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Ein Mädchenroman, so leicht wie der Sommer
Ann hat sich ihren ersten elternlosen Urlaub an der Nordsee eigentlich anders vorgestellt: Erst wird sie von ihrer besten Freundin versetzt, dann landet sie in einem Ferienlager auf einem kleinen Bauernhof. Gummistiefel statt Pferderomantik! Auf dem Karolinenhof freundet sich Ann schnell mit den anderen Mädchen und der verrückten Henne Gretel an, die sich als gute Beraterin in allen Lebenslagen erweist. Und dann ist da noch Justin, der Ann völlig aus dem Konzept bringt. Schließlich sind die romantischen Gänseblümchensträuße, die sie überall findet, von ihm, oder?
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Seitenzahl: 184
DIE AUTORIN
Foto: © Julia Breitenöder
Julia Breitenöder, geboren 1972 in Bonn, lebt mit ihrer Familie in Frankfurt am Main. Nach dem Studium der Sonderpädagogik, einem Au-pair-Jahr in Kairo und Um-die-Welt-Fliegen als Flugbegleiterin, ist sie heute da angekommen, wo sie schon immer hin wollte: beim Geschichtenschreiben.
Julia Breitenöder
Muschelherz
und
Sommerwind
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage 2015
Erstmals als cbj Taschenbuch August 2015
© 2015 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins
unter Verwendung eines Motivs von
© Shutterstock (Ponomarenko Nataly)
Lektorat: Julia Kniep
cl · Herstellung: ReD
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-15260-4
www.cbj-verlag.de
1
»Willkommen am Ende der Welt!«
Ende der Welt? Hatte ich die Ankunft verschlafen? Ich riss die Augen auf und schaltete den MP3-Player aus. Wo war der Hof? Ich sah nur Straße und ein Schild, um das meine Eltern kichernd herumsprangen. Einöde. »Warum halten wir hier?«
Meine kleine Schwester Mina machte eine eindeutige Handbewegung vorm Gesicht. »Die spinnen. Jetzt fotografieren sie schon Ortsschilder. Das wird bestimmt ein lustiger Urlaub!«
Ich rieb mir die Augen und stieg ebenfalls aus. Was war an diesem Schild so interessant? Jetzt sah ich, dass wir nicht völlig im Nirgendwo waren, hinter uns standen sehr wohl ein paar Häuser.
Meine Eltern waren voll und ganz mit Fotografieren beschäftigt.
»Willst du auch ein Bild, Ann?«
Als Mama zur Seite trat, erkannte ich den Grund für ihre Heiterkeit. Wir waren tatsächlich am Ende der Welt, das Schild bewies es. Der kleine Ort, der hinter uns lag, musste den klangvollen Namen »Welt« tragen, und hier wurde sein Ende angezeigt. Ich zückte mein Handy. Eine Nachricht von Mara! Sie hatte mir ein Foto von sich vor der Skyline Manhattans geschickt, dazu den Text: Morgensonne auf dem Empire State Building. Und selbst?
Wie passend. Ich aktivierte die Kamera und drückte Mama das Telefon in die Hand. Was für ein Gesicht machte man am Ende der Welt? Trübsinn oder strahlendes Lächeln? Ich entschied mich für eine Schnute, obwohl Mama mir mit »Ameisenscheeeeiiiißeeee!« ein Grinsen entlocken wollte.
Ich nahm ihr das Telefon wieder ab, tippte Ich? Am Ende der Welt. Wo sonst? und schickte das Foto über den großen Teich.
»Ein bisschen mehr Begeisterung könntest du schon zeigen«, sagte Papa und gab mir einen Knuff. »Schließlich haben wir uns nur für dich auf diese Reise gemacht. Du wolltest unbedingt her.«
Echt? »Aber mit Mara. Und ich wollte nicht mit euch zum Wandern. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr auch ans Meer fahrt, wäre ich vielleicht mitgekommen«, maulte ich.
»Einsteigen!« Papa hielt mir die Tür auf.
