Motte & Co. Alle Abenteuer in einem Band - Ulrich Renz - E-Book

Motte & Co. Alle Abenteuer in einem Band E-Book

Ulrich Renz

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Beschreibung

Die Kinderkrimis von "Motte & Co" haben mittlerweile Kultstatus. Alle Abenteuer von Motte und seinen Freunden jetzt in einem Band. "Auf der Spur der Erpresser" Ja, du kriegst die Million …" Motte traut seinen Ohren nicht. Was hat Papa da gerade am Telefon gesagt? Um was für eine Million geht es da? Wer ist dieser mysteriöse Anrufer?  Ein zufällig belauschter Anruf bringt Motte und seine Freunde auf die Spur einer Erpresserbande. Mit Scharfsinn und Mut kommen sie dem Geheimnis der Verbrecher immer näher. Dabei merken sie nicht, dass sich die Schlinge auch um sie selber immer enger zuzieht ... "Die Jagd nach Giant Blue" MM ist fassungslos. Giant Blue, die geniale Erfindung ihres Vaters, der schnellste Computer der Welt, wurde gestohlen! Die Polizei tappt im Dunkeln. Motte und seine Freunde JoJo, Simon, MM und Ute ermitteln auf eigene Faust. Als sie endlich eine heiße Spur haben, ist es ausgerechnet eines der Kinder selbst, das sie alle in tödliche Gefahr bringt ... "Blutspur" Die Klassenfahrt der 7 c droht ein schlimmes Ende zu nehmen. Bei einem Orientierungslauf im Wald ist einer der Mitschüler spurlos verschwunden! Die Polizei macht sich mit Hundestaffel und Hubschraubern auf die Suche - vergeblich. Ein Reifenabdruck im Wald bringt Motte und seine Freunde JoJo, Simon und MM auf die richtige Spur. Das Abenteuer, das nun beginnt, verwandelt sich aber schon bald in einen Albtraum. Denn der verschwundene Mitschüler ist nicht das einzige Opfer, auf das es die skrupellose Verbrecherbande abgesehen hat … "Die Insel der Drogenbande" Endlich Ferien! Sonne, Strand und Hängematte – und Mottes Freunde sind alle mit dabei! Das traumhafte Leben hat ein jähes Ende, als sich herausstellt, dass im Ferienclub mit Drogen gehandelt wird. Schon bald sind Motte und seine Freunde mittendrin in den Ermittlungen. Sie können nicht ahnen, dass sie der Drogenbande schon bald viel näher kommen werden, als ihnen lieb sein kann … Website zur Serie: www.motte-und-co.de

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Seitenzahl: 902

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© 2024 by Sefa Verlag, Lübeck, www.sefa-verlag.de

Dieser Sammelband besteht aus den vier Bänden der Kinderkrimi-Serie „Motte & Co“:

Band 1: „Auf der Spur der Erpresser“Band 2: „Auf der Jagd nach Giant Blue“Band 3: „Blutspur“Band 4: „Die Insel der Drogenbande“

 Webseite zur Serie: www.motte-und-co.de

Ulrich Renz

Auf der Spur der Erpresser

„Auf der Spur der Erpresser“ ist der erste Band der Kinderkrimi-Serie „Motte & Co“

www.motte-und-co.de

 

Weitere Bände der Reihe:

Band 2: „Auf der Jagd nach Giant Blue“

Band 3: „Blutspur“

Band 4: „Die Insel der Drogenbande“

Ebenfalls erhältlich:

Ulrich Renz: Auf der Spur der Erpresser – in Einfacher Sprache ISBN 978-3-945090-09-1 108 S., ca. 30 AbbildungenBand 1 der Serie „Motte & Co“ in leicht verständlicher Sprache und leicht lesbarem Schriftbild. Für den differenzierenden Unterricht geeignet.

 

Stefanie Wolf und Irina Bäcker:Unterrichtsmaterialien zu: Auf der Spur der Erpresser von Ulrich Renz ISBN 978-3-945090-46-6 120 S., ca. 60 AbbildungenVorschläge zur Unterrichtsgestaltung. Mit Kopiervorlagen und Klassenarbeit. Für den differenzierenden Unterricht geeignet.

 

Die Originalausgabe erschien 2005 im Verlag Herder, Freiburg im Breisgau.  Bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um eine überarbeitete Neufassung. 2. Auflage August 2016 © 2014 by Sefa Verlag, Lübeck, www.sefa-verlag.de

 

Umschlaggestaltung: Ponke Grabo, Berlin, www.ponkegrabo.de

Font Coverlogo „Motte & Co“: „Refurbished“, © Billy Argel, verwendet mit freundlicher Genehmigung des Künstlers

 

ISBN 978-3-945090-11-4

Steckbriefe Motte & Co

Name: Moritz Blohm, genannt Motte

Alter: 13

Besondere Kennzeichen: eigentlich keine (wie er selber meint)

Name: Simon Böttcher

Alter: 13

Besondere Kennzeichen: verträumter Naturfreak, Schwarm aller Mädchen, kleines Sprachproblem

Name: Mariekje Marienhoff, genannt MM

Alter: 13

Besondere Kennzeichen: meerblaue Augen, Mathegenie und Computerfreak

Name: Jochen, genannt JoJo

Alter: 13

Besondere Kennzeichen: Großmaul mit Übergewicht. Was Kleidung und Frisuren angeht „dem Trend immer einen Schritt voraus“

Name: Ute Blohm

Alter: gerade 12 geworden

Besondere Kennzeichen: Schwester von Motte. Ziemlich frühreif, steht gerne vor dem Spiegel, quasselt alle an die Wand.

 

Steckbrief Autor

Name: Ulrich Renz, genanntU

Alter: mittelalt

Besondere Kennzeichen: liebt schwäbische Spätzle, hat einen Zwillingsbruder, macht gerne Musik, war einmal Arzt, schreibt jetzt Bücher für Kinder und Erwachsene.

 

Mehr unter www.ulrichrenz.de

Inhaltsverzeichnis

Steckbriefe
Der Anruf
Die Million
Die Freunde
Die Lagebesprechung
Die Spur
Der Biertrinker
Das Bild
Der Boss
Der Plan
Die Kammer
Die Stimme
Das Rätsel
Der Koffer
Der Verdacht
Die Drohung
Die Tiefgarage
Die Zugfahrt
Der Schlüssel im Schloss
Die Botschaft
Der Notruf
Der Schuss
Das Ende
Noch ein Ende
Mehr Motte ...
Impressum

1. KAPITEL

Der Anruf

Was für ein Pisswetter. Motte schimpfte leise vor sich hin, während er wie ein begossener Pudel die Stufen zur Haustür hochstapfte. Mit triefnassen Fingern steckte er den Schlüssel in das Schloss. Angeblich war es ja Sommer, aber seit Wochen hatten sie nichts als Regen.

Im Flur streifte er die Turnschuhe ab, hängte die durchweichte Jacke an den Garderobenhaken und ging in sein Zimmer. Dort arbeitete er sich aus seinen nassen Sachen und kramte im Schrank nach trockenen neuen. Er entschied sich für weiße Socken, eine hellbraune Hose und das dunkel-blaue Sweatshirt. Eigentlich genau das gleiche, was er gerade ausgezogen hatte, stellte er beim Anziehen fest. Wahrscheinlich würde seine Schwester Ute wieder ihren Lieblingsspruch ablassen. „Mit diesen verschnarchten Klamotten brauchst du dich nicht zu wundern, dass sich immer noch kein Mädchen für dich interessiert.“ Ute interessierte sich sehr für Jungs und verbrachte ihre Nachmittage damit, in den verschiedensten Geschäften Klamotten an- und auszuziehen.

Motte wusste ja, dass er nicht zu den spektakulärsten Erscheinungen der neueren Geschichte gehörte. Er war weder besonders groß, noch hatte er irgendwelche Ähnlichkeiten mit den Filmstars auf den Postern in Utes Zimmer. Aber egal, er fand sich ganz in Ordnung – von seinen Haaren vielleicht einmal abgesehen. Schon seit er denken konnte, waren sie so struppig und verwuschelt gewesen, dass er mit Kamm und Bürste erst gar nicht anzufangen brauchte. Ein paarmal hatte er es mit Haargel versucht, aber jedes Mal ausgesehen wie Dracula. Jetzt gelte er nur die Haare vorne ein, sodass sie über der Stirn etwas vorstanden. „Frisur mit eingebautem Regenschirm“, zog sein Vater ihn immer auf, „nimm doch Beton, der hält länger!“ Na ja. Papa sollte sich mal lieber seine eigene Frisur anschauen.

Motte machte es sich auf dem weichen Teppich unter seinem Hochbett gemütlich. Es war einfach obercool, dass die Doppelstunde Deutsch ausgefallen war. Wahrscheinlich war Siegwart nach einer seiner nächtlichen Sauftouren mal wieder nicht in die Gänge gekommen. Jetzt konnte er in Ruhe die Mathehausaufgaben erledigen und dann vielleicht noch sein Buch weiterlesen, einen superspannenden Krimi über eine Erpresserbande. Um halb zwei würde Mama nach Hause kommen, und erfahrungsgemäß ging dann wieder die Hektik los – „Kannst du mal den Tisch decken? ... Die Spülmaschine ausräumen? ... Noch schnell den Müll runterbringen?“ Wenn sie schon mit ihrem „Kannst du mal ...“ anfing, wusste er, dass er die nächsten paar Stunden abschreiben konnte.

Er holte das neue Matheheft aus der Schultasche, das er auf dem Nachhauseweg gekauft hatte. Als er es mit „Moritz Blohm, Klasse 7 c“ beschriftete, musste er unwillkürlich grinsen. „Moritz“, das klang so merkwürdig. Seit er denken konnte, nannten ihn alle „Motte“.

