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Ein neuer Einsatz für die leidenschaftliche Köchin und Detektivin Louise: Auf dem Pellwormer Friedhof wird ein Mordopfer entdeckt, von einem Pfeil niedergestreckt. Es handelt sich um den gefeierten Theaterschauspieler Ron Schubert, der kurzfristig für den erkrankten Hauptdarsteller in der geplanten Sommeraufführung einspringen wollte, ein Höhepunkt des Pellwormer Insellebens. Louise, die in dem Stück ebenfalls eine kleine Rolle innehat, ist Ron bereits zuvor auf Sylt begegnet. Dort hatte er während eines Poloturniers einen mysteriösen Unfall, da sein Pferd plötzlich scheute. War dies bereits ein erster Mordversuch? Louise kann es nicht lassen und nimmt selbst die Ermittlungen auf, zwischen Pellworm und Sylt ...
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Seitenzahl: 415
Das Buch
Louise Dumas betritt ungewohntes Terrain – zumindest für eine Pellwormerin: Auf der glamourösen Nachbarinsel Sylt soll Louise die Gäste eines Poloturniers bekochen. Tatsächlich hat sie alle Hände voll zu tun, und ihr ermittlerischer Spürsinn erwacht ausnahmsweise nur ganz kurz, als einige von ihr fürs extrascharfe Dressing georderte Chilischoten mysteriöserweise aus der Küche verschwinden. Viel interessanter erscheint Louise da der Auftritt des leicht arroganten Ron Schubert, seines Zeichens Schauspieler, Teilnehmer des Turniers und Frauenheld. Als sein Pferd aus ungeklärter Ursache scheut und ihn abwirft, ist erst einmal für Gesprächsstoff gesorgt.
Dass Louise ihn auf Pellworm so rasch wiedersieht, hätte sie nicht vermutet. Spontan springt Ron für den erkrankten Hauptdarsteller in dem geplanten großen Laienschauspiel der Inselgemeinschaft ein. Doch sein Engagement findet ein tragisches Ende: Seine Leiche wird ausgerechnet auf dem Pellwormer Friedhof entdeckt, Todesursache: ein Pfeilschuss. Da glaubt Louise nicht mehr an einen Zufall. Schon steckt die Köchin mitten in den Ermittlungen, auf Pellworm und Sylt …
Die Autorin
Lili Andersen ist das Pseudonym der Krimiautorin und Kunsthistorikerin Liliane Skalecki. Wie ihre Protagonistin Louise Dumas hat auch Lili Andersen französische Wurzeln, ein Herz für kleine friesische Inseln und einen Hang zum Kochen köstlicher Gerichte. Sie lebt mit ihrer Familie in Bremen und Südfrankreich.
Lieferbare Titel
Krabbenchanson – Die Inselköchin ermittelt
Austern surprise – Die Inselköchin ermittelt
LILI ANDERSEN
Ein Fall für die Inselköchin
Ein Nordsee-Krimi
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 03/2023
Copyright © 2023 by Lili Andersen
Copyright © 2023 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Sandra Lode
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München, unter Verwendung von Adobe Stock (Daniel Strauch, 1xpert, Edwin Butter, Eva Gruendemann) und Bigstock (Seamartini, anchaleeyates, paseven, maystra)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-29938-5V001
www.heyne.de
Die Party war irgendwann öde geworden. Kaum noch was los. Zeit zu gehen. Anfangs war die Stimmung ausgelassen gewesen, das Buffet nach einer Stunde geplündert. Doch an Alkohol fehlte es nicht, er floss sprichwörtlich in Strömen. Gegen Mitternacht war nur noch der harte Kern übrig geblieben. Eine Gruppe von Menschen, die sich selbst beweihräucherten. Jeder Einzelne hielt sich für den Nabel der Welt. Einschließlich seiner Person. Die gut gemeinte Warnung, die Hände vom Steuer zu lassen, war allerdings bei den meisten angekommen. Einige waren mit dem Taxi gekommen, andere, ebenfalls Vernünftige, mit Bus und Bahn. Mehrere Taxis hatten bereits Gäste eingeladen und waren mit ihrer promillelastigen Fracht in die Nacht verschwunden.
Auf dem Parkplatz standen nur noch drei Fahrzeuge, den eigenen Wagen zu finden war also nicht das Problem. Doch schon den Autoschlüssel aus den Tiefen des ledernen Rucksacks zu klauben, war gar nicht so einfach. Mit einem Fluch flog ein Paket Papiertaschentücher auf den Boden, gefolgt von einer kleinen Taschenlampe. Das Glas brach, die Lampe wurde mit einem Fußtritt in das nahe gelegene Gebüsch befördert.
»Scheiße, wo ist das Scheißding?« Trotz des Rotweins und der davor genossenen Cocktails klang seine Stimme erstaunlich fest und klar. »Hast du etwa die Schlüssel aus dem Rucksack genommen?«
»Blödsinn. Wann bitte soll ich denn das gemacht haben? Aber vielleicht ist das ein Zeichen. Du solltest dich wirklich nicht mehr hinters Steuer setzen.«
»Pah, Blödsinn. Die paar Kilometer. Die Strecke kenn ich wie meine Westentasche.«
»Na, hoffentlich. Offensichtlich ist sie dir besser bekannt als das Innenleben deines Rucksacks. Meinst du nicht, es wäre doch vernünftiger, ein Taxi zu nehmen? Oder in einem Hotel zu übernachten?«
»Du kannst dir gerne eins kommen lassen. Und ein Hotel liegt keine hundert Meter von hier. Also bitte, ich halte dich nicht auf. Außerdem wolltest du mit mir fahren, ich hab dich nicht dazu eingeladen.«
Eine Dose Pfefferspray flog aus dem Rucksack. Das Geräusch von Metall auf Stein hörte sich unnatürlich laut an. Die Dose wanderte wieder zurück in den Lederbeutel.
»Ah, da sind sie ja. Also, was ist nun, steigst du ein oder nicht? Oder willst du die Nacht im Büro verbringen?«
»Nein, natürlich nicht. Sonst komm ich nur auf die Idee, wieder an der Planung herumzudoktern. Der Beitrag für den Wettbewerb geht Montag raus. Ich meine, er ist perfekt. Ich kann ihn nur noch verschlimmbessern.«
»Ich könnte nicht die ganze Nacht vor dem Computer hocken und versuchen, kreativ zu sein.«
»Dafür hab ich meine kleinen Muntermacher.«
»Ach, so was nimmst du? Hätte ich nicht gedacht.«
Klack. Die Autotüren öffneten sich.
»Los, jetzt steig schon ein. Ich kutschier dich sicher nach Hause. Ich bin echt todmüde, also, mach jetzt …« Die eben noch klare Stimme klang mit einem Mal verwaschen.
»Todmüde? Eben hast du noch gesagt, du kannst fahren.«
»O Mann, mir reicht’s so langsam. Hör einfach auf rumzumeckern. Wenn ich einen über den Durst getrunken hab, fahre ich immer noch sicherer als du in nüchternem Zustand. Ich bin müde, will in mein Bett. Du mit deinem ewigen Hü und Hott. Dann ruf mich nicht an, wenn du mitfahren willst. Du hättest dir doch denken können, dass ich was trinken werde. Und dass es spät werden wird, war ja wohl auch klar.«
»Das hab ich gemerkt. Ich hab mindestens eine Viertelstunde auf dich gewartet und mir den Hintern an deinem Wagen platt gedrückt.«
»Du hättest reinkommen können.«
»Vielen Dank auch. Du hast schließlich gesagt, die Party sei spätestens gegen Mitternacht vorbei. Was soll ich denn dann da? Ist überhaupt noch jemand am Feiern? Als ich hier ankam, hab ich nur Babs gesehen. Die Dame war jenseits von Gut und Böse. War das ihr aktueller Lover, der sie auf dem Weg zum Wagen fast verschlungen hat?« Die anfängliche schlechte Laune hatte sich jetzt in pure Neugierde verwandelt.
