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"Letztlich sind wir, egal wo wir leben, vor allem eins: Menschen.“
Romanschriftsteller Elyseo da Silva bereist drei Kontinente. Seine Ausrüstung: ein schmales Budget und ein breites Lächeln.
Er erwandert die 800 Kilometer des Camino de Santiago, fürchtet sich vor Pumas und Bären auf Vancouver Island, schlottert in indischen Nachtzügen vor Kälte, überlebt das Trampen über georgische Serpentinenstraßen und macht Bekanntschaft mit der berühmten persischen Gastfreundschaft.
In Paincakes und andere Kuriositäten erzählt er einfühlsam, ungeschönt und persönlich von diesen Reisen – und den Menschen, die ihm dabei begegnen: Seien dies Vijay, der Shoe-Shining-Boy aus Mumbai, der ihm das schönste Geschenk seines Lebens macht; die 80-jährige Helen, eine alleinreisende Dame, die in männlicher Gegenwart gern Anfälle akuter Gebrechlichkeit vortäuscht, oder andere liebenswerte Zeitgenossen.
Ein ums andere Mal aber begegnet er bei diesen Abenteuern vor allem einem: sich selbst.
Triggerwarnung: Im Kapitel "Istanbul Teil II" wird auf den ersten drei Seiten explizit das Schlachten eines Tieres beschrieben.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Inhaltsverzeichnis
Paincakes und andere Kuriositäten
Vorwort
Camino de Santiago 2010
Vancouver Island 2013
Indien 2014
Georgien, Armenien, Türkei und Iran
Danksagung
Impressum
Der Autor
Mosaik der verlorenen Zeit
Die Wanderjahre des Elyseo da Silva
Ohne Dich wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin.
Liebe Leserin, lieber Leser!
Im vorliegenden Buch Paincakes und andere Kuriositäten – Die Wanderjahre des Elyseo da Silva habe ich für Dich meine Reiseberichte aus den Jahren 2010 bis 2014 gesammelt. Diese Texte erschienen ursprünglich auf meinem Blog Elyseos Welt, dessen Betrieb ich jedoch vor einigen Jahren eingestellt habe, um mich stärker auf die Arbeit an meinen Romanen konzentrieren zu können.
Für diese Neuveröffentlichung habe ich die ausgewählten Texte leicht angepasst, bisweilen ergänzt, bisweilen gekürzt. Wichtig war mir dabei jedoch, nicht zu tief einzugreifen. Ich wollte, dass die Geschichten weiterhin ein authentisches Zeugnis meiner Reisen darstellen und nicht durch meine rückwärtige Perspektive verfälscht werden. Zugleich war es mir ein Anliegen, den Menschen und Schriftsteller zu spiegeln, der ich zum Zeitpunkt der Entstehung war.
Das Buch ist in vier Abschnitte eingeteilt:
Den Beginn bilden die Erlebnisse auf meinem Camino de Santiago, dem Jakobsweg, im Jahre 2010.
Die folgenden drei Teile entstanden auf meinen Reisen nach Kanada; Indien; Georgien, Armenien und in den Iran. Jede einzelne dieser Reisen dauerte mindestens zwei Monate, die letzte sogar drei.
In den Jahren, in denen ich diese Reisen unternahm, arbeitete ich als freiberuflicher DaF-Lehrer in Köln und kaufte mich jährlich für mehrere Monate frei, um genügend Zeit und Inspiration für mein Schreiben zu finden.
Während ich in Kanada mit der Fertigstellung meines Debüt-Romans Mosaik der verlorenen Zeit beschäftigt war und dieser Abschnitt im vorliegenden Band folglich der kürzeste ist, merkte ich auf den Reisen nach Indien, Georgien, Armenien und in den Iran rasch, dass die Fremdartigkeit der dortigen Kulturen ein konzentriertes Arbeiten an meinem Folge-Roman nicht zuließ. Zu sehr beschäftigte mich, was ich erlebte.
Als Konsequenz daraus entstanden die Texte, die Du in den letzten beiden Sektionen lesen kannst.
Die Datumsangaben zu Beginn der späteren Texte beziehen sich auf das ursprüngliche Entstehungsdatum des jeweiligen Textes.
Um den Preis dieses Buches für Dich erschwinglich zu halten, habe ich keine Fotos in diesen Band mit aufgenommen. Dennoch möchte ich Dich keinesfalls um das Vergnügen bringen, eine Auswahl an Bildern zu sehen, die auf meinen Reisen entstanden sind.
Du findest sie online unter:
https://www.elyseodasilva.de/paincakes
Nun aber: Viel Spaß beim Lesen!
Elyseo da Silva,
Lissabon, 16. April 2020
Von Juni 2009 bis August 2010 lebte ich gemeinsam mit meinem damaligen Partner in Spanien. Da wir kaum soziale Kontakte in unserer neuen Heimat hatten – wir wohnten in einem Städtchen am Meer, das über neun Monate des Jahres einer Geisterstadt glich –, war die Herausforderung, mit unserer geteilten Einsamkeit umzugehen. Letztlich scheiterten wir kolossal daran. Es war das Ende unserer Beziehung.
Ende April hatte ich mich dazu entschieden, auf den Jakobsweg zu gehen. Mein Ziel war es, unser festgefahrenes Leben wieder in Fluss zu bringen. Bereits zehn Jahre zuvor hatte ich auf dem Camino gelernt, dass es nichts Besseres gibt, als zu wandern, um einen Stillstand zu beenden. Nun, ich beendete ihn, wenngleich nicht im gewünschten Sinne.
Allen Pilgern des Camino de Santiago dürfte ein Phänomen bekannt sein, das für Außenstehende schwer nachvollziehbar ist: Was uns Peregrinos selbstverständlich erscheint, all die Erlebnisse, die wir auf diesem Weg teilen, ist schwierig in Worte zu fassen. Also zumindest bleibt jenseits der oberflächlichen Beschreibung des Geschehens eine Ebene offen, die kaum vermittelbar ist.
Denn, was soll denn schon Besonderes dabei sein, ein paar Hundert Kilometer durchs Land zu laufen und dabei den ein oder anderen Menschen kennenzulernen? Wenn ich es so formuliere, sehe ich es selbst. Viele mag die Länge der Strecke abschrecken – aber davon einmal abgesehen?
Dennoch will ich mich daran versuchen, Euch einen Eindruck von meiner zweiten Pilgerreise nach Santiago de Compostela zu vermitteln.
Nachdem mein Freund und ich Mitte April eine Woche im schönen Asturias an der spanischen Nordküste verbracht hatten, setzte er mich am 23. April in Roncesvalles ab – und schon hier beginnt das Kommunikationsproblem. Auf dem Camino sind die am häufigsten gestellten Fragen folgende:
Wo kommst Du her?
Wo hast Du den Camino angefangen?
Wo bist Du heute losgelaufen?
Wo läufst Du heute hin?
Wie geht’s Deinen Füßen?
Danach kommt dann möglicherweise die Frage nach dem Namen oder ähnlich persönlichen Dingen. Für den Fall, dass der eine oder andere über ein weniger gutes Namensgedächtnis verfügt, neigen die Pilger auch dazu, sich mit Nationalitäten anzusprechen: Hey, Kanadier, wie geht’s? Alles klar, Brasilianer?