Mama drehte sich zu mir um. »Ich weiß gar nicht, warum du jetzt so motzig bist. Du wolltest elternlosen Urlaub, jetzt bekommst du elternlosen Urlaub. Und wir fahren ans Meer. Oder hast du erwartet, dass wir dich von Frankfurt an die Nordsee kutschieren, dann nach Österreich fahren, und nach einer Woche das Ganze wieder zurück? Wo bleibt da unsere Erholung?« Sie ließ den Sicherheitsgurt einrasten. »Und wandern kann man schließlich auch in Dänemark.«
Mina ließ unterdrückte Würgegeräusche hören und verdrehte die Augen. »Vielleicht bleibe ich bei dir auf dem Bauernhof.«
Urlaub mit kleiner Schwester? Vielleicht war das besser als ganz allein?
»Nix da. Du darfst noch ein paar Jahre mit uns Ferien machen«, erklärte Papa.
Mina schnitt eine Grimasse und quengelte los: »Ist es noch weit? Wie lange noch?«
Ich wollte gar nicht genau wissen, wann meine Familie mich auf einem Bauernhof am Ende der Welt aussetzen würde und schob mir schnell wieder den Kopfhörer auf die Ohren. Das Handy vibrierte. LOL! Du am Ende der Welt, ich mittendrin im Leben. Bild von Mara an einer Straße mit vielen Geschäften und noch mehr gelben Taxis. Hmpf. Wie sollte ich das toppen?
Ringsum plattes Land, Windräder und Schafe. Aber da! Ich hielt das Telefon an die Scheibe und versuchte, das Schaf abzulichten, das ganz allein auf einem kleinen Hügel stand und in die Ferne starrte. Das Ergebnis war annehmbar. Halte Ausschau nach neuen Abenteuern!, schrieb ich und drückte auf »Senden«. Der Warten-Kreis im Display drehte und drehte sich. Ich wartete auf das übliche »Pling!«. Vergebens. Kein Netz? Ich hielt das Handy hoch, nach links, nach rechts, ließ das Fenster runter und versuchte es draußen. Nichts. Mein Telefon erklärte mir, dass es die Nachricht im Moment nicht senden konnte.
»Menno! Hier ist wirklich das Ende der Welt«, jammerte ich. »Totales Funkloch!«
Papa deutete grinsend auf das Navi vorne an der Scheibe. Es zeigte ein kleines Auto mitten im Grünen, weit abseits jeder Straße. Ich zog die Hörer von den Ohren und sah aus dem Fenster. Eine Straße war das wirklich nicht mehr, eher ein befestigter Feldweg. Jetzt fiel mir auch auf, dass Mama eine Straßenkarte auf den Knien hatte.
»Wir durchfahren absolutes Neuland. Kein menschliches Wesen hat je seinen Fuß hierhin gesetzt«, verkündete Papa mit dumpfer Stimme.
»Dafür aber Schafe«, sagte Mina und deutete auf einen wollig weißen Fleck weiter vorne auf dem Weg.
Papa ging vom Gas und kam direkt vor dem Schaf zum Stehen, das sich keinen Millimeter bewegte und uns anstarrte.
»Ist das echt?«
»Ann, bist du blöd? Natürlich ist das echt! Und so süß!« Schon war Mina aus dem Wagen gesprungen und zum Schaf geeilt. Auch die plötzliche Kuschelattacke brachte es nicht aus der Ruhe. Es machte »Böööh!«, schüttelte den Kopf, wie um eine lästige Fliege loszuwerden, und ließ das Streicheln über sich ergehen.
»Das fühlt sich komisch an! Ganz fettig!«, rief Mina und drückte das Gesicht in die nicht sehr sauber aussehende Wolle. Brrrr!
Papa hupte. Das Schaf wackelte mit dem rechten Ohr.
»Schieb es weg!«, rief Papa Mina zu.
Die stemmte sich mit vollem Körpereinsatz gegen das Schaf, aber ihr neuer Freund bewegte sich nicht. Sie versuchte es mit Ziehen. Das Schaf wackelte mit dem linken Ohr. Ich kicherte.
»Fahr doch vorsichtig dran vorbei«, sagte Mama.
Papa deutete auf die wassergefüllten Gräben links und rechts neben der schmalen Straße und schüttelte den Kopf. Er hupte wieder, länger diesmal.
