Nacht der Verräter - Horst Eckert - E-Book

Nacht der Verräter E-Book

Eckert Horst

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Beschreibung

Blut ist dicker als Wasser. Immer?

Polizist Max Bauer fällt aus allen Wolken, als während einer Party am helllichten Tag seine Frau Julia spurlos verschwindet. Sie hatte seit ihrem Kennenlernen ein Geheimnis um ihre Vergangenheit gemacht. Er nahm das in Kauf, denn ihre Liebe half ihm aus einer Krise nach einem traumatischen Einsatz. Aber wo soll er bei seiner Suche nun ansetzen? Zugleich konfrontieren ihn Kollegen der Kripo mit einem bösen Verdacht: Seine Brüder, Polizeibeamte im Streifendienst, sollen in den aktuell boomenden Handel mit Kokain aus den nahen Häfen Antwerpen und Rotterdam verstrickt sein. Von Max wird verlangt, seine Familie zu bespitzeln, anderenfalls würde man ihn als Mittäter verfolgen. Ein lebensgefährlicher Seiltanz mit ungewissem Ausgang beginnt.

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DASBUCH

Polizist Max Bauer fällt aus allen Wolken, als während einer Party am helllichten Tag seine Frau Julia spurlos verschwindet. Sie hatte seit ihrem Kennenlernen ein Geheimnis um ihre Vergangenheit gemacht. Er nahm das in Kauf, denn ihre Liebe half ihm aus einer Krise nach einem traumatischen Einsatz. Aber wo soll er bei seiner Suche nun ansetzen? Zugleich konfrontieren ihn Kollegen der Kripo mit einem bösen Verdacht: Seine Brüder, Polizeibeamte im Streifendienst, sollen in den aktuell boomenden Handel mit Kokain aus den nahen Häfen Antwerpen und Rotterdam verstrickt sein. Von Max wird verlangt, seine Familie zu bespitzeln, anderenfalls würde man ihn als Mittäter verfolgen. Ein lebensgefährlicher Seiltanz mit ungewissem Ausgang beginnt.

DERAUTOR

Horst Eckert, 1959 in Weiden/Oberpfalz geboren, lebt seit vielen Jahren in Düsseldorf. Er arbeitete fünfzehn Jahre als Fernsehjournalist, u. a. für die »Tagesschau«. 1995 erschien sein Debüt »Annas Erbe«. Seine Romane gelten als »im besten Sinne komplexe Polizeithriller, die man nicht nur als spannenden Kriminalstoff lesen kann, sondern auch als einen Kommentar zur Zeit« (Deutschlandfunk). Sie wurden unter anderem mit dem Marlowe-Preis und dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet und ins Französische, Niederländische und Tschechische übersetzt.

HORST ECKERT

NACHT DER VERRÄTER

THRILLER

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 09/2024

Copyright © 2024 by Horst Eckert

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von Motiven von Trevillion Images (Silas Manhood), Shutterstock.com (Impixmart)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31505-4V001

www.heyne.de

TEIL EINS

VLISSINGEN

Hate was just a legend

And war was never known.

(Neil Young, »Cortez the Killer«)

1.

Drei Tage vor ihrem Verschwinden machte seine Frau eine Bemerkung, die Max Bauer danach noch mehrfach durch den Kopf gehen würde.

Es war ein Mittwoch im Mai, früher Nachmittag, und sie hatten gerade nach einem kurzen Strandurlaub im niederländischen Domburg den Rückweg in den Düsseldorfer Alltag angetreten. Ihre Tochter, die hinten im Kindersitz festgeschnallt war und auf ihrem Tablet einen animierten Märchenfilm verfolgte, schniefte zum wiederholten Mal. Julia wandte sich zu ihr um und putzte dem Engel ausführlich die Nase.

Emilias dritter Geburtstag stand bevor, nächste Woche war es so weit. Julia und Max hatten sich noch nicht geeinigt, wie sie ihn feiern würden. Ihre Vorstellungen gingen etwas auseinander.

Julia blickte durch die Heckscheibe.

Fast tonlos sagte sie: »Jemand verfolgt uns.«

2.