Schließlich, wer kann und will sich schon all diese Namen merken?
Ich selbst gab mir dabei diesmal allerdings Mühe, wusste ich doch aus Erfahrung, dass ich oftmals zu Beginn nicht sagen konnte, wer mir im Verlaufe des Weges wichtig werden sollte.
Nun aber zurück nach Roncesvalles. Jedem Pilger ist der Name dieses winzigen Pyrenäen-Dorfs nahe der französischen Grenze ein Begriff – je näher man Santiago kommt, desto mehr flößt dieser Name den später gestarteten Pilgern Respekt ein (für alle Franzosen und Frankokanadier hatte ich mir von Anfang an angewöhnt, den Namen des spanischen Dorfs wahlweise französisch auszusprechen, da die französischen Pilger, selbst wenn sie dort Station gemacht haben sollten, ansonsten nicht verstanden, wovon ich sprach: für die Franzosen also Rohnswoh – schön durch die Nase, versteht sich).
Nachdem ich mir im dortigen Pilgerbüro meine Credencial, den Pilgerpass und eine Jakobsmuschel für meinen Rucksack besorgt hatte, verbrachten mein Freund und ich unsere letzte gemeinsame Nacht im Zimmer einer kleinen Pension in Roncesvalles, wobei ich jedoch kaum ein Auge zutat – und das mit Sicherheit nicht, weil mir die Schnarcher in der riesigen Pilgerherberge fehlten, an die ich mich auch nach zehnjähriger Camino-Abstinenz nur allzu gut erinnern konnte. Nein, ich fühlte, dass es an der Zeit war, aufzubrechen, dass jede Faser meines Körpers nach Santiago strebte, auch wenn ich selbst noch im Bett lag und darauf wartete, dass die Minuten bis zum Morgengrauen verstrichen.
Endlich war es dann so weit. Um sechs Uhr sprang ich aus dem Bett, genoss noch einmal die heiße Dusche im Bad des Doppelzimmers und nach einem Kaffee hieß es dann Abschied nehmen – mein Freund fuhr mit dem Auto zurück nach Cambrils und ich machte mich per pedes auf die Reise.
Hingen am Tage unserer Ankunft noch düstere Regenwolken tief in den Berggipfeln der Pyrenäen, so lösten sich die morgendlichen Nebelschwaden am Tag meines Aufbruchs schnell auf und bald versüßte die Frühlingssonne mir den ersten Wandertag. Schon nach wenigen Kilometern kam ich mit zwei Jungs aus Hamburg ins Gespräch, Ljuba und Jan, mit denen ich einen Großteil der ersten drei Tage meiner Pilgerreise verbringen sollte. Das kam mir gelegen, denn einer meiner Hauptgründe für diesen Weg war ja eben der Wunsch gewesen, nach den Monaten der Einsamkeit und Isolation in der winterlichen Geisterstadt Cambrils endlich wieder einmal neue Menschen kennenzulernen.
Erneut bewies der Camino in kürzester Zeit seine erstaunliche Integrationskraft. Bereits am zweiten Tag, Ljuba, Jan und ich gelangten am frühen Nachmittag nach Pamplona, die erste größere Stadt auf dem Weg, hatte ich das Gefühl, mit ganzem Herzen ein Peregrino a Santiago zu sein, ein Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela, ganz so, als wäre ich meinen Lebtag lang nichts anderes gewesen und als sei dies das einzig natürliche Ziel der Welt. Dabei lagen in diesem Moment gerade mal fünfzig der knapp achthundert Kilometer Wegstrecke hinter mir – und eigentlich war ich noch nichts weiter als ein Tourist. Das war mir in diesem Moment allerdings keineswegs klar. Wie so oft, sah ich erst im Nachhinein klarer.
In Pamplona stiegen wir in der Casa Paderborn ab, einer vom deutschen Verein der Freunde des Camino de Santiago betriebenen Albergue, die zu diesem Zeitpunkt von einem älteren deutschen Ehepaar, Ursula und Franz, betrieben wurde. Die beiden vermochten ihre Herkunft keineswegs zu verbergen und so wurden wir mit allerhand gutdeutschen Ratschlägen versorgt – mein persönlich liebster war der, meinen Geldbeutel ständig am Körper zu tragen, und zwar, von der Herbergsmutter explizit so erwähnt, auch beim Duschen und beim Schlafen. Also nicht etwa die Wertsachen unter dem Kopfkissen verstecken, denn auch dort seien sie keineswegs sicher. Schließlich gebe es auf dem Camino zahllose Diebe, die auf nichts anderes warteten, als mir mein Geld wegzunehmen.
Danke, liebe Ursula, für diesen Ratschlag, den ich getrost – und jetzt, aus der Perspektive des Zurückgekehrten kann ich sagen zurecht – ignorierte.
Dennoch will ich nicht schlecht über die Casa Paderborn reden, denn die Aufnahme dort war zwar skurril, aber herzlich. Morgens um sechs wurden wir mit Air von Bach geweckt, einem meiner liebsten klassischen Stücke, das mir das Aufstehen erheblich versüßte. Noch dazu wurden wir mit einem reichhaltigen Frühstück verwöhnt – keineswegs das Standardprogramm in den Herbergen des Camino – das ließ mir meine Kreislaufprobleme gleich weniger beängstigend erscheinen.
Frisch gestärkt begannen wir also den Aufstieg zum Puerto del Perdón, einem Pass im Hinterland von Pamplona, der eine berauschende Aussicht auf die Umgebung und die Strecke der kommenden Tage bot. Den Frühling schien das Wetter in diesen Tagen übersprungen zu haben, denn aus dem kühlen April waren wir direkt in glühende Sommerhitze gestürzt – über dreißig Grad machten das Erklimmen dieses Berges anstrengender als gedacht, auch wenn ich mich bereits wenige Tage später nach solchen Temperaturen zurücksehnen sollte.
Dennoch fühlten sich diese ersten Tage meines Pilgerdaseins gut an – mit Ljuba verstand ich mich prächtig und fühlte mich gut aufgehoben – abends im Refugio bereiteten wir gemeinsam Abendessen zu und planten bereits die nächste Tagesetappe. Doch es sollte anders kommen.
Tags darauf wanderte ich allein los, da Jan bereits seit dem ersten Tag große Probleme mit seinen Füßen hatte – irgendwann im Laufe des Camino erhielt er den Beinamen Mister Blister – und verständlicherweise mäßig begeistert war, dass Ljuba mit mir durch die Lande zog, während er hinterherhinkte. In Puente la Reina, dem ersten Dorf dieses Tages, traf ich die beiden wieder. Sie unterbreiteten mir, dass sie an diesem Tag nur noch wenige Kilometer weiterlaufen würden. Also stand ich vor der Entscheidung, entweder allein weiterzugehen oder meinen Camino an Jans Füße anzupassen. Ich entschied mich dafür, alleine weiterzuwandern – eine Entscheidung, die ich in den nächsten Tagen noch oftmals in Frage stellen sollte.