Mina hielt sich die Ohren zu, das Schaf blökte.
Jetzt stiegen auch Mama und Papa aus. Papa versuchte sich ebenfalls im Schafschieben, mit genauso wenig Erfolg wie Mina. Mama wedelte mit einem Käsebrot vor der Nase der vierbeinigen Straßensperre herum.
Ich schoss lachend ein Foto nach dem anderen von meiner mit dem Schaf kämpfenden Familie.
»Dann müssen wir eben umkehren«, sagte Papa.
»Aber das ist ein fürchterlicher Umweg!«, rief Mama. »Wir sind doch fast da! Hier muss irgendwo die Zufahrt sein.«
Hier irgendwo? Ich sah mich um. Hier war nichts! Gar nichts. Nichts außer ein paar windschiefen Bäumen und dem Schaf mitten auf der Straße. Weit hinten erkannte ich den grünen Deich.
»Das ist ein Zeichen!«, rief ich aus dem Fenster. »Es bedeutet, dass wir umkehren und alle zusammen nach Dänemark fahren sollen!«
Mama sah aus, als würde sie mir am liebsten an die Gurgel springen. Papa sagte nur: »Quatsch!«
Lautes Hupen verhinderte jede weitere Diskussion. »Können Sie Ihr Familienpicknick vielleicht woanders abhalten?«, rief ein Mann.
»Entschuldigung, das Schaf blockiert die Straße!«, antwortete Mama.
»Das ist Willibald!« Ein Mädchen sprang aus dem Auto hinter uns und lief zu dem Schaf. »Was tust du denn hier, du Döspaddel? Bist du das Begrüßungskomitee?« Sie wuschelte mit beiden Händen durch die Kopfwolle und klatschte in die Hände. »Husch! Lauf heim!«
Und tatsächlich drehte das Schaf sich ganz gemächlich um, wackelte mit dem Schwanz und trottete davon. Das Mädchen rannte zurück zum Auto und auch meine Familie stieg wieder ein.
Mina schnupperte an ihren Händen. »Das riecht gut, richtig schafig!« Der Duft waberte durchs ganze Auto, ich hielt mir die Nase zu. Das konnte ja heiter werden.
Papa fuhr im Schritttempo hinter dem Schaf her, das in der Mitte der Straße wanderte. Dann bog es rechts ab.
»Na endlich!« Papa wollte gerade Gas geben, als Mama ihn am Ärmel packte.
»Stopp! Wir müssen auch da rein!«
Tatsächlich! An einem Baum neben dem schmalen Weg, auf den das Schaf eingeschwenkt war, hing ein Schild:
Karolinenhof.
»Hihi, das ist ein Wegweiseschaf!«, kicherte Mina.
Papa zockelte weiter hinter dem Schaf her, das andere Auto mit dem Mädchen schlich hinter uns. Ich drehte mich um. Der Fahrer sah aus, als würde er am liebsten ins Lenkrad beißen und auf der Rückbank schienen zwei Personen zu sitzen. Auch ein jüngeres Geschwisterkind, oder musste die Glückliche nicht allein anreisen? Sie schien sich hier ja schon auszukennen.
Das Schaf trottete um eine Kurve und verfiel in einen holprigen Galopp.
Mit einem Seufzer erhöhte auch Papa die Geschwindigkeit.
»Fahr bloß nicht zu dicht auf!« Mama ließ das Schaf nicht aus den Augen. »Vielleicht bleibt es gleich wieder stehen.«
Aber das Schaf schien ein Ziel vor Augen zu haben, es erhöhte sein Tempo noch einmal. So erreichte unsere Karawane den Karolinenhof, der springende Willibald vorneweg, gefolgt von inzwischen drei Autos.
Hier würde ich also die nächste Woche verbringen. Während Papa einparkte, sah ich mich um. Ein großes, reetgedecktes Wohnhaus, daneben mehrere andere Gebäude, das große mit den Flügeltüren wahrscheinlich der Stall.
»Alles aussteigen!« Papa riss meine Tür auf.
Es roch nach Bauernhof. Und wie!
