr, gib mir das artige Mädchen zurück, das ich deiner Obhut anvertraut habe.« Und der Reiche mußte ihm eingestehen, daß das Mädchen spurlos verschwunden sei und niemand ihren Aufenthalt wisse. Wie er dann den Jüngling näher betrachtete, fand er Gefallen an ihm und gab ihm zum Ersatz für das verschwundene Mädchen seine Tochter zur Frau. Mit dieser Lösung waren alle drei einverstanden.

Die Hexe

Inhaltsverzeichnis

Ein reicher Jüngling sprach einst zu seinen Eltern: »Keine der Jungfrauen dieser Stadt erregt mein Gefallen, so daß ich eine zur Frau begehre; darum erlaubt mir, in die Fremde hinauszugehen, um dort die euch passende Schwiegertochter zu suchen.« Seine Mutter erwiderte: »Wenn du draußen so wählerisch bist, als du es in deiner Vaterstadt gewesen bist, dann magst du wohl ohne die gesuchte Braut heimkehren.« Und sein Vater fügte hinzu: »Ich fürchte, daß die Rede deiner Mutter dem Regen gleicht, der auf eine Sandwüste fällt, und ich bedauere, dich nicht in deiner Kindheit der Landessitte gemäß einem Mädchen anverlobt zu haben.« Diese Worte schmerzten den Jüngling, und er senkte die Augen. Der Vater sprach weiter: »Willig lassen wir dich ziehen, wenn du mir gelobst, bei deiner Heimkehr eine Jungfrau dieser Stadt, die mir eine zweite Heimat geworden ist, alsbald zur Frau zu nehmen, wofern du draußen in der Fremde die gesuchte würdige Braut nicht findest.« Darauf gelobte der Jüngling seinen Eltern feierlich: »Die erste Jungfrau, die mich draußen mit wahrer Zuneigung beseelt, werde ich zur Gattin begehren, wer immer sie auch sei, falls sie wert ist, eure Tochter zu werden.«

Hierauf ritt er von dannen, begleitet von einem treuen Diener und mit reichen Geldmitteln versehen. Auf seiner Wanderung kam er in eine fremde Stadt, in der ein Vollmondfest gefeiert wurde. Er stellte sich auf dem Marktplatz unter die Menge und betrachtete das Tanzspiel, das von sieben Männern und sieben Frauen vor dem Statthalter aufgeführt wurde. Seine Augen erfreuten sich an den glitzernden, gleitenden Gestalten, die aus behender Geschmeidigkeit blitzschnell zu feierlicher Ruhe erstarrten.

Dann erstaunte er über zweierlei: unter den Frauen war eine rehäugige Jungfrau, die tanzte so lieblich, wie er es niemals von einem Menschen beobachtet hatte, und zudem war sie die schönste der sieben Frauen. Über die Anmut ihrer Züge und ihres Tanzes staunte der Jüngling. Der Statthalter aber auf seinem erhöhten Sitz hatte so strenge Züge, wie er sie noch niemals bei einem Menschen beobachtet hatte, und weder das Tanzspiel noch die Begleitmusik schien ihn zu erfreuen. Darüber mußte der Jüngling ebenfalls staunen.

Jene Tänzerin, die der Fremdling vornehmlich bewunderte, trug einen Schleier, darin waren ungezählte Goldsterne eingewebt. Ein Nebenstehender erklärte ihm auf Befragen: »Diese Tänzerin ist die Tochter eines berühmten Sterndeuters aus dieser Stadt; darum trägt sie bei dieser Feier ihren vielbewunderten Sternenschleier.« Und der Jüngling, von einer heftigen Neigung erfaßt, begehrte das schöne Mädchen zum Weibe.

Als die Tochter des Sterndeuters am nächsten Tage in dem ausgedehnten Garten ihres Vaters allein umherwandelte, hielt der Jüngling sich hinter einem Busch verborgen wie eine Eule in ihrem Versteck. Dann trat er kühn hervor und bewarb sich um die Jungfrau. Weil er aber seine Werbung in ungeschickte Worte kleidete, reizte er ihre Lachlust, und da sie zudem kein Gefallen an ihm fand, wandte sie sich ab. Als der Werber dann anhub, auf seinen Reichtum zu pochen, wurde sie unwillig; denn ihr Vater war durch seine Künste selber ein vermögender Mann geworden. Im Übermaß der Leidenschaft war der Jüngling entschlossen, das Mädchen mit Gewalt zu entführen, eingedenk des Gelöbnisses, das er seinen Eltern abgelegt hatte. Aber sie entwand sich seinen Händen wie eine Antilope und ließ den Sternenschleier, der ihre Schultern bedeckte, in seiner Hand zurück. Der Jüngling entwich ebenfalls, aus Besorgnis, bestraft zu werden.