»Ja, Tomaso. Er ist neu. Hat den ganzen Abend nicht die Finger von ihr gelassen. Er wird allerdings nicht lange mit ihr Spaß haben. Morgen geht’s für sie nach New York. Die ganz große Karriere winkt. So, jetzt steig endlich ein.«
»Bist du eifersüchtig?«
»Auf Tomaso? Ach was. Babs und ich hatten eine tolle Zeit zusammen, vorbei ist vorbei.«
»Ich meinte, dass sie groß Karriere macht, wie du sagst.«
»Eifersüchtig? Blödsinn. Und jetzt rein in die Karre.«
Die Beifahrertür fiel ins Schloss, er startete den Motor. Schon nach einem knappen Kilometer hatten sie die Landstraße erreicht. Der Wagen brauste mit überhöhter Geschwindigkeit über die buckelige Piste. Schilder warnten vor Schlaglöchern. Ein Hase sprang über die Straße, das Fahrzeug wurde scharf abgebremst, kam ins Schlingern, wurde sofort wieder beschleunigt. Das Karnickel, das in dieser Nacht Glück gehabt hatte, hoppelte ins benachbarte Luzernefeld.
»Fahr langsamer, bist du nicht ganz bei Trost, so zu rasen? Das ist ein gefährlicher Kurvenabschnitt. Du gerätst gleich noch auf die Gegenfahrbahn. Wenn du so weiterfährst, wird mir übel. Dann kann ich für nichts mehr garantieren.«
»Jetzt werd nicht gleich hysterisch. Und bevor du mir ins Auto kotzt, kannst du gerne aussteigen und zu Fuß weiterlaufen.«
Die Lautstärke des Radios wurde erhöht, dumpf ließen Bässe das Innere des Fahrzeugs geradezu erbeben. Erneut drohte der Wagen, auf die Gegenfahrbahn zu geraten. Das entgegenkommende Auto blendete auf, sein Fahrer hupte, lenkte nach rechts, um eine Kollision zu vermeiden, bremste kurz ab, fuhr dann weiter.
»Halt an, lass mich raus. Ich fahr keinen Meter mehr mit dir weiter.« Kreischen erfüllte das Fahrzeuginnere, vermischte sich mit dem eindringlichen Sound von Metallicas The Unforgiven.
»Du bist doch nicht ganz dicht im Kopf. Schnall dich sofort wieder an.« Um die Aufforderung zu unterstützen, erfolgte ein vehementer Tritt auf die Bremse, der den Wagen in null Komma nichts zum Stehen brachte. Der Aufprall des Kopfes auf dem Armaturenbrett erzeugte ein dumpfes Geräusch. Als würde ein hart gekochtes Ei auf einen festen Untergrund treffen.
Entsetzen mischte sich mit Erstaunen. Musste der Airbag auf einen solchen Zusammenprall von Kopf und Armaturenbrett nicht reagieren? Er hatte keine Ahnung von Technik. Aus dem leicht geöffneten Mund floss dünn wie ein Faden ein Rinnsal Blut gemischt mit Speichel.
»He, lass den Mist. Sag was. Verdammt, jetzt gib mal einen Mucks von dir.«
So schnell starb man doch nicht. War da so etwas wie ein Puls am Hals zu fühlen? Nein. Kein Puls am Hals, kein Puls am Handgelenk. Nichts. Das Ganze war ein einziger Albtraum. Panik breitete sich im Wagen aus wie ein dichter giftiger Nebel. Und jetzt? Ins Krankenhaus? Mit einer Leiche? Vollkommen betrunken? Die Panik wich blitzschnell einer geradezu grotesken Abgeklärtheit. Konnte man von einer Sekunde auf die andere wieder stocknüchtern werden?
Mit den letzten Liedzeilen von Metallicarollte der Wagen auf den unbefestigten Parkplatz zwanzig Meter weiter. Motor aus, aussteigen, Beifahrertür öffnen. Ganz schön schwer so ein lebloser Körper. Heraushieven, ablegen, nochmals nach einem Puls suchen, irgendeinem Lebenszeichen nachspüren. Da war definitiv nichts mehr. Bedauern erfüllte ihn, doch er musste schleunigst von hier weg.
Irgendjemand würde ihn in den nächsten Stunden finden. Und niemand hatte sie vorhin zusammen auf dem Parkplatz gesehen.
Die Beerdigung fand an einem strahlenden Frühherbsttag statt. Die Menschen hatten nicht alle Platz in der Friedhofskapelle gefunden. Draußen standen mindestens noch mal so viele Trauergäste. In den ersten Reihen saßen auf den unbequemen Holzbänken die engsten Familienangehörigen.
In der Trauerannonce war darum gebeten worden, auf dunkle Kleidung zu verzichten und anstelle von Kränzen oder Blumen eine Spende an den Weißen Ring zu machen. Das Opfer war zwar tot, würde bald beerdigt sein, doch der Weiße Ring war immer auf Gelder angewiesen, um Verbrechensopfer zu unterstützen.
Wie war die Familie wohl auf diese Idee gekommen? In der Zeitung hatte gestanden, es habe sich wahrscheinlich um einen tragischen Unfall mit Todesfolge gehandelt. Das Opfer, das überfahren und tot auf einem Parkplatz entdeckt worden war, habe offenbar unter Drogeneinfluss gestanden. Die Muntermacher. Die Person, die ihn überrollt hatte, hatte sich vom Ort des Geschehens einfach entfernt. Erst ein Lkw-Fahrer hatte die Leiche entdeckt und seinen Fund bei der Polizei gemeldet.
Er stand ganz hinten in der Reihe der Kondolierenden. Bereits am Tag nach dem Unfall war im Weser-Kurier darüber berichtet worden. Er hatte fassungslos den kurzen Beitrag gelesen. Von einem Wagen überrollt. So eine Scheiße. Das hatte er nicht gewollt. Es war ein Unfall gewesen, hätte er sich nicht abgeschnallt, wäre überhaupt nichts passiert. Er war doch selbst schuld gewesen. Aber dass ihn dann noch in der Nacht jemand überfahren hatte. Ihm war augenblicklich übel geworden, er konnte noch gerade so aufs Klo rennen, bevor er sich übergab. Warum hatte er ihn nicht wenigstens an die Seite gezogen, ihn an einen Baum gelehnt? Er hoffte inständig, dass man dieses Auto, seinen Fahrer, seine Fahrerin, ausfindig machen konnte. Damit wäre er zwar nicht weniger schuldig, aber doch irgendwie aus dem Schneider. Die Spende, die er getätigt hatte, war anonym geblieben. Fünfhundert Euro, geschuldet seinem schlechten Gewissen.
Langsam bewegte sich die Menschenreihe auf die Hinterbliebenen zu. Die Sonne schien gnadenlos von einem kristallblauen Herbsthimmel. Eine ältere Dame hatte einen Regenschirm aufgespannt, hielt ihn über sich und eine andere Frau, die sich bei ihr eingehängt hatte.
Das Plopp-Plopp, ein dumpfes Geräusch, als die Erde aus der kleinen Schaufel auf den Sarg fiel, kam immer näher. Auch das Schluchzen und die gemurmelten Beileidsbekundungen drangen nun stärker an Ohren, die das eigentlich überhaupt nicht hören wollten. Doch er war geradezu zwanghaft gewesen, dieser Wunsch, bei der Beisetzung anwesend zu sein. Spätestens, als die Todesanzeige in der Zeitung vom Samstag erschienen war.
Vater, Mutter, drei jüngere Geschwister. Er kannte sie alle, die nächsten Angehörigen, die in der ersten Reihe gesessen und den Zug zum Grab angeführt hatten. Die Eltern, eine Schwester, zwei Brüder. Elf, fünfzehn und knapp zwanzig Jahre alt. Alle vier Jahre ein Kind. Und nun war es eins weniger. Und er trug die Schuld daran.