2
Mina sprang vor mir aus dem Auto und schnupperte. »Hmmm! Gute Landluft! Ich gehe zu Willibald!« Zuletzt hatte ich seinen weißen Po hinter dem Haus verschwinden sehen, Mina sprintete hinterher.
Aus dem roten Auto stiegen das Mädchen und ein Junge in meinem Alter. Geschwister? Zwillinge?
Das Mädchen rannte die Treppe zur Eingangstür hoch und warf sich in die Arme der Frau, die eben heraustrat.
»Imke! Ich hab euch so vermisst!«
»Moin Sonja! Schön, dass du wieder hier bist. Und Florian ist auch dabei. Hallo!«
Sie kam die Treppe herunter. »Moin! Ich bin Imke Sörensen. Und du bist … Ann oder Isabell?«
»Ann.«
Ihr Lachen ging übers ganze Gesicht, alles an ihr sah fröhlich aus, das Grübchen im Kinn, die strahlenden Augen und die sich lustig in alle Richtungen ringelnden Haare. Für einen Moment dachte ich nicht mehr an den Knoten, der sich in meinem Bauch gebildet hatte und grinste zurück.
»Schön, dass du bei uns bist, Ann. Du wohnst im Muschelherz.« Sie drehte sich um. »Sonja? Kannst du Ann das Zimmer zeigen?«
Das Mädchen, das am Kofferraum stand und mit dem Jungen die Köpfe zusammensteckte, nickte. »Klar. Komm mit!«
Sie nahm einen Rucksack und ein Paar Reitstiefel.
Ich griff nach meinem Koffer, blieb aber stehen und sah zu meinen Eltern. Imke bemerkte mein Zögern. »Geh nur. Ich zeige deiner Familie derweil den Hof. Du kannst dich verabschieden, wenn du deine Sachen abgestellt hast.«
Dann wandte sie sich dem dritten Auto aus unserer Schafkarawane zu, aus dem ein blondes Mädchen gestiegen war. Sie sah so unsicher aus, wie ich mich fühlte.
War dieser Koffer schwer! »Meine Klamotten müssen sich in Steine verwandelt haben«, keuchte ich. Meine Arme fühlten sich schon nach den paar Stufen hoch zum Haus völlig ausgeleiert an, und drinnen nahm Sonja Kurs auf eine sehr lange, sehr schmale Treppe. Schnaufend polterte ich hinter ihr die Stufen hoch.
»Sei froh, dass die Jungs die Zimmer unterm Dach haben, wir müssen nur in den ersten Stock«, sagte Sonja. Sie führte mich einen Gang entlang, an dessen Ende drei Türen lagen. Sandburg, Muschelherz und Badezone war auf bunten Schildern zu lesen. Sonja öffnete die rechte Tür und ließ mir den Vortritt ins Zimmer Muschelherz.
Ein Mädchen mit kurzen braunen Haaren hatte auf einem der Betten am Fenster gelegen und einer grauen Katze den Bauch gekrault, jetzt sprangen beide auf. Die Katze schoss zwischen unseren Beinen hindurch nach draußen, das Mädchen grinste uns an. »Hi. Ich bin Jette. Wohnt ihr auch hier?«
Ich nickte. Sonja marschierte an mir vorbei und warf ihren Rucksack auf das zweite Bett am Fenster. Jetzt waren nur noch die beiden neben der Tür frei.
»Klar wohne ich hier. Ich gehöre schon fast zur Einrichtung.« Sie streckte Jette die Hand hin. »Sonja. Das vierte Jahr in Folge auf dem Karolinenhof.«
Jette ergriff die Hand und schüttelte sie. »Das spricht dann wohl dafür, dass ich eine gute Urlaubswahl getroffen habe.«
Ich schob meinen Koffer auf das Neben-der-Tür-Bett auf Jettes Seite und winkte ihr zu. »Ich bin zum ersten Mal hier und heiße Ann.«
Durch das offene Fenster klang lautes Hupen. Sonja schaute hinaus. »Oh, mein Dad will fahren. Der war schon total genervt von Willibalds Trödelmarsch.« Kichernd rannte sie aus dem Zimmer.
»Ich geh mich auch mal von meinen Eltern verabschieden«, sagte ich.
