Mythen der Monster 1: Medusa - Katherine Marsh - E-Book

Mythen der Monster 1: Medusa E-Book

Katherine Marsh

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Beschreibung

Ava ist klug, rebellisch, mutig – und ein mythologisches Monster!  Eigentlich hat Ava gelernt, ihre Wut zu kontrollieren. Doch ein einziger Ausbruch ändert alles: Ihr Mitschüler verwandelt sich in Stein! Avas Mutter reagiert sofort und schickt sie nach Venedig auf die Accademia del Forte, ein Internat für Kinder mit besonderen Fähigkeiten. Der plötzliche Schulwechsel tut Ava gut. Hier ist sie keine Außenseiterin mehr – und das Beste: Es gibt Doppelstunden in griechischer und römischer Mythologie! Als Ava erfährt, dass sie von der schlangenhaarigen Medusa abstammen soll, ist sie schockiert. Ava will kein Monster sein! Zum Glück ist das Internat genau der richtige Ort, um zu lernen, ihre magischen Kräfte und Emotionen zu beherrschen. Allerdings haben nicht alle das Wohl der Schüler und Schülerinnen im Sinn. Zusammen mit ihrer Freundin Fia versucht sie, den geheimen Machenschaften der Accademia del Forte auf die Spur zu kommen. - Einzigartige Mischung: Spannende Kombination aus griechischer Mythologie und moderner Internatsgeschichte  - Moderner Blick auf griechische Wesen: Furien, Drachenfrauen, Nymphen, Chimären - bei dieser Fantasy-Buchreihe dreht sich alles um die weiblichen Monster der griechischen Mythologie!  - Unabhängig voneinander lesbar: Inspirierende Heldinnen und wechselnde Monster in jedem Buch »Ein rasantes Abenteuer – mit einer frischen Neuinterpretation beliebter mythologischer Motive!« - Kirkus Reviews   »Es ist ein einziges Vergnügen, in Katherine Marshs Medusa einer so furchtlosen Heldin wie Ava zu begegnen!« - New York Times Book Review  »Der Start einer einzigartigen feministischen Fantasy-Serie, angesiedelt in unserer heutigen Welt!« - Publishers Weekly (Sternchenrezension) Ava entdeckt Medusas Erbe: Spannende Academy-Fantasy für Mädchen und Jungen ab 10 Jahren 

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Katherine Marsh

Mythen der Monster - Medusa

Aus dem Englischen von Jennifer Michalski

Ava ist klug, rebellisch, mutig – und ein mythologisches Monster!

Eigentlich hat Ava gelernt, ihre Wut zu kontrollieren. Doch ein einziger Ausbruch ändert alles: Ihr Mitschüler verwandelt sich in Stein! Avas Mutter reagiert sofort und schickt sie nach Venedig auf die Accademia del Forte, ein Internat für Kinder mit besonderen Fähigkeiten. Der plötzliche Schulwechsel tut Ava gut. Hier ist sie keine Außenseiterin mehr – und das Beste: Es gibt Doppelstunden in griechischer und römischer Mythologie! Als Ava erfährt, dass sie von der schlangenhaarigen Medusa abstammen soll, ist sie schockiert. Ava will kein Monster sein! Zum Glück ist das Internat genau der richtige Ort, um zu lernen, ihre magischen Kräfte und Emotionen zu beherrschen. Allerdings haben nicht alle das Wohl der Schüler und Schülerinnen im Sinn. Zusammen mit ihrer Freundin Fia versucht sie, den geheimen Machenschaften der Accademia del Forte auf die Spur zu kommen.

Eine tolle Kombination aus griechischer Mythologie und moderner Internatsgeschichte – und ein Fantasy-Abenteuer zum Mitfiebern!

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In Erinnerung an Orli Wildman Halpern, die mit ihrer Stimme die Welt veränderte.

 

Eigentlich wollte Ava Baldwin die Beherrschung nicht verlieren. Aber Owen King hatte es verdient.

Gleich in der ersten Woche des siebten Schuljahrs nahm das Unheil seinen Lauf. Als Teil ihrer Unterrichtseinheit zu Griechischer Mythologie sollten sie einen Aufsatz über eine selbst gewählte Gottheit schreiben. Ava liebte Mythologie und hatte sich schon eine Göttin ausgesucht. In ihrem Jahrgang war sie die Zweitkleinste – eigentlich sogar die Kleinste, wenn sich ihre unbändigen braunen Locken nicht ständig aus dem festen französischen Zopf lösen würden –, also reckte sie die Hand extra weit nach oben, damit Miss Greenberg sie sah.

»Ava?«, rief Miss Greenberg sie auf.

»A…«

Doch ehe sie den Namen aussprechen konnte, platzte Owen dazwischen: »Athene!«

»Heißt du Ava?«, fragte Miss Greenberg ihn.

»Ja, Miss Greenberg«, antwortete Owen mit hoher, quietschiger Stimme, die kein bisschen klang wie die von Ava.

Die Klasse lachte. Owen natürlich auch. Selbst Isabelle und Evelyn kicherten. In der Grundschule waren sie Avas beste Freundinnen gewesen. Sie hatten zusammen Geschichten geschrieben und von ihren Lieblingsbüchern geschwärmt. Aber in der Sechsten hatten die beiden sich verändert. Statt über Abenteuer und Magie zu reden, kannten sie nur noch ein Gesprächsthema: die Coolen aus der Klasse. Außerdem waren sie ständig mit ihren Handys beschäftigt. Ava traf sich zwar weiter mit ihnen, aber es machte nicht mehr so viel Spaß wie früher. Die beiden bezogen sie kaum mehr mit ein, sondern duldeten sie nur noch, und kurze Zeit später hatte sich auch das erledigt. Irgendwann im Frühling hatten sie Ava schließlich versetzt, um im Einkaufszentrum mit einer großen, lauten Gruppe von Leuten abzuhängen, darunter einige Pärchen.

Owen, mit seinen blonden Haaren und funkelnden blauen Augen, gehörte auch zu den Coolen. Er ließ die Mädchen fast nie ausreden und riss dauernd dumme Witze. Trotzdem schienen ihn alle zu mögen – selbst die Lehrkräfte.

