Mosaik der verlorenen Zeit - Elyseo da Silva - E-Book
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Mosaik der verlorenen Zeit E-Book

Elyseo da Silva

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Beschreibung

Der PAGE-TURNER "Tolles Buch, das mich in Atem gehalten hat. Spannend wie ein Thriller taucht man ein in die magisch-mystische Welt der Mayas. Die unterschiedliche Handlungsstränge verknüpfen sich im Laufe des Buches zu einer tragischen, schönen, fesselnden, traurigen Geschichte, die man bis zur letzten Seite nicht mehr aus der Hand legen möchte." (Leserin über das Mosaik der verlorenen Zeit) Julián verbrennt. Schuld daran ist ein Alptraum, der nach dem Aufwachen Brandblasen auf seinem Körper hinterlässt. Kein Arzt, kein Psychologe, kein Medikament scheinen Julián helfen zu können. Just zur Zeit seiner größten Verzweiflung steht plötzlich Kyriel vor der Tür. Die beiden Freunde haben sich seit Jahren nicht gesehen, doch ist Kyriel selbst auf der Flucht vor den eigenen Erinnerungen. Als ein unerwarteter Gast endlich Licht ins Dunkel bringt, begeben Julián und Kyriel sich auf eine Reise, die ihrer beider Leben für immer verändern wird. Auf der anderen Seite der Welt, in einem kleinen Dorf in Guatemala, wächst das Maya-Mädchen María Dolores auf. Ihre Kindheit endet von einem Tag auf den anderen, als sie vor der Hütte, in der sie gemeinsam mit ihrer Familie lebt, ein Symbol entdeckt. Auf einem Felsen prangt eine weiße Hand. Jeder in Guatemala weiß, was dieses Symbol zu bedeuten hat: Jemand wird sterben… "Elyseo da Silva besitzt ein Talent Gefühle in seinen Texten aufleben zu lassen, das seinesgleichen sucht. (...) Eines der besten Bücher das ich jemals lesen durfte." (Adrienne Ava) "Mein Jahrhundertroman." (Beka Verardi) Abenteuer, Liebesgeschichte, historischer Roman, Coming-of-Age-Geschichte - das Mosaik der verlorenen Zeit raubt dem Leser den Schlaf .

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Seitenzahl: 792

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Mosaik der verlorenen Zeit

Ein Roman

 

von

 

 

Elyseo da Silva

 

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Prolog

Erstes Buch – Sternschlag

Kapitel 1 – Freud’sche Versprechen

Kapitel 2 – Vorstadtkäfig

Kapitel 3 – Waldkönigen

Kapitel 4 – Löcher in der Welt

Kapitel 5 – Geruch nach Meuterei

Kapitel 6 – Tohil

Kapitel 7 – Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Kapitel 8 – Briefe an Godot I

Kapitel 9 – Hundstage

Kapitel 10 – Le café aux folles

Kapitel 11 – Briefe an Godot II

Kapitel 12 – Von der Flüchtigkeit der Sterne

Kapitel 13 – Was vom Leben übrig blieb

Kapitel 14 – Briefe an Godot III

Kapitel 15 – Blick zurück nach vorn

Kapitel 16 – Briefe an Godot IV

Kapitel 17 – Lolas Geheimnis

Zweites Buch – Bruchstücke

Kapitel 18 – Nordwind

Kapitel 19 – Leben wie Penner in Frankreich

Kapitel 20 – Briefe an Godot V

Kapitel 21 – Katoptrophobische Anwandlungen

Kapitel 22 – Die Weiße Hand

Kapitel 23 – Vergessene Träume

Kapitel 24 – Briefe an Godot VI

Kapitel 25 – Simondépression

Kapitel 26 – Der Entschluss

Kapitel 27 – Albaicín

Kapitel 28 – Unter Tage

Kapitel 29 – Auf den Spuren Fürst Myschkins

Kapitel 30 – Rivadeneira

Kapitel 31 – Negerschlucht

Kapitel 32 – Bilderstürmer

Kapitel 33 – Verlust der Praktischheiligkeit

Kapitel 34 – Nomadin wider Willen

Kapitel 35 – Whisky und Zigarren

Kapitel 36 – Briefe an Godot VII

Kapitel 37 – Glut

Kapitel 38 – Déjà-vu

Kapitel 39 – LX

Kapitel 40 – Briefe an Godot VIII

Kapitel 41 – Chaos, Liebe, Hoffnung

Kapitel 42 – 39 Sekunden

Kapitel 43 – Gaukelspiel wankender Wirklichkeit

Kapitel 44 – Briefe an Godot IX

Kapitel 45 – Vom Niedergang des Wolkenplaneten

Kapitel 46 – Traum von einer besseren Welt

Kapitel 47 – Mafaldas Botschaft

Kapitel 48 – Briefe an Godot X

Kapitel 49 – Per aspera ad astra

Kapitel 50 – Der Rache verheißungsvoller Ruf

Kapitel 51 – Abschied

Kapitel 52 – Briefe an Godot XI

Kapitel 53 – Lachslaichen

Kapitel 54 – Ende ohne Zauber

Kapitel 55 – Briefe an Godot XII

Kapitel 56 – Welcher Art Mensch

Drittes Buch – Mosaik

Kapitel 57 – Don Pedros Erinnerungen

Kapitel 58 – Begegnungen, erwartete und unerwartete

Kapitel 59 – Nicht der Reichste unter den Reichen

Kapitel 60 – In guten wie in schlechten Zeiten

Kapitel 61 – Des Richters Urteil

Kapitel 62 – Daunenkrone

Kapitel 63 – Briefe an Godot XIII

Kapitel 64 – Steinchen

Epilog

Anhang

Nachwort

Danksagung

Glossar

Impressum

 

Für Manuel Eyrich und Diogo Miguel Santana Abrantes da Silva.

Ihr lehrtet mich zu leben und zu sterben.

 

 

Meiner geliebten Großmutter Maria Stengel. Ich wünschte, Du wärst noch hier.

 

 

 

Für weitere-Informationen zum

Mosaik der verlorenen Zeit (Dramatis Personae, Hintergrund)

besuchen Sie:

 

www.mosaikderverlorenenzeit.de

 

 

„Träume sind Küsten, an denen der Ozean des Geistes auf das Land der Materie trifft. Strände, wo die Noch-nicht-Gewesenen, die Einst-Gewesenen und die Niemals-Sein-Werdenden inmitten der Noch-Seienden spazieren gehen können.”

 

David Mitchell, number 9 Dream

Prolog

 

Vom tintenblauen Himmel herab sendet ein silberner Mond seinen Atem aufs Land. Vorstadtvorhänge bauschen sich, unbemerkt.

Hinter einem solchen Vorhang, an einem Schreibtisch, sitzt ein Mann. Vornübergebeugt sitzt er, summt gedankenverloren eine traurige Weise. In seiner Hand ein Füllfederhalter. Er fliegt über einen Bogen Papier, beschreibt ihn mit eng gesetzten Lettern. Bisweilen rastet er, schwingt sich dann wieder auf. Zögerlicher Mal um Mal.

Beschwörend sendet der Mann einen Blick gen Himmel.

Abermals ringt er der Feder ein Wegstück ab. Schließlich jedoch verstummt sie, verharrt, als entweiche alles Leben aus ihr.

Der Mann seufzt.

Knisternd landet der Bogen im Feuer, wie so viele seiner Brüder zuvor, wird eins mit dem silbernen Atem.

Ein weiterer Bogen findet seinen Weg. Der Mann beugt sich vornüber, summt leise,

Lieber Pascal,

schreibt er.

Lehnt sich zurück.

Schließt die Augen.

Beugt sich abermals nach vorn und sendet die Feder fort, hinauf zu neuem Fluge.

ERSTES BUCH – STERNSCHLAG

Kapitel 1 – Freud’sche Versprechen

 

„Was führt dich zu mir?“

Julián erschrak. Er hatte den Mann mit dem schlohweißen Haar nicht hinter der Blockhütte hervorkommen sehen. Unwillkürlich ergriff er Dunas Zaumzeug und tätschelte die sternförmige Zeichnung auf ihrem verschwitzten Hals.

„Totumay?“

Das Lächeln des Alten offenbarte faulige Zahnstümpfe. „So ruft man mich“, entgegnete er. „Wenn mich denn jemand ruft.“

„Lola schickt mich zu Ihnen.“ Julián räusperte sich. „Sie ist meine Mutter.“

„Lola.“ Die Augen des Mannes funkelten, als er den Namen aussprach.

„Genau“, nickte Julián. „Ach so - entschuldigen Sie. Ich bin Julián.“ Er streckte dem Alten eine Hand entgegen und gab sich alle Mühe, nicht auf dessen Zähne zu starren. „Julián Coya de la Serna. Lola meinte, Sie könnten mir vielleicht helfen.“

Eine Brise wehte von dem dunklen Waldsee herüber und kühlte den Schweiß auf Juliáns Haut. Er wünschte, er hätte einfach ins Wasser springen können, so wie früher.

„Nun, ich will sehen, ob mir das möglich ist. Zuerst aber solltest du Duna versorgen. Sie wird sich sonst erkälten.“

Julián stutzte, als der Alte den Namen der Stute nannte. Dann aber nickte er. Natürlich. Er war nicht der einzige, der auf diesem Wege hierher gelangte.

„Du kannst sie dort hinten anbinden“, Totumay wies ihm mit dem Finger die Richtung. „Da ist es windgeschützt. Ich bringe dir ein Handtuch.“

Duna schnupperte an Juliáns Hals, als er sich bückte, um sie an dem Pflock hinter der Hütte anzubinden. Das Gefühl war ihm noch immer vertraut, obschon es so viele Jahre zurücklag, seit er seine eigene Stute in Spanien hatte zurücklassen müssen. Ein anderes Leben.

Julián hörte, dass Totumay zurückkam. Rasch richtete er sich auf.