Scham und verletzter Stolz kämpften gegen seine Leidenschaft und durchglühten ihn wie brennendes Feuer. Ein verwegener Plan reifte während der schlaflosen Nacht in seinem erregten Herzen. Am andern Morgen erschien er vor dem Statthalter und sprach: »Herr, erweise mir, einem Fremdling, die Gnade, dich warnen zu dürfen. Vernimm dies: Vergangene Nacht habe ich vier Hexen bei ihrer Zusammenkunft belauscht. Als ich die gefährlichste unter ihnen ergreifen wollte, entwand sie sich meinen Händen und ließ diesen Schleier zurück. Außerdem habe ich drei Nägeleindrücke vorn an ihrer Brust hinterlassen; daran wird sie überführt werden.« Da verfinsterten sich die strengen Züge des Statthalters. Er ließ den Hauptmann der Leibwache kommen und sprach: »Seit altersher werden die Hexen, sobald man ihrer habhaft wird, in die Höhle vor dem Stadttor geworfen. Wenn die Besitzerin dieses Schleiers auch jung und schön sein sollte, möge sie die gleiche Strafe erleiden.«

Der Hauptmann entgegnete: »Herr, in dieser Stadt trägt nur eine Frau einen solchen Schleier, und zwar die Tochter des Sterndeuters.« Und der Statthalter entschied: »Dann soll sie die Strafe der Hexen treffen, wenn die Nägeleindrücke an ihrem Hals sie überführen.« Das Mädchen wurde dem Richter überliefert und der Schleier als ihr Eigentum festgestellt. Zudem fanden sich drei Nägeleindrücke an ihrem Halse vor. Alsbald wurde sie hinausgeführt auf die Anhöhe vor dem Stadttor und dort in die Höhle geworfen.

Da geschah etwas Seltsames: während die Menschen droben wähnten, die jugendliche Hexe liege tödlich verletzt im Höhleninnern, war drinnen ein Jüngling gestanden, der hatte die Bewußtlose geschickt in seinen starken Armen aufgefangen. Als es Nacht geworden war, kletterte dieser Mann an einer Strickleiter wieder hinauf, und in den Armen hielt er die, welche er liebte. Droben harrte mit den Reittieren sein treuer Diener, und beim Morgengrauen langten die beiden windschnellen Reiter in der Heimat des reichen Jünglings an.

Das geraubte Mädchen vermochte die Neigung des verwegenen Jünglings nicht zu erwidern. Er flehte sie an, ihm die gewaltsame Entführung zu vergeben und erzählte ihr von dem Schwur, den er geleistet hatte, daß er die erste Jungfrau, die ihn mit Liebe beseele, als seine Gattin heimführen werde. Seine Eltern bestätigten das Geständnis, rühmten ihren Liebreiz und führten sie durch die schönen Gemächer, die sie für die Schwiegertochter hergerichtet hatten. Da hörten ihre Tränen auf zu fließen. Sie hielten Hochzeit und wurden später eins wie Fleisch und Nagel an demselben Finger.

Der König und sein Diener

Inhaltsverzeichnis

Ein König hatte einen Diener, der zwar klein und unansehnlich, aber von großer Treue für seinen Herrn beseelt. Deshalb behielt er ihn um sich, obgleich er seiner Gattin mißfiel. Auch der jugendliche Königssohn hatte den stets gefälligen Diener seines Vaters liebgewonnen; denn jener, der äußerlich noch ein Knabe schien, spielte öfters mit ihm und lehrte ihn manche unterhaltende Spiele.