Ava setzte ein gezwungenes Lächeln auf, als fände sie seine Nachahmung lustig, aber in ihr brodelte es. Sie versuchte, tief durchzuatmen, wie ihre Mom es ihr beigebracht hatte. Einatmen, zwei, drei …

»Athene ist einfach krass«, plapperte Owen drauflos, als hätte er Miss Greenbergs Ermahnung, dass er nicht dran war, überhört. »Ich meine, alle sind total begeistert von Zeus und Poseidon und den anderen Typen. Dabei ist sie superstark. Und das als Frau.«

Ava hatte sich aus einem ähnlichen Grund für Athene entschieden: Sie war die einzige Göttin, die ähnlich mächtig und interessant war wie die männlichen Götter. Aber das konnte Ava jetzt schlecht auch sagen. Ausatmen, vier, fünf.

»Mir gefällt deine Denkweise, Owen«, erwiderte Miss Greenberg. »Es sollten viel mehr Jungs Geschichten über starke Frauen … und Göttinnen lesen.«

Ava gab das tiefe Atmen auf und drückte empört den Rücken durch. Hatte Miss Greenberg schon vergessen, dass »Frauenpower-Owen« sie übergangen hatte? Owens selbstzufriedenes Grinsen stachelte ihre Wut weiter an.

»Dann darf ich also über Athene schreiben?«, fragte er.

Ehe Ava sich bremsen konnte, rief sie: »Miss Greenberg! Ich wollte auch Athene nehmen!«

»Ava, denk daran, dich zu melden.«

Wie bitte??? Das war total unfair! Owen hatte sich auch kein einziges Mal gemeldet. Ava hatte die Hand schon halb gehoben, um sich darüber zu beschweren, als sie sah, wie Isabelle die Augen verdrehte und Evelyn etwas zuflüsterte.

Letzten Frühling, nachdem Ava Isabelle getextet hatte, um die Sache damals mit ihr zu klären, hatte die zurückgeschrieben: Du bist immer total drüber. Das ist voll anstrengend. War sie jetzt gerade auch drüber? Was würden die anderen an ihrer Stelle tun? Isabelle fand Owens Begeisterung für Athene bestimmt »süß«. Und Evelyn würde sich einfach eine andere Gottheit aussuchen, als wäre das Ganze halb so wild. Ava ließ die Hand wieder sinken.

»Wie wäre es denn, wenn ihr beide, also du und Owen, über sie schreibt? Es gibt ja nur zwölf große Gottheiten, das heißt, es kommen ohnehin immer zwei Leute auf eine. Dann seid ihr zwei eben unsere Experten für Athene.« Miss Greenberg lächelte sie an, als wäre das eine großartige Lösung.

Ava fand sie überhaupt nicht großartig, vor allem nicht für die Mädchen, die jetzt enttäuscht seufzten, weil sie offenbar auch über Athene hatten schreiben wollen. Damit gab Miss Greenberg Owen den Vortritt. Aber vermutlich war es nicht so schlau, einer Lehrerin zu widersprechen. Besonders in der ersten Schulwoche.

»Für mich ist das okay«, sagte Owen, obwohl ihn kein Mensch gefragt hatte.

»Ava?«, hakte Miss Greenberg nach.

Ava ließ den Blick durch das Klassenzimmer schweifen. Außer ihr schien sich niemand aufzuregen. Olivia und Sophia, zwei der Mädchen, die gern Athene gehabt hätten, tuschelten miteinander. Wahrscheinlich besprachen sie schon, wen sie sonst nehmen sollten. Isabelle trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch, als würde sich das alles wegen Ava unnötig in die Länge ziehen.

»Klar«, antwortete sie daher. Insgeheim war sie allerdings immer noch sauer.

»Wunderbar!«, flötete Miss Greenberg. »Ava, dein Bruder hat sich damals auch für Athene entschieden. Ich kann mich noch genau an seinen Aufsatz erinnern. Er war sehr originell.«

Wieder setzte Ava das gezwungene Lächeln auf, als wäre es eine Ehre, zum hunderttausendsten Mal mit Jaxon verglichen zu werden – dem Einstein, der seit dem Kindergarten überall Preise abstaubte. Sämtliche Lehrkräfte, die ihren Bruder unterrichtet hatten, erwarteten von ihr ebenfalls perfekte Noten und waren dann enttäuscht, wenn sie sie nicht erreichte. Als Ausgleich versuchte sie, sich gut zu benehmen – was ihre Mom für genauso wichtig hielt. Aber das war in der Mittelstufe, wo es oft ziemlich ungerecht zuging, gar nicht so leicht.

Am Ende des Schultags hatte Ava noch eine Bibliotheksstunde, die sie normalerweise am liebsten mochte. Die Mittagspausen verbrachte sie nach wie vor mit Isabelle und Evelyn. Von den beiden ignoriert zu werden war weniger schlimm, als ziellos mit dem Tablett durch die Cafeteria zu wandern oder allein zu sitzen, wohingegen sie in der Bibliothek einfach ungestört die Nase in die Bücher stecken konnte. Heute aber suchte die ganze Klasse Nachschlagewerke für ihre Aufsätze über die Gottheiten. Zu allem Übel erfuhren sie von Miss Sanchez, der Bibliothekarin, dass die guten schon von den anderen Klassen entliehen waren.

Im Online-Katalog fand Ava trotzdem noch ein verfügbares Buch über Athene: Die Göttin der Helden. Mit vorsichtigem Blick auf Miss Sanchez, die Rennen nicht ausstehen konnte, düste sie im Laufschritt quer durch die Bibliothek zur Abteilung für Religion und Mythologie. Dort angekommen fiel ihr siedend heiß ein, dass sie die Seite mit den Suchergebnissen nicht geschlossen hatte. Sie schaute sich um. Owen stand vor dem Computer.

Ava hatte sich kaum einen ersten Überblick über das Regal verschafft, da ermahnte Miss Sanchez ihn schon, nicht so zu rennen. Hastig überflog Ava die Kennnummern – 292.13TA, 292.13TE –, bis sie Die Göttin der Helden schließlich in der obersten Reihe entdeckte. Gerade als sie den Arm ausstreckte, griff jemand an ihr vorbei und schnappte sich das Buch.