Die Mutter stand neben dem Pfarrer, links und rechts die beiden Jüngsten, sie hatte ihre Arme um ihre Schultern gelegt. Auf der anderen Seite der Vater mit dem älteren Bruder. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Er zögerte, jemand, der noch hinter ihm war, stieß ihn unabsichtlich an. Durfte er, der für dieses Leid verantwortlich war, überhaupt der Familie gegenübertreten? Zweifel breiteten sich in ihm aus, überlagerten den zwanghaften Wunsch, bis zum Ende der Zeremonie dabei zu sein.
»Gehen Sie weiter«, flüsterte die Frau hinter ihm.
Er setzte mechanisch Schritt für Schritt seinen Weg fort. Er hatte gehofft, selbst etwas Trost empfinden zu dürfen, wenn er der Beerdigung beiwohnte. Doch dem war nicht so. Das Einzige, was er fühlte, war Scham.
Unter einer riesigen Zeder kam das Ende des Trosses kurz zum Stillstand. Im Schatten war es angenehm. Eine Welle der Erleichterung durchströmte ihn, als er hinter dem mächtigen Baumstamm verschwand und den Friedhof verließ.
»Ich habe mir mein erstes Kochbuch zwar etwas opulenter vorgestellt, aber es ist doch gar nicht so übel geworden.«
Louise Dumas, einst gefeierte Sterneköchin im Elsass, übergab das Büchlein Exquisit – Die Rose in Küche und Kosmetik mit einer kleinen Verneigung ihrer Patentante Fine. In Fines reetgedecktem Haus auf der nordfriesischen Insel Pellworm hatte Louise ihr neues Zuhause gefunden. Eine unglückliche Liaison und der Verlust ihres Arbeitsplatzes als Köchin hatten sie vor einem Jahr die Flucht antreten lassen. Hier war sie nun angekommen, hier, auf der kleinsten nordfriesischen Insel war sie heimisch geworden.
»Setz dich, mien Deern. Es ist noch Streuselkuchen übrig. Möchtest du einen Tee?«
»Nein, danke. Aber von deinem Streuselkuchen nehme ich gern ein Stück. Hm, was sehe ich da, du hast Äpfel darunter versteckt?«
Louise setzte sich in den Gartenstuhl und seufzte tief. Es war ein herrlicher Tag. Die leichte Brise brachte eine angenehme Abkühlung. Die ganze Woche würde warm und freundlich bleiben, wie der Wetterbericht verkündet hatte. Fiete lag faul in der Sonne und putzte seine Pfoten.
»Paradiesisch«, befand Louise und legte sich ein Stück Kuchen auf den Teller mit dem blauen Strohblumenmuster. Sie pickte mit der Gabel ein Stückchen Apfel heraus, schloss die Augen und spürte dem Geschmack nach.
»Du hast die Äpfel in Calvados getränkt, stimmt’s? Einfach köstlich«, stellte sie zwischen zwei Bissen fest.
»Das war eine Idee von Momme. Er mag es eben gehaltvoll.« Fine lächelte bei dem Gedanken an Momme Mommsen, den ehemaligen Inselpolizisten, ihren Partner, Freund und Fels in der Brandung.
»Wo steckt Momme denn?«
Louise hatte das Kuchenstück verputzt und wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab, auf der der rot-weiß geringelte Leuchtturm von Pellworm prangte. Zufrieden lehnte sie sich in ihrem Korbstuhl zurück und betrachtete die Wolken, die bauschig über den blauen Himmel zogen, in ihrem Gefolge ein Schwarm kreischender Möwen.
»Momme repariert das Gatter am hinteren Ende der Weide. Sture muss der Holzlatte aus reinem Übermut wohl einen Tritt verpasst haben. Als ich das letzte Mal nach ihnen gesehen habe, stand Sture wie ein Unschuldslamm da und hat Mommes Arbeit begutachtet. Eine große Hilfe wird er ihm dabei wohl nicht sein. Aber jetzt muss ich doch das Kochbuch bewundern.« Fine schob die Lesebrille, die auf ihrem Kopf saß, vor die Augen.
Louise lachte lauthals. »Du meinst wohl, ein Unschuldsesel.« Sie reichte ihrer Patentante ihr Werk. Fine strich mit der Hand über das Cover, das ihre reetgedeckte Kate zeigte, die wie ein Dornröschenschloss hinter der Pracht der üppig im Vorgarten blühenden Rosen versank. Hubertus Schulte, ein befreundeter Hobbyfotograf, hatte das Foto im letzten Sommer gemacht und es Fine geschenkt. Es war das perfekte Motiv für das Titelbild.
Als das Organisationskomitee, das die traditionsreichen Rosentage im Juni auf Pellworm vorbereitete, Louise gebeten hatte, ein Kochbuch, schön bebildert, nicht zu umfangreich und ganz und gar der Rose gewidmet, zu gestalten, hatte sie mit Freuden zugesagt. Das Büchlein sollte Gästen wie Einheimischen, allen Freundinnen und Freunden der Rose Ideen und Anregungen geben, was man noch alles mit ihr anfangen konnte, außer den wunderschönen Anblick der Königin der Blumen in Gärten und in Vasen zu genießen. Auf der Suche nach Rezepten hatte Louise Angela angesprochen, die auf Pellworm einen Kräuterladen und ein Kosmetikstudio betrieb und mit ihren Ideen für Körpercremes und Düfte das liebevoll gestaltete Büchlein bereichert hatte.
Wochen hatten Louise und Angela damit verbracht, die Rezepte auszuprobieren, Gästen am Tisch vorzusetzen oder sie in Angelas Studio den Probandinnen auf der Haut zu verteilen. Fine hatte sich sofort bereit erklärt, als Versuchskaninchen herzuhalten. Besonders angetan hatte es ihr ein Rosenbalsam, den sie seitdem täglich anwendete.
Fasziniert hatte Louise Angela über die Schulter geschaut, als diese ihre Zutaten abwog, mischte, beschnupperte und anschließend auftrug.
»Das ist wie in einer guten Küche. Zutaten bester Qualität werden zu einem hochwertigen Produkt zusammengerührt«, staunte sie, während Angela Wildrosen- und Jojobaöl, Sheabutter und Bienenwachs im Wasserbad schmolz und eine Mischung ätherischer wohlriechender Öle von Weihrauch und Rosmarin dazugab. Abgefüllt in kleine Töpfchen ließ sie die Creme erkalten.
Angela hatte geschmunzelt. »Hexenküche nenn ich das. Und es gibt noch viel mehr, was man aus Blüten und anderen Naturprodukten zaubern kann.«
»Richtig schön ist es geworden. Ah, da ist ja das Rezept meiner neuen Lieblingscreme.« Fine riss Louise aus ihren Gedanken. Sie hatte den Rosenbalsam entdeckt und strahlte Louise an. »Du wirst sehen, mien Deern, das Buch wird reißenden Absatz finden.«
Von der Weide ertönte ein empörtes I-ah. Sture, der Esel, kannte die Uhr. Es war Zeit für seinen Nachmittagssnack.
»Fine, dein Esel kann ganz schön aufdringlich werden, wenn er Hunger hat.«
Momme kam angestapft, zog seine Mütze ab, strich sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn und setzte die Kopfbedeckung wieder auf. Er stellte seine Werkzeugkiste ab, umschlang Louise, die zur Begrüßung aufgestanden war, wie ein großer Bär und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Moin, Louise. Jetzt schaut euch mal an, was Sture veranstaltet hat.« Er zeigte auf die Hosentasche an der Gesäßseite seines Blaumanns, den er immer zum Handwerken trug. Sie war zur Hälfte abgerissen.
»Der Bengel hat, als ich mich gebückt habe, dran gezogen, dachte wohl, es wär was für ihn zum Naschen drin.«
»Oje, ich näh sie dir wieder an.« Fine musste schmunzeln, als sie bemerkte, dass sich Momme das Lachen nur schwer verkneifen konnte. Sture konnte man einfach nicht böse sein.