Er hatte gerade mit der ersten Aufgabe angefangen, als die Wohnungstür quietschte. Motte entfuhr ein unterdrücktes Knurren. Konnte man in diesem Haus denn keine Minute Ruhe haben? Sicher war bei Ute auch etwas ausgefallen. Natürlich würde sie sich wie immer sofort ans Telefon hängen, und dann durfte er sich wieder Ewigkeiten das Getratsche mit ihren Freundinnen anhören, und zwar volle Lautstärke. Ihr Mundwerk konnte offensichtlich nicht anders. Meist ging es um diese dämlichen Typen aus der Bravo oder irgendwelche Jungs aus der Parallelklasse. Und Klamotten natürlich, ein anderes Thema gab es nicht mehr. Seit sie vor kurzem zwölf geworden war, benahm sie sich, als wäre sie ihrem Bruder in Sachen Lebenserfahrung meilenweit voraus.

Motte wollte gerade schon zur Zimmertür starten, um sie demonstrativ zuzuknallen, als er im Türspalt Vaters weiße Mähne vorbeihuschen sah. – Was? Papa jetzt schon zu Hause? Sonst kam er nie vor vier Uhr nachmittags heim. Motte kam die Erinnerung an das Frühstück hoch, bei dem Papa elend schlecht gelaunt gewesen war, noch schlechter als er es in letzter Zeit sowieso schon war. Er hatte eine Szene gemacht, weil sich Motte angeblich zu viel Marmelade aufs Brot geschaufelt hatte. Nein, Motte hatte keine Lust auf eine Fortsetzung und beschloss, erst einmal auf Tauchstation zu bleiben.

Er saß gerade über der zweiten Matheaufgabe, als das Telefon ging. Schon nach dem ersten Klingeln hatte Papa abgenommen. Als ob er auf den Anruf gewartet hätte, ging es Motte durch den Kopf. Sonst ließ er das Telefon immer ewig klingeln – wenn er überhaupt dranging.

„Hallo! Hier Blohm ...“ Das Zittern in Papas Stimme ließ Motte aufhorchen. Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Auf dem Flur hörte er Papa unruhig auf und ab gehen. Ansonsten war lange Zeit gar nichts zu hören.

„Du bist ja wahnsinnig geworden, Peter!“, ging es dann plötzlich los. Es klang wie eine Explosion. „Du bist der Abschaum der Menschheit! Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich verachte!“

Darauf folgte wieder eine lange Stille.

Ganz leise drang es dann zu Motte: „Ja, ich habe die E-Mail erhalten. Aber schneller geht es nun mal nicht. Meinst du, ich kann mal kurz so viel Geld lockermachen, und das alles, ohne dass meine Familie etwas mitkriegt?“

Wieder eine längere Pause.

Dann hörte er wie aus weiter Ferne: „Gut ... Du kriegst die Million ... in vier Wochen.“

2. KAPITEL

Die Million

Mottes Herz fing an zu pochen. Angestrengt lauschte er in die Stille. Aber auf dem Flur waren nur noch Vaters Schritte zu hören, die sich langsam entfernten. Mit einem lauten Schlag fiel die Haustür ins Schloss.

Motte saß wie vom Donner gerührt auf seinem Teppich. Immer wieder ging ihm dieser eine Satz durch den Kopf: „Ja, du kriegst die Million.“ – Eine Million? Um was für eine Million ging es da? Wer war dieser Peter? Was hatte er mit Papa zu tun? Und warum sollte der ihm Geld geben? Wie wollte er überhaupt an so viel Geld kommen? Er hatte als Leiter der Stadtbibliothek sicher kein schlechtes Gehalt, und auch Mama verdiente mit ihrem Halbtagsjob im Bioladen noch etwas dazu, aber eine Million? Daran war doch nicht im Traum zu denken! Sie hatten sich gerade erst vor zwei Jahren dieses Ökohaus gebaut und Motte wusste, dass sie immer noch jeden Monat Geld an die Bank zahlen mussten. Jedenfalls war das Papas Lieblingsargument bei den Taschengeldverhandlungen, die Ute regelmäßig anzettelte, wenn sie neue Klamotten und neuerdings auch Schminksachen brauchte. „Wir alle müssen jetzt ein Weilchen den Gürtel enger schnallen“, sagte er dann immer, mit einem munteren Lächeln, mit dem er wohl zeigen wollte, was für einen Spaß Sparen machen kann.

Und jetzt wollte er kurz mal eine Million auftreiben und sie diesem Peter geben? Da war etwas faul. Nein, megafaul.

Jetzt war auch klar, warum Papa die ganze letzte Zeit so komisch gewesen war. Er war ständig schlechter Laune, an allem hatte er etwas auszusetzen. Die gemeinsamen Fernseh- oder Spieleabende gehörten der Vergangenheit an. Jetzt hieß es nach dem Abendbrot immer gleich „Ab ins Bett!“, und zwar in einem Ton, der jede weitere Diskussion überflüssig machte. Motte merkte es Mama an, wie sehr auch sie unter der schlechten Stimmung litt.

Es war, als ob Papa ein anderer Mensch geworden wäre. Eigentlich war er immer ausgesprochen gutmütig und umgänglich gewesen. Er konnte sogar richtig witzig sein, wenn auch manchmal ein bisschen unfreiwillig. Vor allem aber war auf ihn immer Verlass.

Natürlich hatte er auch seine Macken (er nannte sie „Erziehungsprinzipien“). Und leider war sein Geschmack in manchen Dingen ziemlich eigenartig. Beim Fernsehprogramm zum Beispiel: Fußball war so ziemlich das einzige, worauf man sich mit ihm einigen konnte. Ansonsten schaute er sich am liebsten die Kultursendungen auf Arte an. Ein James Bond war in seinen Augen schon ein Gewaltfilm, der verboten gehörte.

Mit Musik war es ähnlich. Alles, was nach den Beatles kam, war für ihn „Krawallmusik“. Papa hörte nur Musik mit Einschlafgarantie: Klassik, Kirchenmusik, allenfalls mal seine alten Hippieschinken.

Er war einfach in den 70er Jahren stehen geblieben, auch in seinem Äußeren. Er trug die Haare fast schulterlang – zumindest die paar, die er noch hatte. Sie waren schneeweiß, schon so lange Motte zurückdenken konnte. „Ein richtiger Späthippie“, sagte Mottes Freund JoJo immer, und das traf den Nagel auf den Kopf. Es hätte bloß noch gefehlt, dass er sich lila Latzhosen und Jesuslatschen angezogen hätte, und man hätte ihn ins Museum stellen können.

Motte stand auf. Unruhig ging er im Zimmer hin und her und blieb vor dem Fenster stehen. Still und traurig nieselte es draußen vor sich hin. Ihn fröstelte. Was sollte er bloß tun? Alles Mama erzählen? – Nein!, schoss es ihm sofort durch den Kopf. Seine Eltern waren immer ein Herz und eine Seele gewesen. Papa musste einen Grund haben, weshalb er die Sache vor Mama geheim hielt.

Sollte er vielleicht mit Ute sprechen? Er verwarf den Gedanken, so schnell er ihm gekommen war. Sie konnte einfach den Mund nicht halten. Am Ende würden alle ihre zwanzig Freundinnen miträtseln.

Während er in den Regen starrte, wurde ihm plötzlich klar, was zu tun war. Wozu hatte man eigentlich Freunde?

3. KAPITEL

Die Freunde

Bleib mal locker. Das kriegen wir in den Griff!“ Als wollte er seine Aussage bekräftigen, nahm JoJo sehr zackig seine Brille ab und attackierte die Gläser mit dem Hemdzipfel.

Von Simon kam ein leichtes Nicken. Er war – ganz im Gegensatz zu JoJo – kein Freund der großen Worte. Er sagte, was es zu sagen gab, aber auch kein Wort mehr.

Der ewige Regen hatte eine Pause eingelegt. Motte und seine Freunde hockten auf dem Geländer des Parkplatzes am Supermarkt, wo ihr gemeinsamer Nachhauseweg von der Schule endete. Hier, neben dem Häuschen mit den Einkaufswagen, saßen sie immer noch ein bisschen zusammen, bevor jeder die letzten Meter zu sich nach Hause ging. Es war nicht gerade das gemütlichste Plätzchen, das man sich als Treffpunkt denken konnte. Einkaufswagen ratterten, kleine Kinder quengelten, Autos parkten ein und aus, und vom Getränkemarkt kam das Geschepper der leeren Kisten. Aber dafür beachtete sie hier keiner groß.

Motte hatte seinen Freunden alles erzählt – die Sache mit dem Anruf, Vaters miese Laune, die schlechte Stimmung zu Hause. Er hatte sich alles von der Seele geredet und war nun so erleichtert, dass er den beiden am liebsten um den Hals gefallen wäre.

JoJo und Simon waren seine besten, genauer gesagt: seine einzigen Freunde. Manchmal wunderte er sich selber, wie er mit zwei so unterschiedlichen Typen befreundet sein konnte. Schon auf den ersten Blick war ein größerer Gegensatz kaum vorstellbar: JoJo war deutlich kleiner als Simon, dafür aber auch deutlich dicker. Eigentlich hieß er Jochen. Böse Zungen behaupteten, dass sein Spitzname etwas mit seiner Körperform zu tun hätte: klein und rund – wie das gleichnamige Spielzeug eben. Die Ursachen für seine Korpulenz (wie er selbst seine Leibesfülle zu bezeichnen pflegte) waren alles andere als rätselhaft. Sein Speisezettel bestand ausschließlich aus Fast Food. Alles andere betrachtete er mit Misstrauen („da könnte ja sonst was drin sein“). Wenn er bei Motte zu Besuch war und dessen Mutter ihre unvermeidliche Biokost auftischte, machte er jedes Mal ein Gesicht, als ob man ihn vergiften wollte. Sein Lieblingsgetränk war der berühmte „Matsch“. Dabei handelte es sich um eine süße Eispampe, die man mit Strohhalmen aus Bechern trank. Es gab sie in knallrot, lila, giftgrün und grellgelb. Das Ganze kam aus einer Maschine in JoJos Zimmer, die seine Mutter ihm gekauft hatte. Er hatte das Zeug einmal im Urlaub auf Mallorca getrunken und danach erklärt, ohne Matsch könne er keine Hausaufgaben mehr machen.