Dieser erste Abschied auf dem Camino fiel mir schwer, obschon ich wusste, dass dieses Sich-Trennen-von-Menschen ein essenzieller Bestandteil des Weges ist – sich trennen im Vertrauen darauf, dass man sich wieder begegnet oder auch, dass es im Zweifelsfalle richtig ist, sich nicht wieder zu begegnen und andere Menschen kennenzulernen. In diesem Moment aber lag noch ein Weg von 700 Kilometern vor mir und die Behaglichkeit der Gesellschaft, das wusste ich, würde mir womöglich noch fehlen.
Es sollten mehrere Wochen vergehen, bis ich Ljuba und Jan wiedersah.
Der folgende Abschnitt des Camino war für mich der Schwierigste des ganzen Wegs. Es sollte beinahe eine Woche dauern, bis ich wieder in Gesellschaft geriet – und dies nicht, weil keine Menschen um mich gewesen wären – sondern beinahe ausschließlich Gruppen von Franzosen und Italienern, mit denen ich mich kaum verständigen konnte und die als Gruppe eben in ihren jeweiligen Landessprachen miteinander redeten – absolut nachvollziehbar, für mich aber denkbar ungünstig.
Die erste Albergue, die ich allein aufsuchte, war eine neue private Herberge im Geiste des Buddhismus – bereits das ungewöhnlich auf dem Camino – betrieben von dem Valenciano Miguel und seiner brasilianischen Frau Simone. Trotz des tollen Ambientes fühlte ich mich dort etwas verloren. Außer mir hatte es kaum Pilger dorthin verschlagen – die Herberge war so neu, dass sie in den gängigen Pilgerführern noch keine Erwähnung fand. Also verbrachte ich die Nacht zu zweit in einem Schlafsaal mit einem Spanier. Das hätte eine erholsame Nacht werden können. Hätte. Doch leider genügt auch ein Schnarcher, der die Ohrenstöpsel durchsägt, seinen Wecker auf fünf Uhr stellt und dann geräuschvoll Hab und Gut in Plastiktüten verpackt.
Hinzu kam, dass der Typ mir eher unsympathisch war – was vor allem an seiner rechthaberischen Art lag. Nein, ich hatte noch keine vierzig Kilometer am Tag hinter mich gebracht. Nein, ich war am Morgen nicht um fünf Uhr aufgebrochen. Nein, ich hatte das auch am nächsten Tag nicht vor. Und nein, es schreckte mich nicht, dass ich dann wohl in der Mittagshitze den Aufstieg nach Villamayor zu bewältigen hätte.
Seine Art, sich in meine Angelegenheiten einzumischen, machte mich regelrecht wütend und, obwohl kaum jemand sonst im Refugio war – nur zwei ältere Französinnen –, zog ich es vor, diesem Typen aus dem Weg zu gehen. Nichtsdestotrotz begann ich mir meine Gedanken zu machen, denn eines wusste ich über diesen Camino: Nichts geschieht umsonst. Weshalb also ging mir dieser Typ so auf die Nerven?
Mein Freund und ich hatten auf dem Weg nach Roncesvalles (Rohnswoh) im Auto ein Hörbuch gehört, in dem der Autor genau jenes Phänomen thematisiert hatte: Warum gibt es Menschen, über deren Verhalten wir uns über die Maßen aufregen, obwohl sie uns genauso gut egal sein könnten? Seine Antwort lautete: Diese Menschen sind uns als Engel geschickt – jedoch um uns zu nerven und uns auf diese Art eine Lektion zu übermitteln, als eine Art Arschengel sozusagen.
Für diesen Gedanken war ich, obwohl ich nicht an Engel glaube, dankbar und ich begann, die Funktion zu betrachten, die dieser erste einer ganzen Reihe von Arschengeln auf dem Weg für mich erfüllte. Was genau war es, was mir diesen Spanier so unsympathisch machte?
Schnell erkannte ich, dass es eine meiner persönlichen Eigenschaften war, die ich in ihm gespiegelt fand und die mich schier zum Wahnsinn trieb. Schließlich, und da musste ich ehrlich zu mir selbst sein, hatte nicht auch ich selbst Ljuba und Jan gegenüber immer wieder meine eigene Camino-Weisheit herausgekehrt? Jene Überlegenheit, die mir meine Camino-Erfahrung aus dem Jahr 2000 bescherte, die es mir erlaubte, Dinge als alter Hase zu beurteilen und meine Meinung dadurch mit doppeltem Gewicht in jede zur Verfügung stehende Waagschale zu werfen. Doch, das musste ich mir eingestehen, das hatte ich getan.
Der Blick in diesen Spiegel gefiel mir ganz und gar nicht. Ging mein Verhalten auf diesem Camino anderen Pilgern auf die Nerven? War ich zu dominant? Hatten meine Begleiter der vergangenen Tage überhaupt Lust gehabt, sich mit mir auseinanderzusetzen oder hatte ich mich ihnen womöglich aufgedrängt? War das der wahre Grund für ihr Zurückbleiben und ihre kurze Etappe?
Es sollte eine Weile dauern, bis ich eine für mich befriedigende Antwort auf diese Fragen fand. Zunächst aber verunsicherten sie mich, brachten mein ohnehin labiles Selbstbild ins Wanken – labil nach den schwierigen Monaten mit meinem Freund allein in Cambrils – und säten Zweifel. Ich lief in den folgenden Tagen allein, fühlte mich einsam, fand in den Herbergen keinen Anschluss an Franzosen und Italiener und stellte mir die Frage, ob dieser Camino tatsächlich das Richtige für mich war. Was wollte ich hier eigentlich?
In Viana, der letzten Stadt in Navarra, bevor ich tags darauf die rote Erde von La Rioja betreten sollte, suchte ich in der Albergue nach einem Buch, das womöglich ein anderer Pilger liegen gelassen hatte. Ich selbst hatte keinen Lesestoff dabei, da ich bei meiner ersten Pilgerreise mein Buch unangetastet wieder mit nach Hause gebracht hatte. Aber das hatte ich in diesen Tagen ebenfalls zu lernen: Dieser Camino war nicht mein Camino aus dem Jahr 2000! Vieles hatte sich verändert. Der Weg war überlaufener, aber auch kommerzieller geworden – das Schlimmste für mich aber war eine Sache, die eigentlich auf der Hand lag: All die wundervollen Menschen, die ich damals auf meinem Weg kennengelernt hatte, waren diesmal nicht da. Ich würde mich schon mit dem abfinden müssen, was ich hier und jetzt, im April des Jahres 2010 geboten bekam. Dagegen half keine noch so große Wehmut.