Eines Tages ging der König auf die Jagd. Als er heimkehrte, war die Königin soeben im Begriff, ein Opfer herzurichten, von dem sie sagte, eine Gottheit habe sie dazu aufgefordert, während ihr Gemahl draußen jagte. Durch dieses Opfer, so behauptete sie, würde der König die Weltherrschaft erlangen, jedoch unter der Bedingung, daß ein Mensch geopfert und sein Herz für das Königspaar zur Opferspeise hergerichtet werde, und zwar habe die Gottheit den Diener des Königs für dieses Opfer ausersehen.

Den König grauste vor diesem Opfer, und er erklärte, um diesen Preis wolle er auf die Weltherrschaft verzichten. Da schalt die Königin ihn einen Schwächling, der nicht würdig sei, den Thron seiner Vorfahren einzunehmen. Dies kränkte den König, und als die Königin fortfuhr, ihm die Herrlichkeit der Weltherrschaft auszumalen, begann er zu schwanken. So wurde die Tat beschlossen. Der König rief seinen Mundkoch heimlich zu sich, beschenkte ihn reichlich und sprach: »Die Gottheit hat mich wissen lassen, ich möge ihr um meines Reiches willen ein Menschenopfer darbringen. Wer daher morgen eine Stunde vor der gewohnten Tischzeit von mir zu dir entsandt wird mit dem Auftrag: ›Bereite deinem Herrn alsbald ein gutes Mahl!‹ den strecke nieder, nimm sein Herz und bereite daraus eine Opferspeise für mich und die Königin!«

Am andern Tage sprach der König eine Stunde vor der gewohnten Tischzeit zu seinem Diener: »Mich hungert; begib dich zum Mundkoch und befiehl ihm: ›Bereite deinem Herrn alsbald ein gutes Mahl!‹ Hurtig eilte der Diener hinaus. Draußen im Schloßhof sprang ihm der Königssohn entgegen und rief ihm zu: »Soeben fand ich beim Spielen im Garten zwischen dem Kies dieses Klümpchen Gold. Ich bitte dich, eile doch sogleich zum Goldschmied und bringe mir dafür einen gleichen Fingerring mit, wie er vor kurzem einen für den König angefertigt hat; ich möchte damit meine Mutter überraschen.«

Der Diener freute sich über die Gesinnung des Knaben und entgegnete: »Gern will ich deinen Auftrag ausführen, wofern du inzwischen zum Mundkoch hinübereilst und an meiner Statt den Befehl des Königs ausrichtest: Bereite deinem Herrn alsbald ein gutes Mahl.« Damit eilte er fort, um den Wunsch des Königssohnes zu erfüllen. Dieser begab sich zu dem Mundkoch, um den Befehl des Königs zu überbringen. Und die grausige Tat geschah, wie das Königspaar sie vorbereitet hatte.

Nach einiger Zeit erschien der Diener vor dem König und suchte den Königssohn. Bei seinem Anblick entsetzte sich das Königspaar. Der Diener sprach: »Hoher Gebieter, vor einer Stunde bat der Königssohn mich drunten im Hofe, als ich im Begriff war, deinen Auftrag dem Mundkoch auszurichten, ich möge für einen Goldkiesel, den er zwischen dem Gartenkies gefunden hatte, bei Eurem Goldschmied diesen Fingerring erstehen, mit dem er die erhabene Königin, seine Mutter, zu erfreuen gedenkt, damit sie den gleichen Goldreifen trage wie Ihr. Ich habe seinen Auftrag ausgeführt, weil er versprach, inzwischen statt meiner Euren Befehl dem Mundkoch zu überbringen, Euch alsbald ein gutes Mahl zu bereiten.«

Da schrie die Königin laut auf, und ihr Schmerz wurde zu Feuer, das sie wie eine Motte versengte. Sie fiel tot zu Boden. Der König aber stand, als sei er zu Stein geworden. Er übergab die Regierung einem Verwandten, ging in die Einsamkeit und verbrachte den Rest seines Lebens als Büßer.