»Danke. Ich zieh mich nur schnell um und lass den Anzug einfach im Bad liegen. Ich muss gleich zu Dirk.«
Dirk Claussen war der einzige Arzt auf der Insel. Eigentlich schon im Pensionsalter, hielt er so lange die Stellung, bis eine Nachfolge für ihn bereitstünde. Doch noch war niemand in Sicht. Eine junge Ärztin hatte nach nur zwei Wochen, in denen Dirk begonnen hatte, sie einzuarbeiten, dann doch lieber eine Stelle in Hamburg angetreten. Es war nicht nur Dirk ein Rätsel gewesen, wie man Hamburg gegen Pellworm eintauschen konnte.
»Was habt ihr zwei denn vor? Nun, grüß Dirk mal schön von mir.«
»Neugierig bist du aber gar nicht, mein Finchen.« Momme drückte Fine einen dicken Schmatzer auf die Wange. »Ich sag nur so viel: Es geht um das Theaterstück. Dirk hat eine tolle Idee und will sie mit mir besprechen. Mehr kann ich nicht verraten. Also denn, tschüss ihr zwei. Und Louise, mach hinne mit dem Futter, sonst macht sich der Herr vor lauter Hunger noch aus dem Staub. Und der kleine Pauli rennt dann gleich hinterher. Ich hab den Eindruck, er guckt sich bei Sture aber auch jeden Blödsinn ab.«
Schmunzelnd und mit einem Kopfschütteln verschwand Momme im Haus. Kurz darauf winkte er den beiden Frauen noch einmal zu, schwang sich auf sein Fahrrad und radelte davon.
Erneut ertönte Stures durchdringendes klagendes Wiehern. »Bin schon unterwegs«, rief Louise laut. »Monsieur kann wirklich nicht warten. Nicht dass er tatsächlich ausbüxt und die frischen Triebe von deinen Pflanzen abknabbert. Dann können wir die Rosentage vergessen.«
Schon war sie im Schuppen neben dem Stall, um dem Grautier eine Schüssel mit einer Handvoll Gerste, Möhren und einem Apfel zu servieren. In einen kleinen Beutel packte sie eine Karotte und ein paar Brocken hartes Brot, denn auch Pauli liebte seinen Nachmittagsimbiss.
Seit einigen Wochen mischte sich immer öfter in Stures anklagenden Ton das Meckern von Pauli, der knuffigen Zwergziege, die in Wahrheit ein kastrierter Bock war. Eigentlich war Fine auf der Suche nach einem passenden Eselgefährten für Sture gewesen, als sie die Annonce entdeckte, in der Pauli angeboten worden war. Er hatte viele Jahre in der Nähe von Flensburg mit einem Esel verbracht, der im hohen Alter gestorben war. Nun suchte man für den achtjährigen Pauli einen neuen Gefährten. Da sein Halter ebenfalls schon hochbetagt war, gab er ihn mit Freuden an Fine ab. Im April war der kleine Kerl eingezogen, und die beiden Vierbeiner hatten nach zwei Tagen des misstrauischen Beschnupperns und Beäugens Freundschaft geschlossen.
Momme hatte Pauli Baumstämme und Steinbrocken zum Klettern hinter dem Stall aufgetürmt, die der kleine Ziegenbock gerne nutzte. Wie ein Seemann, der auf einem Schiff nach langer Fahrt auf dem Meer nach dem Land Ausschau hielt, stand Pauli auf seinem erhöhten Posten und spähte in alle Richtungen. Wenn er einen von Fines Katern auf der Weide entdeckte, die ihrerseits auf der Suche nach einer schmackhaften Maus waren, hopste er herunter und ging mit gesenktem Kopf auf die Stubentiger los. Allerdings waren Fiete und Piet clever, und noch bevor Pauli auch nur in ihrer Nähe war, hatten sie ihr Jagdrevier bereits verlegt.
Als Louise mit Stures grüner Futterschüssel bei der Weide ankam, erwarteten die beiden Vierbeiner sie bereits. Pauli blinzelte Louise vergnügt an, so kam es ihr jedenfalls vor, aus seinen klaren grünbraunen Augen zu und nahm gnädig seine Karotte und ein Stück hartes Brot an. Er kannte keinen Futterneid, und während Sture sich über sein Müsli hermachte, genoss Pauli die Streicheleinheiten von Louise.
Am Zaun hing bereits ein handgemaltes Schild Bitte nicht füttern, durften die Besucher der Rosentage doch auch in die Privatgärten, die geöffnet wurden, ausschwärmen, um sich an deren Rosenpracht zu erfreuen. Und wie Fine und Louise ihre Tiere kannten, würden die nichts unversucht lassen, um die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zu ziehen.
Als Louise zurückkehrte, saß Fine an dem runden Holztisch und studierte interessiert ein weiteres Rezept aus dem Rosenbüchlein. Sie sah auf.
»Apropos Theaterstück, Louise. Könntest du die Telefonliste noch schnell bei Thore vorbeibringen? Er nimmt seine Rolle als Regisseur ja ziemlich ernst. Wie er da in seinem Regiestuhl sitzt und uns alle herumkommandiert. Er hat sich das Ding extra im Internet bestellt. Ich hoffe nur, dass er uns nicht mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißt, um uns seine neuesten Regieanweisungen durchzugeben, nachdem er alle Nummern in seinem Handy abgespeichert hat.« Fine schüttelte den Kopf.
Louise schmunzelte. »Fehlt nur noch ein Megafon, mit dem er seine Anweisungen herausbrüllt. Aber er macht seine Sache ganz gut. Ich glaube, unsere Aufführung wird ein voller Erfolg. Ich zieh mich nur schnell um, dann mach ich mich auf die Socken.«
»Hat es mit dem Casting für die neue Krimiserie geklappt?«
Veronique Weidner zog sich ihre Jacke über und hielt ihrem Kollegen die Tür auf. Ron Schubert stand in gebückter Haltung da und band sich einen Schnürsenkel. Er schaute auf.
»Ja, hat geklappt. Wollen wir noch einen zusammen trinken?«
Veronique schaute auf ihre Uhr. »Gerne, aber um halb zwölf muss ich zu Hause sein, der Babysitter schreibt morgen eine Englischarbeit.«
Sie und Ron Schubert waren feste Mitglieder des Theaterensembles am Bremer Theater am Goetheplatz. Die Spielzeit war zu Ende, der letzte Vorhang gefallen. Schillers Wilhelm Tell war ein Garant für ein volles Haus, zumindest wenn das Stück ganz klassisch inszeniert wurde, ohne Firlefanz und Tamtam, wie Schubert es nannte. Außerdem stand der Tell als Schulstoff in Deutsch an. Das hieß, zwei Extravorstellungen für das Abiturpublikum.
Die Tische vor dem Lokal Theatro waren fast alle belegt. Ron schob Veronique zu den letzten freien Plätzen, sehr zum Ärger eines jungen Pärchens, das diese ebenfalls angesteuert hatte.
»Emilio, zwei Aperol Spritz«, bestellte der Schauspieler. Er nahm Platz und stöhnte leise auf. »Allmählich merke ich, dass ich älter werde. Apropos alt, wie alt sind deine Jungs jetzt? Toll, wie du das alles unter einen Hut bekommst. Die Proben, die Vorstellungen, zu Hause musst du auch noch ran und dann die beiden Racker.«
Die Getränke kamen, und die beiden prosteten sich zu. Veronique stellte das Glas ab. »Niko ist acht und Felix wird fünf. Zwei waschechte Rabauken. Du, ich hab doch seit einem halben Jahr eine Tagesmutter, das klappt also alles ganz gut. An den Wochenenden sind sie bei ihrem Vater, er ist ganz verrückt nach den beiden. Du wirst es sehen, wenn du selbst Papa geworden bist. Wann ist es denn so weit?«
Ron grinste über beide Ohren. »Oktober. Hätte ich nie gedacht, dass ich mal Vater werde. Aber nach dem ersten Schrecken fühlt es sich verdammt gut an.«
Veronique kramte eine Zigarettenschachtel aus ihrer Tasche. »Ist doch okay, wenn ich eine rauche? Du bist ja nicht schwanger, und keiner in der Nähe ist am Essen.«
»Klar. Wir sitzen hier ganz am Rand, wen soll es stören.«
»War schon ein Ding, als sich das rumgesprochen hat, du und deine Personal Trainerin, ein Paar. Da bekommt das Wort Personal mit einem Mal eine ganz andere Bedeutung.« Veronique schmunzelte und zog an ihrer Zigarette.