Max tat, als nehme er ihre Besorgnis ernst. Er hatte gelernt, dass dies am besten für den Frieden war. Für seinen und ihren. Und Julia verdiente es, mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt zu werden.

In einer dunklen Zeit der Verzweiflung war sie sein Licht gewesen.

Man sagte, dass Zeit alle Wunden heilte.

Julias Liebe tat es auf jeden Fall.

Max hatte sie vor einem Jahr in der Praxis eines Landarztes in Brandenburg kennengelernt, wo sie damals als Arzthelferin arbeitete. Alles tat ihm weh, und er hatte sicher einen erbärmlichen Anblick geboten. Ihren mitfühlenden Blick, als sie seine Schürfwunden versorgte, würde er nie vergessen.

Ketzin an der Havel.

Die Radtour, zu der er aufgebrochen war, hatten ihm seine Brüder eingeredet. Weil es ihm nach Klinikaufenthalt und Reha kaum besser gegangen war, verordneten sie ihm einen Tapetenwechsel. Kauften kurzerhand das Bahnticket und buchten ihm ein Hotel, in dem man Bikes für Touren ins Grüne mieten konnte.

Schon beim ersten Ausflug war es geschehen. Ein unbefestigter Weg in idyllischer Landschaft. Baumwurzeln und zu hohes Tempo. Und sicher auch mangelnde Fitness nach Monaten ohne Sport.

Von seiner damaligen Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, ganz zu schweigen.

Er hatte sich sofort in Julias Augen verliebt. In ihre sanften Hände und die warme Stimme. Ihr Hamburger Dialekt war nicht zu überhören. Er fand das reizvoll.

Mit den Wunden heilte auch der Rest.

Sie gingen jeden Abend miteinander aus. Schließlich gestand er ihr seine »Liebe dritten Grades«, eine Formulierung aus einem Rocksong, den er mochte. Und sie erklärte, dass sie ebenso empfand.

Julia war der Mensch, mit dem er den Rest seines Lebens verbringen wollte.

Er würde alles für sie und ihre Tochter tun.

»Der weiße Toyota«, ergänzte sie jetzt.

3.

Max blickte in den Rückspiegel und staunte, dass Julia die Marke auf die Entfernung erkannte.

»Schon seit Domburg«, behauptete sie.

Vor ihnen tauchte ein Kreisverkehr auf. Dahinter der Ortseingang von Meliskerke. Max wählte die dritte Abfahrt statt der zweiten. Sie kurvten im Zickzack durch ein Wohngebiet voller Einbahnstraßen, menschenleer und aufgeräumt.

Niemand folgte ihnen mehr.

Das Navi berechnete die Route neu.

Max hätte gern gewusst, worin Julias Gefühl, verfolgt zu werden, begründet lag. Ein schlimmes Erlebnis? Litt sie ebenfalls unter einem Trauma? Er konnte darüber nur spekulieren.

Julia sprach nie über ihre Vergangenheit.

Als hätte die Zeit vor ihrem Kennenlernen nicht existiert.

Max hatte also beschlossen, dass es nur die Gegenwart und eine Zukunft gab. Fragen stellte er nicht mehr. Er akzeptierte Julia, wie sie war.

Sie akzeptierte ihn ja auch.

Am anderen Ende des Ortes fand er zurück zu der Route, die auf die Autobahn und nach Vlissingen führte.

Julia wandte sich erneut ihrer Tochter zu und plauderte ein paar Worte mit ihr. Max wusste, dass sie dabei den nachfolgenden Verkehr beobachtete. Endlich drehte sie sich wieder um, machte es sich im Beifahrersitz bequem und entspannte sich. Sie strich ihm über den Oberschenkel, als wolle sie ihre Dankbarkeit ausdrücken.

Max blickte in den Rückspiegel. Emilia war nach wie vor von ihrem Tablet gefesselt.

»Alles safe«, sagte Max.

»Sorry«, entgegnete Julia. »Musik?«

Leise sagte er: »Alles, bloß nicht Stups.«

»O ja!«, rief Emilia von hinten. »Bitte, Mami! Stups, der kleine Osterhase!«

Sie lachten.

Julia schob eine CD in den Player. Die Red Hot Chili Peppers ertönten aus den Lautsprechern. Ein Rocksong, den er ebenfalls mochte.