Die Freundinnen

Inhaltsverzeichnis

In einer Ortschaft lebten zwei alte Frauen mit Namen Buddhi und Siddhi, die waren Freundinnen und beide arm. Am Eingang des Ortes stand eine kleine Kapelle mit dem Bildnis eines Heiligen. Die alte Buddhi bezeigte diesem Heiligen dadurch ihre Verehrung, daß sie täglich sein Bethaus scheuerte. Eines Tages ließ der Heilige sie wissen: »Bitte dir eine Gnade aus!« Sie antwortete: »Gewähre mir so viel, daß ich sorgenlos leben kann.«

Seitdem fand die Alte täglich vor dem Heiligenbildnis einen Golddenar liegen, dadurch gelangte sie zu Reichtum. Galt ihr früher saure Reismilch, die sie leider niemals zu kosten bekam, als das köstlichste aller Gerichte, dann besaß sie bald ein Dutzend Rinder mit strotzenden Eutern. War sie bisher mit getrocknetem Kuhmist hausieren gegangen, dann konnte sie jetzt zwei Dienerinnen halten und Befehle erteilen. Ihre zerfallene Schilfhütte hatte sie mit einem zierlich getürmten Haus vertauscht.

Ihre Freundin Siddhi wußte sich ebensowenig wie alle anderen Bewohner der Ortschaft den wachsenden Wohlstand der alten Buddhi zu erklären. Eines Tages aber schmeichelte sie ihr das Geheimnis ab, und sie dachte bei sich: Ich werde diesem Heiligen noch größere Ehren erweisen. Sie ging hin, reinigte sein Standbild täglich mit Wasser, legte Blumen davor und fastete mehr, als ihre Dürftigkeit ihr ohnehin auferlegte. Daraufhin ließ der Heilige sie wissen: »Erbitte dir eine Gnade aus!« Siddhi antwortete: »Schenke mir das Doppelte von dem, was du meiner Freundin gewährst.« Dies wurde ihr gewährt, und so wurde die alte Siddhi noch wohlhabender als ihre Freundin Buddhi.

Seitdem verdoppelte Buddhi ihren Diensteifer in der Kapelle, und der Heilige spendete ihr dafür das Zwiefache von dem, was ihre Freundin Siddhi empfing. So übertrumpften sie fortgesetzt einander im Wettbewerb um die Gunst und die Gaben des Heiligen. Eines Tages sprach Siddhi zu sich selbst: »Ich mag anstellen, was ich nur will; meine Freundin Buddhi wird dennoch allemal das Doppelte erbitten.« Und es kam ihr plötzlich ein schlimmer Einfall.

Am anderen Tage bat sie den Heiligen, als sie wiederum sich eine Gnade ausbitten durfte: »Blende mich auf einem Auge!« Der Heilige willfahrte der Bitte. Als sie das Bethaus verließ, begegnete ihr draußen ihre Freundin, und dieser schien es, als ob das linke Auge der alten Siddhi schadenfroh blinzle, wie jene hocherhobenen Hauptes an ihr vorbeischritt.

Dies erregte ihre Mißgunst, und sie dachte bei sich: Zweifellos hat der Heilige der andern wiederum mehr gewährt, als ich das letztemal empfangen habe. Weil sie aber darauf schon vorbereitet war, so versah sie heute mit verdoppeltem Eifer ihren gewohnten Dienst. Als ihr hierauf von dem Heiligen abermals eine Gnade zugesagt wurde, sprach sie:» O Yaksa, gib mir das Doppelte von dem, was Siddhi empfangen hat!« Der Heilige willfahrte ihrer Bitte, und sie wurde auf beiden Augen blind; denn was ein Himmlischer sagt, das geschieht.

Der Jagdfalke

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Ein König hatte unter seinen abgerichteten Jagdvögeln einen Falken, den er sehr liebgewann; denn keiner verstand wie dieser die Kunst, ihm das Wild zuzutragen. Einst nahm der König den Falken wieder mit auf die Jagd. Die Sonne brannte, und der königliche Falkner litt großen Durst. Da er am Fuß eines Felsen lagerte, sah er an dessen Wand ein klares Quellwasser herunterrieseln. Er griff nach seiner goldenen Trinkschale und schöpfte von dem Wasser, um den Durst zu stillen.