Ron boxte sie auf den Unterarm. »Du bist ganz schön frech. Aber das sind nun schon fast zwei Jahre. Wir passen eben toll zusammen, harmonieren ganz einfach. Sie ist sportlich, wunderschön.«
»So wie du?« Die Schauspielerin hob lachend ihr Glas.
»So wie ich. Prost.«
»Und jetzt erzähl. Wie war das Casting? Wer wird die Hauptrolle übernehmen?«
»Das ist noch nicht raus. Entweder Sebastian Koch oder Ben Becker. Ich würde mich freuen, wenn Ben das Ding macht, er ist ja ebenfalls ein Bremer Gewächs. Und über uns allen schwebt Maria Furtwängler als Chefin. Ich hoffe nur, es wird nicht so ein altmodisches Ding, so nach dem Motto, der Kommissar verlangt von mir Ron, hol schon mal den Wagen, und das war’s dann.« Ron Schubert lachte laut und dröhnend. »Nein, ganz ehrlich, ist schon eine Bombenrolle, klein, aber fein. Es sind mindestens sieben Folgen geplant. Und dann mal schauen. Und du, wie sind deine Pläne für die nächsten Wochen?«
»Proben für den Herbst, Urlaub auf dem Bauernhof mit den Jungs, mehr ist nicht geplant. Niko ist total tierverrückt. Da ist der Bauernhof genau das Richtige. Kühe streicheln, Eier einsammeln, Ponyreiten. Apropos Ponyreiten. Wolltest du nicht auf Sylt an diesem Poloturnier teilnehmen? Ich hab gehört, Heino Ferch ist auch ein begeisterter Polospieler. Da bist du als reitender Schauspieler in bester Gesellschaft. Wird er auch dabei sein?«
»Keine Ahnung. Er gehört zumindest zu keinem der Teams, die angemeldet sind. Und was heißt, in bester Gesellschaft?«, brummte Schubert und leerte sein Glas.
»Hör ich da etwa einen Hauch von Eifersucht heraus?«, neckte ihn seine Kollegin. »Warte ab, durch die Fernsehserie wirst du so bekannt wie er und kannst dich vor Rollenangeboten kaum noch retten.«
Ron runzelte die Stirn. Wollte sich Veronique über ihn lustig machen? »Ganz ehrlich, teure Freundin, ich bin Mitte vierzig, was soll da noch groß kommen? Bis mich das TV-Publikum so richtig kennt, tauge ich nur noch für die Rollen des ältlichen Liebhabers oder pensionierten Lehrers.«
»Dummes Zeug. Du hast in der Anwaltsserie als Richter Wigbert Hölderlin einen tollen Job gemacht. Dich erkennt man mittlerweile doch auf der Straße.« Veronique sah auf ihre Armbanduhr. »Upps, ich muss los. Bist du morgen dabei, wenn wir Wulf besuchen? Ich glaube, es ist ordentlich was für den Präsentkorb zusammengekommen. Wulf wird sich garantiert freuen, wenn so viele wie möglich von uns kommen.«
Ron zuckte bedauernd mit den Schultern. »Nein, ich kann leider nicht. Theresa hat eine Ultraschalluntersuchung und will mich unbedingt dabeihaben.«
»Das kann ich verstehen. Es ist ja wirklich ein tolles Erlebnis, dieses kleine Wunder heranwachsen zu sehen. Ich werde Wulf Grüße von dir ausrichten.« Sie winkte Emilio, um zu bezahlen.
»Lass, Veronique, das übernehme ich. Und sag Wulf, er soll bald wieder auf die Beine kommen.«
Veronique steckte ihr Portemonnaie wieder ein. »Ich komme immer noch nicht drüber hinweg. Es hätte Wulfs Tod bedeuten können. Ganz ehrlich, die Regieidee, Tell die Freiheit auf dieser wackeligen Trittleiter verkünden zu lassen, war doch einfach nur blöde. Weißt du, wie viele Menschen beim Hausputz ums Leben kommen, wenn sie auf so einer wackeligen Leiter rumturnen? Ich hab mal irgendwo gelesen, das geht in die Tausende.«
»Du übertreibst«, brummte Ron und legte einen Geldschein unter sein Glas, als Emilio gerade am Nebentisch abrechnete. »Emilio, der Rest ist für dich«, rief er dem Kellner zu.
»Gut, vielleicht nur Hunderte, aber das reicht doch schon. Ich seh ihn noch vor mir, den armen Kerl. Kommt oben auf der Leiter an, reißt die Arme hoch und stürzt mit dem Kopf zuerst auf die Bretter. Ich dachte, der steht nicht mehr auf. Und dann war die Hüfte gebrochen.«
»Ist er aber. Wie gesagt, richte ihm Grüße aus. Wir sehen uns in ein paar Wochen wieder.«
Ron und Veronique erhoben sich, drückten sich gegenseitig Küsschen auf die Wangen, und jeder ging seiner Wege.
Louise hüpfte die Treppe hinunter und strich sich ihre dunklen Locken hinter die Ohren.
»Fine, was wollen wir heute Abend kochen? Ich kann auf dem Heimweg von Voltje noch was aus Thams Hofladen mitbringen«, rief sie, als sie ihre Patentante in der Küche hantieren hörte. Neugierig streckte sie den Kopf durch die Tür. »Oder bist du schon etwas am Vorbereiten? Es riecht nach Äpfeln. Vom Baum und aus der Erde.« Sie schnupperte.
»Vor dir kann man aber auch gar nichts geheim halten«, erwiderte Fine und hielt einen Apfel hoch. »Das sind die letzten Herbstäpfel vom vergangenen Jahr, sie müssen allmählich weg. Sind nicht ganz so lagerfähig. Es gibt heute Abend Kartoffelstampf mit Blutwurst und Äpfeln.«
Allein bei diesem Gedanken lief Louise das Wasser im Mund zusammen.
»Boudin, ich liiiebe es. Unsere französische Boudin ist zwar etwas anders als die deutsche Blutwurst, aber auch lecker. Geräuchert, mit ein wenig Speck drin, hmm. Ich sehe das Essen schon vor mir. Etwas Majoran, vielleicht noch saure Sahne an das Püree und ordentlich geschmorte Zwiebeln zur Blutwurst, wahrhaft eine göttliche Idee. Soll ich noch flink was helfen?«
Fine schüttelte den Kopf und legte das Stück Zeitungspapier, in dem sie die Apfelschalen gesammelt hatte, in einen Korb. Ein kleiner Snack zwischendurch für die Hühner. »Nein, das ist lieb, aber ich hab sonst nicht viel zu tun. Grüß Voltje von mir. Geht’s um das Stück?«
»Ja, also eher um Sture. Sie will mir ein paar Tipps geben, was ich mache, falls unser Eselmann mal wieder auf die Idee kommt, die Arbeit zu verweigern. Stell dir vor, er bleibt einfach stehen, schreit in der Gegend herum und äppelt womöglich noch auf die Bühne. Immerhin hat Voltje Erfahrung mit Pferden, das wird dann wohl auch für einen Esel reichen.«
Fine lachte laut auf. »Hat er denn schon Schwierigkeiten gemacht? Du hast gar nichts davon erzählt.«
»Bis jetzt nicht. Ich befürchte, er ist so gerissen und wartet die erste Aufführung vor Publikum ab. Du kennst ihn doch, der Schalk sitzt doch zwischen den langen Ohren. Wenn er während der Proben schon seine Sturheit unter Beweis stellen würde, Thore hätte uns gleich wieder aus dem Ensemble geworfen. Aber es ist schon toll, was unser Regisseur in der kurzen Zeit auf die Beine gestellt hat.«
Thore Schlüter, seit vier Jahren Neu-Pellwormer, hatte fast sein halbes Leben lang die Urlaube auf der Insel verbracht, zuletzt in einer Ferienwohnung in Renates Lüttem Töpferhus. Fasziniert von der kleinen Insel und ihrer Geschichte und sich selbst schon lange als Insulaner betrachtend, hatte er sich entschlossen, nach seiner Pensionierung Pellworm zu seiner dauerhaften Heimat zu machen. Mittlerweile war er in das Inselleben integriert, und seine Idee, eine Laienspieltruppe auf die Beine zu stellen, hatte schnell Anklang gefunden. Und nun war man seit April mitten in den Proben zu einem Open-Air-Historienspektakel, wie Thore es nannte. Er führte dabei Regie, Dirk Claussen war sein erster Assistent, Momme das Mädchen für alles und Louises Patentante eine Art Privatsekretärin.