In Sachen Essen und Trinken war JoJo kompletter Selbstversorger. Seine Mutter war nachmittags bei der Arbeit und kam erst spät abends nach Hause, und auch morgens bekam JoJo sie nur selten zu Gesicht, weil sie noch schlief. Sein Vater war sowieso nie da. Er sei zur See, erzählte JoJo herum, aber Motte wusste von seinen Eltern, dass JoJos Vater vor fünf Jahren mit einer anderen Frau nach Hamburg gezogen und seither nicht mehr aufgetaucht war.

Klarer Fall von Erpressung!“, verkündete JoJo jetzt so laut, dass eine vornehme alte Dame, die gerade mit ihrem Einkaufswagen vorbeikam, ihn ganz erschrocken anblickte und dann hastig weitertrippelte.

Etwas leiser fuhr er fort: „Dieser Peter soll sich mal nicht zu früh freuen. Jetzt kriegt er es mit Profis zu tun!“ Er strich sich mit der Hand zärtlich über die gebleichten Spitzen seiner Igelfrisur. Mit seiner Haartracht war JoJo immer „dem Trend voraus“, wie er sagte. Dasselbe galt selbstverständlich auch für seine Klamotten. Da ging der künftige Trend offenbar zu überweiten Jogginghosen, himmelblauen Sneakers und T-Shirts oder Sweatshirts mit irgendwelchen abgefahrenen Sprüchen drauf. Gerade war Ich könnte es dir erklären, aber will dich lieber nicht überfordern dran. JoJo war das geborene Großmaul. Was aber nichts daran änderte, dass er ein richtig guter Kumpel war.

„Ja, JoJo hat recht“, meldete sich Simon mit seiner sanften Stimme zu Wort. Er biss in einen Apfel und kaute erst einmal in aller Seelenruhe, den Blick irgendwo in die Ferne gerichtet.

Seinem braun gebrannten Gesicht war anzusehen, dass er viel draußen war. Es war von langen strohblonden Haaren eingerahmt, die ihm vorne bis in die dunklen Augen fielen. Simon war der Schwarm aller Mädchen in der Klasse, was er neben seinem Aussehen hauptsächlich seinem schüchternen Lächeln Marke Brad Pitt verdankte. Vor allem die schöne Renate – die sie wegen ihrer großzügig bemessenen und ebenso freizügig gezeigten Oberweite untereinander immer Granate nannten –, himmelte ihn richtig an, was er aber gar nicht zu bemerken schien. Ihm waren Mädchen „total egal“, wie er zu Motte einmal gesagt hatte.

Simon warf den Apfelrest mit einem gekonnten Weitwurf in den Papierkorb. „JoJo hat recht, die Sache sieht ganz nach einer Verpressung aus!“

„Erpressung“, korrigierte ihn Motte.

Simons Deutsch war ziemlich aus den Fugen geraten. Sechs Jahre hatte er mit seiner Familie in Texas gelebt, wo sein Vater als Kinderarzt gearbeitet hatte. In den drei Monaten seit ihrer Rückkehr hatte er zwar schon Fortschritte gemacht, steuerte aber in Deutsch trotzdem auf eine Sechs zu – die aber zum Glück für die Versetzung nicht zählte. Die Regelung galt aber nur für das laufende Schuljahr, weshalb Simon seine Freunde gebeten hatte, ihn bei jedem Fehler zu verbessern.

Simon lächelte. „Ja, Erpressung ... Nur, wie kommen wir an die Erbrecher?“

„Verbrecher ...“ Motte musste sich das Lachen verkneifen.

„Als erstes müssen wir diese Mail checken, von der die Rede war“, sagte JoJo. Er hörte sich an wie der Polizeiboss in den Fernsehserien. „Meine Erfahrung sagt mir, dass uns die weiterbringt.“

„Und sagt dir deine Erfahrung auch, wie wir da dran kommen?“, fragte Motte. „Ich mache jede Wette, dass Papas Laptop mit einem Passwort geschützt ist.“

JoJo wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. „Cool bleiben, Mann.“ Er machte eine kleine Kunstpause. „Ich kenne da jemanden, der uns vielleicht helfen kann.“

„Und wer soll das sein?“, fragte Motte misstrauisch.

JoJo ließ ein Räuspern vernehmen, und blickte konzentriert auf seine Schuhspitzen.

„Jetzt rück schon raus!“

JoJo kratzte sich hinter dem Ohr. „MM.“

Motte schaute JoJo prüfend an. Bei ihm wusste man nie. Aber es schien sein voller Ernst zu sein.

MM hieß eigentlich Mariekje Marienhoff, aber da man dabei einen Knoten in die Zunge bekam, nannten sie alle in der Klasse nur „MM“. Manche behaupteten auch, dass MM für „Mathemausi“ stand, seit sie Herrn Freudenthaler einmal vorgerechnet hatte, dass er bei der Umwandlung eines Bruches an der fünften Stelle hinter dem Komma einen Fehler gemacht hatte. MM war die absolute Überfliegerin, nicht nur in Mathe. Motte konnte sich nicht erinnern, dass sie einmal etwas anderes geschrieben hatte als eine Eins. Aber ansonsten wusste eigentlich keiner etwas von ihr. Sie war nach den Sommerferien in die Klasse gekommen, weil sie eine Klasse übersprungen hatte. Keiner hatte bisher ein Wort mit ihr gewechselt. Nicht, dass sie nicht sprechen konnte – wurde sie aufgerufen, kam die Antwort immer wie aus der Pistole geschossen. Aber von sich aus sagte sie nichts. Sie saß einfach nur brav auf ihrem Platz in der ersten Reihe und lauschte den goldenen Worten des Lehrers. In der Pause stand sie alleine herum. Und natürlich spielte sie Geige im Schulorchester.

Motte konnte es noch immer nicht fassen. „Willst du uns verarschen?“

„Nein, Mann. Aber die könnte uns echt weiterhelfen.“

„Wie kommst du denn da drauf?“

JoJo beschäftigte sich wieder mit seinen Schuhspitzen. „Ich hab sie mal angesprochen ...“

„Angesprochen?“ Simon wirkte richtig aus der Bahn geworfen. „Krass.“

JoJo war es sichtlich unangenehm. Er trat von einem Bein auf das andere, als ob er aufs Klo müsste.

„Ich hatte da mal ein Problem mit meinem Computer ... Und da ihr Vater ja so ein Supercrack ist, dachte ich ...“

Jetzt war der Fall klar. Bei der Vorstellung, ein paar Tage ohne Spiele und Internet zu verbringen, war er durchgedreht und hatte Mathemausi angerufen. Ihr Vater war Professor an der Universität. In der Zeitung hatte es einmal einen Artikel über ihn gegeben. Angeblich war er dabei, den schnellsten Computer der Welt zu bauen.

„Selbst die Leute im Computerladen wussten nicht mehr weiter. Also dachte ich, ich versuch es mal bei MM, vielleicht kann sie ja ihren Vater fragen.“ JoJo hatte ganz rote Ohren bekommen. „Sie meinte nur ganz cool: ,Das krieg ich selber hin. Bring die Kiste mal vorbei.‘ Sie hat dann nur kurz reingeschaut und ein Teil ausgetauscht. Ich sag euch, das ist eine richtige Hackertante.“

„Cool“, sagte Simon, „eine Hacktante können wir gut verbrauchen.“

„Gebrauchen“, verbesserte ihn Motte. „Aber ... die ist doch voll komisch, oder?“

JoJo zuckte nur mit den Achseln. „Ist doch egal, wir brauchen sie jedenfalls. Ich check mal, ob sie mitmacht. Wir sollten uns dann alle heute Nachmittag um drei bei dir treffen, zur strategischen Lagebesprechung.“

„Zur was?“ fragte Motte.

„Nun ja ... so heißt das eben bei den Profis.“ Mehr Erklärung hielt JoJo offenbar nicht für nötig.

„Ich muss los“, sagte Simon. „Nala wartet mich.“

Simon mit seiner Nala. Seit er das dreibeinige Rehkitz vor ein paar Tagen auf einem seiner Streifzüge durch die Natur aufgegabelt hatte, entwickelte er richtige Muttergefühle. Er hantierte mit Milchflaschen und Wärmedecken und schlug sich die Nächte um die Ohren, um das verunglückte Tierchen durchzubringen.

Motte schaute auf die Uhr. „Ich muss auch los!“ – Es war höchste Zeit. Beim Mittagessen ließ Mama nicht mit sich spaßen. „Willst du nicht mit zum Essen kommen?“, fragte er JoJo im Gehen.

JoJo machte ein Gesicht, als ob er eine Einladung zum Zahnarzt erhalten hätte. Erschrocken stammelte er: „Ach, lass mal ... ich bin auf Diät.“

4. KAPITEL

Die Lagebesprechung

Was immer JoJo befürchtet haben mochte – es kam noch viel schlimmer. Eine echte Sternstunde des Familienlebens, ging es Motte durch den Kopf, als er zu Hause am Mittagstisch saß. Mama hatte eine ihrer berüchtigten Ökospezialitäten aufgefahren: Grünkernauflauf mit Sellerie, dazu Rettich mit Magerquark. Schon seit Jahren kochte sie nur noch vegetarisch. Fleisch machte ihrer Ansicht nach krank und dumm, und Zucker war das pure Gift. Die Regel war einfach: Je besser etwas schmeckte, umso giftiger war es.