»Ich komm mit runter. Dann können wir uns danach ein bisschen umsehen und sind nicht mehr ganz unwissend neben Sonja.«
Ich lachte. Der Knoten im Bauch hatte sich komplett aufgelöst. Warum hatte ich mir solche Sorgen gemacht? Die Ferien würden bestimmt toll werden.
Jette und ich sprangen die Stufen hinunter und fast zwei Jungen in die Arme, die mit ebenso viel Schwung auf dem Weg nach oben waren.
»Huch!«
»Hoppla!«
Ich sah strahlend blaue Augen unter braunen Haaren, dazu ein breites Grinsen und merkte, wie sich meine Lippen zu einem Lächeln verzogen.
»Sorry.«
»Ist ja nichts passiert.« Nette Stimme. »Geht es hier zum Storchennest?«
»Was wollt ihr denn im Storchennest?«, platzte Jette heraus, die gerade über einen heruntergefallenen Rucksack kletterte. »Habt ihr etwa kein Zimmer?«
Zweistimmiges Gelächter. Auch nett. »So heißt doch unser Zimmer!«
»Ach so!« Jette wurde rot.
Ich schaffte es, meinen zum Dauergrinsen erstarrten Mund zu bewegen. »Ich glaube, die Jungenzimmer sind ganz oben.«
»Danke! Bis später!« Die beiden lasen ihr Gepäck auf und sausten weiter hoch.
»Nicht schlecht.« Jette schnalzte mit der Zunge. »Ich fange an zu verstehen, warum Sonja immer wieder herkommt.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich möchte lieber die Tiere sehen.« Obwohl die blauen Augen wirklich ziemlich interessant gewesen waren, das musste ich ja zugeben.
Auf dem Hof war ein wildes Gewusel im Gange, noch mehr Autos fuhren vor, überall wurden Koffer ausgeladen, Eltern verabschiedet und Neuankömmlinge begrüßt. Mittendrin meine Schwester mit Schafbock Willibald, den sie stolz an einer Leine hielt. Wer da allerdings wen führte, ließ sich nicht genau sagen. Neben ihnen tollte ein schwarzer, zottiger Hund.
»Ann! Guck mal! Willibald und ich gehen Gassi! Und das ist Shaun! Sie ist ein Border-Collie-Mischling, aber sie denkt, dass sie ein Schaf ist, deswegen heißt sie Shaun. Und dann gibt es noch …«
»Nimmst du das Schaf jetzt mit?«, unterbrach ich sie.
Mina schob die Unterlippe vor. »Würde ich sofort, aber die erlauben es natürlich nicht!« Sie zeigte auf unsere Eltern, die neben dem Auto standen und in dem ganzen Gewimmel etwas verloren wirkten.
»Und ich wäre sehr traurig, wenn Willibald den Karolinenhof verlassen würde«, sagte Imke, die mit dem blonden Mädchen an uns vorbeilief. »Ann, Jette, das ist Isabell. Mit ihr ist das Muschelherz komplett. Wartet ihr kurz auf sie? Dann könnt ihr euch gemeinsam umsehen.«
»Ist gut.« Wir nickten.
»Mina, bring Willibald und Shaun einfach wieder auf die Weide. Leine ab, Tor fest zu. Okay? Und bald machst du auch hier Ferien.« Imke führte Isabell zum Haus und Minas Miene hellte sich schlagartig auf.
»Au ja, nächstes Jahr komm ich auch her! Bei Fuß, Willibald!« Sie zerrte das Schaf hinter sich her, Shaun umsprang sie schwanzwedelnd. Jette und ich sahen dem Trio nach.
»Komm, wir gucken kurz, wo die Schafweide ist. Bis Isabell wieder unten ist, sind wir auch zurück«, sagte Jette.
Also folgten wir dem wippenden Schaf- und dem wedelnden Hundeschwanz, die vorne um die Hausecke verschwanden. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Mina Willibald die Leine abnahm und ihn samt Shaun durch ein Holztor auf eine umzäunte Wiese schob.
»Sehr ausbruchssicher sieht das nicht aus«, meinte Jette.