Ab Viana war also der „Medicus von Saragossa“ von Noah Gordon mein Begleiter – und obwohl das Buch dick war, bereute ich nicht, es mit mir herumzutragen, bot es mir doch einen Schutzwall gegen allzu große Einsamkeit. Auch ignorierte ich die Kommentare der Besserpilger, die meinten, dieses Buch sei viel zu schwer, um es mitzunehmen. Nur neuerliche Arschengel – und eine Neuauflage der Kommentare zu meinem Pilgerstock, den ich bereits vor dem Camino in einer kleinen Ermita in Catalunya gefunden hatte, und der dem angriffslustigen Besserpilger auf dem Camino als zu dick und zu schwer erschien. Gegen welche Anfeindungen man sich als Pilger alles durchzusetzen hatte. Erst ab dem Augenblick, in dem ich mir eine mögliche Reaktion für den nächsten Stockkommentator zurechtlegte (du musst damit leben, meiner ist eben größer als deiner), sollte ich vor solchen Sprüchen meine Ruhe haben. Was im „normalen“ Leben der Penisneid, ist auf dem Camino wohl der Stockneid.
Die erste Etappe in La Rioja war ein Albtraum. Eigentlich führte der Weg den ganzen Tag nur nach Logroño hinein und aus Logroño wieder hinaus – für einen Pilger gibt es allerdings kaum Zermürbenderes als Asphaltwüsten. Das ist sowohl extrem anstrengend für die Füße als auch, schlimmer noch, für die Seele. Hinzu kommt, dass wir Pilger in den Städten plötzlich zu exotischen Randerscheinungen mutieren, wohingegen das Auftreten von Pilgerherden in den Dörfern des Camino gänzlich normal ist.
Der Ausmarsch aus Logroño war der Moment, in dem bei mir zum ersten Mal Tränen flossen. Ich war seit Tagen allein unterwegs, mir schmerzten die Füße und der Himmel, der an diesem Tag plötzlich die graue Tristesse der Stadt zu spiegeln beschlossen hatte, drückte auf meine Laune. Let it be singen und weinen – keine schlechte Kombination – und auch die Blicke der Passanten waren mir relativ gleichgültig. Dann rief ich meinen Freund an. Das erste Mal, dass ich mein Telefon bereits mittags einschaltete.
Besser wurde es an diesem Tag nicht mehr. Kaum hatte ich Logroño hinter mir gelassen und wollte in den Grünanlagen hinter der Stadt schon aufatmen, waren diese auch schon wieder vorbei und ein Martyrium am Rande der Autobahn begann. Dies zog sich bei schwülwarmem Wetter bis nach Navarette, dem Ort, dessen Refugio ich als Nachtquartier erwählte, allein weil ich nicht mehr die Kraft aufbringen konnte, weiterzulaufen. Die Herberge passte zum Tagesverlauf: die hässlichste Absteige, die mir bis dahin auf dem Camino untergekommen war, mit einladenden 80 Zentimeter-Matratzen, die mit Bettnässer-Gummischutz überzogen waren und so richtig zum Wohlbefinden beitrugen. Als besonderen Bonus bekam ich einen weiteren Arschengel serviert – wieder in Gestalt eines übergewichtigen Spaniers, der das Bett unter meinem belegte, es vorzog, sich trotz widerwärtiger Ausdünstungen nicht zu duschen, und nachts den Schlafsaal mit atemberaubenden Schnarchgeräuschen wachhielt. Mir blieb nichts anderes, als den Gestank dadurch zu lindern, dass ich die Nacht über durch meinen Schlafsack hindurch atmete. Ein Albtraum wäre mir in dieser Nacht willkommener gewesen als die reale Pilgergeruchshölle.
Am nächsten Tag begann es zu regnen. Nun, so ein kleiner Schauer wäre mit Sicherheit nicht weiter schlimm gewesen, nur zog sich dieser kleine Schauer mit Unterbrechungen beinahe drei Wochen hin. Binnen Stunden verwandelte sich die rote Erde von La Rioja in eine schmatzende Schlammtrasse. Nach der schlaflosen Nacht mit all ihren aggressiven Schwingungen wurde der strömende Regen der Morgenstunden zu einer echten Belastungsprobe für meinen Pilgerwillen. Erst als ich auf dem Weg ein Gespräch mit Sunnyboy Igor begann, trotz russischen Namens Italiener, begann sich meine Laune wieder zu heben – und als wir dann in der Herberge in Azofra einliefen und feststellten, dass wir dort in einem Doppelzimmer (!) übernachten durften, war ich beinahe wieder mit der Welt versöhnt. Igor war sympathisch, sprach Englisch – und, vor allem, er schnarchte nicht.
Die Nacht in Azofra wurde somit die erste durchschlafene Nacht seit meinem Aufbruch. Balsam für meine blank liegenden Nerven.
Trotz des netten gemeinsamen Tagesmarsches tags zuvor beschlossen Igor und ich, am nächsten Morgen getrennt zu laufen. Meine Laune war trotz Regens wieder besser und ich freute mich auf das Etappenziel Grañón, weil ich mich erinnerte, dass ich auf meinem ersten Camino dort meinen ersten Ruhetag eingelegt hatte und mir der Ort angenehm im Gedächtnis geblieben war, selbst wenn ich praktisch keine Bilder mehr im Kopf hatte. Nur eines wusste ich noch – die Herberge in Grañón war speziell. Darauf freute ich mich.
Der Weg an diesem Tag führte mich singend durch strömenden Regen nach Santo Domingo de la Calzada – einem Dorf auf dem Camino, in dessen berühmter Kathedrale ein Hahn und eine Henne eingesperrt sind. Der Legende nach soll der Hahnenschrei dem Pilger eine erfolgreiche Pilgerreise verheißen – als ich in der Kathedrale war, schrie der Gockel gleich fünf Mal und das, obwohl zu dieser Zeit eine Messe abgehalten wurde – interessanter Kontrast. Nachdem ich Santiago diesmal erreicht habe, habe ich, wenn es nach dem krähfreudigen Gockel geht, offenbar noch vier zukünftige Pilgerschaften gut.
Als ich Santo Domingo hinter mir gelassen hatte, traf ich wieder auf Igor, der mit einem Katalanen namens Nestor unterwegs war, von dem er mir bereits tags zuvor erzählt hatte. Nestor kennenzulernen war ein Geschenk, wenngleich im ersten Moment ein bitteres. Ich freute mich, Igor wiederzutreffen, und war also offen für ein Gespräch. Dieses Gespräch bekam ich auch, nur redete mich Nestor derart schwach an, dass es mir meine Gesprächigkeit augenblicklich verschlug.
Ohnehin befand ich mich noch immer in meiner Zweifelphase und hatte mich am Morgen bereits gefragt, ob es Igor überhaupt recht gewesen war, den vorherigen Tag mit mir zu laufen – schließlich hatte er mir davon erzählt, dass er auf die ganze Gruppe von Italienern, für die er am Vorabend gekocht hatte, überhaupt keinen Bock hatte, aber nicht unhöflich sein wollte und sich deshalb mit ihnen abgab. Natürlich fragte ich mich, ob selbiges womöglich auch für mich gelten mochte.
Nestor also war der letzte in der glorreichen Reihe mir gesandter Arschengel. Er kommentierte als Gesprächseröffnung, in meinem Alter sei es ja wohl an der Zeit, endlich mal Geld zu verdienen und etwas aus meinem Leben zu machen – schließlich könnte ich längst, so wie er, eine Kette von Restaurants besitzen. Schon auf diese Aussage hin verging mir die Lust, weiter mit den beiden zu wandern – als Nestor, der den Camino zum ersten Mal machte, dann noch meinte, sie wollten nicht in Grañón bleiben, das sei nichts für sie, der Ort sei zu einfach, dachte ich mir, bitte, wer nicht will, der hat schon, und lief in meinem eigenen Rhythmus durch den strömenden Regen voran. (Als sie später doch in Grañón eintrafen und dort übernachteten, war es mir gleichgültig.)