Heute war das Essen ganz besonders gesund. Und als Beilage gab es dazu Vaters schlechte Laune. Während des ganzen Essens kam kein einziges Wort über seine Lippen. Nur ab und zu ließ er ein leises Brummen hören, mit dem er wohl den Anschein erwecken wollte, dass er sich am Gespräch beteiligte. Aber in Wirklichkeit war er weit weg.

Dafür quasselte Ute ununterbrochen. Sie schien gar nicht zu bemerken, wie gedrückt die Stimmung um sie herum war. Munter plauderte sie über ihre Lieblingsthemen: wer in ihrer Klasse in wen verknallt war, und welche Jungs sie süß fand, und was ihre Freundin Melanie wieder für tolle Sachen angehabt hatte und wo die her waren und wie viel sie gekostet hatten. Irgendwann kam natürlich auch wieder ihr Posterboy aus der Bravo dran – was für ein geiles Video sie von ihm entdeckt und wie schwer er es jetzt hätte, wo seine Tussi einen anderen geküsst hatte. Als Motte eine ironische Bemerkung dazu machte, geriet sie völlig außer sich: „Du hast ja keine Ahnung, wie sehr er jetzt leidet!“

Der krönende, aber vorhersehbare Abschluss des Mittagessens war dann, dass Mama ihn zum Tischabräumen verdonnerte. Und das hieß natürlich, dass er vorher noch die Spülmaschine ausräumen durfte. Und den Tisch abwischen. Das volle Programm eben. Er protestierte zaghaft, seiner Meinung konnte eigentlich auch Ute einmal Hand anlegen, aber im Grunde wusste er schon, dass es mal wieder zwecklos war. „Ute hat heute so viele Hausaufgaben.“ Als ob er nichts aufhätte. Das Problem war, dass Mama auf dem Emanzentrip war. Mit regelmäßiger Hausarbeit wollte sie ihn vor dem schlimmsten Schicksal eines Mannes bewahren: ein Macho zu werden. Sie war schon immer schwer in Sorge gewesen, weil er nur mit Jungs befreundet war. Ihrer Ansicht nach drohten die „weiblichen Anteile“ in ihm zu verkümmern.

Aber sonst war Mama ganz in Ordnung. Vor allem konnte sie über sich selber lachen. „Ich weiß ja, dass ich mir zu viele Sorgen um dich mache. Aber du bist nun mal mein einziger Sohn, da darf man das doch, oder?“

Motte war gerade mit dem Tischabräumen fertig, als JoJo und Simon erschienen. Alle drei verschwanden sie schnell in Mottes Zimmer. Simon hatte in der einen Hand ein langes Etwas aus dunkelrotem Frotteestoff, das aussah wie eine überdimensionierte Socke, in der anderen eine Korbtasche, aus der zwei braune Öhrchen herausschauten.

„Was bringst du denn da mit?“, fragte ihn Motte und beugte sich über die Tasche. „Ist das Nala?“

Zwei große schwarze Augen schauten ihn an und ein feuchtes Schnäuzchen reckte sich über den Rand der Tasche und witterte vorsichtig.

„Ja. Ich wollte ihr nicht allein lassen ... sie hat mich zur Mutter gewählt. Wenn ich weggehe, ist sie immer so traurig!“

„Und was hast du mit dem Bogen vor?“ Motte deutete auf die Riesensocke. „Willst du Jagd auf diesen Peter machen?“

„Nee, ich gehe nachher noch zu das Schießplatz.“

Seit seiner Zeit in Amerika war Simon begeisterter Bogenschütze. Er trainierte zwei oder drei Mal die Woche auf dem Schießplatz des Sportclubs Niederhausen, meist am Nachmittag, wenn er sicher sein konnte, dass niemand von den bierbäuchigen Vereinsleuten zuschaute, die trotz ihrer Hightechbögen mit Flaschenzügen und Zielautomatik nicht annähernd so gut trafen wie er. Den Jagdbogen aus Rosenholz hatte er aus Amerika mitgebracht. „80 Pfund Zuggewicht“, hatte er Motte mit einem hintergründigen Lächeln erklärt, als der ihn einmal zum Training begleitet hatte. So sehr Motte sich auch anstrengte, er konnte die Sehne keine fünf Zentimeter spannen. Simon dagegen zog daran, als ob es Butter wäre und erzählte dabei, dass Leute mit solchen Bögen in Amerika auf Bärenjagd gingen. Er traf mit einer unglaublichen Präzision. Jedes Mal, wenn er den Pfeil in der Mitte der Scheibe versenkte, schüttelte er sich nur kurz die Haare aus der Stirn, als ob so ein Treffer überhaupt nicht der Rede wert wäre.

„Und? Macht MM mit?“, wandte sich Motte an JoJo.

„Klar, Mann. Sie kommt aber ein bisschen später, sie hat noch irgendwas zu tun ...“

„Bestimmt büffelt sie für Bio“, warf Motte ein.

Die Jungs machten es sich auf dem Teppich unter dem Hochbett bequem. Motte erzählte seinen Freunden haarklein das ganze Horror-Mittagessen.

„Echt krass“, seufzte JoJo. „Magerquark wäre mein Ende gewesen.“

Simons einziger Kommentar war: „Beerdigung.“ Es sollte wohl so etwas wie Beileid bedeuten.

Nala hatte sich in seine Arme gekuschelt und musterte mit ihren dunklen Augen aufmerksam die Umgebung. Ab und zu rappelte sie sich auf und hoppelte ein paar Schritte auf ihren drei Beinchen herum, um sich dann schnell wieder in Simons Arme zu flüchten.

Um halb vier war MM immer noch nicht erschienen. Sie hatten gerade beschlossen, sie anzurufen, als die Zimmertür aufging. Motte hatte es schon fast erwartet: Vor ihnen stand Ute – aufgedonnert bis zum Anschlag, mit grell rot angemalten Lippen und Lidschatten kiloweise. Offenbar hatte sie die Zeit, die Motte in der Küche geschuftet hatte, mit ihrem Schminkarsenal im Badezimmer verbracht.

„Na Brüderchen, hast du Besuch?“, fragte sie in Mottes Richtung, ohne ihn jedoch eines Blickes zu würdigen. Simon dagegen schenkte sie ihr allersüßestes Lächeln, oder zumindest das, was sie dafür hielt. Es sah aus, als ob ihr jemand auf den Fuß getreten wäre.

Dann wandte sie sich wieder Motte zu: „Da ist übrigens so eine Tusse, die dich sprechen will. Wusste gar nicht, dass das mit den Mädchen bei dir schon losgegangen ist, Brüderchen!“ Natürlich wusste sie, wie sehr ihm dieses Getue mit dem „Brüderchen“ auf die Nerven ging.

Hinter Ute tauchte ein schlankes Mädchen mit schwarzen, mittellangen Haaren in der Tür auf. Auf den ersten Blick hätte Motte sie fast nicht erkannt. MM sah irgendwie anders aus als in der Schule. Vielleicht lag es auch daran, dass er sie in der Schule immer nur von hinten sah. Sie lächelte zaghaft. Wahrscheinlich war sie etwas eingeschüchtert von Utes Auftritt.

Der jedoch noch keineswegs beendet war: „Was habt ihr denn Wichtiges vor, wenn man fragen darf?“ Die Frage sollte wohl beiläufig klingen. Dabei kam ihr die Neugier fast zu den Ohren heraus.

Motte freute sich, dass er seine Schwester mal so richtig abblitzen lassen konnte: „Was geht dich das eigentlich an?“

Ute setzte ein gekünsteltes Lächeln auf und säuselte „Aha ... Brüderchen hat doch nicht etwa Geheimnisse vor seiner Schwester? Nur keine Sorge, ich krieg das schon noch raus!“ Und mit einem Blick wie ein Donnerkeil zu Motte und einem Augenaufschlag für Simon war sie verschwunden. Zurück blieb eine dicke Parfümwolke.

„Oh Mann ...“ JoJo blickte Motte voller Mitleid an.

Von Simon kam nur ein leises „voll amimäßig“. Seit er aus Amerika zurück war, war das sein Lieblingsschimpfwort. Nicht, dass es ihm in Amerika nicht gefallen hätte, im Gegenteil. Die wilde und unberührte Natur hatte ihn begeistert. Von seinen einsamen Ausritten auf dem schwarzen Hengst „Liberty“ schwärmte er immer noch. Aber in seiner Klasse in der Middleschool war er immer ein Außenseiter geblieben – genauso wie seine ganze Familie, die einfach nicht so recht reinpassen wollte in die Welt der meisten Texaner, in der sich alles um Autos und TV-Shows drehte. Für seine Mitschüler spielte sich das Leben außerhalb der Schule vor allem vor dem Bildschirm ab – und dazu fiel Simon nichts mehr ein. Außer eben: „voll amimäßig“. Bei den Böttchers gab es im ganzen Haus weder Fernseher noch Computer. Sie lebten ungefähr wie vor hundert Jahren. JoJo nannte sie immer die „Kelly-Family“, weil die Mädchen und auch die Mutter immer mit langen Röcken und Zöpfen herumliefen. Abends sangen sie mehrstimmig zur Gitarre, die der Vater spielte. An den Wochenenden gingen sie alle zusammen wandern. Motte konnte nicht richtig nachvollziehen, wie man freiwillig wandern gehen konnte, und das auch noch mit einer halben Tonne Gepäck auf dem Rücken. Aber für Simon gab es nichts Schöneres, er war nun einmal ein Naturfreak.