»Ist es auch nicht.« Ich berichtete ihr von unserem ersten Treffen mit Willibald. Sie starrte mich an und prustete los. »Cool! Ein Wegweiseschaf! Und es hat auf dich gewartet! Das bedeutet mit Sicherheit etwas!«
»Und was?«, fragte ich gespannt.
Sie zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich noch nicht. Ich werde nachher das Kaugummi-Orakel befragen.«
Kaugummi-Orakel? Ob bei meiner Mitbewohnerin vielleicht ein Schräubchen locker war? Ein ausgebrochenes Schaf ein Zeichen? Ein Kaugummi-Orakel, das dieses Zeichen deutete? Ich kam mir vor wie im falschen Film.
Jette schien zu merken, dass ich nicht ganz überzeugt war. »Ich zeig’s dir später.«
»Okay.« Anschauen konnte ja nicht schaden, oder?
Mina kam zu uns geschlendert und schob ihre Hand in meine. Ich dachte an das fettige Schaffell und wollte meine Finger zurückziehen, griff dann aber beherzt zu. Wer wusste schon, welche Tiere ich in der nächsten Woche noch anfassen würde.
Wir bogen um die Ecke. Isabell stand auf dem Hof und sah sich suchend um. Ich wollte ihr winken, als ich einen Stoß in die Kniekehlen und einen Haufen Federn ins Gesicht bekam. Ich stolperte vorwärts, ließ Mina los und fuchtelte mit den Händen vorm Gesicht herum, um die Federn in Mund, Augen und Nase loszuwerden. Die Federn gackerten.
Hinter mir ein dumpfes »Plopp«, dann packten mich Hände am Arm, die flatternden Federn verschwanden und vor mir stand der Junge, der mit Sonja angereist war, unter dem Arm ein braunes Huhn. Er vergewisserte sich, dass ich sicher stand und trat einen Schritt zurück. Sicherheitsabstand?
»Tut mir leid. Hast du dir wehgetan?«
Ich schüttelte den Kopf. »Was ist denn überhaupt passiert? Das da«, ich zeigte auf das Huhn, »ist mir ja wohl ins Gesicht geflogen.« Ich drehte mich um. Hinter mir auf dem Boden stand, mit der Öffnung nach unten, ein großer Kübel, dahinter Mina und Jette, die vor Lachen heulten. Jette hob den Daumen. »Eins a!«, kicherte sie.
Jetzt wollte ich mitlachen! Ich bückte mich nach dem Kübel, aber der Jungen sprang vor und stellte einen Fuß drauf. »Lieber nicht! Hänsel hat gerade seine ungnädigen fünf Minuten. Er ist auf Gretel losgegangen, deswegen ist die ja auch …« Er nickte zu dem Huhn und obwohl er den Kopf senkte, konnte ich sehen, dass seine Mundwinkel zuckten.
»Mir ins Gesicht gesprungen«, vollendete ich den Satz. »Und er ist gegen meine Beine gekracht. Was für ein Tier ist Hänsel eigentlich? Ein Hängebauchschwein oder vielleicht ein feuerspeiender Drache?«
Er hob die Augenbrauen. »Wie kommst du denn darauf? Hänsel ist ein Hahn, ein ziemlich launischer Gockel. Wir wollten ihn eigentlich nicht rauslassen, er hat uns überrumpelt.«
Jetzt deutete er zu einem Holzhaus auf der linken Seite, vor dem Sonja ein paar Hühner hin und her scheuchte, die offensichtlich keine Lust hatten, sich einsperren zu lassen.
»Ich dachte nur … weil das Schaf ja auch mit einem Hund zusammenwohnt«, murmelte ich. Bestimmt sah mein Kopf aus wie eine Tomate. »Bleibt der jetzt da drin?«
»Den hol ich gleich wieder raus. Ich muss nur erst Gretel zurückbringen.«
»Die kann ich nehmen. Wir kennen uns jetzt ja schon.« Dieses Huhn sah total süß aus, und es ließ mich nicht aus den Augen.
»Wenn du willst.« Er drückte mir Gretel in den Arm. Sie drehte kurz den Kopf hin und her, dann kuschelte sie sich an mich.