Der Alte reichte ihm das Handtuch. Julián nahm es und rieb Duna trocken. Währenddessen fraß die Stute begierig die Karotten, die Totumay ihr hinhielt. Erst jetzt bemerkte Julián die ordentlich angelegten Gemüsebeete ringsumher. Wie sonst auch hätte der Alte sich mitten im Wald ernähren sollen?

Als Duna trocken war, folgte Julián Totumay ins Innere der Hütte.

„Willkommen in meiner bescheidenen Behausung.“

Juliáns Augen brauchten einen Moment, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Was er dann sah, glich nichts, was er je zuvor gesehen hatte. Ein Fadengespinst durchzog den Raum. Unzählige Gegenstände hingen davon herab: Muscheln, Kristallprismen, Tierzähne. An der gegenüberliegenden Wand lehnte ein Trinkhorn, darüber hing ein Kuhschädel.

Julián sog den Atem ein. Es roch eigenartig.

Bilder stiegen in ihm auf. Flüchtig.

Ein Wohnwagen an der Atlantikküste. Singende Menschen. Feuer. Ein Fest am Strand.

Ebenso schnell wie sie kamen, verschwanden sie wieder.

„Wonach riecht es hier?“ fragte Julián.

„Copal“, entgegnete Totumay.

„Copal“, wiederholte Julián und ihm kam es vor, als kenne er dieses Wort, diesen Geruch.

„Setz dich! Ich hole dir etwas zu trinken.“

Totumay wies auf eine Eckbank und verließ die Hütte. Julián tat, wie ihm geheißen. Vor ein paar Jahren hätte ihm ein solcher Ritt nichts anhaben können, jetzt aber war er froh, die müden Glieder ausstrecken zu dürfen.

Totumay kehrte mit einer Karaffe in der Hand zurück und füllte einen tönernen Becher, den er Julián reichte.

„Danke.“

Julián trank.

„Was ist das?“

„Altes Rezept“, lächelte Totumay. „Genau das Richtige an einem heißen Tag wie heute, findest du nicht?“

Er setzte sich ebenfalls, holte eine Pfeife aus den Tiefen seines weiten Gewandes und stopfte sie mit Tabak. Der Pfeifenkopf stellte ein dicklippiges Gesicht dar. Totumay entzündete den Tabak und sog den Rauch ein.

„Möchtest du?“ fragte er, nachdem er den Schwaden schweigend dabei zugesehen hatte, wie sie sich im Raum auflösten.

Julián schüttelte den Kopf.

„Also, weswegen bist du zu mir gekommen?“ fragte Totumay.

Julián lehnte sich zurück und nippte an dem Getränk. Wieder füllte der würzige, leicht scharfe Geschmack seinen Mund.

Er hatte diese Geschichte schon so oft erzählt.

Da kam ihm ein Gedanke. Er stand auf, knöpfte sein Hemd auf und zog es zur Seite.

„Deshalb“, sagte er.

Totumay sah auf die nässenden Blasen, die sich sternförmig um den Nabel ausbreiteten. Einen Augenblick lang sagte er nichts.

„Sind das – Brandblasen?“ fragte er schließlich.

„Ich denke ja“, entgegnete Julián. „Aber ich habe mich nicht verbrannt. Das ist ja das Absurde an der ganzen Geschichte.“

„Woher kommen sie dann?“

Julián knöpfte das Hemd wieder zu und setzte sich.

„Ich weiß, es klingt unglaubwürdig, aber“, er zögerte einen Augenblick, „aber sie sind da, wenn ich aufwache.“

„Sie entstehen im Schlaf?“ hakte Totumay nach.

„Wissen Sie, es ist so“, begann Julián, „es gibt da diesen Traum. Fragen Sie mich nicht, warum, aber es ist immer der gleiche. Und ich wache immer an der gleichen Stelle auf. Nur werden die Blasen in letzter Zeit schlimmer und schlimmer.“

„Wie lange geht das schon so?“

„Seit Jahren“, sagte Julián. „Und glauben Sie mir, hätte ich nicht schon alles probiert, wäre ich mit Sicherheit nicht hier. Ich bin nicht wie Lola.“

Er lehnte sich zurück und nippte an dem tönernen Becher.

Totumay lächelte ihn an. Abermals fiel es Julián schwer, nicht auf die braunen Stümpfe zu starren.

„In der Tat, das bist du nicht.“

„Also, verstehen Sie mich nicht falsch“, schob Julián nach, „sie ist meine Mutter. Aber manche ihrer Vorstellung sind schon – naja, wie soll ich sagen, bisschen abgedreht.“

Totumay erwiderte nichts.

„Wie dem auch sei. Auf jeden Fall sind Sie sozusagen meine letzte Hoffnung.“ Julián seufzte. „Ich bin es leid, dass keiner dieser sogenannten Experten mir helfen kann.“

„Würde es dir etwas ausmachen, mir von dem Traum zu erzählen?“ fragte Totumay.

„Deswegen bin ich ja hier.“ Julián sah sich in der Hütte um. Totumay stopfte währenddessen seine Pfeife.

„Zumindest muss ich mir bei Ihnen wohl keine Sorgen machen, dass Sie mich für verrückt halten.“

„Verrückt?“ Der Alte lachte. „Nein, da gebe ich dir Recht. Ich denke für gewöhnlich nicht in derartigen Kategorien. Insofern bist du vor einem solchen Urteil sicher.“

„Leider gibt es sowieso nicht viel zu wissen. Ich träume, dass ich mich in einer Höhle befinde. Nichts als Fels um mich herum. Einige Schatten, die über den Boden huschen. Es ist still, beinahe unheimlich still. Von irgendwoher dringt dann ein Rauschen an mein Ohr. Ganz leise zunächst, dann lauter und lauter. Plötzlich beginnt es zu brennen. Ich versuche mich zu retten, doch in diesem Moment wache ich jedes Mal auf.”

Totumay sah aus dem Fenster. Der Wind spielte in den Wipfeln der Birken.

„Ein Rauschen?” fragte er. „Was, denkst du, verbirgt sich dahinter?”

Julián starrte auf eine leuchtende Feder, die von dem Fadengespinst herabhing.

„Ich kann es nicht sagen”, erwiderte er schließlich. „Könnte sein – also was weiß ich, ich kann mich in diesem Traum ja nie bewegen.“ Er überlegte. „Aber doch, es wäre möglich, dass es Flügel sind.”

„Flügel?”

„Sag ich doch. Vielleicht sind es Flügel. Wenn, dann müssten sie allerdings sehr groß sein.“

„Flügel“, wiederholte Totumay leise. Sein Blick wirkte mit einem Mal abwesend. Er murmelte etwas.

„Wie bitte?“ fragte Julián.

Totumay antwortete nicht.

„Was haben Sie gesagt?“

Der Alte mied Juliáns Blick und richtete sich auf.

„Nichts, mein Junge, gar nichts. Entschuldige mich bitte einen Moment – ich fürchte die Natur ruft.“

Er verließ die Hütte, ohne sich umzuwenden.

Julián saß auf der Eckbank und runzelte die Stirn. Draußen hämmerte ein Specht seinen gleichförmigen Rhythmus ins Holz eines Baumes. Erst in diesem Augenblick bemerkte Julián auch das unablässige Vogel-Geschnatter und -Gezwitscher draußen im Schilf.

Als Totumay schließlich zurückkehrte, hatte Julián den tönernen Becher ausgetrunken und kaute an seinen Fingernägeln.

„Verzeih“, sagte Totumay, während er sich erneut Julián gegenüber niederließ.

„Keine Ursache.“

Totumay entzündete die Pfeife und nahm einen tiefen Zug. Sein Blick folgte den Rauchschwaden, die ihre Reise ins Nichts antraten.

„Wollen Sie gar nichts zu alldem sagen?“ fragte Julián schließlich.

„Nun, Patentrezepte gibt es nicht. Was glaubst Du, Julián?“ Totumay sah ihn an. „Was steckt hinter diesem Traum?“

„Wenn ich das wüsste, wäre ich kaum hier. Wenn es nicht einmal die sogenannten Experten erklären können, wie sollte ich es verstehen?“

„Ich bezweifle, dass Experten in diesem Falle zu viel nutze sind.“

„Sage ich ja.“

„Träume haben etwas mit dir selbst zu tun. Mit sonst niemandem. Sie kommen aus deinem Inneren, nicht wahr?“

„Aber was stimmt nicht mit meinem Inneren, wenn es mich verbrennt?“ flüsterte Julián. Dann richtete er sich auf und räusperte sich. „Schließlich hat auch sonst niemand solche Träume. Ich mache nichts anderes als meine Freunde oder als die Leute, die mit mir studieren. Warum also gerade ich?“

„Hast du mit deinen Freunden über diese Träume gesprochen?”

„Nur mit einem. Kevin. Das hat mir genügt, ehrlich gesagt.” Julián sah aus dem Fenster, wo gerade ein Entenpärchen auf dem See landete. „Er meinte, ich solle mich nicht so anstellen. Nett, oder?”

„Ohnehin bleibt Fakt, dass du es bist, der diese Träume hat. Nicht deine Kommilitonen. Was also ist einzigartig an dir?”

„Einzigartig?“ Julián schüttelte den Kopf. „Nichts. Glauben Sie mir. Ich führe ein ganz normales Leben.”

„Dennoch musst du davon ausgehen, dass dieser Traum nicht grundlos zu dir kommt. Er will dir etwas zeigen. Weswegen sonst sollte er dich wieder und wieder heimsuchen?“

„Sie haben leicht reden. Dieser Traum verbrennt mich! Ich habe die Schnauze voll von solchen Binsenweisheiten. Wenn Sie mir nicht helfen wollen, können wir uns das hier sparen!”