In diesem Augenblick schlug der Falke mit den Flügeln heftig gegen die Schale, so daß der Inhalt verschüttet wurde. Der erzürnte König holte mit der goldenen Schale zu einem Schlage aus. Tödlich am Kopf getroffen, fiel das Tier zur Erde. Zu spät bereute der König seinen Jähzorn. Da aber der Durst ihn weiter peinigte, gebot er dem Diener, nach der Quelle des Rinnsals hinaufzusteigen und die Schale zu füllen. Nach einer Weile kehrte der Diener zurück und meldete: »Herr, die Quelle, nach der du mich ausgesandt hast, ist vergiftet; denn dicht daneben lag eine tote Schlange.«

Da erkannte der königliche Jäger, daß sein Lieblingsfalke ihm das Leben gerettet hatte. Seine Dankbarkeit war so groß als seine Reue. Dies gefiel der Gottheit so sehr, daß sie die Lebensgeister des treuen Tieres zurückrief, und seitdem hing der König mit noch größerer Liebe an diesem Jagdfalken.

Der Muschelbläser

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In einer Ortschaft lebte ein Landmann, der behütete sein Eigentum so ängstlich, daß er jede Nacht drei Stunden lang auf einem Holzgerüst in der Wiese hinter seinem Hause stand und dort Umschau nach nächtlichen Dieben hielt. Näherte sich jemand, der ihm verdächtig schien, dann blies jener mit vollen Backen in eine große Muschel. Eines Nachts hatten Diebe in der Umgegend eine Viehherde gestohlen und waren im Begriff, sie an der Wiese dieses Landmannes vorbeizutreiben. Da ertönte das Muschelhorn, und die Spitzbuben sprachen zueinander: »Schade, nun haben die Bestohlenen uns dennoch überholt.« Damit ließen sie die Herde im Stich und brachten sich in Sicherheit.

Als der Landmann in der Morgenfrühe hinaustrat, weideten die gestohlenen Rinder auf der Wiese hinter seinem Hause. Zuerst war er ratlos, dann begriff er den Zusammenhang und sprach: »Aha, also waren jene Menschen, die ich diese Nacht verscheucht habe, dennoch Diebe, und dies ist die Beute, die sie im Stich gelassen haben.« Darauf trieb er die Herde in die Ortschaft und machte sie den Dorfbewohnern zum Geschenk mit den Worten: »Nehmt diese Kuhherde; eine Gottheit schenkte sie mir über Nacht, und ich teile sie mit euch.«

Darauf ernannten sie ihn zum Vorsteher der Dorfgemeinde. Er unterließ es nicht, weiterhin nachts drei Stunden auf dem Holzgerüst in seiner Wiese Wache zu stehen. Einige Monate später hatten die gleichen Diebe wiederum nachts eine Viehherde geraubt und waren im Begriff, sie hinter der Wiese jenes Landmannes vorbeizutreiben. Abermals ertönte das Muschelhorn. Da sprachen die Diebe zueinander: »Haben wir nicht das letztemal genau an dieser Stelle den nämlichen Muschelton vernommen? Ei, wir Narren, wenn das nur nicht ein Bauerntölpel ist, der in eine Muschel bläst, um das Wild von seinem Acker fernzuhalten.«

Sie schlichen beherzt hinzu und erblickten ein Holzgerüst und darauf einen Menschen, der mit vollen Backen in eine große Muschel blies. Da rüttelten sie zornig an den Balken des Gerüstes, so daß der Muschelbläser hinunterkollerte. Sie schlugen ihn wund, raubten ihn aus bis aufs Hemd und eilten davon.

Morgens fanden die Nachbarn den neuen Vorsteher der Dorfgemeinde mit verdrießlichem Gesicht vor der Tür seines Hauses sitzen, und sie fragten, wie es komme, daß er so zerbeult und geschunden sei. Er erwiderte ihnen: »Was mir mein Muschelhorn gegeben hat, das hat mir mein Muschelhorn wieder genommen.« Sie verstanden den Sinn dieser Worte nicht und sprachen im Fortgehen: »Er wird in der nächtlichen Dunkelheit von seinem Holzgerüst gefallen sein, ist auf den Kopf gestürzt, und sein Verstand hat darunter gelitten.« Sie bedauerten ihn, waren aber innerlich zufrieden, weil jener an demselben Tage das Holzgerüst in seiner Wiese entfernte und sein Muschelhorn ihren Schlaf nicht mehr störte.