»Der August kommt schneller, als wir denken.« Fine seufzte. Auch sie hatte eine kleine Rolle übernommen. Sie würde hinter einem Marktstand stehen und zusammen mit ihrer Freundin, der Keramikerin Renate, irdene Töpferwaren feilbieten. Louise hatte auch gleich zugesagt, als Thore sie gefragt hatte. Sie und Sture wanderten zusammen mit Voltje in der einen oder anderen Szene im Hintergrund auf und ab, beide Frauen in langen bunten Gewändern, Sture beladen mit Reisigbündeln, so Thores Idee, von der der Esel allerdings noch nichts ahnte.
Als die Rollen zu vergeben gewesen waren, hatte ein enormer Andrang vor allem auf die männlichen Parts geherrscht, und Thore hatte sich tatsächlich gezwungen gesehen, ein Casting zu veranstalten. Besonders die Hauptrolle des Cord Widderich war heiß begehrt gewesen. Letztendlich ergatterte sie Keno Laurenz, Schatzmeister des Ringreitvereins, dessen Mitglieder äußerst brauchbare Weggefährten des Freibeuters abgeben würden, dessen Leben und Sterben auf die Bühne gebracht werden sollte. Keno, ein Bär von einem Mann, rühmte sich damit, nicht nur sattelfest zu sein, sondern sogar familiäre Beziehungen zu Cord Widderich zu haben, die er allerdings durch nichts belegen konnte.
Nur wenig wusste man über diesen Piraten, wie er landläufig tituliert wurde. Keno hatte es allerdings in kürzester Zeit geschafft, der Figur ein ganz neues Leben einzuhauchen, auch wenn dieses durch nichts zu beweisen war. Cord sei ein Rauf- und Saufbold gewesen, so Kenos Interpretation, wenn er polternd seine Kumpane herumkommandierte. Thore war hellauf begeistert von seinem Hauptdarsteller, der so tief in seine Rolle hineintauchte. Wie Kenos Ehefrau Irmgard Fine jedoch jüngst anvertraut hatte, tauchte er auch in die häuslichen Schnapsvorräte ein, um seinem Cord, wie er sagte, den notwendigen realistischen Touch zu geben. Doch wenn es niemandem auffiele … Alle Verantwortlichen waren jedenfalls davon überzeugt, mit dieser Aufführung die Pellwormer, wie auch die Gäste der Insel, in den Bann der Geschichte um Cord Widderich zu ziehen.
Das Wenige, was man über seine Person wusste, hatten Thore und Dirk, der nicht nur Inselarzt, sondern auch Hobbyhistoriker war, zusammengetragen. Widderich, der zwischen 1375 und 1412 gelebt hatte, war demnach weniger ein echter Pirat als ein Heerführer gewesen. Er stammte aus Dithmarschen, war nach einigen Kriegszügen sesshaft geworden und verdiente sein Brot als Händler an der Küste des Nordmeeres. Doch eine Pilgerreise nach Mecklenburg, nicht Mekka, wie Dirk betonte, wurde ihm zum Verhängnis. An der Straße nach Lübeck ergriffen ihn die Männer des Grafen von Segeberg ob seiner alten Vergehen und machten kurzen Prozess, indem sie ihn am nächsten Baum aufknüpften.
Wie Dirk dozierte, als Thore seine Theaterpläne einer ersten interessierten Gruppe von Insulanern kundtat, wurde aus Cord Widderich erst sehr viel später ein Seeräuber. »Ehrenrührig«, befand der Arzt diesen Titel, denn Widderich war nichts anderes gewesen als ein Anführer der freien Dithmarscher, die sich gegen die Herzöge von Schleswig und Holstein und den dänischen König zur Wehr setzten.
Doch was hatte Cord Widderich mit Pellworm zu tun?, fragten einige erstaunt. Nicht jeder Pellwormer kannte die Geschichte, und Dirk war zur Höchstform aufgelaufen, sehr zum Ärger von Thore, der die Geschichte gerne selbst zum Besten gegeben hätte.
Wie der Inselarzt voller Inbrunst berichtete, war Widderich mit vier Schiffen auf Pellworm gelandet, hatte die Kirche beziehungsweise den damals noch nicht ruinösen Turm besetzt und ihn zu seinem Hauptquartier auserkoren, um von dort aus die nordfriesische Küste anzusteuern und auszurauben. Natürlich dienten diese Raubzüge einem guten Zweck, wie Dirk betonte. An diesem Punkt hatte sich dann der alte Pastor Jasper Jaspersen eingemischt und die gespannten Zuhörer darüber informiert, dass Cord sogar Kirchen bedacht habe, so die Fischerkirche auf der Insel Büsum, der er das kostbare Taufbecken aus der Pellwormer Kirche überlassen habe. Noch heute könne man es in der St.-Clemens-Kirche bewundern.
Das hatte zu einer angeregten Diskussion geführt, denn wo war der gute Zweck, wenn eine Kirche ausgeraubt wurde, um eine andere zu beschenken? Ob Widderich, weil er tragende Holzbalken verbrannt habe, auch für den Einsturz des Kirchturms die Verantwortung trage, darüber stritten sich die Pellwormer Hobbyhistoriker noch eine ganze Weile. Letztendlich jedoch waren alle angetan von der Idee, den Mann durch ein Theaterstück wieder auferstehen zu lassen. An dieser Stelle merkte Jasper Jaspersen zwar an, nur der Herr sei auferstanden, aber sein Einwand hatte kein Gehör gefunden.
»Ich bekomme schon jetzt Schweißausbrüche, wenn ich an die Vorstellungen vor Publikum denke«, sagte Fine und wischte ihre Hände an einem Küchentuch ab. »Aber zuerst mal müssen wir uns um die Rosentage kümmern. Thore hat uns bis jetzt alle schon ganz schön auf Trab gehalten. Wir proben seit einem Vierteljahr zwei- bis dreimal die Woche. Die Ferienzeit beginnt, nicht jeder hat noch die Muße, regelmäßig zu den Proben zu erscheinen. Nun, es wird schon alles werden.« Sie rieb sich über die Wange und überlegte einen Moment. »Wenn du schon unterwegs bist, könntest du mir tatsächlich ein paar Kleinigkeiten besorgen.«
Sie nahm das Rosenbüchlein zur Hand, schlug es auf und tippte mit ihrem Finger auf zwei Rezepte, die Emmy Jensen liebevoll mit einer kleinen Zeichnung versehen hatte. Emmy, eine Künstlerin von gut über achtzig Jahren, war geradezu eine Institution auf Pellworm. Ihre Gemälde von der Insel waren weit über das Eiland hinaus bekannt geworden.