„Du fühlst dich ungerecht behandelt, das kann ich nachvollziehen. Dennoch scheint mir Zorn in diesem Augenblick wenig sinnvoll. Feuer mit Feuer bekämpfen.” Totumay strich sich übers Kinn. „Sei realistisch, seit drei Jahren versuchst du den Kampf auf diese Weise auszufechten. Was hat es gebracht? Offensichtlich nichts. Die entscheidende Frage bleibt also, warum ausgerechnet du diese Verbrennungen erleidest.”

Julián zuckte mit den Achseln.

„Du sagtest, du seist praktisch austauschbar”, meinte Totumay.

„Das habe ich so nie behauptet!”

„Nicht mit diesen Worten.”

Julián musterte ihn.

„Du führst ein ganz normales Leben, sagtest du. Aber was soll das heißen – normal?”

Julián stand auf und ging zum Fenster hinüber. Er lehnte seine Stirn an die kühle Scheibe. „Ich will doch nichts als meine Ruhe haben! Verstehen Sie das nicht?”

Der Alte trat von hinten an ihn heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Auf einmal spürte Julián eine tiefe Müdigkeit. Er drehte sich um und sah Totumay an. Dieser erwiderte seinen Blick und reichte ihm dann die Hand.

„Komm“, sagte er.

Julián folgte ihm, legte sich auf die Eckbank, streckte die Beine aus und nahm das Kissen, das Totumay ihm hinhielt. Er schloss die Augen.

Auch der Alte setzte sich wieder. „Vielleicht“, begann er schließlich, „ist es an der Zeit, dich von der Vorstellung einer allgemeingültigen Normalität zu verabschieden. Für dich scheint sie nicht mehr zu existieren.“

Julián öffnete die Augen. „Was soll das heißen?“

„Für die Menschen der alten Völker bedeutete Feuer Reinigung. Sieh dir nur die Räucherrituale an, die sich in unserer Kultur bewahrt haben. Das kommt nicht von ungefähr: auch der Glaube ans Fegefeuer, das die Seelen der Menschen –”

Eine Veränderung im Raum zog Juliáns Aufmerksamkeit von den Worten weg. Das Licht schwand aus seinem Gesichtsfeld. Das Antlitz des Alten erstrahlte mit einem Mal heller und heller. Ein Leuchten ging von ihm aus „...bedenke nur die Scheiterhaufen...” seine Züge verschwammen, verwischten langsam und die Konturen einer anderen Gestalt begannen sich abzuzeichnen. Narben durchzogen ihr Gesicht wie Flüsse eine verblasste Landkarte. Nun saß eine Frau vor ihm „...Zeichen für Veränderung, die...” eine weise Gestalt mit grauschwarzem Haar, zu beiden Seiten des Kopfes zu Zöpfen geflochten „...anerkennen, was dies bedeuten kann, ja, wenn nicht muss...” sah ihm in die Augen, stieg tiefer hinab, mit sehendem Blick „...solltest die Antwort in dir suchen...” heißes Blut schoss ihm in die Lenden „...Wahrnehmung kann ein Geschenk...” jene aus Urzeiten entstiegene Indianerin lächelte ihm zu, als ob sie ihn kannte. Kannte sie ihn? Er sie? Seit langem? – Immer schon.

Ein Aufschrei entrang sich Juliáns Kehle.

Was war hier los?

Er bemerkte, dass er auf dem Boden lag und blickte sich um. Da sah er Totumay, der neben ihm kniete, als sei nichts gewesen.

Was war das für ein Mensch? Er wusste nichts über ihn! Was trieb er für ein perfides Spiel? Was wollte er wirklich, dieser zahnlose alte Kauz?

Julián bemühte sich, einen klaren Kopf zu gewinnen.

„Alles in Ordnung mit dir?” fragte Totumay. Er lächelte und hielt ihm den tönernen Becher hin. „Beruhige dich. Trink erst mal einen Schluck!”

Julián schlug ihm den Becher aus der Hand. Er zerbarst auf dem Boden. Noch war er zumindest klar genug, um sich zu wehren!

Er versuchte sich aufzurichten, schwankte jedoch, fühlte sich benommen, fand schließlich sein Gleichgewicht, als er sich am Tisch abstützte.

Totumay stand ihm mit ausdruckslosem Blick gegenüber.

„Ich, ähm, ich muss weg. Vielen Dank für alles. Und Entschuldigung. Also, ich, ich muss dann mal –”

Julián machte einen Schritt auf die Tür zu, stolperte über ein Sitzkissen und verlor erneut das Gleichgewicht. Er versuchte sich an einem gewinnenden Lächeln.

„Ich denke nicht, dass dies der rechte Moment ist, um zu gehen”, sagte der Alte, trat Julián in den Weg und versperrte die Tür.

Kapitel 2 – Vorstadtkäfig

 

„Nein, ich kann es nicht begreifen!” sagte Kyriel.

Obwohl es bereits Nacht war, wehte warmer Wind durch das geöffnete Fenster herein.

„Wenn ich ehrlich bin, Laura, ich will es auch nicht. Du verlangst zu viel von mir. Wie lang geht das schon so? Monate? – Jahre?”

Ruhig blickte sie ihn an.

„Anderthalb Jahre.”

„Du musst Dich endlich entscheiden. Siehst du die Ringe unter meinen Augen? Meine Gedanken drehen sich in einer gottverdammten Endlosschleife. Du – Pascal – du – Pascal. Wer außer mir würde das mitmachen?”

„Trenn dich, Kyriel! Das habe ich dir von Anfang an gesagt.“ Laura nahm einen Schluck von ihrem Cabernet und stellte das Glas zurück auf den Couchtisch. Es klirrte. „Wenn du es nicht aushältst, trenn dich. Wie könntest du deine Selbstachtung bewahren, wenn ich dir diese Entscheidung abnähme?“

Kyriel kaute auf seiner Unterlippe.

„Ich“, sagte Laura, „will mich nicht von dir trennen. Ich liebe dich. Die Sache mit Pascal hat daran nichts geändert!”

„Wie kannst du das von mir verlangen?“

Er beugte sich zu ihr hinüber und fuhr ihr mit der Hand durch die schwarzen Locken.

„Du bist doch meine Frau!”

„Ich bin niemandes Frau.”

Kyriel wich zurück. Seine Hände verkrampften sich.

„Warum kannst du dich nicht von ihm trennen? Genüge ich dir nicht? All meine Freunde fragen mich, ob ich einen Vollschaden habe. Sie tut dir nicht gut, mach endlich Schluss! Ich kann es nicht mehr hören! Und jetzt“, er sprang auf, „jetzt kommst ausgerechnet du mir auch noch damit!”

„Ich habe nicht gesagt, dass du Schluss machen sollst. Ich habe gesagt, trenn dich, wenn du es nicht mehr aushältst. Meinst du, es macht mir Spaß, mitanzusehen wie du leidest?”

Sie ergriff seine Hände und sah ihm in die Augen. Er ließ es geschehen.

„Aber ich glaube an uns. Wir können das schaffen – und zwar gemeinsam. Jemanden lieben heißt, ihn freilassen.”

„Seit anderthalb Jahren vögelst du mit einem anderen!”

„Sprich es aus. Sein Name ist Pascal.”

„Ich kenne seinen verdammten Namen!”

Er entzog sich ihrem Griff.

„Freilassen, freilassen – was genau stellst du dir darunter vor, bitte?”

Laura gab keine Antwort. Ihre Augen wurden dunkel und sie verschwand. Kyriel hatte aufgegeben, herausfinden zu wollen, wohin sie in diesen Augenblicken ging.

Er zündete sich eine Zigarette an, trat ans Fenster und lehnte sich hinaus.

Die Sterne funkelten durch die Zweige des Ahorns im Hof. Die Hitze war noch immer unerträglich.

Erst nachdem er eine zweite Zigarette geraucht und sein Glas ausgetrunken hatte, trat Laura von hinten an ihn heran und schlang ihre Arme um seine Hüften. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Ihr Atem ging schwer. Kyriel spürte, wie er einen Ständer bekam. Er wandte sich zu ihr um.

„Du machst dir etwas vor“, wisperte Laura, „wenn du mir die Schuld an deiner Unzufriedenheit gibst.”

Sein Lächeln fiel ebenso in sich zusammen wie der Ständer in seiner Hose.

„Ich weiß, dass du es nicht leiden kannst, wenn ich mich einmische. Trotzdem ist es kein Wunder, dass du nicht glücklich bist. Was ist aus deinen Plänen geworden? Dem Reisen? Dieser Job war doch als Übergangslösung gedacht.”

„Erstens“, wand Kyriel sich aus ihrer Umarmung, „kommt es anders und zweitens als man denkt.”

„Du hast immer die Wahl!“ Laura goss sich noch ein Glas Cabernet ein. „Das nennt man Leben.” Der Wein hatte bereits einen violetten Schimmer auf ihren Zähnen hinterlassen. „All diese Energie, die du in die Geschichte zwischen Pascal und mir steckst: Das ist nichts als Feigheit. Du weigerst dich, nach vorn zu schauen.”

„Ich möchte sehen, wie du damit umgehen würdest, wenn ich eine andere hätte!”

„Dann finde es raus – wenn es das ist, was du willst! Woher sollte ich es auch wissen? Ich kann mich nur an einer Realität beweisen. Aber wir sind schon wieder bei diesem leidigen Thema. Meine Frage war eine andere: Wie lange hast du noch vor, dich hinter diesem Drückebergerjob zu verstecken!”

„Ich habe diesen Job deinetwegen angenommen, Laura. Unseretwegen! Ich wollte Zeit für dich haben. Keinen Fulltime-Job, bei dem wir uns kaum gesehen hätten.”

„Benutze mich nicht als Ausrede für alle Entscheidungen, die du in deinem Leben triffst!”

„Was soll ich deiner Meinung nach machen? Was wäre die Alternative?”

„Wie soll ich dir diese Frage beantworten können, Kyriel? Über deine Ziele schweigst du dich seit Monaten aus!”

Kyriels Miene verdüsterte sich.

„Woher soll ich wissen, was meine Ziele sind? Nach dem Abi dachte ich, Philosophie wäre ideal.”