Danke, Nestor – denn dein Spruch hat mir den Rest des Caminos gerettet.
Warum?
Ganz einfach – Nestors Arroganz machte mich wütend und das veränderte etwas ein mir, ein Gefühl, das mir ab diesem Zeitpunkt sagte: Mach dir keine Gedanken. Du hast es nicht nötig, dich irgendjemandem aufzudrängen. Vor allem aber auch: Du bist ein interessanter Mensch und wer das nicht erkennt, der hat es schlichtweg nicht verdient, dass du dich mit ihm abgibst.
Ich gelangte nach Grañón und schon beim Eintreten überflutete mich eine warme Brandung: Ich hatte das Gefühl, nach Hause zu kommen. Draußen hatte es vielleicht fünf Grad gehabt, im Innenraum der Herberge, dem Pfarrhaus der örtlichen Kirche, brannte jedoch ein behagliches Kaminfeuer. Marisa und Carlos, zwei Freiwillige aus Madrid, betreuten die Albergue als Hospitaleros, also als Herbergseltern, und hießen mich mit heißem Tee willkommen. Ich legte meinen Rucksack ab, breitete meinen Schlafsack auf der einfachen Matratze auf dem Boden unter dem Dach aus und merkte, wie sich etwas in mir entspannte: Ich war angekommen.
Unten setzte ich mich vor das knisternde Kaminfeuer, wärmte mich auf und begann Tagebuch zu schreiben. Noch bevor ich sicher war, ob ich das überhaupt wollte, hatte ich bereits Marisa und Carlos gefragt, ob ich einen Tag bleiben und Pause machen dürfte. Ich durfte. In diesem Augenblick begann meine eigentlich Pilgerreise.
Das mag für manchen erstaunlich klingen, immerhin war ich zu diesem Zeitpunkt bereits neun Tage gelaufen und hatte zwei spanische Comunidades Autónomas zu Fuß durchquert (Grañón ist nämlich das letzte Dorf in La Rioja – wenige Kilometer später beginnt die Provinz Burgos, die erste Provinz der Comunidad Castilla y León). Dennoch hatte ich in Grañón ganz klar das Gefühl einer Zäsur auf meinem persönlichen Weg. Von Grañón aus erlebte ich den Camino als spirituelle Reise – was er zuvor nicht gewesen war.
Wahrscheinlich war die entscheidende Veränderung in Grañón, dass ich begann, Gefallen daran zu finden, für andere Pilger da zu sein, ihnen zu helfen oder, um einen alten christlichen Ausdruck dafür zu verwenden, ihnen zu dienen. Das begann damit, dass ich beim gemeinsamen Abendessen für Carlos und Marisa die Ansprache bei Tisch ins Deutsche und Englische übersetzte.
Doch bevor ich weitererzähle, will ich kurz ein paar Worte über den sogenannten „Geist von Grañón“ verlieren.
Es gibt auf dem Camino de Santiago noch immer, und wieder in zunehmendem Maße, Herbergen, die wie traditionelle Hospitales de Peregrinos geführt werden. Das bedeutet, dass es keinen festen Preis für die Übernachtung gibt, sondern jeder so viel spendet, wie er kann und möchte. Denn – das ist der Grundgedanke dahinter – für den einen sind fünf Euro ein Pappenstiel, für den anderen eine Menge Geld. Auch in den übrigen Herbergen wird der zu entrichtende Betrag als Spende deklariert – ich selbst habe mich jedoch immer gefragt, wo der Spendencharakter bei einem festen Preis liegt, den es zu bezahlen gilt, um bleiben zu dürfen.
Eine weitere Besonderheit dieser Hospitales ist das gemeinsame Abendessen, das zuvor von den Pilgern zusammen mit den Hospitaleros zubereitet wird. Die Pilger müssen hierfür nichts mitbringen oder einkaufen, beteiligen sich aber an der Zubereitung. Nirgends auf dem Weg habe ich eine stärkere Verbundenheit und ein größeres Gemeinschaftsgefühl zwischen den Pilgern erlebt als in derartigen Herbergen.
Nachdem mein Grund dafür, einen Tag in Grañón zu verbringen, nicht kaputte Füße oder sonstige körperliche Leiden waren, sondern vielmehr ein Zustand seelischer Erschöpfung und zugleich die Hoffnung, aus dem Tross der italienischen und französischen Pilger auszubrechen, bot ich Carlos und Marisa selbstverständlich meine Hilfe an.
So putzten wir morgens, nachdem die anderen Pilger die Albergue verlassen hatten, gemeinsam das komplette Haus, bevor die beiden, die selbst erst seit drei Tagen in Grañón waren, sich zum Lebensmitteleinkauf nach Santo Domingo aufmachten, während ich die Rolle des Hospitaleros übernahm und im Refugio zurückblieb.
Als sie nach mehreren Stunden wiederkehrten, merkte ich, dass die beiden aufrichtig dankbar waren, mich da zu haben, denn so hatten sie unbeschwert einkaufen können, ohne sich Gedanken darüber zu machen, dass die Herberge leer stand. Also luden sie mich gleich dazu ein, mit ihnen zu Mittag zu essen – eine Einladung, die ich aufgrund permanenter Geldknappheit nur zu gern annahm. Auch den Rest des Tages unterstützte ich die beiden, wo es nur ging, übersetzte, führte deutsch- und englischsprachige Pilger in die Gepflogenheiten des Hauses ein, zeigte Schlafplätze und kümmerte mich um das allgemeine Wohlergehen. Schnell merkte ich, wie gut das nicht nur den Pilgern, um die ich mich kümmerte, tat, sondern auch mir selbst.
Am Kaminfeuer von Grañón kam es dann auch zum ersten Gespräch, bei dem ich klar das Gefühl hatte, Botschafter zu sein – wenngleich die Botschaft, die ich zu überbringen hatte (meine eigene Geschichte), bei der Empfängerin erst einmal Kummer und Tränen auslöste. Doch bereits in diesem Moment war ich mir sicher, dass dies Tränen eines neuen Anfangs waren und Ulrike, die Frau, der ich meine Geschichte erzählte, meinte am Ende zu mir, dass eben diese Geschichte, womöglich der Grund für sie gewesen sei, auf diesen Weg zu gehen – denn mein Beispiel zeigte ihr eine Betrachtungsweise auf, die ihr über sage und schreibe 30 Jahre hinweg niemand nahe gebracht hatte. Nun, das zu beurteilen steht mir nicht zu – aber nach all den Selbstzweifeln und der Unsicherheit der Woche zuvor tat es mir unglaublich gut, von jemandem so eindeutige Wertschätzung zu erfahren.