Marry me, girl, be my fairy to the world …

»Danke, Schatz«, sagte Max.

Er checkte den Verkehr. Sie waren Teil einer schier endlosen Kette von Fahrzeugen. Unmittelbar hinter ihnen fuhr ein blauer Transporter mit niederländischem Kennzeichen. Ein schwarzer Mercedes folgte als Nächstes.

Vom weißen Toyota war nichts mehr zu sehen.

4.

Der gemeinsame Hafen von Vlissingen und Terneuzen nannte sich Zeeland Seaports und galt als der drittgrößte der Niederlande. Ringsum Industrieanlagen, zylinderförmige Tanks, Schlote bis zum Horizont. Dazwischen Windräder, die träge rotierten.

Max konnte einen Blick aufs Wasser erhaschen.

Kräne am Ufer, Containerschiffe.

Hier war er noch nie gewesen. Die Adresse hatte ihm sein Onkel genannt. Max befolgte die Anweisungen des Navis. Zur Rechten erstreckten sich Maschendrahtzaun und Stacheldraht. Die Straße schien nicht enden zu wollen.

»Muss ich am Samstag wirklich zu dieser Party gehen?«, fragte Julia unvermittelt.

Sie meinte den vierzigsten Geburtstag, den Robert, sein ältester Bruder, feiern würde. Im neuerworbenen Zuhause der Familie. Also zugleich die House-Warming-Party.

Jede Menge Verwandtschaft würde kommen. Freunde und Bekannte mit zahlreichen Kindern. Und natürlich Roberts Kollegen aus der Altstadtwache.

Mit denen Max zum großen Teil ebenfalls noch gearbeitet hatte.

Bis sein altes Leben in einem Feuerball aufgegangen war.

»Schatz, du musst gar nichts«, antwortete er.

»Aber du bist mir böse, wenn ich nicht mitkomme.«

»Nein, bin ich nicht. Die Entscheidung liegt ganz bei dir.«

Er spürte, wie ihr Blick auf ihm ruhte.

Julia wusste, dass sie nicht nur Robert, sondern die gesamte Familie brüskieren würde, wenn sie nicht zur Party erschien. Mehrfach hatten sie das diskutiert. Alle würden sich fragen, was los war.

Robert glaubte ohnehin schon, Julia hätte etwas gegen ihn.

Das Navi meldete: Sie haben Ihr Ziel erreicht.

Max hielt vor der Einfahrt zum Gelände. Das Tor war verschlossen. Dahinter stand eine Lagerhalle. Max stieg aus, um eine Klingel zu suchen.

Im selben Moment tauchte bereits ein Typ in blauer Arbeitskleidung auf und öffnete. Die Scharniere quietschten. Der Weg war frei.

Max fuhr auf die Halle zu und parkte den Volvo-Kombi vor der Rampe. Ein breites Rolltor rumpelte nach oben. Ein zweiter Blaumann zog etwas auf einem Hubwagen an den Rand der Rampe.

Zwei große Kartons.

Max wusste, was sie enthielten. Hi-End-Gitarrenverstärker made in USA, fabrikfrisch per Frachter eingetroffen. Hochpreisige Röhrengeräte, jeweils mit zwei erstklassigen Zwölf-Zoll-Lautsprechern in Holzboxen verbaut.

Sein Onkel hatte ihn gebeten, ihm die edlen Teile mitzubringen, denn auf eins davon wartete bereits ein Kunde, ein Hobbygitarrist im Rentenalter, für den Geld keine Rolle spielte. Den zweiten Verstärker würde Onkel Albert erst einmal behalten und in seinem Musikhaus im Düsseldorfer Stadtteil Reisholz ausstellen.

Wenn du dich im Wettbewerb behaupten willst, darfst du nicht bloß Dutzendware vorrätig halten, hatte Albert erklärt. Mit Premiumgeräten beeindruckst du die Kundschaft und verführst sie, ein teureres Gerät zu kaufen als geplant.

Max freute sich, seinem Onkel einen Gefallen tun zu können.

Es hieß, das Geschäft laufe derzeit nicht so gut.

Um Platz zu schaffen, nahm Max den himmelblauen Trolley aus dem Kofferraum und schob ihn neben Emilia auf den Rücksitz. Daraufhin verstauten die Lagerarbeiter die beiden Verstärker.