»He!« Sie fuhr herum. »Gib mir das zurück!«

Unschuldig hob Owen die freie Hand. »Was denn?«

Avas Wangen brannten. »Du weißt genau, was!«

»Also ehrlich, Ava. Ist doch nur ein Buch. Du kannst es haben, wenn ich fertig bin«, meinte er.

Er klang ruhig und vernünftig. Sie würde garantiert nicht so klingen, wenn sie jetzt den Mund aufmachte. Die Worte würden aus ihr heraussprudeln. Sie hasste es, wenn sie kurz davor war, vor aller Augen zu explodieren. Die anderen sahen schon her, auch Isabelle und Evelyn. Ava musste sich zusammenreißen, aber den Punkt, langsam bis zehn zu zählen, hatte sie längst verpasst.

Also stellte sie sich vor, sie wäre im Schwimmbad. Ihre Mom hatte ihr das Schwimmen beigebracht, kurz nachdem sie laufen gelernt hatte. Und letzten Frühling, als Evelyn nicht mehr auf ihre Nachrichten geantwortet und Isabelle eine Übernachtungsparty ohne sie organisiert hatte, hatte ihr nur das Schwimmtraining geholfen, sich besser zu fühlen. Heute allerdings trieb ihr der Gedanke an Wasser die Tränen in die Augen. Oh nein, dachte sie, jetzt fang ich auch noch an zu heulen.

»Alles okay, Ava?«, fragte Isabelle eine Spur genervt.

Die eigentliche Botschaft war offensichtlich: Ava war wieder mal drüber und machte sich lächerlich. Owen zuckte mit den Achseln, als hätte er nichts damit zu tun. Ava wollte nur noch weg, aber die anderen starrten sie an und warteten auf eine Antwort von ihr.

»Alles super«, murmelte sie. »Es ist nur …«

»Entspann dich, Ava«, unterbrach Owen sie. »Ist doch keine große Sache.«

Bumm. In Ava explodierte die aufgestaute Wut. Zorn pulsierte durch ihren Körper, von der Kopfhaut bis in die Zehen. Sie spannte die Muskeln an und trat einen Schritt auf Owen zu, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet.

»Ich habe es zuerst gefunden!«, brüllte sie. »Von wegen keine große Sache. Für mich ist das eine große Sache, wenn du mir das Buch einfach vor der Nase wegschnappst!«

Ihre Stimme zitterte, und über ihren Brauen sammelte sich der Schweiß. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich ihre krausen Locken kringelten und in alle Himmelsrichtungen abstanden. Aber es war Ava egal, wie sie aussah oder was ihre ehemaligen Freundinnen dachten. Böse funkelte sie Owen an. Der hatte den Mund aufgerissen, starrte jedoch nur erstaunt aus hellblauen Augen zurück.

Da bog Miss Sanchez um die Ecke. »Ava Baldwin, was ist hier los? Das ist keine angemessene Lautstärke …«

Sofort verpuffte Avas Wut und machte einem schlechten Gewissen Platz. Würde Miss Sanchez jetzt ihre Mom anrufen? Sie hatte noch nie Ärger in der Schule gehabt. Kleinlaut schaute sie zu Boden. »Owen hat mir …«

»Ist er okay?«, unterbrach Isabelle.

Ava hob den Blick. Owen rührte sich nicht und glotzte sie nur weiter stur an.

»Owen!«, sprach Miss Sanchez ihn an.

Er antwortete nicht. Ava wartete auf ein Zucken seiner Mundwinkel oder Wimpern, doch er zeigte keinerlei Regung.

Miss Sanchez trat vor ihn und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. Bestimmt würde er gleich in Gelächter ausbrechen oder »Ha! Reingefallen!« rufen. Aber er blinzelte nicht mal.

Sabber rann ihm übers Kinn.

»Isabelle, hol den Sanitätsdienst, schnell!«, befahl Miss Sanchez. »Sag ihnen, Owen King hat einen epileptischen Anfall.« Sie steckte ihm die Finger in den offenen Mund, um seine Zunge runterzudrücken.

»Damit er nicht daran erstickt«, erklärte Sophia, deren Mutter Ärztin war.

Spätestens jetzt hätte Owen normalerweise dieses lächerliche Schauspiel beendet und losgeschrien – allein der Gedanke an Miss Sanchez’ rot lackierte Nägel auf der Zunge war ekelig –, aber er starrte weiter ins Leere.

Panik überkam Ava. »Das war ich nicht … Ich hab ihm nichts getan …«

»Natürlich nicht!«, erwiderte Miss Sanchez schroff.

»Ich war einfach sauer …«

»Ava, du kannst nichts dafür. Setz dich in die Leseecke! Das gilt für euch alle!«

Eilig befolgte Ava die Anweisung. Klar, es war nicht ihre Schuld. Darum ging es ja auch nicht. Trotzdem würde sich der Vorfall wie ein Lauffeuer an der Schule verbreiten. Aggro-Ava, die ständig Tobsuchtsanfälle bekam – wer würde jetzt noch neben ihr sitzen oder mit ihr befreundet sein wollen? Sie schaute Evelyn an und suchte in ihrem Blick nach einem Funken Mitgefühl, aber Evelyn drehte sich nur demonstrativ weg. Noch nie hatte sich Ava so einsam gefühlt.

 

Nach der Schule wartete Ava nicht auf Jax, wie sie eigentlich sollte, sondern rannte allein nach Hause. Als sie durch die Tür platzte, telefonierte ihre Mom gerade.

»Auf keinen Fall!«, sagte sie so energisch, wie Ava es noch nie erlebt hatte. »Sind Sie sicher, dass sie …«

Oh nein. So, wie ihre Mom reagierte, war es bestimmt jemand von der Schule – wahrscheinlich Mr Chu, der Direktor, der sie über das heutige Desaster informierte. Am Ende hatten zwei Leute vom Rettungsdienst Owen auf einer Trage in den Krankenwagen verfrachtet. Was, wenn er auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben war und die Polizei sie nun verhaftete? Ava musste unbedingt … ja, was? Sich stellen? Würde sie dafür ins Gefängnis kommen? Was hatte sie eigentlich getan? Ihr entfuhr ein ängstliches Wimmern.