MM hatte neben Motte Platz genommen. „Deine Schwester hat ja ganz schön Power“, sagte sie mit einem leichten Lächeln.

„Ja, das kann man wohl sagen“, stöhnte Motte und rollte mit den Augen.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, sagte MM. „Ich war noch Gassi gehen ...“

Offenbar hatte sie die irritierten Mienen der Jungs bemerkt. „Ich meine ... Gassi gehen mit den Hunden aus der Nachbarschaft, das mach ich jeden Tag. Sechs frisierte Schoßhündchen mit Schleifchen und Stammbaum. Komplett abartig. Aber super bezahlt, fünfzig Euro im Monat.“

Motte war ganz von ihren Augen in Bann gezogen. Klar wie Meerwasser, irgendwo zwischen Hellblau und Türkisgrün. Vielleicht war es auch nur der Kontrast zu den schwarzen Haaren, er hatte jedenfalls noch nie so helle Augen gesehen.

JoJo dagegen schien sich mehr für die finanzielle Seite ihrer Ausführungen zu interessieren. „Wow! Fünfzig Euro? Ich empfehle ja immer Siemens-Aktien“, sagte er eifrig.

JoJo mit seinen Aktien! Auf so ein abgedrehtes Hobby konnte nur er kommen. Bei ihm zu Hause liefen auf dem Bildschirm ständig die aktuellen Aktienkurse. Auch in der Schule hatte er „die Hand am Puls des Marktes“, wie er sich ausdrückte – wobei der Puls des Marktes das Handy unter der Schulbank war.

MM lächelte. „Kein Bedarf an Siemens. Ich gebe das Geld immer gleich für Computerteile aus.“

Motte wusste von JoJo, dass MM einen eigenen Computer zusammengebaut hatte, den sie Quick Blue nannte. Er war angeblich so schnell, dass er es mit manchem Großrechner aufnehmen konnte. Sie hatte darin superschnelle Prozessoren eingebaut, die noch gar nicht auf dem Markt waren, und die sie über ihren Vater bekommen hatte.

MM hatte noch gar nicht bemerkt, dass Nala hinter ihr stand und an ihren Haaren schnüffelte. Als das Rehkitz anfing, ihr am Ohr zu knabbern, drehte sie sich erschrocken um. „Was bist denn du für eines?“

Simon musste wieder einmal die ganze Geschichte erzählen. „Sie hat seinen Bein in die Mähmaschine gekriegt. Sie war halb abgestorben, als ich sie gefunden habe. Ihre Mama hat sie schon abgegeben ...“

„Aufgegeben ...“ JoJo räusperte sich ungeduldig. „Lasst uns loslegen!“ In der Hand hatte er sein Smartphone und begann zu tippen. „Ein paar Stichwörter für‘s Protokoll“, sagte er mit wichtiger Miene, und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. In feierlichem Tonfall verkündete er dann: „Nachdem wir jetzt vollzählig sind, eröffne ich hiermit die erste strategische Lagebesprechung unserer Einsatzgruppe.“

Motte schaute JoJo prüfend an. Er schien es mit seinem hochoffiziellen Ton tatsächlich ernst zu meinen. Er blickte in die Runde wie ein General, der seine Truppen inspiziert.

„Fangen wir mit dem Wichtigsten an“, fuhr JoJo fort, „den Kommunikationsmitteln.“ Er kramte in seinem Rucksack. Zum Vorschein kamen drei nagelneue Smartphones, genau vom selben Typ wie sein eigenes, das er seit zwei Wochen neu hatte.

„Was willst du denn mit den ganzen Handys? Reicht dir deins nicht mehr?“, fragte Motte.

„Nein, die sind für euch. Wir müssen auf dem neuesten Stand der Kommunikationstechnik sein. Und dazu brauchen wir vernünftige Handys, mit Konferenzschaltung, Diktierfunktion, Internet und allem drum und dran, ist doch logisch.“

Motte fand es nicht ganz so logisch. „Was stellst du dir vor, was meine Mutter sagt, wenn ich mit so einem Ding ankomme?“ Gar nichts würde sie wahrscheinlich sagen – weil es ihr nämlich die Sprache verschlagen hätte. Mama war überzeugt, dass man von der Handystrahlung Krebs bekommt. Die ganze Familie hatte striktes Handyverbot, Papa eingeschlossen.

„Du brauchst es ihr ja nicht zu zeigen, oder?“, gab JoJo zu bedenken. „Du stellst es einfach immer auf Vibrationsalarm ein. Und wenn es losgeht, musst du eben aufs Klo oder sonst wohin, wo du reden kannst.“

Motte stellte sich vor, wie es munter in seiner Hose vibrierte, während er am Abendbrottisch saß. Er fand es zwar vollkommen übertrieben, dass sie jetzt alle mit Top-Handys rumlaufen sollten, aber die Vorstellung, so ein Ding zu haben, war eigentlich ziemlich verlockend. „Also gib her, wird schon schiefgehen“, sagte er zu JoJo.

„Aber wir können doch nicht so viel Geld spenden?“, kam nun Simons Einwand.

„Ausgeben, meinst du ...“

„Mach dir mal keinen Kopf“, sagte JoJo. „Ich habe ein paar Siemens-Aktien verkauft. Die stehen gerade auf 64,76, da kann man gut mal Kasse machen.“ Er wandte sich an MM: „Hast du schon einen Plan, wie wir an die Datei rankommen?“

„Ja, ich habe einen Plan“, gab sie lächelnd zurück. Sie wandte sich an Motte: „Wann kannst du den Laptop denn mal ausleihen?“

„Am besten vormittags, wenn Papa in seiner Bibliothek ist und Mama im Bioladen. Und Ute in der Schule ...“

„Das Problem ist nur, dass wir da auch in die Schule sind“, sagte Simon.

„Probleme sind dazu da, gelöst zu werden.“ JoJo machte sich wieder mit großer Geste an seiner Brille zu schaffen. „Und ich weiß auch schon, wie.“

„Und?“

„Es wird uns schlecht.“

„Was?“

„Es wird uns allen schlecht. Morgen nach der Zweiten ...“

5. KAPITEL

Die Spur

„Es kann losgehen!“ Motte stellte den Laptop auf JoJos Schreibtisch, klappte den Deckel auf und drückte auf den EIN-Schalter. Die Maschine begann sanft zu surren. Vier Augenpaare starrten gebannt auf den Bildschirm.

Dafür, dass sie noch vor einer Stunde unter heftigen Bauchkrämpfen gelitten hatten, sahen Motte und seine Freunde ganz munter aus. In der Deutschstunde waren sie wie verabredet von einer schweren Magen-Darm-Grippe heimgesucht worden. JoJo hatte sich mit graugrünem Gesicht und verdrehten Augen gemeldet („Kleiner Trick“, erzählte er hinterher, „habe da mit Kreide ein bisschen nachgeholfen“). Der alte Siegwart war kaum mehr davon abzuhalten, den Notarzt zu rufen. Simon murmelte irgendetwas von „fürchterbarem Abfall“, womit er wahrscheinlich seinen schlimmen Durchfall meinte. Zu Mottes Überraschung schluckte Siegwart ihre Erklärung ohne weiteres, dass sie sich am Magerquark seiner Mutter den Magen verdorben hätten. Der Arme sah selber so aus, als ob er eine Kloschüssel gebrauchen könnte. Offenbar hatte er wieder einmal eine durchzechte Nacht hinter sich.

Unter den Schulkameraden sorgte die Magerquarkaktion für ziemliche Aufregung – vor allem deshalb, weil MM mit von der Partie war. „Wahrscheinlich kriegen die Mathenachhilfe von ihr“, konnte Motte von irgendwoher hören. Im Hinausgehen fing er einen Blick von Renate auf, der Bände sprach, so etwa wie: „Mich lässt Simon immer abblitzen, und diese Streber-Tussi gehört jetzt zu seiner Clique ...“

Motte war dann schnell nach Hause gerast, hatte den Laptop seines Vaters eingepackt und zu JoJo gebracht, wo die anderen schon ungeduldig auf ihn warteten. Es dauerte eine Weile, bis JoJo einen Platz für das Gerät freigeschaufelt hatte. Sein Zimmer war mal wieder am Ende seines Fassungsvermögens angelangt. Überall standen irgendwelche Geräte herum: Fernseher, Video, DVD-Player, Stereoanlage, X-Box, Playstation, Computer. Nicht zu vergessen die Matsch-Maschine. Dazwischen lagen Stapel von Comic-Heften, alte Pizzaschachteln, Plastikbecher, Klamotten und alle möglichen Computerspiele herum.

JoJo saß mit einer Pobacke auf der Schreibtischkante und beugte sich über den Laptop. Mit großer Geste drückte er auf den EIN-Knopf

„Der will tatsächlich ein Passwort haben“, murmelte er. Seine Stimme klang leicht beleidigt.

„Und jetzt?“ fragte Motte besorgt.

„Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd.“ Mit einem belustigten Lächeln nahm MM den Laptop auf den Schoß und machte sich über die Tastatur her. Während die Tasten klickten und klapperten sagte sie: „Dein Vater scheint ja nicht gerade viel Ahnung von Computern zu haben.“

„Stimmt!“ Motte musste lachen. Vater und Technik ... ein einziges Trauerspiel. Ihn mit dem Schraubenzieher in der Hand anzutreffen hieß, dass das Haus jetzt besser evakuiert werden sollte. Die Bohrmaschine hielt Mama unter Verschluss, seit er damit einmal die Gasleitung angebohrt hatte. Zu trauriger Berühmtheit hatte es auch die Sache mit dem Fernseher gebracht. Er hatte versucht, einen Videorecorder anzuschließen, worauf die Kiste in die Luft geflogen war. Selbst mit dem Telefonieren wollte es bei ihm nicht so recht klappen. Seit sie das schnurlose Telefon hatten, sah man ihn immer wieder mit der Fernbedienung des Fernsehers am Ohr.