Die Vergeltung

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Ein König hatte einen Kämmerer, dem war in der Wiege von Sterndeutern geweissagt worden, er werde dereinst, ohne die Königswürde zu bekleiden, königliche Gewalt besitzen. Diese Weissagung ging in Erfüllung; denn er wurde später der erste und angesehenste Mann im Lande nach dem König. Er verwaltete sein hohes Amt eine lange Reihe von Jahren hindurch, bis die Bürde des Alters sich zusehends bei ihm fühlbar machte. Eines Tages sprach er zu seinem Herrn: »Ich bin alt geworden und nicht mehr fähig, mein Amt derart zu versehen, wie du es von deinem ersten Diener verlangen kannst; darum bitte ich dich, mir einen Gehilfen zu bestimmen, der mein Nachfolger werde.«

Der König entsprach seiner Bitte und bestimmte als seinen Nachfolger einen Höfling, den jener ihm empfohlen hatte. Dieser trat alsbald seinen Posten als Gehilfe an. Er konnte es aber nicht erwarten, die Stelle allein zu verwalten. Als er einst mit dem König allein beisammen war, redete er ihn also an: »Herr, ich habe Beweise gefunden, daß dein Kämmerer dein Vertrauen jahrelang mißbraucht hat.« Der König runzelte die Stirn und wünschte Weiteres nicht zu erfahren, weil er edelmütigen Sinnes war. Aber das Mißtrauen gegen seinen Kämmerer fraß seitdem wie Nager an seinem Herzen, und dem alternden Kämmerer blieb es nicht verborgen. Er sprach zu sich selber: »Dieser Undankbare lohnt mir die Empfehlung mit übler Nachrede. Ist auch ohnehin mein Tod nicht mehr fern, so soll er dennoch nicht ungestraft bleiben.«

Er nahm ein Kästchen, legte wohlriechende Spezereien hinein, denen er zauberhafte Kräfte verlieh, und fügte ein Stück Birkenrinde bei, das beschrieben war. Das Kästchen legte er in einen Schrein und verschloß diesen mit sieben Schlössern. Dann verteilte er sein Vermögen unter die Armen, schritt hinaus vor das Stadttor und setzte sich auf einen Düngerhaufen, um nach dem Vorbild großer Männer freiwillig Hungers zu sterben.

Der König erfuhr davon, ging zu ihm hinaus und bat ihn, heimzukehren; aber er verharrte in seinem Vorsatz wie das Meer in seinen Ufern. Darauf ließ der König dessen Nachfolger seinen Zorn fühlen. Da ging auch dieser hinaus und huldigte dem fastenden Greise, indem er Weihrauch vor ihm anzündete. Der Verschlagene hatte unbemerkt eine Weihrauchkohle in den verdorrten Düngerhaufen geworfen. Dieser fing Feuer, und der Greis erstickte, weil er gelobt hatte, diesen Platz nicht mehr zu verlassen. Alles verehrte ihn seitdem wie eine Gottheit.

Dann sprach sein Nachfolger zum König: »Erlaube mir, die Amtswohnung meines Vorgängers zu beziehen.« Er erhielt die Erlaubnis. In der Wohnung erblickte er den Schrein mit den sieben Schlössern und dachte: Darin hat er sein Vermögen aufbewahrt; denn warum hätte er sonst die sieben Schlösser angebracht! Er sprengte den Schrein auf wie eine Kokosnuß, erblickte die duftenden Spezereien und sog gleich einer Biene ihre Wohlgerüche ein. Dann gewahrte er die Birkenrinde und las darauf folgende Worte: »Wer immer die Wohlgerüche dieses Schreines eingeatmet hat und nicht beschließt, den Lebenswandel eines bußfertigen Einsiedlers zu führen, der wird alsbald vom Tod ereilt.«

Da befiel den schuldbewußten Menschen eine große Beklommenheit; denn er war überzeugt, daß ein Zauber dieses Toten nicht unwirksam sei. Allein er konnte sich nicht entschließen, dem Leben des Ansehens und Wohlergehens zu entsagen. Er ließ einen seiner Diener, der schon bejahrt war, die Düfte des Schreines riechen. Der Alte starb nach drei Tagen. Dies ging dem unbußfertigen Manne so zu Herzen, daß er in derselben Stunde die Einsamkeit aufsuchte, um dort den Rest seines Lebens zu verbringen. Also hatte sein Vorgänger für den Frevel, den jener an ihm verübte, über den Tod hinaus heilsame Vergeltung geübt.