Ihre Mom blickte auf, bedeutete ihr mit erhobenem Finger, kurz zu warten, und fuhr fort: »Okay, okay. Verstehe. Ich muss jetzt Schluss machen.«

Sie legte auf und trat zu Ava. »Hey, alles in Ordnung mit dir?« Sie klang angespannt, und ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst. Aber was erwartete man auch nach einem Anruf vom Direktor? Normalerweise sah Avas Mutter immer tadellos aus, mit glatt geföhnten und straff zusammengebundenen Haaren. Niemand außerhalb der Familie käme je auf die Idee, sie könnte genauso eine Lockenmähne haben wie ihre Tochter. Zusätzlich zu ihrer Angst um Owen hatte Ava nun auch noch ein schlechtes Gewissen, weil sie ihrer Mom so viel Kummer bereitete.

»Verhaften sie mich jetzt?«, fragte sie matt.

»Dich verhaften?« Ihre Mom hob eine Augenbraue. »Wovon redest du?«

Ava war verwirrt. Tat ihre Mom nur so, als wüsste sie nicht Bescheid?

»Wen meintest du denn mit ›sie‹ am Telefon?«, hakte Ava nach.

»Ach, das.« Ihre Mom strich sich die losen Strähnen aus dem Gesicht. »Damit meinte ich eine der anderen Mütter. Unstimmigkeiten im Elternrat.«

Bevor ihre Mom Ava und ihren Bruder bekommen hatte, war sie Sozialarbeiterin gewesen. Sie hatte den Job geliebt, sagte aber immer, sie hätte nicht genügend Zeit, um ihn wieder aufzunehmen. Wenn sie nicht gerade putzte, kochte oder Ava und Jax von A nach B fuhr, engagierte sie sich ehrenamtlich im Elternrat. Bei ihr landeten meistens die undankbarsten Aufgaben, zum Beispiel das Adressieren der Einladungen für die Schulauktion, denn sie konnte nur schwer Nein sagen, was ihr sehr wohl bewusst war.

»Ach so.« Ava atmete auf. »Ich dachte, es wäre Direktor Chu. Oder die Polizei.«

»Ist in der Schule was passiert?«, fragte ihre Mom.

»Es war nicht meine Schuld, ich kann alles erklären«, verteidigte Ava sich sofort. Sie zog ihre Mom auf die Couch und erzählte ihr die ganze Geschichte. Dabei versuchte sie, ihr klarzumachen, wie schrecklich das Ganze gewesen war, aber ihre Mom schien das alles gar nicht so sehr zu beunruhigen wie sie. »Mhm, mhm«, sagte sie bloß, als wäre sie mit den Gedanken völlig woanders – vielleicht noch beim Elternrat.

»Ich hätte nicht so ausrasten dürfen, aber ich konnte nichts dagegen tun«, sagte Ava.

»Hast du es mit der Atemübung probiert, die ich dir gezeigt habe?«, fragte ihre Mom.

»Die hat nichts gebracht«, erwiderte Ava. »Woher sollte ich auch wissen, dass er direkt einen Anfall oder so was kriegt? Was, wenn er sich nicht davon erholt und alle sauer auf mich sind?« Schluchzend warf sie sich in die Arme ihrer Mutter.

»Ach, Ava.« Ihre Mom strich ihr sanft über die Locken. »Es geht ihm bestimmt schon besser. Ich habe die Nummer von Mrs King, seiner Mutter. Soll ich sie mal anrufen?«

Ava nickte mit tränennassen Wangen. Ihre Mom stand auf und ging zum Telefonieren in die Küche, während Ava das Gesicht in der Couch vergrub und überlegte, was schlimmer wäre: ins Gefängnis oder wieder zur Schule zu müssen.

»Wie schön, dass er wohlauf ist«, hörte sie ihre Mom sagen. »Kein Anfall? Ein Glück. Trotzdem: Armer Junge. Wahrscheinlich hat er nur zu wenig getrunken. Ava vergisst ihre Wasserflasche auch dauernd.«

Erleichtert stieß Ava die Luft aus. Wenigstens würde man sie nicht mit anderen Verbrecherkids zusammen wegsperren. Wobei es nach diesem Vorfall vermutlich einfacher wäre, sich einen Freundeskreis im Gefängnis aufzubauen als in der Schule.

»Ava macht sich Vorwürfe«, sagte ihre Mom gerade und lauschte der Antwort. »Das ist mir auch klar, aber Sie wissen ja, wie Kinder sind. Sollen wir vielleicht heute Abend etwas zu essen vorbeibringen?«

Ava fuhr auf. Da Owens Leben nun doch nicht in Gefahr war, kehrte ihre Wut zurück. Er hatte sie geärgert – warum sollte sie sich da um sein Abendessen kümmern? Morgen in der Schule würden ihn eh alle bemitleiden. Sie war diejenige, die man mit dem Vorfall nicht in Ruhe lassen würde.

»Dann vielleicht ein andermal«, sagte ihre Mom.

Ava lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Glück gehabt.

»Es geht ihm gut«, berichtete ihre Mom, zurück im Wohnzimmer. »Er kommt morgen wieder in die Schule.«

In dem Augenblick platzte Jax ins Haus und steuerte geradewegs auf Ava zu. Er war groß und schlaksig wie ihr Dad, hatte aber die gleichen wirren Haare wie Ava und ihre Mom. »Vielen Dank fürs Warten«, knurrte er sarkastisch. »Und für die nette Nachricht. Oh, Moment, du hast ja keine geschrieben!«

»Jax! Sei nicht so. Ava hatte einen blöden Tag«, rief ihre Mom ihn zur Ordnung.

»Den hatte ich auch«, erwiderte Jax. »Bei der Extra-Hausaufgabe für meinen Geometrie-Zusatzkurs habe ich nur fünfundneunzig Prozent erreicht!«

»Wie schrecklich!« Ava tat schockiert. »Jax könnte eine Eins statt einer Eins plus kriegen.«

»Quatsch! Ich bekomme trotzdem eine Eins plus«, widersprach Jax lässig. Seit er die Highschool besuchte, weigerte er sich, auf Avas Provokationen einzusteigen. »Und was war bei dir los?«

»Geht dich nichts an«, antwortete Ava.