Noch dazu befand ich mich plötzlich wieder in einer Gruppe von Menschen, deren Sprache ich sprach – nicht zuletzt, weil einige der Menschen um mich herum Deutsche waren. Tatsächlich aber hatte sich zudem entweder etwas in mir verändert, sodass ich zu diesen Menschen Zugang fand, oder aber die Menschen verhielten sich mir gegenüber wieder offener.
So sehr ich nach einem zweiten wunderschönen Abend voller Gemeinschaftsgefühl und einer Nacht voller erholsamem Schlaf in Grañón damit haderte, am nächsten Tag weiterzugehen, erleichterte mir doch das Wissen um eine Herberge ähnlicher Ausrichtung im nur 23 Kilometer entfernten Tosantos den Abschied.
Als ich mich morgens gerade im Gästebuch von Grañón verewigte, trat Carlos, der Hospitalero, von hinten an mich heran und hängte mir eine Kette mit einem hölzernen Tau um den Hals. Das Tau ist das Zeichen der Templer, die es sich im Mittelalter zur Aufgabe gemacht hatten, die Pilger des Camino vor den Gefahren und Widrigkeiten des Weges zu beschützen. Carlos’ Geste berührte mich und ich wusste, dass die Begegnung mit den beiden, ihm und seiner Frau Marisa, für mich ein Geschenk auf diesem Weg gewesen war. Es hinterließ ein eigentümliches Gefühl von Freude, beim Abschied nach einem Tag in Grañón Tränen in den Augen eines erwachsenen spanischen Mannes zu sehen – denn so wie er in mir eine leuchtende Gestalt wahrgenommen hatte, begann auch ich selbst in diesem Moment, mich wieder als Lichtgestalt wahrzunehmen, und trug das Tau fortan als Auszeichnung, aber auch als Erinnerung an die Art des Weges, den ich hier gehen wollte.
In Grañón hatte es geheißen, es solle am nächsten Tag schneien – als mir dieses Gerücht zu Ohren gekommen war, hatte ich laut gelacht. Schnee? In Castilla? Im Mai? Lächerlich – schlicht ein Ding der Unmöglichkeit.
Auf meinem Marsch nach Belorado wurde ich an jenem Tag prompt eines Besseren belehrt. Offenbar gab es nichts, was nicht möglich war, und so wanderte ich einen kompletten Vormittag lang durch Schneegestöber. Ich dankte meiner weisen Voraussicht, in der ich mir sowohl eine wasserdichte Windjacke als auch einen dicken Fleece-Pulli für diesen Camino gekauft hatte – denn das alles trug ich beim Laufen an diesem ersten Tag in Castilla y León und das sollte sich so schnell auch nicht wieder ändern. Der Vorteil: Alles, was ich am Leib trug, musste ich schon nicht in meinem Rucksack herumschleppen.
Nach mehrstündigem Marsch durch den Schneesturm erreichte ich Belorado, wo ich das brennende Bedürfnis verspürte, Wurst zu essen – und zwar möglichst heiß, möglichst viel und möglichst fettig. Dieses Bedürfnis ist glücklicherweise eines, mit dem die Spanier im Allgemeinen sehr gut fertig werden – ich bekam Wurst, sie war heiß, sie war fettig und ich stopfte eine ganze Menge davon in mich hinein, um meine steif gefrorenen Finger wieder aufzutauen und meinem ungläubigen Körper die Energie wieder zuzuführen, die er an diesem Tag nicht nur auf zwanzig Kilometern Fußmarsch ohne Pause verbraucht hatte (denn wer hat schon Lust, sich im Schneesturm irgendwo ein matschiges Plätzchen für eine Rast zu suchen?), sondern auch dadurch, dass er gegen die beißende Kälte ankämpfen musste.
Zum Glück war es von dort bis zum Hospital de Peregrinos in Tosantos nicht mehr allzu weit – die Matschpartie dorthin versuchte ich mir erträglicher zu machen, indem ich mir immer wieder vor Augen führte, was ich als kleiner Junge wohl dafür gegeben hätte, einen ganzen Tag durch den Matsch waten zu dürfen.
Als ich in Tosantos ankam, es war vielleicht mittags um halb eins, betrat ich die Albergue und traf dort auf José Luis, einen Hospitalero, der wohl an die siebzig Jahre zählte, und seinen Gehilfen Pablo, der ihn für einige Tage unterstützte. José Luis war gerade dabei, einen galicischen Pilger zur Schnecke zu machen, was mir ausgesprochen gut gefiel, da er mir mit seiner Pilger-Moralpredigt aus der Seele sprach. Er fragte den verdutzten Mann nämlich, von wo aus dieser am Morgen aufgebrochen sei, und als dessen Antwort Santo Domingo de la Calzada war (also ein Distanz, die meinen Marsch um beinahe acht Kilometer an Länge übertraf), hakte José Luis nach, wann der Pilger denn aufgestanden sei. „So um fünf Uhr“, war die Antwort des überrumpelten Mannes, der bald nicht mehr wusste, was ihn getroffen hatte. Denn José Luis ließ daraufhin eine Predigt über Rücksichtnahme gegenüber den Mitmenschen vom Stapel, die sich gewaschen hatte. Damit hatte er meiner Meinung nach vollkommen Recht, wobei sich meine Meinung von der durchschnittlichen Pilgermeinung stark abhob. Tatsache war nämlich, dass wir Pilger beinahe in keiner Herberge die Chance bekamen, länger als bis fünf, maximal halb sechs zu schlafen, da ab diesem Zeitpunkt die ersten Wecker klingelten und sich in den diversen Schlafsälen wuselige Zusammenpackorgien ausbreiteten wie lepröse Geschwüre – an Schlaf war beim allgemeinen Plastiktüten-Geraschel nicht mehr zu denken, Ohrenstöpsel hin oder her. Dieses Verhalten allerdings empfand José Luis als ausgesprochen rücksichtslos und in Zeiten der Kälte (wie dieses Jahr im Mai) noch dazu als völlig unsinnig – denn weder wurde es irgendwann am Tag heiß, sodass es womöglich gerechtfertigt gewesen wäre, in heller Panik vor Sonnenaufgang die Herbergen zu verlassen, um einem etwaigen Hitzschlag am Nachmittag zu entgehen, noch konnte man um diese Uhrzeit irgendetwas sehen, schließlich war es noch finster. Wo also lag der Sinn der Panikmache?
Der Galicier fühlte sich aufgrund dieser Diskussion alles andere als wohl in seiner Haut und das Ende vom Lied war, dass er beleidigt von dannen zog, lautstark beteuernd, dass er sich so nicht verhalte, weil er praktisch geräuschlos morgens aufbreche.
Natürlich. Genau wie all die anderen geräuschlosen Nilpferde.