Einer der Arbeiter sagte etwas auf Niederländisch und hielt Max ein Klemmbrett mit dem Lieferschein hin. Max unterschrieb. Der andere schlurfte zum Tor.

Max startete den Motor.

Kurz darauf erreichten sie die Autobahn.

»Okay«, sagte Julia unvermittelt. »Weil es dir wichtig ist.«

»Was?«, fragte Max.

»Roberts Vierzigster. Ich komme mit.«

Max fiel ein Stein vom Herzen. Sie war bereit, über ihren Schatten zu springen. Er bedankte sich.

»Dafür gibst du bei der anderen Sache nach.«

»Emilias Geburtstag?«

»Nur ein kleiner Kreis. Ihre Freundinnen aus der Kita mit deren Eltern.«

»Ruben!«, rief Emilia von hinten.

»Auf jeden Fall«, bestätigte Julia.

»Nicht meine Brüder?«

»Und erst recht nicht deren missratene Kinder.«

Eine Ehe besteht aus Kompromissen, dachte Max.

Und Julia war jeden einzelnen wert.

5.

Max lud seine Familie zu Hause ab und fuhr zum Geschäft seines Onkels.

Music Point befand sich in einem Gewerbegebiet nahe des Rheins, zwischen einem Händler für Bodenbeläge und einer Druckerei. Er nahm die Durchfahrt zum Hof, wo die Kundenparkplätze waren, und hielt vor dem Eingang. Ein paar Autos parkten hier, darunter der Ford Mustang seines mittleren Bruders André, Polizeibeamter wie er und in der Wache Benrath tätig.

André erwartete ihn bereits und half ihm mit den Kisten.

Max staunte, wie schwer sie waren.

»Was machst du hier?«, fragte er. »Wo ist Onkel Albert?«

»Verhindert.«

Drinnen riss André die Kartons auf. Er strich anerkennend über die schwarze Stoffbespannung mit dem aufgedruckten Logo.

»Technik vom Feinsten«, sagte er. »Hundert Prozent Handarbeit. Das kann der Ami noch.«

Max hörte Gitarrenklänge aus dem vorderen Teil des Ladens. Mehrere Akustikklampfen schrammelten die Akkordbegleitung zur Melodie von »The House of the Rising Sun«. Es handelte sich um den Anfänger-Workshop von Martin Übelreuther, den alle nur Frodo nannten.

Frodo war Profimusiker, Max’ Vorbild an der E-Gitarre, und arbeitete samstags im Verkauf. Nach Ladenschluss durfte er die Räumlichkeiten für seine Kurse nutzen. Die Teilnehmer waren potenzielle Kunden, hoffte Albert.

Max fiel ein, wie er vor fast zwanzig Jahren das Gitarrenspiel gelernt hatte. Hunderte Male die gleichen Griffe geübt, bis sie saßen.

»Albert lässt dich grüßen«, sagte André. »Er ist dir sehr dankbar.«

»Der kleine Umweg war nicht der Rede wert«, beteuerte Max.

»Hast du etwas Schriftliches bekommen?«

Max reichte ihm den Durchschlag des Lieferscheins.

»Wenn ich deine kaputten Hände sehe, geht mir jedes Mal ein Schauer über den Rücken«, sagte sein Bruder.

Max ließ das dünne Papier los und trat einen Schritt zurück. Er hielt die Bemerkung seines Bruders für wenig taktvoll. Seine Beweglichkeit war längst wiederhergestellt. Nur die Narben würden für immer bleiben.

»Sorry«, sagte André.

»Nein, sieht ja wirklich nicht schön aus.«

»Tut es noch manchmal weh?«

»Nein, nicht mehr.«

Sieben Transplantationen hatte Max über sich ergehen lassen. Auch an den Beinen. Am Strand von Domburg hatte er seine Hosen anbehalten, um keine komischen Blicke zu ernten.

»Alles gut«, ergänzte er.

André ging zum Schreibtisch, um den Durchschlag abzuheften. Max entdeckte die Kaffeekanne, nahm sich einen Bürobecher und füllte ihn. Dabei fiel sein Blick auf die Zeitung, die auf dem Tisch lag.