Ihre Mom sprang auf. Bestimmt ermahnte sie sie jetzt, nicht immer zu streiten. Stattdessen fragte sie: »Wie wärs mit einer heißen Schokolade? Ich glaube, ich habe noch ein paar Mini-Marshmallows da.«

»Ähm, klar, gerne«, stimmte Ava verwundert zu. Sie hatten August und draußen waren es fast siebenundzwanzig Grad, aber zu einer heißen Schokolade, vor allem mit Marshmallows, würde sie nie Nein sagen.

Ihre Mom lief in die Küche und Jax setzte sich zur Antwort neben Ava auf die Couch. Mit einer heißen Schokolade in Aussicht verzieh Ava ihrem Bruder sogar, dass er fies zu ihr gewesen war, und erzählte ihm von Owen. Sie war gerade am Ende der Story angelangt, als ihre Mom ein Tablett mit heißer Schokolade und einem Teller aufgetauter Weihnachtsplätzchen hereintrug.

»Plätzchen? Zu dieser Jahreszeit?«, bemerkte Jax, stopfte sich aber trotzdem ein paar in den Mund.

»Wenn man einen blöden Tag hatte, sind Plätzchen immer gut«, entgegnete ihre Mom.

»Morgen wird es garantiert noch schlimmer.« Ava fischte finster nach einem Marshmallow. »Jetzt haben es alle auf mich abgesehen. Owen ist schließlich einer der beliebtesten Schüler in der Stufe.«

»Hier ruht Ava«, verkündete Jax feierlich. »Gesellschaftlich zum Tode verurteilt.«

»Jax!« Sie verpasste ihm einen Stoß in die Rippen. Er tat so, als würde er an seinem Plätzchen ersticken.

»Könnt ihr nicht mal für einen Moment ernst bleiben, ihr zwei?«, sagte ihre Mom.

»Das ist mein Ernst. Ich kann nicht zurück zur Schule«, erwiderte Ava.

»Lass dich doch von anderen Leuten nicht so auf die Palme bringen«, sagte Jax.

»Ich hätte mich ja gar nicht aufgeregt, wenn Owen nicht so ein Kotzbrocken gewesen wäre.«

»Darum geht es nicht«, mischte sich ihre Mom ein. »Menschen wie Owen wird es immer geben – Jungs, die ihren Einfluss nutzen, um Mädchen kleinzumachen. Trotzdem darfst du den Kopf nicht verlieren.«

Ava schaute von ihrer Mom zu ihrem Bruder. »Ihr denkt also, ich sollte einfach nachgeben?«

»Sich zu beherrschen, heißt nicht, dass man nachgibt«, widersprach ihre Mom.

»Sondern?«

»Dass man nicht von der Gesellschaft ausgestoßen wird«, warf Jax ein.

»Bei dir ist es dafür schon zu spät«, blaffte Ava.

»Das reicht, ihr beiden! Das hier ist wichtig …«

Die Stimme ihrer Mom bebte. Avas Überraschung spiegelte sich auch auf Jax’ Gesicht wider. So emotional klang sie selten.

»Alles okay?«

»Klar«, sagte ihre Mom schniefend, lächelte aber dabei. »Es ist nur … Ihr werdet so schnell erwachsen und …« Sie zögerte, als suchte sie nach den richtigen Worten. »Ich will nicht, dass ihr euch in Gefahr bringt.«

»Was für eine Gefahr denn?«, fragte Ava.

Doch statt zu antworten, schloss ihre Mom sie in die Arme.

»Mom!« Jax sträubte sich dagegen. »Ich muss Hausaufgaben machen.«

Er schnappte sich noch ein letztes Plätzchen und zog sich in sein Zimmer zurück. Doch Ava kuschelte sich an ihre Mutter. »Die Sechste war ätzend genug. Ich will nicht, dass es in der Siebten so weitergeht. Am liebsten würde ich noch mal ganz von vorn anfangen.«

Ihre Mom strich ihr die Haare aus dem Gesicht und küsste sie auf die Stirn. »Es wird schon alles gut werden.«

Aber es klang eher flehend als ermutigend.

 

An diesem Abend fiel es Ava schwer einzuschlafen. Als es schließlich doch klappte, träumte sie, wie sie ziellos mit einem Tablett durch die Cafeteria der Schule irrte, weil niemand neben ihr sitzen wollte. Gleichzeitig schrumpfte sie und wurde so klein, dass Owen sie am Ende zertrampelte. An der Stelle schreckte sie aus dem Schlaf hoch. Allein beim Gedanken an die Schule war ihr ganz elend zumute. Die Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen des Rollos drangen, waren verdächtig hell, und der Wecker zeigte kurz vor neun an. Hatte ihre Mom sie zu Hause bleiben lassen? Eher unwahrscheinlich.

Sie tapste nach nebenan zu Jax. Bestimmt waren seine Rollos schon oben und das Bett leer. Aber nein, er schlummerte noch tief und fest. Was war hier los? Bei einem Stromausfall würden die Zahlen auf ihrem Wecker blinken. Und ihre Eltern schliefen nie so lange.

»Jax!« Sie rüttelte ihn wach.

»Wa…?«, murmelte er und schob ihre Hand weg.

»Es ist neun Uhr!«

Er fuhr hoch und warf einen Blick auf den Nachttisch. »Was ist mit meinem Handy passiert?«

»Keine Ahnung.«

»Ich habe doch den Wecker gestellt. Heute steht ein Biotest an!«

Er stürmte die Treppen hinunter, seine Haare standen nach allen Seiten ab. Ava sprintete hinter ihm her. »Mom! Dad!«, brüllte er. »Wo ist mein Handy? Warum habt ihr mich nicht geweckt?«

Ihre Mom war schon angezogen und hatte sich die Haare ordentlich geföhnt. Unter ihren Augen aber zeichneten sich dunkle Ringe ab, als hätte sie nicht viel geschlafen. Sie machte keine Anstalten aufzustehen, sondern schlürfte weiter ihren Kaffee an der Frühstückstheke. Avas Dad war auch nicht bei der Arbeit.