»Du hast all diese Köstlichkeiten schon ausprobiert und mir nicht das geringste Löffelchen davon übrig gelassen«, fügte Fine in gespielt vorwurfsvollem Ton hinzu. »Jetzt will ich doch wissen, wie das alles schmeckt.«
»Frauke und ich haben nichts übrig gelassen«, konterte Louise vergnügt. Frauke, ihre Freundin, betrieb das Warft Café auf Pellworm. Nach ihrer Ankunft auf der Insel hatte Louise bei ihr ausgeholfen und dabei wieder die Liebe zur Kochkunst für sich entdeckt, die sie schon verflogen geglaubt hatte. »Das war, als du mit Momme in Kiel warst. Das Rezept für das Chutney hab ich übrigens von Maman.«
»Hast du ab und zu nicht ein bisschen Heimweh nach dem Elsass?«, fragte Fine vorsichtig, wohl wissend, wie viele auch schmerzliche Erinnerungen an Louises alter Heimat hingen.
»Ja, natürlich. Aber wie du weißt, fahre ich ja oft genug nach Riquewihr, und Papa und Maman waren für zwei Wochen im Januar hier, als sie das Hotel in den Winterschlaf gelegt hatten. Das Chutney hatte Maman rein zufällig entdeckt und zu Wachtelbrüstchen serviert. Ich muss ehrlich sagen, süß ist ja nicht so meins, und mit Rosenblättern hab ich noch nie gearbeitet. Aber die Ergebnisse haben mich dann doch sehr überrascht. Ich meine, wenn man Schokolade mit Meersalz oder Chili würzt, dann kann man auch Rosenblätter mit Ingwer oder grünem Pfeffer mischen. Lass mal schauen, was soll ich denn mitbringen? Warte, ich notier mir alles. Wann wollen wir das machen?«
Louise kramte einen Block und Stift aus der Küchenschublade und überflog das Rezept.
»Ich dachte an morgen Abend. Momme und Dirk sind da, und ich wollte noch Renate fragen.«
»Prima Idee. Et bien. Für das Chutney haben wir die Äpfel im Haus, Zwiebeln ebenfalls, Rotwein auch. Ich bring dann braunen Zucker mit, Ingwer. Statt Chili nehmen wir Piment d’Espelette. Das reicht für die Schärfe. Und was hast du noch ausgesucht? Ah, das Rosenpesto. Das nehmen wir zum Käse. Dann bring ich noch was von der Inselkäserei mit. Einen schönen würzigen Deichgraf. Kürbiskerne und …«, Louise biss sich auf die Lippe und überlegte, »… und statt des Parmesans nehmen wir den Rungholt. Der ist zwölf Monate gereift und wunderbar pikant. Was haben wir denn an Ölen da?« Suchend glitt ihr Blick über das Regal neben dem Herd. »Versuchen wir es mit dem Walnussöl. Beim letzten Mal hab ich Kürbiskernöl benutzt. Im Rezept biete ich ja beide Alternativen an. Das Kürbiskernöl hat schon eine starke Farbe und einen sehr intensiven Geschmack«, meinte sie nachdenklich und vollendete ihre Einkaufsliste. »Apropos Rungholt. Wie geht es eigentlich Monika Klatte?«
Fine seufzte. »Jasper Jaspersen meinte neulich, eigentlich recht gut. Das Haus ist vermietet. Sie scheint sich in Husum wohlzufühlen. Wenn ich noch an die ganze Aufregung denke. Dass du und Momme mir bloß nie wieder so einen Schrecken einjagt.«
»Ach Fine, es wird sich hoffentlich wohl nicht jedes Jahr ein solches Drama auf Pellworm abspielen. Dirk meinte allerdings, ich würde das Unglück anziehen. Natürlich hat er das nicht ernst gemeint. Aber es ist schon merkwürdig. Kaum tauche ich hier auf, wird unser beschauliches Inselchen von solchen Verbrechen heimgesucht. Erst Klas Thams, dann diese Rungholt-Geschichte. Nun, jetzt ist ja Ruhe eingekehrt.«
»Und das bleibt hoffentlich so, nicht wahr, mien Deern?«
»Aber ja, allerliebste Fine. Wenn es nach mir geht, auf jeden Fall.«
Louise drückte ihrer Patentante einen Kuss auf die Wange und schnappte sich ihren Einkaufskorb. Mit dem Rad ging es in Richtung Tammensiel, vorbei am Hofladen und der Inselkäserei. Von dort am Deich entlang. Ein sanfter Wind blies Louise entgegen, und die Schafe, die zufrieden auf der Deichkrone am Gras zupften, schienen sich in den wattigen Schönwetterwölkchen am blauen Himmel widerzuspiegeln. Louise grüßte jeden, den sie passierte, man winkte sich freundlich zu, wie es auf der Insel Sitte war.
Mit einem lauten »Salut, Madame le commissaire« radelte Louise an Solveig Olms vorbei. Die Inselpolizistin hatte offensichtlich zwei Wanderer ins Gebet genommen, die mit schuldbewussten Gesichtern am Wegesrand standen. Eine Frau hielt ein Büschel Pflanzen mit lilafarbenen Blüten in der Hand. Louise erkannte beim langsamen Vorbeiradeln, dass es sich um Knabenkraut handelte, eine geschützte wilde Orchideenart.
Solveig Olms war entweder zu beschäftigt oder hatte keine Lust, Louises Gruß zu erwidern. Im Rückspiegel sah Louise noch, wie die Orchideendiebin ihre Beute der Inselpolizistin aushändigte.
Nein, sie, Louise Dumas, und Solveig Olms würden wahrscheinlich in diesem Leben keine Freundinnen mehr werden. Mit diesem Gedanken fuhr sie auf Voltjes Hof.
Der Schweiß rann Louise den Rücken hinunter, als sie mit dem Fahrrad dem Bürgerhaus zustrebte. Im Gepäck hatte sie die letzten zwanzig Bücher der exotischen Rosengenüsse. Sie gehörten, neben den zahlreichen Rosenpflanzen, die es bei der traditionellen Tombola zu gewinnen gab, zu den Preisen an diesem letzten Nachmittag der Rosentage.
Louises und Angelas Rosenbüchlein hatte reißenden Absatz gefunden, eine neue Auflage war bereits geplant. Die Gartenbesitzer hatten voller Stolz ihre Paradiese präsentiert, in denen die Rosen, die auf Pellworm dank der besonderen Bodenverhältnisse ihre volle Pracht entfalteten, in allen Farben und Düften um die Wette eiferten. Rosenliköre wurden verkostet, selbst gebackene Kuchen und Torten mundeten auch den verwöhntesten Gaumen.
In Fines Garten hatten sich während der Festtage viele Kinder eingefunden, die mit ihren Eltern von fern und nah die Rosentage besuchten. Schnell hatte sich unter ihnen herumgesprochen, dass dort ein Esel und eine kleine Ziege lebten, die man auch streicheln durfte, ein Highlight vor allem für Stadtkinder. Jasper Jaspersen, der Enkel des alten Inselpastors, hatte die Idee gehabt, für die Kleinen kurze Ausflüge auf dem Rücken von Sture zu organisieren. Fine und Louise waren zunächst skeptisch gewesen, zeigte sich Sture doch, wenn es um Arbeit ging, nicht immer von seiner besten Seite. Aber es war wie ein kleines Wunder. Schon beim ersten Proberitt, Jasper hatte seine vierjährige Cousine auf den Esel gesetzt, zeigte sich Sture als liebenswürdiges Reittier für die Kinder. Mit Pauli im Schlepptau, der dem Esel wie ein Hund folgte, marschierte er gemessenen Schrittes los, darauf bedacht, seine kleine Reiterin vorsichtig wie ein rohes Ei zu transportieren.
Louise ärgerte sich, dass sie die Strecke nun schon zum zweiten Mal zurücklegen musste, und das bei der Affenhitze. Aber sie war selbst schuld. Als sie endlich die beiden Kuchen von Fine verladen hatte, war sie losgestrampelt und hatte die Bücher prompt vergessen. Fines Torten, Stachelbeere mit Baiser und Käsecreme mit Apfelkompott, wurden mit anderen süßen Köstlichkeiten am Stand der Landfrauen für einen guten Zweck verkauft.