„Das ist doch Schnee von gestern.”

„Ich hatte geglaubt, Philosophie hätte etwas mit Leben zu tun. Aber als ich dann herausfand, wie es wirklich war – ich wollte nicht zuschauen, wie das Leben an mir vorbeizieht, während ich mich durch Kant kämpfe.”

Er lächelte müde und schenkte sich Wein nach.

„Vielleicht ist es das, was ich will”, sagte er mit leiser Stimme. „Leben.“

„Leben!“ Lauras Lachen klang heiser. „Wollen wir das nicht alle? Verrinnt das Leben nicht, während du Hamburger brätst?”

„Ach, Laura. Können wir nicht einen normalen Abend miteinander verbringen?”

„Du musst dir endlich Gedanken darüber machen, was du willst.“ Sie sah ihn herausfordernd an. „Nicht darüber, was du nicht willst! Oder wie du dich von mir oder deinem Vater abgrenzen kannst.“

„Lass meinen Vater aus dem Spiel!”

„Wie könnte ich das? Zwar bist du immer drauf bedacht, alles zu vermeiden, was er gutheißen könnte. Und doch hast du ähnlich spießige Vorstellungen wie er!”

„Das kann nicht dein Ernst sein! Glaub mir, er hätte dir längst einen Arschtritt verpasst, dass du achtkantig aus der Wohnung geflogen wärst!”

„Und doch“, entgegnete sie und ihre Augen funkelten, „hättest auch du mich am liebsten ganz für dich allein. Würdest mich in einen Vorstadtkäfig mit weißem Gartenzaun drum herum sperren – ich lasse es nur nicht zu! Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Welt deines Vaters ist nicht zu leugnen, oder?”

Auf Kyriels Stirn bildete sich eine Zornesfalte.

„Verdammt, Laura, was erwartest du von mir?”

Er drehte sich um und holte eine neue Flasche Wein aus der Küche.

Als er sie entkorkt hatte, sagte er: „Ich tue, was ich kann. Ich lasse dir die Freiheit, die du möchtest. Es ist eben nicht so leicht, damit umzugehen. Was, wenn ich zu schwach dazu bin?“

Er setzte sich auf das Sofa und sah in die Nacht hinaus.

„Ich habe es satt, mich Tag für Tag wie ein Versager zu fühlen! Der Mann zu sein, der deine Wünsche nicht befriedigen kann“, setzte er leise nach. „Du hast Recht – womöglich bin ich wie mein Vater. Aber wie sollte ich es auch nicht sein? Seinen Wunsch, in geordneten Verhältnissen zu leben, kann ich inzwischen jedenfalls besser nachvollziehen als früher.”

Laura setzte sich neben Kyriel, schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich heran. Sie streichelte seinen Hinterkopf und er atmete aus.

„Niemand hat uns beigebracht, so zu lieben”, flüsterte sie. „Das ist mir klar. Aber ich glaube daran, dass wir es lernen können. Du und ich. Alles ist besser als diese geheuchelte Monogamie! Wie viele Beziehungen gehen in die Brüche, weil einer den anderen betrügt. Denk nur an meine Eltern! Ich werde nicht zulassen, dass wir die gleichen Fehler machen wie sie. Meinst du, meine Mum hätte meinem Vater nicht verzeihen können, wenn er mit ihr darüber gesprochen hätte?”

„Darauf kann ich dir keine Antwort geben”, murmelte Kyriel. „Zumindest konnte sie einen klaren Schlussstrich ziehen.”

„Würdest du uns lieber aufgeben, als dich einer schwierigen Situation zu stellen?”

„Alles, was ich will, ist endlich zur Ruhe kommen.”

Kapitel 3 – Waldkönigen

 

Verschwitzt, mit vom Wind zerzaustem Haar näherte sich Julián Waldkönigen. Er konnte Dunas keuchenden Atem hören, gönnte ihr aber keine Pause. Übermächtig war sein Bedürfnis, Abstand zu gewinnen.

Wie war so etwas möglich?

Drogen. Das war die einzige Erklärung, die ihm einfiel.

Dennoch fühlte er sich in diesem Augenblick glasklar. Die Umnachtung war einer übergroßen Schärfe gewichen.

Ohnehin war das Gesicht der Frau in der Hütte klarer gewesen, als alles, was er zuvor erlebt hatte. Noch immer hallte ihr Blick in ihm nach.

LSD vielleicht? Konnte ein Trip so schnell vorübergehen? Julián bezweifelte es.

Vermutlich ein Kraut aus dem Wald. Tollkirschen. Fliegenpilze.

Er würde es nicht herausfinden. Keinen Fuß würde er je wieder über diese Schwelle setzen. Gerade so, dass er noch einmal davongekommen war!

War Lola von allen guten Geistern verlassen, ihn zu einem solchen Scharlatan zu schicken?

Moritz, der blonde Hüne, von dem er die Stute geliehen hatte, stand mit weit aufgeknöpftem Hemd vor der windschiefen Scheune. Seine Augen weiteten sich, als Julián auf das Gehöft ritt.

„Schon zurück?” rief er. „Ich hatte nicht vor morgen mit euch gerechnet!”

Eine Welle der Erleichterung durchflutete Julián, als er vor Moritz stand. Obschon er dieses wettergegerbte Gesicht nur einmal zuvor gesehen hatte, schien es ihm in diesem Augenblick doch vertraut.

„Ging schneller, als erwartet”, entgegnete er lakonisch und schwang sich aus dem Sattel.

„Du siehst aus, als wärst du dem Leibhaftigen begegnet. Ganz blass um die Nase!”

Als Julián nichts erwiderte, ergriff Moritz die Zügel der Stute. „Jetzt muss erst mal Duna versorgt werden. Hinten im Stall findest du Stroh. Damit kannst du sie trockenreiben. Ich hole ihr Hafer.”

Er tätschelte den Kopf des Pferdes. An Julián gewandt meinte er: „Und du siehst aus, als könntest du einen Kaffee vertragen!”

Eine halbe Stunde später saßen Moritz und Julián vor zwei dampfenden Tassen Kaffee in der Küche des Bauernhauses. Die Luft war angenehm kühl, da die Sommerhitze nicht durch die weißgekalkten Mauern drang. Im Herd knisterte das Feuer, das Moritz entfacht hatte, um den Kaffee zu brühen. Feuer.

„Darf man hier rauchen?”

„Tu dir keinen Zwang an!”

„Ein Kaffee ohne Zigarette ist wie eine Geburt ohne Kind!”

Moritz lachte. „Wohl wahr. Es ist die, die mir am meisten fehlt.”

Julián legte seinen Tabak verlegen zurück.

Der Landwirt schüttelte den Kopf. „Mach ruhig.”

Er griff hinter sich, öffnete den Schrank und stellte einen Aschenbecher auf den Tisch.

Julián zündete sich eine Zigarette an.

„Du kennst Totumay?” fragte er.

„Kennen ist übertrieben. Ich war zweimal bei ihm. Habe ihm bei der Veranda geholfen. Aber es wird allerhand geredet.”

„Wie lang lebt er schon dort draußen?”

„Als Totumay hierherkam, war ich noch grün hinter den Ohren. Ich erinnere mich daran, wie er zum ersten Mal unseren Hof betrat. Ich schleppte gerade einen Korb Kartoffeln ins Haus. Plötzlich stand mir dieser merkwürdige Fremde gegenüber. Er hatte steingraue Augen. Auch ansonsten sah er irgendwie anders aus.”

„Diese Zähne!”

„Damals hatte er noch alle Zähne. Das war es nicht. Dennoch wirkte er wie eine Gestalt aus einer anderen Welt. Ich bin erschrocken, als er auf einmal vor mir stand.”

Julián nippte an seinem Kaffee. Er griff nach seinem Pullover. Ihn fröstelte.

„Aber was ist mit seinen Zähnen passiert?”

„25 Jahre im Wald”, erwiderte Moritz. „Er ist nie rausgekommen.”

„Hat seinem eigenen Verfall zugesehen”, murmelte Julián.

Moritz zuckte mit den Achseln.

„Was wollte er damals? Als er hierherkam, meine ich.”

„Meinen Vater sprechen. Ich bin natürlich gleich losgerannt und habe ihn geholt. Die beiden haben sich dann ins Arbeitszimmer meines Vaters zurückgezogen. Zu gern hätte ich gewusst, was sie dort besprechen wollten – aber mein Vater hat mich aus dem Zimmer geschickt. Was mich allerdings nicht davon abgehalten hat, mich in der Nähe der Tür rumzudrücken. Zumindest wollte ich noch einen Blick auf diesen seltsamen Typen werfen, wenn er ging. Aber es dauerte. Irgendwann wurde mir langweilig und ich setzte mich in mein Baumhaus. Dort konnten sie mich nicht sehen, ich sie aber schon.”

Moritz nahm die Kaffeetasse zur Hand, trank jedoch nicht.

„Was haben die beiden besprochen?”

„Ich habe es nie herausgefunden. Aber ich konnte sehen, was danach passierte. Ich war so wütend, dass ich tagelang kein Wort mit meinem Vater gesprochen habe.”

„Was ist denn passiert?”

„Mein Vater hat Ravna weggegeben. Und das, obwohl er mir gehört hat. Ich hatte ihn bekommen, als er ein Fohlen war. Er war der schönste Hengst, den wir je hatten. Pechschwarz, sein Fell weich wie Seide. Das Schlimmste aber war, dass Ravna mein Gefährte war, mein bester Freund. Ich konnte nicht fassen, dass mein Vater das getan hatte.”

Moritz wandte sich ab.

„Ich hatte früher eine Stute. Sie hieß Pras”, sagte Julián leise. „Ich musste sie in Spanien zurücklassen, als wir nach Deutschland zogen” Er klopfte Moritz auf die Schulter.

„Es ist viele Jahre her. Aber du weißt, wie das ist.” Moritz räusperte sich. „Möchtest du ein Glas Wasser? Oder ein Bier?”