»Was ist hier los?«, fragte Ava.

»Setzt euch, Kinder«, sagte ihr Dad und gab Jax sein Handy. »Wir haben gute Neuigkeiten.«

»Das will ich hoffen«, meinte Jax. »Ich sollte nämlich eigentlich gerade meinen ersten Biotest schreiben.«

»Der ist jetzt nicht mehr wichtig«, erwiderte ihre Mom ruhig.

Jax fielen fast die Augen aus dem Kopf, und Ava hätte beinahe gelacht. »Von wegen nicht mehr wichtig! Ich brauche in jedem Test die volle Punktzahl …«

»Was du brauchst, sind neue Herausforderungen«, unterbrach ihre Mom ihn. »Und Ava braucht einen Tapetenwechsel. Deswegen haben euer Vater und ich nachgedacht und sind zu einem Entschluss gekommen …«

»Eure Mom hat heute Morgen schon ganz früh telefoniert.« Ihr Dad machte eine Kunstpause. »Und zwar mit der Accademia.«

Ihre Mom war auf ein internationales Internat für besonders begabte Kids in Venedig gegangen: die Accademia del Forte. Ava hatte immer schon vermutet, dass Jax eines Tages in ihre Fußstapfen treten würde.

»Und ihr seid beide angenommen worden. Ist das nicht toll?«, verkündete ihre Mom. »Ihr erhaltet eine klassische Ausbildung, Ava. Das heißt, du wirst in Altgriechisch und Latein unterrichtet und kannst deine geliebten Mythen bald im Original lesen. Venedig ist der magischste Ort der Welt. Die Stadt besteht aus vielen kleinen Inseln, und es gibt dort keine Autos, nur Fußgängerbrücken und Boote. Die Schülerinnen und Schüler sind allesamt sehr talentiert und kommen aus allen Ecken der Erde, und das Essen ist absolut fantastisch. Außerdem hat die Schule ein Schwimmbad mit Olympia-Becken und ein großartiges Schwimmteam. Das Schuljahr beginnt erst nächste Woche, ihr habt also bisher nichts verpasst.«

Ava war völlig baff. Jetzt konnte sie wirklich von vorn anfangen. Wen kümmerte da das Essen oder das Schwimmbad? Sie musste Owen nie mehr wiedersehen. Es war ein kompletter Neustart. Sie konnte sich neue Freundinnen und Freunde suchen.

»Ich bin dabei! Wann gehts los?«, fragte sie.

»Moment mal. Letztes Jahr hast du gesagt, eine Anmeldung wäre noch nicht möglich«, bemerkte Jax und musterte ihre Mutter kritisch.

Die zuckte mit den Schultern. »Letztes Jahr war Ava noch nicht so weit.«

»Was hat das mit Ava zu tun?«

»Ich wollte, dass ihr zusammen hingeht«, erwiderte sie.

»Dann darf sie also zwei Jahre länger bleiben als ich? Wie unfair!«, beschwerte sich Jax.

Ava freute sich diebisch. Endlich war ihr Bruder mal neidisch auf sie. »Vielleicht schicken sie mich ja früher hin, weil ich begabter bin als du.«

»Begabter darin, Freunde zu verlieren«, schoss er zurück.

»Immerhin habe ich welche, die ich verlieren kann.«

»Hattest.«

»Schluss jetzt«, ging ihr Dad dazwischen.

Sie funkelten einander an.

»Ich persönlich finde, Ava ist noch ein bisschen jung für ein Internat, aber eure Mom sagt, es ist eine der besten Schulen weltweit«, erklärte Dad. »Wir verlassen uns also darauf, dass du ein Auge auf deine kleine Schwester hast, Jax …«

»Klar, schon kapiert.« Jax seufzte. »Ich soll Avas Babysitter spielen. Na ja, wenigstens darf ich endlich hin.«

Ava klatschte in die Hände. »Wann fliegen wir?«

»Ich habe Tickets für übermorgen gebucht«, antwortete ihre Mom. »Und ich dachte, dann wäre es sinnlos, euch hier weiter zur Schule zu schicken, daher habe ich euch ausschlafen lassen.«

»Das wäre definitiv sinnlos«, stimmte Ava zu.

»Bevor sie euch dort empfangen, haben wir noch ein, zwei Tage, um die Stadt zusammen zu besichtigen«, sagte ihr Dad.

Ava vollführte ein Tänzchen. »Habe ich eine Zimmernachbarin? Gibt es eine Schuluniform? Wie sind die Lehrkräfte so? Muss ich dafür Italienisch lernen?«

»Komm, wir stellen schon mal eine Maschine Wäsche an und fangen an zu packen. Dabei kann ich dir bestimmt ein paar Fragen beantworten«, schlug ihre Mom vor.

Die nächsten achtundvierzig Stunden hatten sie alle Hände voll zu tun: Bettwäsche und Duschzeug besorgen, Winterjacken vom Dachboden holen, Schulzeugnisse übermitteln lassen. Ava blieb kaum Zeit zum Nachdenken. Erst am Abend vor dem Flug, als sie ihr Lieblingskuscheltier ins Handgepäck packte – die grün-schwarz gepunktete Schlange Nattan, die sie als Baby von ihrer Mom bekommen hatte –, wurde ihr bewusst, dass sie ihr Zuhause verlassen würde. Dann würde ihre Mom sie nicht mehr vor dem Schlafengehen zudecken und ihr einen Gute-Nacht-Kuss geben. Ava konnte sie nicht mal anrufen, denn im Internat waren weder Handys noch Computer erlaubt – passend zur traditionellen, klassischen Ausbildung. Nur Briefe durften sie sich schreiben.

Ava schnürte es die Kehle zu, und ihr Magen tat plötzlich richtig weh. Hieß es deswegen Heimweh? Sie war doch noch nicht mal weg. Schnell holte sie Nattan wieder aus dem Rucksack und legte ihn zurück zu den übrigen Kuscheltieren.

In dem Moment kam ihre Mom mit einem Stapel gefalteter Kleidung ins Zimmer. »Nur noch eine Maschine Wäsche und wir sind bestens vorbereitet.«

»Ich hab es mir anders überlegt«, meinte Ava.