Louise hatte die Rosenbücher in buntes Geschenkpapier verpackt und mit einer Schleife umwunden, in die sie ein weißes Röschen hineingesteckt hatte. Sie stellte ihr Rad ab, schnappte sich die Tasche und eilte zum Gewinntisch, hinter dem Momme saß. Er fächelte sich mit seinem Strohhut, den ihm Fine aufgeschwatzt hatte, Luft zu. Momme fand, dass so ein Ding nicht auf die Insel passte, zu leicht erfasste die Kopfbedeckung eine steife Brise und wehte sie vom Kopf. Doch Fine hatte darauf bestanden. Es sei kein einfacher Strohhut, sondern ein Panamahut, und er sähe damit aus wie Sean Connery. Letzteres hatte Momme in der Tat geschmeichelt. Und er musste zugeben, dass der luftige Hut nicht nur bequem auf seinem Kopf saß, sondern auch eine gewisse Kühlung brachte, ganz im Gegensatz zu seiner blauen Schiffermütze, die er auch im Sommer und überhaupt bei Wind und Wetter trug.
»Ah, die Bücher. Wird aber auch Zeit«, brummte Momme und nahm Louise die Tasche ab. »Sieht hübsch aus, mit den Röschen«, meinte er anerkennend und drapierte die bunten Päckchen neben kleinen Gemälden mit Schaf- und Leuchtturmmotiven, Getöpfertem von Renate und vielen Dingen mehr, die einen Bezug zur Insel verkörperten.
»Wann ist denn die Verlosung?« Ein junges Paar war herangeschlendert. »Wir haben zwanzig Lose gekauft. Da wird doch ganz sicher was dabei sein, oder?« Die Frau sprach mit einem Akzent, den Louise nicht so recht zuordnen konnte.
»Bloß nicht wieder fünf Rosensträucher wie im letzten Jahr«, meinte ihr Gefährte und rollte mit den Augen. »Was glauben Sie, wie mühsam es ist, die Dinger lebend bis nach Köln zu schaffen, wenn es so heiß ist wie heute?«
»Aber Rüdiger, wir haben doch eine Klimaanlage im Auto. Und außerdem hat meine Mutter sie sofort eingepflanzt. Sie sind eine Pracht geworden. Was ist denn in den kleinen Päckchen drin?«, fragte die Frau dann und zeigte auf eines der bunt verpackten Bücher.
»Das Buch Exquisit – Die Rose in Küche und Kosmetik «, antworteten Louise und Momme wie aus einem Mund.
»Ach, schade, das habe ich mir vorgestern gekauft. Wenn ich es heute gewinne, dann habe ich zwei«, schmollte die Kölnerin.
»Na, dann bekommt das andere eben deine Mutter. Zu Weihnachten. Dann brauchen wir uns nicht mehr den Kopf über ein Geschenk zu zerbrechen. Guck mal, es gibt noch von dem Stachelbeerkuchen. Wollen wir?« Die beiden nickten Momme und Louise zu und strebten zum Kuchenstand.
Dieser letzte Höhepunkt der Rosentage, die große Tombola, hatte noch einmal Einheimische und Gäste sich versammeln lassen. Gut gelaunt erwarteten sie alle die Verlosung, bei der es erstmals einen ganz besonderen Überraschungsgewinn geben würde. Er war von der Bürgermeisterin Freya Suthoff in einem großen goldenen Umschlag bei Momme abgeliefert worden. Der Umschlag prangte nun zwischen all den anderen Preisen, und jeder fragte sich, was wohl darin stecken mochte. Die Spekulationen gingen von einem Rundflug über die Insel, einem Jahr kostenloser Besuch der PelleWelle bis hin zu einem Elektrofahrzeug einer deutschen Nobelmarke.
»Ich muss mal schnell aufs Klo. Ich bin total verschwitzt. Sag mal, im letzten Jahr war es aber nicht so heiß. Es geht ja noch nicht mal mehr ein Lüftchen.« Louise stand da in Shorts und einer ärmellosen roten Bluse mit gelben Punkten. Ihre Haare hatte sie zu einem Knoten auf dem Kopf festgesteckt, wobei sich eine dunkle Locke herausgewagt hatte, die sich in ihrem Nacken kringelte. Sie schaute auf ihre Füße, die in silberfarbenen Riemchensandaletten steckten. »Man erkennt kaum noch den Nagellack, meine Füße sind total eingestaubt. Wann hat es eigentlich zum letzten Mal geregnet?«
»Vor zehn Tagen. Aber schau mal, es braut sich was zusammen.« Momme nickte in Richtung Deich. Tatsächlich. Wo vorhin der blaue Himmel noch bis zum Horizont gereicht hatte, ballte sich an eben diesem etwas Dunkles zusammen.
»Meinst du, es gibt Sturm?«
»Nein, wohl keinen Sturm. Aber Regen, vielleicht auch ein ordentliches Gewitter.« Momme hob den Kopf und schnüffelte.
»Beeindruckend, Momme, das kannst du riechen?« Louise hob ebenfalls die Nase in Richtung Wasser. »Ich riech nix. Aber du lebst ja schon länger auf der Insel. Da hat man so was im Gefühl, vielleicht sogar im Blut, n’est-ce pas?«
Momme schmunzelte. Er zog sein Handy aus der Tasche, drückte ein wenig darauf herum und hielt Louise das Telefon hin. »Die Wetter-App ist absolut zuverlässig, mien Deern.«
Louise lachte und gab Momme einen Klaps auf seinen Hut. »Bin gleich wieder da. Ich will nicht verpassen, was sich in dem geheimnisvollen Umschlag verbirgt.«
Als Louise zurückkehrte, hatte die Bürgermeisterin sich bereits auf ihre Position begeben. Ein riesiges Gefäß mit den Losen war auf einem runden Tisch platziert worden. Sie begrüßte soeben die Pellwormer und alle Gäste, tat kund, wie erfolgreich und wunderschön die Rosentage auch in diesem Jahr wieder gewesen waren. Louise gesellte sich zu Fine, die neben den Tüten mit den Rosenpflanzen stand, die in diesem Jahr zu gewinnen waren. Der betörende Duft der Madame Dubarry, einer dunkelroséfarbenen Damaszenerrose, erfüllte ihre Nase. Sie umarmte Fine und drückte ihr zwei Küsschen auf die Wangen.
»Wie viele Lose hast du gekauft?«
»Zehn. Die Lose gingen weg wie warme Semmeln. Wir sollten überlegen, ob wir im nächsten Jahr nicht hundert oder zweihundert mehr in Umlauf bringen.« Fine nestelte aus ihrer Hosentasche einen kleinen Beutel. »Da sind sie drin. Ich behalte sie schon mal in der Hand, kann ja nicht mehr lange dauern.«
»Oh, zut, meine sind zu Hause«, jammerte Louise und schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Ich hab sie vergessen. Sie liegen in der Obstschale auf dem Küchentisch. Ich hab sie erst heute Morgen auf den letzten Drücker gekauft und in die Hosentasche gesteckt. Weil es so heiß ist, hatte ich befürchtet, ich schwitze sie bei dem ganzen Hin- und Herfahren voll.«
»Ist doch nicht schlimm. Die Nummern, die sich jetzt nicht melden, werden doch veröffentlicht. Da kannst du morgen nachschauen, ob und was du gewonnen hast. Wie im letzten Jahr.«
»Stimmt, aber da waren meine Nummern nicht dabei. Letztes Jahr war ich keine Glückspilzin.«
Fine lachte schallend. »Eine Glückspilzin. Das hört sich aber nett an. Dann bist du eben in diesem Jahr eine.«
Momme trat zu ihnen, Renate hatte ihn zusammen mit Voltje am Stand abgelöst. Er küsste Fine mit einem dicken Schmatz.
»Gleich geht’s los. Frau Bürgermeister macht es dieses Mal aber spannend. Schaut nur, wie ungeduldig die Leute ihre Lose in den Händen halten. Ich hol uns was zu trinken, das kann noch eine Zeit dauern.«