„Wasser ist okay”, entgegnete Julián.

Moritz kehrte mit einer Flasche Sprudel aus dem Keller zurück.

„Hast du Ravna je wiedergesehen?”

Moritz schüttelte den Kopf.

„Es sollten viele Jahre vergehen, bis ich Totumay wiedersah. Von Ravna keine Spur. Ich glaube, er hat nie wieder ein Pferd besessen. Allerdings tauchten in all den Jahren immer wieder Menschen auf unserem Hof auf, um sich Pferde zu leihen.”

Julián nickte.

„Aber, wenn er nie wieder aus dem Wald gekommen ist“, fragte er, „weshalb reden die Menschen über ihn?“

„Genau deswegen natürlich. Totumays Ankunft war im Dorf nicht unbemerkt geblieben. Natürlich wurde getratscht. Die Leute begannen Geschichten über den seltsamen Fremden zu erzählen. Er kam aus dem Nichts und wollte zwischen Büschen und Bäumen leben? Das bot Stoff für Spekulationen! Schnell war er zu ihrem Waldheiligen geworden. Keine Ahnung, woher sie die Geschichten nahmen. Interessant war allenfalls, dass ihr Inhalt sich stets ähnelte.”

Julián legte die Stirn in Falten.

„Dabei hat niemand je auch nur seinen richtigen Namen herausgefunden”, fuhr Moritz fort. „Die wildesten Gerüchte machten die Runde. Totumay war abendfüllendes Thema in der Dorfkneipe.”

Julián verzog die Lippen zu einem Grinsen. „Kann ich mir vorstellen.”

„Für die einen war er ein reicher Aussteiger – langweilige Theorie, wenn du mich fragst. Andere sprachen davon, dass er Probleme mit der kasachischen Mafia hätte. Es war von illegalen Hundekämpfen die Rede. Wieder andere vertraten die Auffassung, er müsse den Staat um mehrere Millionen geprellt haben – weswegen sonst hätte er seinen Namen ändern sollen? Diese Geschichten erklärten immerhin, warum er in unserem Wald untergetaucht war.”

„Klingt alles nicht sehr plausibel”, meinte Julián. „Was hätte er mit dem ganzen Geld im Wald anstellen sollen?”

„Meine Rede. Mein einziges Interesse galt am Anfang ohnehin der Suche nach Ravna. Mein bester Freund Paul unterstützte mich dabei. Aber es wollte uns einfach nicht gelingen herauszubekommen, wo Totumays Hütte stand. Unzählige Nachmittage suchten wir danach. Ohne Erfolg. Es kränkte unseren Stolz, dass wir dieses verdammte Ding nicht fanden. Auch sonst schien niemand im Dorf etwas über die Hütte zu wissen. Außer meinem Vater natürlich – und aus dem war kein Sterbenswörtchen herauszubringen.”

„Und dann all diese Geschichten.“ Moritz streckte sich. „Nach und nach entwickelte sich Totumay für uns zu einer mystischen Figur. Dennoch nahm unsere Suche in jenem Herbst ein abruptes Ende. Mein alter Herr schickte mich in die Stadt aufs Gymnasium.”

„Du hast nichts herausgefunden?”

„Es sollte 13 Jahre dauern, bis ich als diplomierter Agrarwirt hierher zurückkam. Totumay hatte ich nach all der Zeit beinahe vergessen. Erst als mir auffiel, dass noch immer Menschen auf den Hof kamen, sich Pferde liehen und im Wald verschwanden, erinnerte ich mich.”

Er sah Julián an.

„Entschuldige, ich rede und rede, möchtest du ein Bier?”

„Gern, danke.”

„Ich mache uns auch einen Happen zu essen.”

Moritz ging in die Küche.

Mit Wurst, Käse und Schwarzbrot kehrte er zurück. Das Bier goss er in steinerne Krüge.

Kaum, dass er sich wieder in seinen Schaukelstuhl gesetzt hatte, drängte Julián Moritz weiterzuerzählen.

„Wo war ich stehen geblieben?”

„Du bist nach deinem Studium hierher zurückgekommen. Da fiel dir Totumay wieder ein.”

„Richtig.” Moritz biss von einem Schinkenbrot ab und lehnte sich zurück. Er kaute in aller Ruhe, ehe er fortfuhr.

„Mir kam der Gedanke, Paul zu fragen, ob er etwas herausgefunden hätte. Ich hatte Jahre nichts von ihm gehört. Unser Kontakt war schnell eingeschlafen, als ich erst weg war. Ich hatte in der Stadt neue Freunde gefunden. Meine Herkunft war mir peinlich. Ich war ein Landei. Keine Ahnung, ob Paul an mich dachte. Immerhin war er in Waldkönigen geblieben. Die Welt hier dreht sich anders.”

Julián nahm sich noch eine Scheibe Brot und bestrich sie dick mit Butter.

„Dieses Brot ist unglaublich lecker!”

„Rezept meiner Mutter. Habe es heute Morgen gebacken.”

Julián nickte kauend.

„Ich fragte mich, was aus Paul geworden war”, fuhr Moritz fort. „Seit meiner Rückkehr war ich ihm nicht begegnet. Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass er nicht mehr im Dorf lebte. Ich habe bei den Nachbarn herumgefragt, jedoch nicht viel mehr herausbekommen, als dass seine Familie den Hof aufgegeben hatte und weggezogen war. Wohin wusste angeblich niemand. Zumindest wollte es mir niemand erzählen. Zwei Jahre später hörte ich in der Dorfkneipe zufällig ein Gespräch zwischen zwei Betrunkenen mit an. Pauls Mutter muss ihn eines Morgens mit einem Hanfseil um den Hals auf dem Heuboden gefunden haben. Seine Eltern ertrugen es wohl nicht, danach weiter hier zu leben.”

Er schenkte sich nach und nahm einen kräftigen Schluck. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schaum von der Oberlippe. In diesem Moment schien der Glanz in seinen Augen verschwunden.

Julián schluckte. Schweigend betrachtete er die massige Gestalt im Schaukelstuhl.

„Wie dem auch sei. Einige Zeit später habe ich erfahren, dass Totumay, kurz bevor er in die Eifel kam, eine lange Reise nach Lateinamerika unternommen haben soll.”

„Von wem hast du das erfahren?”

„Ich will nicht vorgreifen. Es ist schon spät.”

Julián spielte an seinem Ohrläppchen herum. „Es ist gerade mal zehn!”

„Eben. Ich muss mit den Hühnern raus”, lächelte Moritz. „Im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn ich noch ein paar Stunden Schlaf abkriegen will, sollte ich mich jetzt hinlegen. Du kannst gerne über Nacht bleiben, wenn du magst. Die Dachkammer ist frei.”

Julián nahm Moritz’ Angebot an.

„Aber unter einer Bedingung.”

Moritz warf ihm einen überraschten Blick zu.

„Morgen erzählst du mir den Rest der Geschichte!”

Der Bauer schmunzelte.

„Einverstanden.”

Schwefliges Licht.

Ein Rinnsal rieselt eine Granitwand hinab. Perlt schweigend, als könne sein Murmeln zu viel verraten.

Zeitlupenland.

Er ist allein. Jede Bewegung unmöglich. Als bänden ihn unsichtbare Mächte.

Beklemmung umwabert ihn. Kribbelt seine Beine hinauf. Ameisenhaft.

Juliáns Blick gleitet über den Boden.

Diese Schatten. Ohne Rast und Ruh.

Ein ums andere Mal derselbe sonderbare Ort.

Die Ameisen nisten sich ein.

Jählings ein Rauschen, das die gläserne Stille zerreißt. Schwingen.

Sulfurdunst umschleicht ihn. Sehnsüchtig. Fordernd. Kräuselt sein Haar.

Schwingen verklingen.

Was bleibt, ist das Reich der Ruhe.

Wie eine Pestdecke breitet sie sich über alles.

Die Schatten scheinen sie nicht zu bemerken. Unverwandt eilen sie umher.

Die Stille geliert.

Juliáns Nackenhaare richten sich auf.

Ein Flackern und die Schatten erstarren.

Zischend verdampft das Rinnsal.

Hitze. Unerträgliche Hitze.

Julián will fliehen, bietet all seine Kraft auf. Vergebens.

Sengende Flammen greifen nach ihm. Züngeln sein Rückgrat entlang. Er vermag den Bann nicht zu brechen. Sie beißen und reißen an Haut und an Haar.

Aussichtsloser Kampf. Er will die Hände hochreißen. Die jedoch –

Schreiend schrak Julián in der Dachkammer hoch. Sein Herz raste.

Er sah sich um. Vor dem Fenster zogen Wolken vorbei.

Hier.

Das Bett war klamm.

Der Traum.

Er atmete aus. Einzig mögliche Bewegung.

Atmete ein.

Aus.

Ein.

Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, musste es beinahe Mittag sein.

„Erzähl schon, Moritz!”

Julián saß auf der Eckbank in der Küche und wartete darauf, dass Moritz sich setzte. Es war bereits spät am Nachmittag. Der aber ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

Er hatte den Tag auf dem Feld verbracht und schenkte sich zunächst einen starken Kaffee ein, ehe er sich Julián zuwandte.

„Wo waren wir stehen geblieben?”

„Du wolltest mir von Totumays Reise nach Lateinamerika erzählen!”

„Stimmt. Das war eine seltsame Geschichte. Ich habe sie nicht von ihm selbst erfahren, sondern von jemandem, der eines Nachmittags hier auf dem Hof auftauchte.”

Moritz griff nach der Zuckerdose und tat sich Zucker in den Kaffee.

„Und wer war das?” drängte Julián.