Ihre Mom hielt mitten in der Bewegung inne. »Wie jetzt?«

»Ich will da nicht hin.«

Ihre Mom blieb wie angewurzelt stehen und blinzelte, ehe sie die Klamotten auf dem Schreibtisch ablegte und sich neben sie aufs Bett setzte. »Ava«, hob sie vorsichtig an. »Du musst da hin.«

»Kann ich nicht einfach nächstes Jahr zur Accademia? Dann bin ich dreizehn und …«

»Das ist so was wie …«, ihre Mom blickte aus dem Fenster in den dunklen Augustabend, als versteckte sich die Antwort dort draußen, »… eine Familientradition. Vertrau mir. Du bist alt genug. Es ist an der Zeit für dich.«

»Ich werde dich so vermissen.«

Eine Träne rollte Ava über die Wange. Ihre Mom wischte sie fort und nahm sie fest in den Arm.

»Ich werde dich auch vermissen. Aber Daddy und ich kommen euch in den Ferien besuchen. Bis dahin sind es nur ein paar Monate. Die sind ruckzuck um. Du wirst uns beide sehr stolz machen, Ava, da bin ich mir sicher.«

Das bezweifelte sie. Sie war nicht wie Jax, der ständig Bestnoten und Preise mit nach Hause brachte. »Kann ich nicht hierbleiben?«, flehte sie. »Ich benehme mich auch und werde nie mehr wütend.«

Ihre Mom schüttelte den Kopf. »Es ist bereits alles geregelt. Das Internat ist eine Topschule. Dort werden sie dich besser auf das Leben vorbereiten als überall sonst. Bis wir uns das nächste Mal sehen, wirst du es verstehen. Gib dem Ganzen eine Chance, okay?«

»Okay«, flüsterte Ava.

»Ich hab dich lieb«, sagte ihre Mom. »Du bist doch mein starkes Mädchen.«

Ava schniefte, nickte aber. Sie wollte nicht anfangen zu weinen. Sie wollte ihrer Mom beweisen, dass sie stark genug war, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Die Traurigkeit. Die Wut. Einfach alle.

 

An Bord ihres ersten internationalen Flugs kehrte Avas Aufregung zurück. Sie schlief wenig, und als sie bei Sonnenaufgang in Venedig landeten, kam sie sich vor wie in einem Wachtraum. Statt mit dem Auto zu fahren, schipperten sie mit einem Wassertaxi über das grau-grüne Meer – oder die Lagune, wie ihre Mutter sie nannte – auf ein Gewirr aus farbenfrohen alten Gebäuden zu. Obwohl Ava von ihrer Mom wusste, dass sich die Häuser auf Inseln befanden, schien die Stadt für sie wie durch Magie auf dem Wasser zu treiben. Das Taxi röhrte über den Canal Grande, die größte Wasserstraße, die die Stadt in zwei Hälften teilte. Schließlich legten sie an einem Pier an und stiegen aus. Sie zerrten ihre Koffer durch enge, gewundene Gassen und über Steinbrücken bis zu einem kleinen Hotel. Dort angekommen, schlief Ava sofort tief und fest ein.

Als sie aufwachte, war es bereits später Nachmittag und noch ziemlich heiß. Ihre Mom nahm sie mit auf einen Spaziergang und ließ sie und Jax kaufen, was ihr Herz begehrte, von cremigen Tiramisu-Schnitten bis zu venezianischen Masken aus Pappmaschee. Ava entschied sich für eine blau-silberne Katzenmaske mit Glitzer. Ihrer Mom zufolge sollten sie an die streunenden Katzen erinnern, die die Stadt einst vor Seuchen bewahrt hatten und bis heute in den schmalen Gässchen und auf den Plätzen Mäuse jagten.

Am darauffolgenden Tag nach einem frühen Mittagessen stiegen Ava, Jax und ihre Eltern in ein langes Boot mit Samtsitzen und gebogenem Bug. Es war der erste September, und alle Neuankömmlinge waren angewiesen worden, mit der Gondel anzureisen. Am Vorabend hatte ihre Mutter ihr von der Tradition erzählt, dass man zu Beginn des Schuljahres immer den eindrucksvollen Seiteneingang am Canal Grande benutzte. Die Accademia del Forte befand sich in einem der ältesten und größten Palazzi und war mit gewaltigen griechischen Säulen ausgestattet. Aus der dorischen Ordnung, laut Jax, der vorher etwas über die einzelnen Architekturstile gelernt hatte. Ob aus Spaß oder um Eindruck zu schinden, war schwer zu sagen.

Die Gondel hob und senkte sich auf dem Canal Grande, und Avas Magen gluckerte. Sie hätte nach dem Mittagessen nicht so viel von dem sauren Kirscheis essen sollen. Ein Motorboot brauste vorbei und brachte die Gondel noch mehr ins Schaukeln. Ava hielt sich an ihrem Koffer fest, der neben ihr im Boot klemmte. Er erinnerte sie daran, dass sie in dem vor ihr aufragenden Steingemäuer nicht nur zu Besuch war, sondern für ein ganzes Jahr dort einzog.

»Dieser Ort ist unglaublich.« Ihr Dad richtete seine Handykamera auf eine Reihe internationaler Flaggen, die am Balkon der Accademia in der warmen Septemberbrise wehten.

»Dad, hör auf zu fotografieren«, nörgelte Ava. »Wir sind da.«

Die Gondel legte zwar gerade erst an der grünlichen Treppe an, die sich vor ihnen aus dem Wasser erhob, aber Ava wollte verhindern, dass ihr Dad Bilder von ihr machte. Sie sah bestimmt total angespannt und verängstigt aus. Ihr Magen schlug Purzelbäume, und am liebsten hätte sie dem Gondoliere das Ruder aus der Hand gerissen und wäre schleunigst zurück zum Flughafen gepaddelt. Wenigstens faselte Jax jetzt nicht mehr von Säulen. Stattdessen fummelte er wie besessen an den Riemen seines Rucksacks herum. Ihre Mom betrachtete nur mit feierlichem Ernst die Accademia. Erst als sie Avas Blick auf sich spürte, lächelte sie.