Während der Diskussion hatte ich mit meiner Zustimmung zu José Luis Thesen nicht hinter dem Berg gehalten, denn ebenso wie er im Schlafzimmer unter den knarzenden Holzböden seines alten Refugios litt, hatte ich in den zehn Tagen meiner Pilgerschaft unter akutem Schlafmangel zu leiden gehabt. Als ich ihm dann noch schöne Grüße aus Grañón bestellte und ihm meine Dienste als Dolmetscher anbot, war ich gleich herzlich im Kreis der Hospitaleros aufgenommen und wurde fortan, kaum dass ich meinen Rucksack abgelegt hatte, als Hospitalero número tres vorgestellt. Zwar war ich selbst erschöpft, stellte meine Müdigkeit in diesem Moment allerdings zurück und kümmerte mich mit den beiden um die ankommenden Pilger – und siehe da, als ich der in ihrem Schlafsack bibbernden Krystyna, einer sechzigjährigen Polin, die ich bereits seit ein paar Tagen kannte und von der ich wusste, dass sie ihre Pilgerreise im Auftrag ihres ganzen Dorfes und ihrer vom Verlobten verlassenen Tochter unternahm, eine Tasse dampfenden Tee an die Matratze brachte und ihr ein wenig über die Stirn strich, war meine eigene Erschöpfung wie weggeblasen. Ehe ich es mich versah, war ich wieder zum Hospitalero-Mittagessen eingeladen, saß mit José Luis, Pablo und einer alten Freundin der beiden am Tisch und mampfte Hühnchen mit Gemüse.
Mir tat mein neuer Status als Hospitalero itinerante gut – schließlich war ich selbst noch fit, hatte keine Probleme mit Füßen oder Beinen und konnte somit aushelfen. Zudem hatte ich das Gefühl, dass ich sehr viel mehr an Dankbarkeit zurückbekam, als ich an Energie gab – letztlich also ein durchaus eigennütziger Antrieb.
Als ich und einige andere Pilger von der Besichtigung einer kleinen Einsiedelei nahe Tosantos zurückkamen, die eine steinalte Frau aus dem Dorf für die Pilger anbot, solange es nicht regnete – ich hatte bei der Übersetzung von allerlei Wundertätigkeiten der Virgen de la Peña, der Jungfrau des Felsens, etwas zu kämpfen gehabt – machte ich in der Küche Bekanntschaft mit Johanna, einer Deutschen, die sowohl Geige als auch Medizin studiert und das letzte halbe Jahr für Ärzte ohne Grenzen in Lateinamerika gearbeitet hatte. Mich faszinierte vom ersten Augenblick an, dass José Luis ihr ein Liederbuch hinhalten konnte und Johanna die Lieder vom Blatt weg sang, ohne sie zu kennen. Dies war der Moment, in dem ich Bekanntschaft mit den Mantra-Gesängen der Mönche des französischen Taizé-Klosters machte. José Luis war die Begeisterung für diese Lieder von den leuchtenden Augen abzulesen und mit hoher Stimme begleitete er Johannas kräftigen Gesang. Auch ich klinkte mich schnell ein, liebe ich doch das Singen und war dankbar über die Erweiterung meines Lied-Repertoires, das ich auf den Tagen des einsamen Wanderns bis zur Neige ausgeschöpft hatte. Während des Singens bereiteten wir Patatas a la Riojana zu, einen Kartoffel-Gemüse-Eintopf mit Chorizo, der mir unterdessen wohlbekannt war, hatten doch auch Marisa und Carlos in Grañón mir gegenüber schon bekannt, dass dies das einzige Gericht sei, das sie für 35 Pilger zuzubereiten wüssten. Also gab es für mich zum dritten Mal in Folge Patatas a la Riojana, was allerdings nicht weiter störte, da es sich um ein wärmendes Essen handelte – ideal bei den frostigen Temperaturen innen wie außen.
Nach dem Essen hielten José Luis und Pablo eine kurze Taizé-Andacht in einer kleinen Kapelle ab, die unter dem Dach des alten Gebäudes eingerichtet war. Ich fungierte dabei als atheistischer Übersetzer. Das wussten die beiden natürlich nicht und ich empfand es auch nicht als nötig, ihnen davon zu erzählen. Ohnehin begann sich mein Bild zu wandeln und ich wurde dem Katholizismus gegenüber etwas milder. Gab es auch immer wieder einzelne Teile der katholischen Liturgie, die ich als überaus abstoßend empfand, so beispielsweise den Mea-maxima-culpa-Gedanken oder den Befehl, den katholischen Glauben unter alle Völker der Welt zu verbreiten, begann ich doch, für andere Teile Verständnis zu entwickeln, so beispielsweise für das Gefühl der Gemeinschaft, die gegenseitige Hilfe und die praktizierte Nächstenliebe, die mir nirgends auf dem Weg so intensiv begegnete wie in den kirchlichen Herbergen im Geiste von Grañón. Insofern hatte ich keinerlei ethisch-moralische Bedenken als ich die Andacht übersetzte – denn eines der Mantren konnte ich augenblicklich akzeptieren:
Ubi caritas et amor, ubi caritas, deus ibi est. (Wo Nächstenliebe und Liebe sind, dort ist Gott.)
Ich selbst hätte es vermutlich nicht Gott nennen mögen, da mir dieser Begriff im Laufe der Jahrhunderte viel zu oft missbraucht wurde – aber ansonsten, so war mir bewusst, lebte ich nach der gleichen Maxime.
Schon als ich nach vier Tassen Kaffee und gemeinsamem Frühstück mit Pablo und José Luis am Morgen in Tosantos aufbrach – nicht ohne mir José Luis Telefonnummer in meinem Pilgerführer notiert zu haben, sollte ich ihn bei Gelegenheit einige Tage als Hospitalero unterstützen wollen – war mir klar, dass es nach drei derart schönen Tagen voller Herzlichkeit und emotionaler Wärme erst mal bergab gehen musste. Diese Haltung war nicht unangebrachtem Pessimismus geschuldet, sondern vielmehr dem nüchternen Blick in den Pilgerführer, der verhieß, dass sich in annehmbarer Reichweite keine ähnliche Herberge im Geiste Grañóns befand. Außerdem: Wer wüsste das Gefühl echten Glücks noch zu schätzen, wäre jeder Tag auf diesem Camino von gleichbleibender Freude erfüllt?
Ich machte mich also auf und begann diesen Vormittag – es war bereits weit nach neun – mit der Aussicht auf bittere Kälte, grauen Himmel und eine endlose Strecke über die Hochebene der Montes de Oca, ohne ein einziges Dorf, wo ich hätte rasten können. Ehe ich die Berge erreichte, musste ich allerdings erst einmal die acht Kilometer bis Villafranca, Montes de Oca, zurücklegen, die mir wider Erwarten erstaunlich leichtfielen. Die vergangenen Tage hatten meine Seele erfrischt und das wirkte sich auch auf meine körperliche Kondition aus. Ursprünglich wollte ich in Villafranca eine Pause einlegen, doch als ich mich dort noch fit fühlte und feststellte, dass die letzte Möglichkeit im Dorf noch einen Kaffee zu trinken, ohne mehrere Hundert Meter zurück zu laufen, ein Vier-Sterne-Hotel gewesen wäre – nicht meine Preisklasse – entschied ich, den Weg nach San Juan de Ortega, also die zwölf Kilometer lange Strecke über das Hochplateau der Montes de Oca, ohne vorherige Pause in Angriff zu nehmen.
Ein klassischer Fehler. Nicht, dass ich das nicht vorher hätte wissen können – aber gut.