„Ich war kaum ein Jahr zurück, da bekamen wir eines Tages unerwartet Besuch.“ Moritz strich sich über das Kinn. „Mit quietschenden Bremsen kam ein Fiat auf den Hof gefahren – ehrlich gesagt ein Wunder, dass die Rostlaube noch nicht auseinanderfiel. Es dauerte einen Moment, dann stieg eine alte Frau aus – oder besser gesagt, eine Dame. Ihrem ganzen Auftreten nach war sie nämlich genau das – eine Dame des alten Schlags. Sie stützte sich auf einen Gehstock. Ihre Mundwinkel hingen nach unten, als ob sie nicht viel zu lachen gehabt hätte in ihrem Leben. Ich konnte nicht anders, ich empfand Mitleid mit ihr.”

Moritz nahm einen Schluck Kaffee.

„Sie muss damals über achtzig gewesen sein. Dennoch wirkte sie selbstsicher und herrisch. Als ich in ihre steingrauen Augen sah, wusste ich, wen ich vor mir hatte. Diese Augen hätte ich überall auf der Welt wiedererkannt.”

„Totumays Mutter!” flüsterte Julián.

„Augen, die als Kind meinen Ravna entführt hatten. Augen, die Paul und ich verzweifelt aufzuspüren versucht hatten. Augen, die sich nun vor mir aufbauten und in verächtlichem Ton zu mir sprachen: Ein Pferd, mein Junge, geben Sie mir ein Pferd.”

Julián schmunzelte.

„Ich habe wohl ziemlich verdutzt aus der Wäsche geguckt. Maßen Sie sich nicht an, das zu beurteilen!, wies sie mich zurecht.”

Moritz unterdrückte ein Lachen.

„Sofort schämte ich mich dafür, sie so abschätzig begutachtet zu haben. Ich stammelte hervor, wofür sie das Pferd denn bräuchte. Ihrem Blick nach zu urteilen, katapultierte mich das auf der Skala verachtenswerter Geschöpfe unter die Top-Five. Sie wolle ihren Sohn sehen, sagte sie giftig. Der Rotzlöffel habe verlangt, dass sie auf einem Pferd komme. Aber ich solle mich gefälligst um meinen eigenen Dreck scheren.”

Julián lachte. „Ich kann mir das bildlich vorstellen!”

„Ich konnte ihre Wut nachvollziehen”, meinte Moritz. „Was blieb mir also anderes übrig? Ich stellte mich auf ihre Seite. Nicht zuletzt, da ich die Gelegenheit witterte, endlich ein paar Einzelheiten zu erfahren, die ich mir in all den Jahren nicht hatte zusammenreimen können. Ich bot ihr einen Kaffee an – das besänftigte sie ein wenig. So kam es, dass ich an jenem Nachmittag einen weiteren Teil von Totumays Geschichte zu hören bekam.”

Kapitel 4 – Löcher in der Welt

 

Laura fuhr auf.

Um Gottes willen!

Ihr Atem raste.

Mit dem Handrücken wischte sie sich die Locken aus dem Gesicht.

Spiegelfliesen an der Wand. Sie war also noch in Kyriels Wohnung. War nicht von dem Loch verschluckt worden.

Hörte das niemals auf?

Bisweilen wünschte Laura sich, sie könnte Kyriel davon erzählen.

Aber das ging nicht.

Sie durfte nicht zurückschauen.

Niemals.

Sie holte tief Luft und suchte jenen Punkt hinter ihrer Stirn. Das vertrieb die Bilder. Tat es immer.

Schließlich stand sie auf, zog die Jalousie hoch und öffnete das Fenster.

Die Nacht hatte keinerlei Abkühlung gebracht.

Noch einmal sah Laura zum Bett. Trotz der Hitze fröstelte sie. Sie schlang die Arme um ihre Schultern.

Alles würde gut werden. Sie durfte nur nicht daran denken.

Sie trug die leeren Cabernet-Flaschen in die Küche, leerte den überquellenden Aschenbecher, ließ Abwaschwasser ein und spülte die Weingläser.

Als sie fertig war, hielt sie einen Moment inne und sah sich um. Mit einem feuchten Lappen wischte sie die Tabakbrösel vom Tisch.

Das sollte genügen.

Danach schlüpfte Laura in die Leinenhosen, die Kyriel ihr aus Indien mitgebracht hatte, streifte sich ihr T-Shirt über und zog die braunen Riemchensandalen an. Sie wuschelte sich durch die Locken und schloss leise die Tür hinter sich.

Durch die verglaste Haustür drang kaum Helligkeit in den Korridor, doch Laura schaltete das Licht nicht ein. Womöglich hätte sie sonst bemerkt, das Kyriel gerade die Kellertreppe heraufkam.

Laura sah Kyriel jedoch nicht. Und auch er war in Gedanken woanders, schaute erst auf, als die Haustür ins Schloss fiel.

Die Schwüle lag wie ein nasser Lappen auf dem Tag.

Laura wollte Schafskäse-Creme und Oliven kaufen, bevor sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte, deshalb wählte sie den Umweg durch den Park am Friedrich-Ebert-Platz. Auf den Bänken am Wegesrand saßen Mütter und beobachteten ihre Kinder beim Spielen. Denen schien die Hitze nichts anhaben zu können. Ein kleiner Junge rannte kreischend auf Laura zu, in seiner Hand ein tropfendes Schokoladeneis. Laura konnte gerade noch ausweichen, ehe er gegen ihre Beine rannte. Die Mutter warf ihr einen lethargischen Blick zu.

Als Laura durch die offene Tür des Dönerladens trat, strahlte Ahmad ihr entgegen.

„Laura!“ Er betrieb die Bude seit Jahren. „Was eine Hitze, nicht wahr?“

„Kannst du laut sagen“, erwiderte Laura. „Am besten sollte man sich gar nicht bewegen.“

Ahmad lachte. „Glaub mir, möchte ich nichts lieber, als mich von diesem Dönerspieß wegbewegen!“ Seine Augen blitzten. „Ist draußen heiß? Nichts im Vergleich zu hier drin!“

„Mit dir tauschen wollte ich nicht“, gab sie zu.

„Was kann ich für dich tun, meine Schöne? Oliven, die üblichen?“

„Genau. Und ein Schälchen von eurer Schafskäse-Paste, der scharfen.“

„Dein Wunsch ist meine Freude.“

„Ach, Ahmad“, lachte Laura, „ich wünschte, alle Männer wären so charmant wie du!“

Ahmads Grinsen wurde noch breiter.

„Habe ich schon gesagt, dass ich noch zu haben bin?“

In diesem Moment hörte Laura, dass jemand hinter ihr den Laden betrat.

„Laura! Was für ein Zufall!“

Sie wandte sich um. Vor ihr stand Tante Irmi, die Schwester ihrer Mutter.

„Tante Irmi“, sagte sie.

Ahmad, der die Veränderung in ihrer Stimme bemerkt haben musste, warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Mein Gott, Laura, das ist ja eine Ewigkeit her!“

Ihre Tante küsste die Luft neben Lauras Wangen und packte sie bei den Schultern.

Laura versuchte sich ihrem Griff zu entwinden. Dabei fiel ihr Blick auf die perfekt manikürten Fingernägel. Unwillkürlich kam ihr Lady Macbeth in den Sinn.

„Was für ein Glück, dich zu treffen“, flötete Irmi. „Wenn das mal keine schicksalhafte Fügung ist.“

Laura legte die Stirn in Falten. Ahmad reichte ihr die Plastiktüte mit Oliven und Käsecreme.

„Gib mir vier Euro“, beantwortete er Lauras unausgesprochene Frage.

„Danke“, murmelte Laura und legte ihm die Münzen auf den Tresen.

„Was kann ich Ihnen Gutes tun?“ wandte er sich an Tante Irmi.

Die ergriff Laura beim Ellbogen und schob sie aus dem Laden.

„Ich komme später wieder.“

Die Menschen auf der Straße bewegten sich wie in Zeitlupe.

„Mein Gott, wie soll man diese Schwüle nur überstehen?“ fragte Tante Irmi. „Ist es nicht fürchterlich?“

Über dem Asphalt stiegen Hitzeschlieren auf. Laura erwiderte nichts.

„Weswegen ich mit dir sprechen wollte, Laura“, Irmi schien Lauras Schweigsamkeit nicht zu bemerken, „ist Folgendes. Dein Onkel und ich haben diese Reise geplant. Wir fliegen nach Mittelamerika.“

Laura blieb abrupt stehen.

„Kind, was hast du denn? Du warst doch schon dort, oder?“

Laura zwang sich zu einem Nicken.

„Deswegen ist es ja so ein glücklicher Zufall, dass wir uns treffen. Ich hätte dich nämlich ohnehin die Tage angerufen.“

Laura wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Ich–“, begann sie, schluckte, wich zurück, „ich glaube nicht, dass ich dir da helfen kann.“

Sie sah Tante Irmi an. Offenbar hatte der niemand je gesagt, dass hellblauer Lidschatten und grüne Wimperntusche aus der Mode gekommen waren.

„Aber sicher kannst du das! In unserem Alter, du weißt doch, da ist das alles nicht mehr so einfach.“ Irmi seufzte. „Und ehrlich, du hast ja praktisch nichts erzählt, als du damals zurückgekommen bist.“

„Ich habe mich um meine Mutter gekümmert“, entgegnete Laura kühl. „Wie du dich womöglich erinnern kannst.“

Irmi wandte den Blick ab und betrachtete ihre Fingernägel.

„Die alten Geschichten“, murmelte sie. „Können wir die Vergangenheit nicht einfach ruhen lassen?“

„Vielleicht kannst du das.“

„Aber deswegen kannst du uns doch bestimmt trotzdem ein paar Tipps geben.“ Tante Irmi stand mit dem Rücken vor dem Schaufenster des Supermarkts. Lauras Blick fiel auf ein Plakat, auf dem ein Laptop beworben wurde.

„Ich habe jetzt wirklich keine Zeit.“ Sie räusperte sich. „Meine Doktorarbeit wartet. Wenn ich nicht bald nach Hause komme, vergeht wieder ein Tag, ohne dass ich etwas schaffe.“

Irmi lächelte, als sei ihr ein Früchtedrop im Hals stecken geblieben.