»Ist das süß! Darf ich es streicheln?« Mina fuhrwerkte schon in den Federn herum, was Gretel gelassen ertrug. Der Junge hob vorsichtig eine Seite des Eimers an, griff darunter und zog einen schimpfenden und flatternden bunten Hahn hervor. Er hielt ihn so weit wie möglich von sich weg und ging zum Hühnerhaus. Ich wollte ihm folgen, als ich eine Hand auf der Schulter spürte.
»Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten«, sagte Papa. Oje! Die hatte ich ja total vergessen!
»Schön, dass ihr euch hier so wohlfühlt, aber wir müssen los.«
Also umarmte ich meine Eltern und Mina, während ich mit einer Hand Gretel umklammerte. Mina versuchte, mir meine neue geflügelte Freundin vom Arm zu ziehen, aber ich hielt fest.
»Pass auf dich auf und geh nicht direkt nach dem Essen ins Wasser. Vergiss nicht, dich einzucremen! Und …«
Papa schob Mama ins Auto, ließ sie noch einmal winken und warf dann die Tür zu.
Jetzt erinnerte ich mich wieder, warum ich einen elternlosen Urlaub gewollt hatte.
Jette strich Gretel mit einem Finger über den Kamm. »Meine sind genauso. Allerdings haben sie mich schon mittags hier abgesetzt, inzwischen konnte ich mich von der Ermahnungslawine erholen.«
Ich nahm Gretel wieder in beide Arme und sah unserem Auto hinterher, das flott vom Hof rollte. Kein Knoten im Magen, keine in den Augen kitzelnden Tränen. War ich glücklich? Ganz allein auf einem Hof mit seltsamen Mitbewohnern und merkwürdigen Tieren? Es fühlte sich zumindest schwer danach an.
3
Nachdem wir uns nicht mehr in der Nähe wilder Tiere befanden, traute sich auch Isabell zu uns. Sie musterte Gretel misstrauisch. »Beißt die?«
Entrüstet schüttelte ich den Kopf, während Jette mit todernstem Gesicht erklärte: »Heute hat sie ihr Gebiss im Stall vergessen. Aber sonst musst du echt aufpassen, diese Hühnerzähne sind mörderisch scharf.«
Ich drückte Gretel fester an mich. Sie reckte den Kopf, rieb ihn an meiner Schulter und sah mich nachdenklich an. »Sie mag mich«, verkündete ich. »Und ich bin sicher, sie versteht jedes Wort.«
»Boak!«, bekräftigte Gretel meine Vermutung.
»Klasse. Vielleicht bringst du sie trotzdem wieder nach Hause, dann können wir endlich unseren Rundgang starten. Sonst werden wir vorm Abendessen nicht mehr fertig«, sagte Jette und schob mich sanft, aber unerbittlich Richtung Hühnerstall.
Sonja und dem Jungen war es inzwischen gelungen, alle Hühner wieder einzusperren. Hänsel stolzierte mit hoch erhobenem Kopf durch das Gehege und schien seine Mädels zu zählen. Gretel ließ ich über den Zaun flattern, nicht, dass noch mal die komplette Hühnerschar ausbrach.
Ich verabschiedete mich von meiner gefiederten Freundin, dann zog ich das Handy aus der Tasche. Immer noch kein Netz! Trotzdem machte ich ein Bild von Gretel. Ich konnte es ja später an Mara schicken.
»Hast du hier etwa Empfang?«, fragte Jette.
Ich schnaufte. »Keine Spur.«
»Ich auch nicht«, sagte Isabell. »Der Karolinenhof liegt wohl mitten in einem gigantischen Funkloch. Eine Woche Urlaub in der Steinzeit.« Sie seufzte. »Vielleicht gibt es irgendwo eine Buschtrommel? Oder eine Telefonzelle?«
Obwohl ich ähnliche Gedanken hatte, musste ich lachen. »Ach was!« Irgendwann, irgendwie würde es Empfang geben, ganz sicher. Dann konnte ich Mara ein ganzes Fotoalbum vom Ende der Welt schicken. Ich machte noch ein Gretel-Portrait-Foto, dann starteten wir unsere Entdeckungstour.