Und seit zwei Monaten hatte er jetzt diesen Computer. Er war zu der Anschaffung mehr oder weniger genötigt worden, nachdem die ganze Bibliothek auf Computertechnik umgestellt hatte. Im Grunde trauerte er immer noch seiner alten Schreibmaschine nach.

Während MM die Tasten bearbeitete, herrschte atemlose Stille.

Es dauerte nicht lange, bis von MM ein erlösendes „O.K.“ kam. „Ich bin drin!“ Nach ein paar weiteren Klicks sagte sie: „Das Stichwort „Peter“ kommt in zwei Dateien vor. Die erste ist eine E-Mail von Mottes Vater an Peter ... Hier, schaut euch das mal an!“

Ich brauche dir nicht zu sagen, was ich von dir halte. Du weißt, was das alles für mich bedeutet – und für meine Familie. Natürlich hast du mich in der Hand. Aber ich kann nur darauf hoffen, dass du einen Funken Ehrgefühl in dir hast und es dir noch mal überlegst. Peter, wenn du Geldsorgen hast, können wir uns doch zusammensetzen und gemeinsam eine Lösung finden.

Motte hatte kaum zu Ende gelesen, als MM schon den nächsten Brief auf den Bildschirm zauberte.

„Von Peter an deinen Vater ... Das muss die E-Mail sein, von der in dem Telefonat die Rede war.“

Es ist zwecklos. Mit der Mitleidsmasche verschwendest du nur deine Zeit. Ich brauche das Geld bis spätestens in vier Wochen und Punkt. Wann genau und wie du es mir zu übergeben hast, teile ich dir noch mit. Aber eins ist klar: Ich habe keinen Bock mehr, mich von dir hinhalten zu lassen. Du weißt, dass es alte Chevys nun mal nicht umsonst gibt. Und noch mal zur Erinnerung: Lass die Bullen aus dem Spiel. Wenn ich nur den leisesten Verdacht habe, dass du falsch spielst, lass ich alles auffliegen.

Peter.

Lange Zeit sagte keiner ein Wort. Motte ballte die Fäuste vor ohnmächtiger Wut.

„So ein Fiesling“, sagte MM mit zitternder Stimme.

JoJo sagte zunächst gar nichts. Er ging im Zimmer auf und ab, ganz in seine Gedanken versunken. „Da soll mal einer draus schlau werden“, murmelte er. Dann setzte er sich plötzlich wieder hin. „Lasst uns mal alle Fakten zusammentragen. Brainstorming nennt man das bei den Profis.“ – Er blickte in die Runde, ganz begeistert von seinem Vorschlag. „Also gut, was wissen wir?“

„Wir wissen, dass wir nichts wissen“, gab Motte zurück, etwas genervt von JoJos Großspurigkeit.

MM schien das „Brainstorming“ ernster zu nehmen. „Also, klar ist schon mal, dass Mottes Vater erpresst wird ...“

„... von einem Typ, der Peter heißt ...“, machte JoJo weiter.

„... und eine Million von ihm will“, kam es von Simon.

„... und zwar bis zum ersten September“, beteiligte sich jetzt auch Motte.

„Und dieser Typ ist mit deinem Vater offenbar per Du“, sagte JoJo. „Er muss ihn also ganz gut kennen. Ein Freund vielleicht.“

„Wenn du jemanden einen Freund nennst, der dir eine Million wegnehmen will“, warf MM trocken ein.

„Gut, ein Ex-Freund ...“

„Und zwar einer, der scharf auf „alte Chevys“ ist. Was immer das sein mag“, sagte Motte.

JoJo schaute ihn entgeistert an: „Noch nie was von Chevys gehört? Damit sind Chevrolets gemeint!“

„Chevrolets?“, fragte MM.

Jetzt schien JoJo vollends die Fassung zu verlieren. „Sag bloß, du weißt nicht, was ein Chevrolet ist?“

„Nein, weiß ich tatsächlich nicht“, gab sie zurück. „Muss ich mich jetzt schämen?“

JoJo bemühte sich demonstrativ um Fassung und erklärte ihr betont umständlich, dass Chevrolet eine amerikanische Automarke sei, und dass alte Chevys bei Oldtimer-Fans hoch im Kurs stünden. „Sieht ganz so aus, als ob er die Dinger sammelt.“

Es entstand eine längere Pause, während der JoJo ungeduldig auf der Matsch-Maschine herumklopfte.

„Die ganze Sache ist ziemlich merkwürdig“, begann er. „Normalerweise tun Erpresser alles, damit bloß nicht herauskommt, wer sie sind. Sie geben sich die größte Mühe, keine Spuren zu hinterlassen. Dieser Peter scheint jedoch nicht das geringste Problem damit zu haben, dass dein Vater weiß, wer er ist.“

„Und scheint nicht einmal Angst zu haben, dass Mottes Vater zur Polizei geht“, sagte MM.

„Und dafür muss er einen Grund haben. Und zwar einen ziemlich triftigen“, sagte JoJo.

„Ja, da liegt das eigentliche Rätsel“, sagte Motte beklommen. Er hatte ein ganz merkwürdiges Gefühl im Bauch. Irgendetwas stimmte an der ganzen Sache nicht. Warum ging Papa nicht einfach zur Polizei und zeigte diesen Peter an? Hatte er am Ende etwa selbst Angst vor der Polizei?

„Wenn dein Vater nicht zahlt, will Peter „alles auffliegen lassen“, wie er schreibt“, hörte er MM sagen.

„Hmmm ... Aber was soll er denn auffliegen lassen?“ fragte Simon.

„Ich weiß auch nicht“, sagte JoJo, „dieser Peter muss einen Trumpf in der Hand haben. Offenbar kennt er irgendein Geheimnis ... irgendwas, was auf keinen Fall rauskommen darf, um keinen Preis, auch nicht um den Preis von einer Million.“

So sehr sie sich auch anstrengten, sie kamen einfach nicht weiter. Jede Frage führte nur zu noch mehr Fragen.

Schweigend saßen sie da, jeder in seine Gedanken versunken.

„Wie ist denn seine E-Mail-Adresse?“, fragte JoJo in die Stille.

[email protected]“, las MM vor.

„Hmm ... auch nicht gerade aufschlussreich.“

Motte musste schlucken. Jetzt hatten sie zwar eine Spur, aber sie führte schlichtweg ins Nirgendwo. Nicht einmal den Nachnamen des Erpressers kannten sie. Was nutzte es ihnen, dass sie seinen Brief aufgespürt hatten, wenn sie nicht an ihn selber rankommen konnten?

Alle starrten vor sich hin, während es vor dem Fenster leise vor sich hin tröpfelte.

Plötzlich sprang JoJo auf: „Ich weiß, wie wir ihn kriegen!“

6. KAPITEL

Der Biertrinker

JoJo putzte erst einmal sorgfältig die Brillengläser.

„Jetzt rück schon raus!“, sagte Motte ungeduldig.

Aber bevor JoJo dem Drängen des Publikums nachgab, musste er sich noch ausgiebig räuspern und die Brille prüfend gegen das Licht halten, um sie dann mit großer Geste wieder aufzusetzen.

„Also ... ich denke, wir sollten Peter einfach mal schreiben. Und ihn einladen.“

Wollte JoJo sich über sie lustig machen?

JoJo ließ Motte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. „Wir kennen die E-Mail-Adresse von Peter. Und wir wissen noch etwas anderes: Er interessiert sich für alte Chevys. Und genau darüber können wir ihn kriegen. Wir schreiben ihm unter irgendeinem Pseudonym – so sagen die Profis für Deckname – am besten irgendwas Adliges, das kommt immer gut, und geben uns als Sammler aus, die ihm irgendein super Angebot machen wollen. Dazu laden wir ihn zu einem ganz persönlichen Treffen ein, in irgendein Lokal. Nur dass da dann natürlich kein blaublütiger Oldtimer-Fan auf ihn wartet, sondern ein leerer Tisch ...“

JoJo unterbrach sich und schaute in die Ferne wie ein Redner, der der Menge erst einmal Gelegenheit für Beifallsstürme geben will. Aber es herrschte betretene Stille.

„Und was haben wir davon? Sollen wir uns auf ihn stürzen?“, fragte MM.

„Natürlich nicht. Wir schauen uns den Typen erst mal gründlich an, z.B. vom Nachbartisch aus. Und wenn er dann wieder abzieht, wollen wir mal sehen, wo er hingeht.“

„Du meinst, wir beschatten ihn?“

„Genau ... observieren heißt das übrigens bei den Profis.“ JoJo konnte wirklich keine Gelegenheit zum Angeben auslassen.

„Und wenn er nicht kommen will?“, warf MM ein.

„Er wird kommen. Er ist doch so scharf auf die Dinger, dass er dafür nicht einmal vor einer Erpressung zurückschreckt. Wir müssen ihn nur richtig heiß machen. Wir bieten ihm ein extrem seltenes Modell an, so Baujahr 50 oder so.“

„Sag bloß, du kennst dich mit Oldtimern aus?“, fragte Motte. Bei JoJo war heiße Luft und Realität immer schwer auseinanderzuhalten.

JoJo zuckte mit den Schultern. „Nein, überhaupt nicht. Aber ich kenne so einen Oldtimer-Freak, und den werde ich mal ein bisschen ausfragen.“

Vielleicht war JoJos Vorschlag gar nicht so schlecht, fand Motte. Es war auf jeden Fall einen Versuch wert. Er schaute zu MM. Auch sie hatte sich mit der Idee offenbar angefreundet, nach dem Leuchten ihrer Augen zu urteilen.