„Um Gottes willen“, sagte sie, „ich will dich natürlich nicht aufhalten.“

„Dann wünsche ich dir noch einen schönen Tag.“

„Ebenso.“

Laura ging davon.

Sie war beinahe beim Italiener am Eck angekommen, als Irmi ihr etwas hinterherrief. Laura drehte sich um.

„Ich melde mich die Tage bei dir!“ Irmis Stimme hatte den Klang zurückgewonnen, den Laura noch von den Kindergeburtstagen her im Ohr hatte. „Dann kannst du mir von deiner Reise erzählen.“

Laura zuckte mit den Achseln und bog in die Seitenstraße.

„Das werden wir ja sehen“, murmelte sie.

Während sie die Straße hinabging, sah sie sich noch ein paar Mal um. Erst als sie sicher war, dass ihre Tante ihr nicht nachkam, blieb sie stehen und atmete aus.

Warum? Warum gerade jetzt?

Sie spürte, wie sich ein Loch in der Welt aufzutun drohte.

Rasch suchte sie Halt an einer Platane am Straßenrand.

Das durfte nicht geschehen. Sie durfte es nicht zulassen.

Die Rinde lag rau unter ihrer Handfläche. Laura lehnte sich an den Baum. Einem Instinkt gehorchend schlang sie die Arme um den Stamm und schloss die Augen. Sie sog den Geruch ein, verharrte und lauschte auf den gleichförmigen Klang ihres Atems.

Nach einer Weile schloss sich das Loch wieder.

Sie würde Irmis Nummer blockieren, sobald sie zu Hause war, ganz einfach.

Diese Person. Nie sonst hatte die Stimme ihrer Mum so kalt geklungen.

Beim Café Fatal bog Laura ab und wechselte auf die schattige Straßenseite hinüber. Vom Ende der Straße her kam ein Mann auf sie zu. Sie achtete zunächst nicht auf ihn, dann aber bemerkte sie seinen Gang und blieb stehen.

Simon!

Rasch suchte sie Deckung hinter einem Transporter.

Nicht auch das noch!

Die staubigen Hintertüren des Sprinters hatten keine Fenster, sodass sie nicht sehen konnte, ob er sie bemerkt hatte.

Sie spähte ums Eck, wagte sich nicht weit genug vor, um sicher sein zu können.

Wusste er etwa, wo sie lebte?

Sie hatte ihn seit damals kaum gesprochen, war ihm aus dem Weg gegangen. Selbst die Nachrichten auf ihrer Mailbox hatte sie ignoriert.

Laura sah sich um. Geduckt hastete sie über die Straße und wäre beinahe von einem roten Kadett erfasst worden. Der Fahrer hupte und fuchtelte mit den Händen.

Fehlte nur noch eine Blaskapelle, um ihre Anwesenheit zu verkünden!

Laura lehnte sich an den Altglascontainer.

Hatten sich heute alle gegen sie verschworen?

Der dunkle Sog schien mit einem Mal übermächtig zu werden. Dieses Loch in der Welt. Lange war es her, dass der Wunsch sich hineinzustürzen so verlockend war. Einfach loslassen.

Und dann?

Nein, sie durfte nicht nachgeben, hatte es sich geschworen. Nicht für sich selbst. Zu viele Menschen hingen mit drin. Und wer wusste, was eines Tages sein würde? Vielleicht–

Schluss damit.

Sie beugte sich nach vorn und linste um den Rand des Containers herum.

Oh Gott!

Sie lachte auf und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Er war es gar nicht! Was war nur mit ihr los?

Sie straffte ihre Schultern und ging die Straße hinunter. Sie war schweißgebadet. Das war alles zu viel. Ohnehin könnte sie sich nicht konzentrieren.

Nein, sie würde morgen an ihrer Doktorarbeit weiterschreiben. Vielleicht sollte sie an den Birkensee fahren. Sich die Vergangenheit von der Haut waschen. Abstand schaffen zu dem gestrigen Streit, Abstand zu Pascal, Abstand zu diesem finsteren Loch in der Welt.

Kapitel 5 – Geruch nach Meuterei

 

Kyriel stellte die Tüten auf dem Fußabtreter ab, um die Wohnungstür aufzuschließen.

Trotz der Hitze hatte ihm die morgendliche Radtour gutgetan. Er hatte Kater und Wut herausgeschwitzt und freute sich auf das Frühstück mit Laura. Was auch immer der Grund dafür sein mochte, ein Leben ohne sie konnte und wollte er sich trotz all ihrer Probleme nicht vorstellen.

Er öffnete die Tür und trat ein.

„Laura?“

Keine Antwort.

„Ich habe uns Brötchen mitgebracht!“

Er schlüpfte aus seinen Sneakers und ging ins Wohnzimmer. Das Bett war leer, das Chaos beseitigt. Von Laura keine Spur.

Kyriel setzte sich auf das Sofa. Zu gern hätte er sich für den gestrigen Abend entschuldigt. Schließlich hatte er Laura eingeladen, um endlich mal wieder ein paar entspannte Stunden mit ihr zu verbringen. Dass es anders gekommen war – wieso konnte er sich nicht einmal zurückhalten?

Er schob sich eine der Oliven in den Mund, die er eben noch besorgt hatte. Allein zu frühstücken, hatte er allerdings keine Lust. Ohnehin musste er gleich zur Arbeit.

Kyriel zog sein verschwitztes T-Shirt aus und war auf dem Weg in die Dusche, als sein Telefon klingelte. Er eilte zurück zum Fensterbrett, wo das Handy lag.

„Ja?“

„Wieso brauchst du so lange?”

„Ach du bist es. Was gibt es denn?”

„Hast du meinen Brief bekommen?”

„Seit wann hast du Zweifel an der Zuverlässigkeit der deutschen Post?”

„Ich wollte nur sichergehen.”

Kyriels Blick fiel auf den Umschlag auf seinem Schreibtisch. Er enthielt Stellenanzeigen aus dem NürnbergerTagblatt.

„Und, hast du dich schon beworben?” fragte Siegmar Koesterbaum am anderen Ende der Leitung.

„Ich habe einen Job – falls dir das entgangen sein sollte.”

„Du kannst es zumindest mal versuchen. Das ist nicht zu viel verlangt, oder? Du hast hoffentlich nicht vor, bis an dein Lebensende in dieser Klitsche hängen zu bleiben?”

„Klar.“ Kyriel unterdrückte ein Stöhnen. „Das mache ich.”

Er gab dem Umschlag einen Stoß, sodass der in den Papierkorb unter dem Schreibtisch segelte.

„Außerdem gibt es natürlich immer noch die Möglichkeit, bei uns anzufangen. Du müsstest nur ein Wort sagen–”

„Papa, hör mal, ich bin gerade auf dem Weg unter die Dusche. Ich melde mich die Tage bei dir, okay?”

Kyriel legte auf, schaltete das Telefon auf stumm und ging ins Bad.

„Das werde ich nicht tun!”

Kyriel war nicht weniger überrascht als Herr Ebert, als er diese Worte ausgesprochen hatte. Drei Jahre lang hatte er klaglos alles hingenommen, was von ihm verlangt wurde.

Fassungslosigkeit blitzte im Gesicht seines Chefs auf, verwandelte sich jedoch im Bruchteil einer Sekunde in die übliche, ausdruckslose Miene.

Noch immer hielt Herr Ebert Kyriel Wischmopp und Putzeimer hin. Infernalischer Gestank drang aus dem Inneren der Toilettenkabine. Kyriel stieß mit dem Fuß die Kabinentür auf und sah hinein.

Wie konnte man bloß die Schüssel verfehlen?

Neben dem Klo lag eine vollgeschissene Unterhose.

„Wollen Sie das etwa so lassen?” fragte Ebert. Ein bedrohlicher Unterton klang in seiner Stimme mit.

„Ich werde es nicht wegputzen.”

Der Ekel, der sich um Kyriels Hals geschlossen hatte, nickte zustimmend.

„Ja glauben Sie vielleicht, dass ich?” herrschte der Chef ihn an. Kyriel hielt dem Blick stand. Er zuckte mit den Achseln.

Eberts Nasenflügel bebten. Ungläubig sogen sie den Geruch nach Meuterei ein.

„Dann sehe ich mich gezwungen–”

„Oh nein”, sprang Kyriel ihm bei. „Mein lieber Herr Ebert. Sehen Sie sich nicht gezwungen! Das könnte ich mir niemals verzeihen!”

Er streifte die Schürze ab und nahm die Mc-Donald’s-Mütze vom Kopf. Beides drückte er Ebert in die Hand.

Er drehte sich nicht noch einmal um, als er durch die Tür ging.

Seine Kollegen hinter dem Tresen starrten ihn an, als er das Uniformhemd auszog, zerknüllte und zu Boden warf.

Er ging zu ihnen hinüber und zog seinen Rucksack unter der Kasse hervor.

Silvie, eine der Kassiererinnen, schmunzelte, schlug aber schnell die Hand vor den Mund.

Mehrere Leute saßen im Raum verstreut und kauten an ihren Hamburgern herum. Alle Blicke waren auf Kyriel gerichtet.

Ein blondes Mädchen, das nicht älter als 14 sein konnte, stierte ihn mit offenem Mund an – von den Pommes in ihrer Hand tropfte Ketchup auf den Tisch. Kyriel grinste zurück, öffnete den Reißverschluss seiner Mc-Donald’s-Hose und ließ sie zu Boden fallen.

Das Mädchen kiekste.

Mit nichts als Boxershorts bekleidet kramte er T-Shirt und Baggypants aus seinem Rucksack hervor. Rasch streifte er beides über.

Die Frau, die am nächstgelegenen Tisch saß, wischte sich eilig Mayonnaise vom Kinn, als Kyriel zu ihr hinübersah.

Er hob die Hand zum Gruß, als er den Laden verließ.