Die Frau des Händlers

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Ein reicher Händler beschloß, in Geschäften übers Meer und in das Mohrenland zu reisen. Er sprach zu seiner Frau: »Je länger ich ausbleibe, um so größer werden die Schätze sein, die ich mitbringen werde. Bin ich nach drei Jahren nicht zurückgekehrt, dann bringe dieses Kästchen zu dem Richter unserer Stadt, damit er in deiner Gegenwart es öffne.« Dann reiste er ab, nachdem er die Frau der Obhut ihrer Amme anvertraut hatte.

Zwei Jahre vergingen, und der Mann war noch nicht zurückgekehrt. Immer mehr verblaßte sein Bild im Gedächtnis der Frau. Ihre Freundinnen sprachen zu ihr: »Dein Mann ist wohl längst gestorben fern im Mohrenland, wohin ihn seine Habsucht trieb, und deine Jugend fließt dahin wie ein flinkes Bächlein. Laß ihn für tot erklären und werde die Frau eines andern rechtschaffenen Mannes.« Die Frau sagte nichts dazu, aber sie dachte viel über diese Reden nach, so daß die Amme zu ihr sprach: »Dich drückt nicht allein die Sorge um deinen Mann; ich glaube, daß noch andere Gedanken dich bedrücken.« Darauf teilte die Frau ihr mit, was die Freundinnen zu ihr gesprochen hatten. Sie erwartete, die Alte würde ein Gleiches zu ihr sprechen; diese aber sagte nichts dazu, und das verdroß die Frau.

Als ein weiteres Jahr verflossen war und der Ehemann noch immer nicht zurückkehrte, da ging die Frau mit dem Kästchen zu dem Richter und übergab es ihm mit den Worten: »Heute sind drei Jahre vergangen, seitdem mein Mann in Geschäften übers Meer in das Mohrenland gereist ist. Hier überbringe ich dieses Kästchen, wie er mir es aufgetragen hat, damit du in meiner Gegenwart es öffnest. Doch mir fehlt der Schlüssel.« Der Richter erwiderte: »Dein Mann hat ihn mir vor seinem Fortgehen übergeben.« Er holte ihn, öffnete den Schrein und las auf einer Birkenrinde folgendes: »Wenn ich drei Jahre nach meiner Abreise nicht zurückgekehrt bin, soll man mich für tot erklären, und meine Frau werde das Weib eines andern Mannes, der um sie wirbt.« Da verhüllte die Frau ihr Haupt und kehrte in ihr Haus zurück. Zu ihrem Gram gesellte sich der Groll über ihren Mann, weil er aus Habgier diese gefährliche Meerfahrt unternommen hatte.

Als ein weiteres Jahr verflossen war, sprachen die Freundinnen abermals zu ihr: »Deine Jugend fließt dahin wie ein schneller Fluß; wenn du daher willst, daß unsere Männer dir einen Mann zuführen sollen, der dich zur Frau begehrt, dann sage es.« Die Frau seufzte und antwortete: »Es war nicht meine Schuld, daß das Bild meines Mannes in meinem Gedächtnis verblaßt ist wie die Mondscheibe im Frühlicht. Wenn es darum euren Männern beliebt, mir einen neuen Gatten zuzuführen, dann mögen sie es tun.« Ihre Amme hatte das Gespräch mit angehört, und als sie allein war, weinte sie, weil ihre Herrin nicht freiwillig sieben Jahre mit einer neuen Heirat warten wollte. Da sie aber ihren Unwillen fürchtete, wagte sie nicht, ihr zuzureden.

Es begab sich aber, daß niemand von den Männern und Jünglingen der Stadt sich einfand, um die Frau des Händlers zur Gattin zu erwählen. Als sie gewahrte, daß jene ihre Wohlhabenheit und körperliche Wohlgestalt zu verschmähen schienen, wurde sie niedergeschlagen, und sie verschloß sich vor ihren Freundinnen.

Als sie eines Tages auf dem Dach ihres Hauses saß, schritt ein schöngekleideter Jüngling vorüber. Sie beugte sich vor, und ihre werbenden Augen entfachten eine plötzliche Leidenschaft in ihm. Seit diesem Tage wandelte er täglich zu der nämlichen Stunde an ihrem Hause vorbei; sie saß geschmückt auf dem Dache, und die Blicke der Beiden streckten sich wie Arme nacheinander aus.