Das große Foto – ein Mann, den man abführte.

Max erkannte ihn sofort.

Es war der Irre, dem er die Narben verdankte.

Der Bericht kündigte den Prozessauftakt gegen Lutz Meyer vor dem Landgericht an. Endlich – Max hatte nie verstanden, warum sich die Ermittlungen so lange hinzogen.

André wollte ihm die Zeitung wegnehmen.

Doch Max bestand darauf, den Artikel zu lesen, obwohl er den Sachverhalt längst kannte. Der Irre hatte die Wohnung seiner Mutter in ein Lager für Lebensmittel und Alltagsgegenstände verwandelt, um für den Zusammenbruch der Zivilisation, den er für unausweichlich hielt, vorbereitet zu sein. Außerdem waren bei ihm mehrere Pistolen gefunden worden. Jede Menge Munition. Und Flaschen voller Benzin – ein beachtliches Arsenal an Molotowcocktails.

Lutz Meyer wurde als Prepper bezeichnet.

Die Anklage lautete auf zweifachen Mord und Mordversuch.

Max schauderte. Das Opfer des versuchten Mordes war er gewesen. Nur durch Zufall hatte er überlebt. Mit zitternden Händen legte er die Zeitung zurück. Er fand, dass der harmlose Begriff Prepper dem Irren nicht gerecht wurde.

»Geh nicht hin«, sagte André.

»Ich werde ohnehin in ein paar Tagen aussagen müssen.«

»Ist das nötig?«

»Ich steh das durch. Hauptsache, der Arsch kommt ins Gefängnis.«

André lachte. »In Russland wäre er schon längst im Arbeitslager vergammelt.«

Am anderen Ende des Verkaufsraums stimmte Frodo Übelreuther ein Stück der Beatles an. Seine Kursteilnehmer zupften die Akkorde. Es klang noch etwas holprig.

»Mir geht’s gut«, wiederholte Max. »Keine Sorge, Bro.«

6.

Nach dem Abendessen holte Max die Familienalben hervor. Emilia blätterte in rascher Geschwindigkeit und drückte ihren Zeigefinger auf jedes Foto. Bilder aus Max’ Kindheit. Emilia sah sie nicht zum ersten Mal.

»Das ist Oma Anne. Das ist Papi.«

Sie fegte das Trennblatt aus Pergamin zur Seite.

»Vorsicht, Emilia!«, mahnte Julia.

»Ja, Mami«, antwortete der kleine Engel und patschte auf den nächsten Abzug. »Das ist Opa. Er war ein Held. Papi, was ist ein Held?«

Max setzte zu einer Erklärung an. »Jemand, der etwas Mutiges tut, um anderen zu helfen.«

Emilia machte weiter, ohne nachzufragen. Sie tippte auf ein Bild, das Max, André und Robert zeigte. Sie waren zwölf, vierzehn und sechzehn und trugen identische Fortuna-Trikots.

»Das ist Papi mit Onkel Robert und Onkel André.«

Nur bei einer Aufnahme konnte sie keinen Namen zuordnen.

»Tante Teresa«, half Max. »Die Mama von Robert und André.«

»Warum küsst Opa Tante Teresa und nicht Oma Anne?«

Max und Julia wechselten Blicke. Jetzt wurde es kompliziert. Und sicherlich irritierend für das Gemüt eines kleinen Kindes. Max versuchte es trotzdem mit der Wahrheit.

»Weil er zuerst mit meiner Mutter verheiratet war und dann mit Tante Teresa.«

»Ist er auch der Papa von Onkel Robert und Onkel André?«

»Nein, die waren da schon auf der Welt. Aber er war wie ein Papa für sie.«

Max sah seiner Tochter an, dass es in ihrem Köpfchen arbeitete. Auch sie war schon auf der Welt gewesen, als er und Julia sich kennenlernten. Ihren leiblichen Vater kannte sie nicht.

Eins von Julias Geheimnissen.

Emilia kannte nur einen Papa, und das war Max.

Und für ihn war sie die Tochter, die er wie auch Julia über alles liebte.