Vor der Tür atmete er tief durch.

Er strich sich die Haare aus der Stirn und blickte gen Himmel.

Die Sonne strahlte auf ihn herab. Er strahlte zurück und nickte, dann machte er sich auf den Nachhauseweg.

Hoch oben, auf einem Felsen über der Stadt, thronte die Kaiserburg. Ein alter Mann mit einem Filzhut kam Kyriel entgegen. Er zog das rechte Bein nach. Als er bemerkte, dass Kyriel ihn ansah, trat ein Lächeln in seine Augen.

Lauras Duft schlug ihm entgegen, als Kyriel die Wohnung betrat. Er schlüpfte aus seinen Schuhen und ließ sich aufs Bett fallen. Als er seinen Kopf zur Seite drehte, lag Lauras Kuschelkissen vor ihm. Er vergrub sein Gesicht darin. Ihr Geruch war noch immer wie eine Droge für ihn. Er schloss die Augen. Laura würde seine Entscheidung gefallen, so viel war klar. Aber war diese überstürzte Kündigung wirklich klug gewesen? Wie sollte es jetzt weitergehen? Er hatte keinen Plan B. Mit einem Mal fühlte er sich unglaublich müde. War nicht alles ein einziger Kampf?

Ein Donnerschlag ließ Kyriel zusammenfahren.

Er rappelte sich auf und ging in die Küche hinüber. Auf dem Fensterbrett stand die Petersilie. Er riss einige Blätter ab.

Kauend öffnete er das Fenster und lehnte sich hinaus. Die Sonne war verschwunden, die Hitze aber geblieben. Über ihm türmten sich Gewitterwolken. Erste Regentropfen trommelten auf das Garagendach und der Wind drückte die Zweige des Ahornbaums ans Nachbarhaus. Kyriel schloss das Fenster wieder und legte sich im Wohnzimmer aufs Sofa.

Kurz darauf schlief er ein.

Erst das Klingeln des Handys riss ihn aus dem Schlaf.

Im Raum herrschte Zwielicht. Kyriels Hand tastete nach dem Handy, aber auf dem Tisch lag es nicht. Ächzend stand er auf. Das Handy klingelte noch immer. Er musste unbedingt diesen penetranten Klingelton austauschen. Wo war das verdammte Ding bloß?

Endlich fiel sein Blick auf die achtlos abgelegte Hose vor dem Bett. Wahrscheinlich käme er sowieso zu spät. Er griff nach der Hose und fingerte das Handy aus der Tasche. Auf dem Display wurde Unbekannter Teilnehmer angezeigt. Kyriel nahm ab.

„Ja?” fragte er.

„Ach Peter, du bist es! Deine Nummer wird nicht angezeigt. Das ist ja eine Ewigkeit her. Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?”

Kyriel streckte sich und gähnte, während er der Antwort am anderen Ende der Leitung lauschte. Mit einem Mal erstarrte er inmitten seiner Bewegung.

Das Handy fiel zu Boden.

Kyriel schrie.

Kapitel 6 – Tohil

 

Der General.

Noch nach einem Vierteljahrhundert trieb dieser Name Totumay den kalten Schweiß auf die Stirn.

Das erneute Antreten General Ríos Montts bei den guatemaltekischen Präsidentschaftswahlen im Jahre 2003 hatte seine Hassgefühle wieder aufflackern lassen. Ebenso wie seine Furcht. Dieser Schwelbrand war seither nicht erloschen, obwohl der General bei den Wahlen eine Niederlage hatte hinnehmen müssen. Unfassbar, dass ein Fünftel der Bevölkerung trotz all der Verbrechen des ehemaligen Diktators die Stimme für ihn abgegeben hatte. Doch Totumay wusste, wie so etwas dort lief.

Er betrachtete die Feder in seinen Händen.

Runzlig waren sie geworden, diese Hände. Er kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass er alt war. Selbst der General dürfte kein Interesse mehr an der Verfolgung eines greisen Guerilleros aufbringen. Zu viel Zeit war vergangen.

Er befühlte die abgegriffene Feder. Auf der einen Seite erstrahlte sie blau, auf der anderen leuchtend rot. Sie war alles, was ihm von Yoyotli geblieben war.

Yoyotli.

Es war dieser Name, der es ihm damals ermöglicht hatte weiterzuleben. Doch um welchen Preis!

Als die Schamanin ihm die Feder geschenkt hatte, funkelte die Vorderseite bereits im selben Blau wie noch heute, so viele Jahre später. Ihre Kehrseite war von einem unscheinbaren Braun – bis zu jenem Mittwoch im August des Jahres 1983.

Totumay kauerte damals versunken auf einem Baumstumpf hoch über den Häusern von Quetzaltenango – Xela, wie die Einheimischen es nannten. Er schrieb gerade in sein Tagebuch, als sein Blick auf Yoyotlis Geschenk fiel.

Mit einem Mal leuchtete die Feder in flammendem Rot.

Es war vorbei.

Er begriff, dass er Yoyotli nie wiedersehen würde. Zugleich aber auch, weswegen sie ihm dieses Geschenk gemacht hatte: ihn zu beschützen, ihn zu warnen.

Totumay legte die Feder beiseite und blickte auf den See am Fuße der Veranda.

Und jetzt dieser Junge!

Er war so völlig anders. Silberblick. Zudem noch klein. Schutzlos – so wirkte er. Dennoch hatte es ausgerechnet ihn getroffen.

Totumay vermochte sich das nicht zu erklären: Nach all den Jahren trat der Feuertraum wieder in sein Leben und dann dergestalt! Er hatte keinen blassen Schimmer, was es damit auf sich haben sollte.

Ein Junge! Ein Kind, noch grün hinter den Ohren!

Immerhin, er war Lolas Sohn.

Weshalb aber war er tags zuvor davongestürzt wie vom wilden Affen gebissen? Etwas war geschehen. Womöglich war das ein gutes Zeichen. Sollte er sein Geheimnis bewahren.

Seine Gedanken kehrten zu Yoyotli zurück. Auch zwischen ihnen hatte es dereinst Geheimnisse gegeben. Ihr wahres Ausmaß hatte er nie erfasst. Erst als es zu spät war, begann er zu ahnen, wie viel Unausgesprochenes zwischen ihnen gestanden hatte. Aller Vertrautheit zum Trotz. Doch wen hätte er dann noch danach fragen können? Ob Yoyotli ihn mit ihrem Schweigen hatte schützen wollen?

Träger des Feuertraums hatten es gewiss nicht leicht. Er konnte nicht ermessen, welche Bürde diese Träume darstellten, geschweige denn die Verantwortung, die sie mit sich brachten.

Aber dieser Junge? Konnte sich vermutlich keinerlei Reim darauf machen, was da über ihn hereingebrochen war. Oder erfasste er es intuitiv? Nein, das war ausgeschlossen. Wieso hätte er ihn sonst aufsuchen sollen? Den Mann, der der Welt vor einem Vierteljahrhundert den Rücken gekehrt hatte. Der ihr entflohen war. Der sich in der Ödnis des Waldes verborgen hielt und sich dem eigenen Schicksal entwunden zu haben glaubte.

Bis gestern.

Er mochte sich getäuscht haben. Offenbar gab es kein Entrinnen. All die Jahre schien es funktioniert zu haben. Jetzt aber war er wieder da.

Der Feuertraum. Der Traum, von dem ihm Yoyotli erzählt hatte, als sie eines Nachts schreiend neben ihm erwacht war.

Selbst jetzt, so weit von jener Zeit und jenem Ort entfernt, vermeinte Totumay ihre Furcht zu spüren. Nie hatte er sie so erlebt. All seine Versuche, sie zu beruhigen, waren erfolglos geblieben. Natürlich hatte sie zu jener Zeit längst gewusst, dass dies eben nicht nur ein Traum war, wie er ihr ein ums andere Mal versichern wollte. Nein, der Feuertraum war ein Stigma, weitergegeben von Generation zu Generation. Unvorhersehbar. Willkürlich.

Aber ein Junge aus Köln? Er mochte spanischer Herkunft sein – aber dieser Traum entsprang der Welt der Mayas.

Allerdings war ja auch er selbst zufällig in diese Geschichte hineingezogen worden. Hätte dieser Friedenskongress damals nicht ausgerechnet in Köln stattgefunden, er hätte Yoyotli nie kennen gelernt.

Doch war er stets Randfigur geblieben. Ein hellhäutiger Europäer, dem niemand zutraute, dass er sich auf ein solch tückisches Spiel einließ und sein kostbares Weißenleben riskierte. Genau das hatte ihn für die Guerilleros wertvoll gemacht. Die Schlächter des Generals hatten in ihrer Verblendung nicht begriffen, dass Menschen aus den eigenen Reihen es wagten, sich gegen sie zu stellen. Weiße. Europäer. Undenkbar.

Grimmig stopfte er seine Pfeife. Sie war das Geschenk eines Guerilleros namens Tleyotl, ein kaum den Kinderschuhen entwachsener Widerstandskämpfer, der sie in den endlosen Stunden geschnitzt hatte, während derer er sich in Totumays Cabaña verborgen hielt. Ihr Kopf war ein Abbild des Gottes Tohil. Überbringer des Feuers.

Ein Europäer als Träger des Feuertraums? Das war, gelinde gesagt, eigenartig. Aber der Traum folgte seinen eigenen Gesetzen. Gesetzen, die selbst Yoyotli kaum verstanden hatte. Er führt dich. Wenn du dich weigerst, ihm zu folgen, wird er dich verzehren.

Ihre Worte bekamen durch Juliáns Verbrennungen einen schalen Beigeschmack. Nie hatte er vergleichbare Male auf ihrem Körper entdeckt. Yoyotli war dem Traum gefolgt. Gefolgt bis zum bitteren Ende – aber was hatte das bewirkt?

Die Einsamkeit, die ihn all die Jahre umhüllt hatte wie eine zweite Haut, war dabei aufzubrechen.