JoJo schien seinen Triumph zu genießen. Er saß lässig auf der Sofalehne und strich sich über die Igelhaare, mit dem abgeklärten Gesichtsausdruck des Genies, das es gewohnt ist, von seinen Zeitgenossen erst einmal verkannt zu werden, um dann am Ende doch recht zu behalten.

Die nächsten beiden Tage hatten sie alle Hände voll zu tun, um das Treffen vorzubereiten. JoJo ließ sich von seinem Experten über die tollsten und gesuchtesten Chevy-Modelle aufklären.

Als nächstes musste eine neue E-Mailadresse angemeldet und ein wirkungsvolles Pseudonym gefunden werden. Sie entschieden sich für „Alfredo Baron von und zu Hohenburg-Drachenfels“. Es musste ehrfurchtgebietend klingen.

Dann galt es, einen geeigneten Treffpunkt zu finden. Ihre Wahl fiel auf das italienische Restaurant Adamo am Marktplatz. Es war seriös genug, dass man als Adliger darin verkehren konnte, aber auch nicht zu gediegen, dass sie als Kinder auffallen würden. Sie statteten dem Lokal nach der Schule einen kurzen Besuch ab, um die richtigen Tische auszusuchen. Den einen reservierte MM dann telefonisch für den Herrn Baron, den anderen JoJo für sich und seine Freunde.

Und dann musste die Mail formuliert werden – ein hartes Stück Arbeit, das sie einen ganzen Abend kostete. Der alte Siegwart hatte sie nicht darauf vorbereitet, Briefe an Erpresser zu verfassen. Am Ende hatten sie aber ein, wie JoJo meinte, „absolut unwiderstehliches“ Angebot formuliert. Besonders stolz waren sie auf die Schlussformel: „Es wird mir, mein sehr verehrter Herr, zur höchsten Ehre gereichen, Sie am Freitag persönlich kennenlernen zu dürfen. Ihr Alfredo Baron von und zu Hohenburg-Drachenfels.“

Um 15 Uhr 32 am nächsten Tag ging Peters Antwort auf ihre Einladung ein. Er könne den Zufall kaum fassen, dass ihm der 53er Bel Air Convertable jetzt über den Weg laufe, nachdem er schon Jahre hinter dem Modell her sei, et cetera. Er war offenbar so heiß auf das Angebot des Barons, dass er sich nicht einmal Gedanken zu machen schien, wie der denn wohl ausgerechnet auf ihn gekommen war ...

Am Tag der Beschattungsaktion war das Wetter zum ersten Mal seit langem wieder schön. Die Sonne strahlte vom Himmel, als hätte sie während der vielen Regentage Kraft gesammelt. Als Motte pünktlich um 16 Uhr 30 am Brunnen auf dem großen Platz ankam, waren seine Freunde schon dort versammelt. Er hätte sie allerdings fast nicht erkannt – alle hatten sie dicke Sonnenbrillen auf der Nase. Wie er selbst auch. Sie hatten JoJos Anweisung, dass sie sich „ein bisschen tarnen“ sollten, offenbar alle sehr ernst genommen. Sie sahen aus wie die Versammlung eines Mafiaclans in einem zweitklassigen Gangsterfilm. Selbst Simon wirkte mit seiner metallisch spiegelnden Brille und der umgekehrt aufgesetzten Schirmmütze wie ein Schwerverbrecher.

„Wenn wir so bei Adamo auftauchen, wählt er sofort die 110“, kicherte MM. „Vielleicht lassen wir das mit den Sonnenbrillen besser, oder?“

„Gut, weg mit den Teilen ... Und dann lasst uns mal die Bude entern!“ JoJo übernahm das Kommando. „Hast du dein Handy an, Motte?“

„Ja, klar. Ihr könnt mir ja dann erzählen, wie die Pizza schmeckt. Ich könnte jetzt auch eine vertragen, zum Mittagessen hat es mal wieder irgend so ein Unkraut gegeben, dazu Gerstengrütze.“

„Beerdigung“, murmelte Simon.

„Du meinst Beileid“, kam die Verbesserung von Motte.

„Ja, Beleidigung ...“

„Wir werden an dich denken, Motte!“ MM lächelte ihm aufmunternd zu. In ihrem hellblauen Kleid und dem Strohhut sah sie richtig toll aus, fand Motte.

Nachdem seine Freunde im Restaurant verschwunden waren, setzte sich Motte auf den Rand des Brunnens. Von hier aus hatte er die Eingangstür bestens im Blick. Schon nach einer halben Minute war JoJo am Telefon. „Alles klar da draußen?“

„Alles klar!“

„Bei uns auch ... der Kellner kommt schon zum Bestellen ... ich melde mich dann gleich wieder ... hau rein!“

„Hau rein!“

Jetzt konnte Motte zuhören, wie seine Freunde Cola und Pizza bestellten. Danach wurde es immer stiller an ihrem Tisch. Ab und zu meldete sich JoJo mit dem neuesten Stand der Dinge, der immer derselbe war: nichts los am Tisch der „Zielperson“, wie er Peter getauft hatte.

Motte fing an, sich Sorgen zu machen. Hatte Peter etwa Verdacht geschöpft?

„Hallo Brüderchen!“

Motte zuckte zusammen. Die Stimme war direkt hinter ihm. Auf diese Überraschung hätte er gerne verzichtet. Er drehte sich um und versuchte ein alltägliches Gesicht aufzusetzen – was ihm aber genauso misslang, wie sein Handy unauffällig verschwinden zu lassen. Ute sah aus wie ein Geier im Beuteanflug.

„Jetzt darfst du mir mal erklären, wo du dieses Handy her hast.“

„Jetzt reg dich ab. Ich habe es von JoJo ausgeliehen.“

„Und mit wem telefonierst du da?“ Sie triefte vor Neugier.

„Ähm ... mit ... ähm ...“ Ihm fiel einfach nichts ein.

Während er krampfhaft überlegte, erschien auf dem Gesicht seiner Schwester plötzlich ein triumphierendes Lächeln. „Aha, jetzt ist mir alles klar! Du flirtest mit deiner neuen Süßen!“

Motte wollte schon aufbrausen, hielt sich aber gerade noch zurück. Er hatte nun einmal keine bessere Ausrede. „Wir haben nur über die Hausaufgaben gesprochen. Wenn du das flirten nennst ...“

„Brüderchen, mir kannst du nichts vormachen. In Sachen Liebe kenne ich mich nämlich aus.“ Ute stieß einen tiefen Seufzer aus. Gleich darauf nahm ihr Gesicht einen ganz verzückten Ausdruck an. „Weißt du, ich hatte schon neulich, als diese Mariekje bei uns aufgetaucht ist, das Gefühl, dass es zwischen euch gefunkt hat. Wie süß! Ich freu mich wahnsinnig für dich!“

Motte spürte, dass Widerstand jetzt nicht angebracht war. Er lächelte matt und deutete auf das Handy.

Ute schien verstanden zu haben. „Dann will ich euch mal nicht weiter stören“, sagte sie grinsend und stöckelte davon. Motte hörte noch ihren Schlachtruf: „Das muss ich gleich mal Melanie erzählen!“

Sobald sie außer Hörweite war, nahm Motte mit einem Stoßseufzer der Erleichterung das Handy wieder ans Ohr. Offenbar gerade noch rechtzeitig.

„Warum meldest du dich denn nicht?“, hörte er JoJos Stimme, „Peter ist da!“

Au weia, der war ihm ja voll durch die Lappen gegangen.

JoJo fuhr im Flüsterton fort: „Er hat sich gerade ein Bier bestellt. Ich beschreibe ihn dir mal: Nicht besonders groß, hat eine braune Lederjacke an. Sieht irgendwie ungesund aus, hat so eine rote Säufervisage, fettige Haare, Halbglatze, Goldkettchen. Ein ziemlich schmieriger Typ. Sobald ich ihn unauffällig fotografieren kann, schick ich dir ein Bildchen.“

Damit ging für Motte das große Warten weiter. Die Minuten kamen ihm wie Stunden vor. Zwischendurch kam das versprochene Foto an. Es war zwar etwas verschwommen, aber so viel war klar: Der Typ war wirklich kein Sympathieträger, und „schmierig“ war genau der richtige Ausdruck. Für einen Augenblick war es Motte, als ob er das Gesicht schon einmal gesehen hätte. Aber er schob den Gedanken zur Seite, es konnte einfach nicht sein.

Nach einer halben Ewigkeit war JoJo wieder dran. „Er ist gerade am Zahlen, er taucht gleich draußen auf!“

Eine Minute später erschien Peter in der Tür. Der Ärger stand ihm ins Gesicht geschrieben. Der Baron hatte es sich mit ihm offensichtlich gründlich verscherzt. Auch seinem Gang war die Wut anzumerken. Fast im Lauftempo überquerte er den Platz Richtung Innenstadt. Motte folgte ihm in gebührendem Abstand auf seinem Mountainbike, das Handy am Ohr.

„Er biegt in die Kreuzgasse ein“, gab er durch.

„Bleib ihm auf den Fersen, wir sind gleich bei dir! Müssen bloß noch zahlen!“, kam es von JoJo zurück.

Der Mann mit dem Goldkettchen schien es eilig zu haben. Er bog in die Seydlitzstraße ein und ging dann ohne nach rechts oder links zu blicken am Kino vorbei Richtung Baumarkt. Zielstrebig hielt er auf den Parkplatz zu, und steuerte einen roten Sportwagen mit offenem Verdeck an. Motte postierte sich so, dass der Wagen direkt an ihm vorbeikommen musste, wenn er den Parkplatz verließ.