»Ich denke an damals, als ich hier angekommen bin.«

»Warst du aufgeregt?«, fragte Ava.

Sie versuchte, sich ihre Mutter mit zwölf, dreizehn Jahren auszumalen, wie sie mit einem Koffer in die neue Schule stapfte und Abschied von ihren Eltern nahm. Doch obwohl sie viele Fotos von ihr in dem Alter gesehen hatte – sie war Ava sehr ähnlich gewesen –, konnte Ava sich nur schwer vorstellen, dass sie sich jemals wie ein Kind gefühlt hatte. Sie wirkte eher so, als wäre sie erwachsen geboren worden, wie Athene, die Zeus’ Kopf entstiegen war.

»Natürlich.« Das Lächeln ihrer Mutter verblasste. »Aber es hat sich dann alles eingespielt.«

Ava wollte gerade fragen, was sie damit meinte, da prallte die Gondel gegen die Stufen und sie stieß gegen Jax.

»Pass doch auf«, sagte er, als wäre das Absicht gewesen.

Sie sah ihn finster an, obwohl er genauso nervös schien wie sie.

»Accademia del Forte«, verkündete der Gondoliere und bot Avas Mom seine Hand an. Nacheinander stiegen sie aus dem Boot und er reichte ihnen das Gepäck. Weitere Gondeln mit immer mehr Kindern legten an. Sofort fiel Ava ein skeptisch dreinschauendes Mädchen mit kurzen orangefarbenen Haaren und zahlreichen Ohrpiercings auf, die ungefähr in ihrem Alter war. Aber sie wandte den Blick schnell wieder ab und richtete ihn auf den Boden, da sie auf keinen Fall vor allen Leuten auf den glitschigen grünen Stufen ausrutschen wollte.

Oben an der Treppe folgte Ava Jax über eine steinerne Veranda zu einer gigantischen Flügeltür, vor der die Eltern mit ihren Kindern Schlange standen. Es ging nur stockend voran. Als sie durch den runden Torbogen in eine Vorhalle aus Marmor gelangten, wurde Ava klar, warum.

Ein sehr großer, breitschultriger Mann im Anzug begrüßte jeden einzelnen Neuankömmling per Handschlag. Mit donnernder Stimme stellte er sich vor.

»Ich bin der Schulleiter, Mr Oreon. Herzlich willkommen …«

Als sie an der Reihe waren, schob Jax sich schnell vor sie. »Jaxon Baldwin. Schön, Sie kennenzulernen.«

»Ah! Ja.« Mr Oreon schüttelte ihm die Hand. »Und das muss deine Schwester Ava sein.«

Beherzt ergriff er nun Avas Hand. »Deine Mom war hier ein echter Star. Und ich habe das Gefühl, das wirst du auch.«

Ava wurde rot, stolz darauf, dass das Kompliment mal nicht Jax galt.

Der Schulleiter lächelte ihre Mom an. »Sie sieht genauso aus wie du, Melanie.«

»Das höre ich öfter«, erwiderte Mom und trat beiseite, um Avas Dad vorzustellen. »Aber von ihrem Vater hat sie auch einiges.«

»Der hatte nur leider nicht das Vergnügen, diese Schule zu besuchen«, witzelte ihr Dad.

Mr Oreon lachte aus vollem Hals und klopfte ihm auf die Schulter, ein Zeichen, dass er trotzdem willkommen war. »Wir haben im großen Saal tolle Sachen für die Kinder vorbereitet. Schnappt euch ein Namensschild, und dann viel Spaß.« Damit schob er sie sanft weiter.

»Netter Kerl«, meinte ihr Dad, während sie ihrer Mom folgten.

»Total«, stimmte Ava zu. Ihre Mom sagte nichts und Jax auch nicht. Offenbar war er eingeschnappt, dass Mr Oreon nicht ihn zum neuen Starschüler auserkoren hatte. Genau deswegen war der Schulleiter ihr sympathisch. Vielleicht war die Accademia del Forte die Schule, an der sie endlich einmal glänzen konnte.

Der große Saal machte seinem Namen alle Ehre. Er war riesig, und überall standen runde Eichentische mit Klauenfüßen. Die wandhohen Fenster an einer Seite und drei gigantische Kristalllüster füllten den Raum mit Licht.

Ava war nicht die Einzige, die staunte. Mehrere Schülerinnen und Schüler scharten sich mit ihren Eltern am Eingang und starrten hinauf zu der zwei Etagen hohen Decke, verziert mit Fresken griechischer Götter. Ava erkannte Zeus an dem Donnerkeil in seiner Hand, Poseidon am Dreizack und Hades an seiner Tarnkappe. Sie kämpften gegen einen Mann mit einer Sichel, der eine Horde Riesen anführte.

»Hat jemand eine Ahnung, was wir dort sehen?«, fragte eine junge Frau, deren Namensschild sie als Miss Klio auswies. Ihr braunes Haar war zu einem strengen Dutt hochgesteckt, und sie trug ein dickes Buch bei sich.

Ava meldete sich, und Miss Klio deutete auf sie.

»Das ist eine Szene aus dem Kampf der Titanen, dem Krieg, in dem die olympischen Gottheiten, angeführt von Zeus und seinen Brüdern, Zeus’ Vater Kronos und die anderen Titanen besiegt haben. Kronos ist der Mann mit der Sichel.«

Miss Klio klatschte, und der Rest der Menge stimmte mit ein.

»Gut gemacht …« Sie versuchte, ihr Namensschild zu entziffern.

»Ava«, ergänzte Ava stolz.

»Ich merke schon, von Ava werden wir in meiner Doppelstunde zur griechischen und römischen Mythologie noch einiges hören«, meinte Miss Klio.

»Wir haben eine Doppelstunde Mythologie?«, flüsterte Ava ihrer Mom zu.

»Die ist sogar Pflicht im ersten Grad«, flüsterte ihre Mom zurück. Der erste Grad entsprach an der Accademia der siebten Klasse.

Ava grinste. »Warum hast du mir das nicht gleich erzählt?«

»Ja, bitte?«, ertönte wieder Miss Klios Stimme.