Nach einem steilen Aufstieg gelangte ich an eine Bergquelle, die mit der Aufschrift Kein Trinkwasser versehen war. Ein Kommentator hatte mit Edding Politik der Panikmache – KAUF Wasser! Konsumiere! darunter geschrieben – Grund genug für mich meinen Wassersack erst recht dort aufzufüllen – immerhin wusste ich aus eigener Erfahrung, dass dieses Bergquellwasser, vor dem derzeit überall als nicht trinkbar gewarnt wurde, vor zehn Jahren durchaus trinkbar gewesen war und dass das Qualitätsurteil nicht trinkbar nichts weiter bedeutete, als dass dem Wasser nicht Unmengen von Chlor beigesetzt wurden. Insofern: Prost!
Der Marsch über die Hochebene wurde nach zwei Stunden zur Tortur. Ein beißender Wind fegte über die Bergrücken, die komplette Strecke war eine Matschpiste und ich befand mich unausgesetzt in Habachtstellung, um einem unfreiwilligen Matschvollbad inklusive Rucksack zu entgehen. Neben dem Weg bemerkte ich ungläubig den Schnee vom Vortag und die Wolkenmassen am Himmel boten selbst eingefleischten Optimisten keinerlei Anlass zur Hoffnung.
Die Kälte bedeutete zugleich, dass mir selbst eine nur fünfminütige Pause bis auf Weiteres verwehrt bliebe und die paar hastig im Laufen herunter geschlungenen Cashews, die ich noch in meinem Gepäck gefunden hatte, sich damit abzufinden hatten, dass ihnen bis San Juan nichts oder niemand in meinem rebellierenden Magen Gesellschaft leisten würden.
Was blieb mir anderes übrig – ich machte gelangweilte Miene zum eisigen Spiel und trottete weiter. Schließlich half es nichts, mich zu beklagen, und bei wem hätte ich mich auch beklagen sollen? Keiner der Mitpilger bot sich für diese Rolle an. Der Weg schien kein Ende nehmen zu wollen. Irgendwann folgte dem Gefühl des Hungers ein beharrliches Gefühl von Kälte.
Vor die Wahl gestellt, ob ich vor Wut und Frustration in diesem Moment singen oder weinen wollte, entschied ich mich fürs Singen und packte die alten Hippie-Klassiker wie Amazing Grace, Kumbaya oder We shall overcome aus – und natürlich Leonard Cohens Hallelujah – das Lied von mir und meinem Freund, das ich durch ganz Spanien trug und das am Ende der Reise wohl so ziemlich jeder, der auf dem Weg eine Weile mit mir zu tun hatte, mitsingen konnte. Als ich dann mal wieder bei Let it be angelangt war und gerade die Textzeile And when the night is cloudy, there is still a light that shines on me schmetterte, brach tatsächlich die Sonne durch die Wolkendecke und wärmte zumindest fünf Minuten lang meine eingefrorenen Gelenke. Das war einer der Augenblicke, in denen ich mich, nur für den Fall, dass es doch einen Gott geben sollte, vorsorglich bedankte.
Viele der Pilger hatten noch in der Woche zuvor über die Hitze gestöhnt, mir selbst machte die Kälte weitaus mehr zu schaffen, denn sie raubte meinem Körper mehr Energie. Noch dazu war ich den Camino im Jahr 2000 im August gelaufen, das heißt, an Hitze beim Pilgern war ich wahrlich gewöhnt und auf Hitze war ich eingestellt – auf Schnee und Frost jedoch keineswegs. Schließlich pilgerte ich ja nicht zum Polarkreis, selbst wenn man das derzeit hätte glauben mögen.
Als ich endlich in San Juan de Ortega ankam – ich vermute, ich war nicht der einzige, der sich zwischenzeitlich gefragt hatte, ob dieses Dorf womöglich einer unerwarteten Entführung durch Außerirdische zum Opfer gefallen war – wollte der Wirt in der einzigen Bar des Ortes mir nicht erlauben, mich an einen der Tische im leeren Speisesaal zu setzen, wenn ich nichts essen wollte. Das Problem dabei war jedoch, dass es ansonsten keine freien Tische in der Kneipe gab und ich wenig Lust verspürte, bei der Eiseskälte den Versuch zu starten, mich im Freien aufzuwärmen. Nach all der Herzlichkeit, die mir in den Tagen zuvor widerfahren war, nahm ich dem Wirt dieses geldgierige Gebaren übel. Das Glück jedoch war mir hold. Es erschien mir in Gestalt von Johanna, die in diesem Moment die Bar betrat. Sie nämlich wollte etwas essen – ich ja durchaus auch, aber kein Hauptgericht zu einem Preis, der in meinem knappen Budget nicht drin gewesen wäre. Großzügigerweise wurde mir erlaubt, als Begleiter mit an ihrem Tisch Platz zu nehmen.
Johanna war ähnlich genervt und erschöpft von der bisherigen Tagesetappe wie ich, dennoch beschlossen wir, gemeinsam noch einige Kilometer weiter bis nach Atapuerca zu laufen – hatte sich San Juan de Ortega doch bereits in den wenigen Minuten unseres Aufenthalts dort als ausgesprochen ungastlich erwiesen.
Trotz unserer Müdigkeit stellten wir beide fest, dass die letzten Kilometer des Tages im Gespräch wie im Fluge vergingen. Selbst als wir letztlich in Atapuerca von einer maulfaulen Frau empfangen und über Nacht in einer unbeheizten Scheune untergebracht wurden, nahmen wir das klaglos hin. Auch Johanna hatte wohl nicht erwartet, dass uns noch ein weiterer Ort wie Tosantos bevorstünde. Die gänzlich unausgerüstete Küche der Albergue und mein übermächtiger Hunger veranlassten mich schließlich doch noch, in einer Bar zu Abend zu essen und nicht wie üblich zu kochen.
Als ich die Bar betrat, stieß ich auf Roland, einen 60-jährigen südafrikanischen IT-Unternehmer, den ich in den Tagen zuvor bereits mehrmals auf dem Camino getroffen hatte und dessen Angebot, uns eine Flasche Rotwein zu bestellen, ich natürlich nicht ausschlagen konnte. Nichts Besseres hätte meiner angekratzten Laune an diesem Abend passieren können! Roland, der die Reise allein unternahm und wenige Tage zuvor auf dem Camino seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert hatte, erzählte mir allerlei mitreißende Geschichten – angefangen mit der missglückten Hauttransplantation beim Entfernen eines krebsbefallenen Fleckens auf seiner Wange und der kompletten Leidensgeschichte der nachfolgenden Operationen (seine rechte Gesichtshälfte wirkte noch immer entstellt, sein Auge hing herab und tränte beständig), über sein Leben als Unternehmer, das ihm nicht genügend Herausforderungen bot, weswegen er erst kürzlich eine der afrikanischen Klicksprachen erlernt hatte, bis hin zum darauf folgenden mehrwöchigem Aufenthalt in einem Dorf afrikanischer Ureinwohner, mit denen er und sein dreizehnjähriger Sohn Lehmhütte, Essen und Leben geteilt hatten.