Er hörte den Motor aufheulen. Der schien genauso wütend wie sein Fahrer. Mit Karacho stieß das Auto aus der Parklücke und raste auf die Ausfahrt zu. Mottes Augen klebten am Nummernschild. Atemlos gab er die Buchstaben und Zahlen an JoJo durch. Als der Wagen fast auf seiner Höhe war, sprang Mottes Blick zum Fahrer – und im Bruchteil einer Sekunde war ihm klar: Doch, irgendwoher kannte er diesen Mann!

Mit quietschenden Reifen bog der Wagen auf die Hauptstraße und entfernte sich Richtung Claudius-Ring. Motte überlegte noch kurz, ob er ihm folgen sollte, aber da war der Wagen schon verschwunden.

„Geile Knarre!“, hörte er Simons Stimme.

„Karre“, verbesserte Motte automatisch.

Simon, MM und JoJo machten mit ihren Rädern bei ihm halt.

„Ihr habt doch bestimmt noch mehr Bilder gemacht, oder?“, fragte er gleich.

“Klar, Mann, und wie!“ Mit großer Geste reichte JoJo ihm sein Handy hin. „Das hier ist das Beste.“ Er zoomte so lange, bis Peters Kopf das Display ausfüllte. Motte betrachtete ihn schweigend. Er hatte diesen Mann schon einmal gesehen, so viel war sicher.

Als er wenig später zu Hause die Treppe hochrannte, wusste er schlagartig, wo: im Fotoalbum seiner Eltern.

7. KAPITEL

Das Bild

Motte hatte das Bild vage vor Augen: Zwei Männer nebeneinander, einer davon war Papa, der andere Peter. Wenn er sich richtig erinnerte, standen sie auf einem Boot. Aber er konnte sich auch täuschen. Jedenfalls war die Aufnahme schon ziemlich alt – Papa hatte noch dichtes braunes Haar.

Motte musste sich Gewissheit verschaffen, und zwar sofort. Mama war zum Glück in der Küche mit der Vorbereitung des Abendbrots beschäftigt. Von Papa war nichts zu sehen und zu hören, er hatte sich bestimmt wieder in sein Arbeitszimmer verkrochen. Auch von Ute keine Spur. Motte schlich zum Bücherbord im Wohnzimmer und zog die drei Familienalben aus dem Regal. Schnell schlüpfte er damit in sein Zimmer und kletterte auf das Hochbett. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, seine Schuhe auszuziehen, sondern fing sofort an zu blättern.

Es dauerte nicht lange, bis er auf das Bild gestoßen war: Zwei junge Männer, lässig an die Reling eines Segelschiffes gelehnt, beide nach der Mode der 70er oder 80er Jahre gekleidet: Vater in Jeanshose und Jeansjacke, Peter in einer braunen Cordhose mit weitem Schlag, dazu einem weinroten Hemd mit breitem Kragen. Er hatte noch keinen Bierbauch, auch noch keine Halbglatze, aber schon damals waren seine Haare fettig. Auf dem Foto sahen die beiden aus wie zwei Freunde auf einem netten Ausflug.

Motte blätterte hastig weiter. Immer mehr Bilder entdeckte er, auf denen sein Vater mit Peter zu sehen war. Auch eines, wo Mama mit drauf war. Also musste auch sie ihn kennen ...

„Motte, kommst du den Tisch decken!“, hörte er Mamas Stimme durch die Tür.

Obwohl er wusste, dass es nichts nützen würde, brüllte er zurück: „Heute ist aber Ute dran!“

Nun, was hätte anderes zurückkommen können als: „Sie hat heute so viele Hausaufgaben!“

Motte fügte sich in sein Schicksal und kletterte aus dem Bett. Bevor er in die Küche marschierte, brachte er die Alben unauffällig an ihren Platz zurück.

Das Abendessen war mal wieder von der ganz besonderen Art. Motte dachte neidvoll an JoJo, der jetzt wahrscheinlich alleine vor seinen Burgern oder Fritten saß, in einem Comic blätterte und nebenher noch Fernsehen guckte. Während er mit Kohlrabiauflauf und Buttermilch kämpfte und dazu noch die bedeutungsvollen Blicke ertragen musste, die ihm Ute zuwarf. Bestimmt würde sie jetzt gleich mit der brandheißen Neuigkeit rüberkommen, dass er so gut wie verheiratet war.

Vater war mit seinen Gedanken offensichtlich weit weg. Er saß ganz in sich gekehrt da, sein Gesicht sah alt und zerfurcht aus. Motte konnte förmlich die Last spüren, die auf ihm ruhte. Am liebsten hätte er sich neben ihn gesetzt und ihm den Arm um die Schultern gelegt. „Mach dir keine Sorgen wegen diesem Peter. Mit dem werden wir schon fertig!“

„Mit dem werden wir schon fertig“ – genau das hatte Papa zu ihm selber einmal gesagt. Damals, bei der Sache mit Kevin.

Motte war gerade elf geworden, und Kevin damals noch eine Klasse über ihm gewesen. Er und seine Bande trugen immer diese Jacken mit der Aufschrift „Kanackenfeind“. Eines Tages standen sie auf dem Nachhauseweg vor Motte, im Mund ganz cool die Zigarette, in der Hand ihre Springmesser. „Musst nur einen Fünfer abdrücken, dann lassen wir dich in Ruhe!“ Motte hatte so eine Angst, dass er das Geld herausrückte, und beim nächsten Mal wieder. So lange, bis er kein Geld mehr in der Spardose hatte. Dann fing er an, bei seinem Vater Geld aus der Brieftasche zu nehmen, bis der ihn eines Tages dabei erwischte. Anstatt ihn zu bestrafen, schaute Papa ihn nur mit ernstem Gesicht an. „Ich weiß, dass du mich nie beklauen würdest, wenn du nicht richtig in der Klemme wärst. Sag mir, was los ist.“ Obwohl Motte die Angst vor Kevin im Nacken saß, am Ende sagte er doch die Wahrheit. „Mit dem werden wir schon fertig, wirst sehen“, tröstete Papa ihn. Was er unternommen hatte, wusste Motte bis heute nicht. Jedenfalls hatte Kevin von einem Tag auf den nächsten von ihm abgelassen.

Nachdem das Abendessen mit ungesüßtem Rhabarberkompott seinen Höhepunkt erreicht hatte, fasste Motte sich ein Herz. „Papa, können wir nicht mal die Fotos von früher anschauen?“

„Was für Fotos denn?“, kam es missmutig zurück.

„Die in dem Fotoalbum von früher.“

„Hmm ... Wie kommst du denn auf die Idee?“

„Wir haben gerade in Kunst was über Popstil und Hippies und die ganze Zeit der Anti-Atom- und Friedensbewegung  ... Und da meinte Frau Bertz, wir sollten uns doch mal Bilder aus der Zeit anschauen, wie man damals rumgelaufen ist, die Mode, Frisuren, Autos und so. Ich dachte, du kannst mir ein bisschen was erklären.“

Mama war gleich Feuer und Flamme. „Au ja, Reinhard, lass uns doch mal wieder die alten Bilder anschauen. Wir haben das schon so lange nicht mehr gemacht!“

Motte stellte zufrieden fest, dass sein Schachzug funktionierte. Er hatte auch lange genug daran herum überlegt.

Papa sah zwar nicht so aus, als ob er sich jetzt unbedingt mit den alten Zeiten befassen wollte, aber vor Mamas Begeisterung musste er kapitulieren. Wortlos holte er die Alben.

Sie machten es sich alle auf dem Sofa bequem. Es dauerte nicht lange, bis das Bild mit Peter kam.

„Wer ist denn dieser Typ?“, fragte Motte mit klopfendem Herzen.

„Ach, der Peter ...“

Den Bruchteil einer Sekunde meinte Motte ein Zittern in Papas Stimme zu bemerken, das aber gleich wieder verschwunden war. „Der Peter war ein Kommilitone von mir.“ Er hielt kurz inne. „Unter uns Lateinern: kommilitare, zusammen streiten – Mitstreiter also, so nennt man Leute, die zusammen zur Universität gehen.“

Papa hatte diesen Tick, dass er immer alle Fremdwörter erklären musste. Dafür, dass dieser „Mitstreiter“ dabei war, ihn zu ruinieren, schauspielerte er ziemlich gut, das musste man ihm lassen. „Wir waren mal ganz gut befreundet“, fügte er hinzu.

„Und jetzt?“ Motte musste sich Mühe geben, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen.

„Ooch ... wir haben uns aus den Augen verloren. Wie das eben so ist, wenn man dann im Berufsleben steht“, sagte Papa mit der allergrößten Beiläufigkeit.

„Wo arbeitet er denn?“ Motte versuchte seine Frage ebenso beiläufig klingen zu lassen.

„Keine Ahnung, was er jetzt macht.“ Er blickte Motte mit einem Stirnrunzeln an. „Warum interessierst du dich eigentlich so für ihn?“

Weil ich wissen will, weshalb er dir eine Million wegnehmen will, hätte Motte am liebsten geantwortet. Stattdessen stammelte er: „Oh ... ähm ... weil er wie so ein Hippie-Typ aussieht, mit seinen Koteletten und so. Ich dachte mir, Frau Bertz will sicher wissen, was aus so einem geworden ist. So nach dem Motto „Was sie waren – was sie wurden.“

Papa sagte nichts, aber an seiner hochgezogenen Augenbraue war zu erkennen, dass er Mottes Antwort doch etwas merkwürdig fand.

Zum Glück schaltete sich jetzt Mama ein. „Reinhard, das ist mir ja schon fast entfallen, dass ihr mal so dick befreundet wart. Weißt du noch, vor Amerika? Da wart ihr doch ständig zusammen. Ich war schon richtig eifersüchtig.“

Ute war ganz elektrisiert. „Was, ihr wart mal in Amerika?“, fragte sie mit ihrer Kreischstimme. „Das wusste ich noch gar nicht!“ Es war natürlich ein Skandal, wenn sie etwas nicht wusste.