»Emilia ist müde«, sagte er. »Ich bringe dich ins Bett.«

»Nein, Mami soll mich bringen!«

Max lachte, denn er hatte diese Reaktion vorausgesehen. Der kleine Engel befand sich eindeutig in einer Mami-Phase.

Julia führte ihre Tochter ins Kinderzimmer. Erfahrungsgemäß dauerte die Prozedur eine Weile. Max verstaute die Fotoalben sowie diverse Bilderbücher, die herumlagen, dann räumte er in der Küche auf.

Nach einer halben Stunde kehrte Julia zurück. Max hatte eine Flasche Rotwein entkorkt. Julia goss sich ebenfalls ein Glas ein und setzte sich zu ihm aufs Sofa.

»Dass mein Vater ein Held war, muss sie von Robert haben«, sagte Max.

»Wie war er denn so?«

»Mein Papa?«

»Ja.«

»Erzählst du mir dann auch von deinem Vater?«

Selbst Julias Eltern gehörten zur Tabuzone Vergangenheit. Max wusste nicht einmal, ob sie noch lebten. Die Hochzeit hatten sie ausschließlich mit seinen Leuten gefeiert.

Julia lächelte traurig. »Sicher werde ich dir von ihm erzählen. Und von meiner Mama. Irgendwann.«

7.

Geräusche auf der Straße weckten Max. Das Grölen von Jugendlichen und Klirren von Flaschen. Doch Max konnte nicht sauer sein. Er war auch einmal jung und wild gewesen.

Max erkannte, dass Julia in ihrer Hälfte des Betts aufrecht saß, die Knie umklammert, den Blick auf ihn gerichtet. Er fragte sich, was sie wach hielt.

»Wir bleiben am Samstag nicht lang«, sagte er. »Nur kurz Flagge zeigen. Und es ist völlig okay, wenn wir nächste Woche Millis Geburtstag im kleinen Kreis feiern.«

Sie nahm seine Hand.

»Du bist so anders als deine sogenannten Brüder«, sagte sie. »Zum Glück.«

»Schade, dass du sie nicht leiden kannst.«

»›Nicht leiden können‹, ist zu viel gesagt.«

»Aber?«

»Ist dir schon mal aufgefallen, wie ungehobelt die Kinder von Robert und André sind? Sie haben etwas Brutales an sich.«

»Es sind Kinder!«

»Aber nicht der richtige Umgang für Emilia. Sorry. Kann deine Mutter unsere Tochter zu sich nehmen, solange wir bei Robert sind?«

»Ich werde sie fragen. Sicher macht sie das gern.«

Ihre Hand drückte seine.

Dann schmiegte sie sich an ihn, und er schlang den Arm um sie. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, ihre Hand auf seiner Brust. Häufig schliefen sie so ein.

»Wie war dein Vater?«, fragte sie.

»Er war nicht oft da. Aber ich habe ihn als ziemlich streng in Erinnerung. Und ich weiß noch, dass ich ständig versucht habe, ihm zu gefallen. Ordentlich sein, gut in der Schule, aufessen, stark sein, das ganze Oldschool-Programm.«

»Das kenne ich.«

»Soweit ich zurückdenken kann, war Papa stets der große Zampano. Stand immer im Mittelpunkt. Die Leute haben ihn vergöttert.«

»Zum Glück bist du anders. Ich liebe dich für deine ruhige Art. Du musst kein Gott sein und kein Held.«

»Für meine Brüder und mich war er das große Vorbild.«

»Ich finde es schräg, dass du Robert und André als deine Brüder bezeichnest.«

»Wieso? Irgendwie sind sie es doch.«

»Manchmal scheint es, als nehmen sie dich nicht ganz für voll.«

»Meinst du?«

»Ja, und das kränkt mich dann.«

Sie übertreibt, dachte er. Seine Brüder waren nun mal die Älteren und hatten ihn als den Kleinen unter ihre Fittiche genommen. Auch später, als er ihnen in den Polizeidienst folgte. Max hatte das stets als normal empfunden.

Teresas erster Mann war in jungen Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben. Sie lebte mit ihren Söhnen in der Nachbarschaft. Dass Max’ Vater mit Teresa schlief, hatte keiner geahnt, bis er überraschend bei ihr einzog. Und bald begann Max, die Wochenenden bei seinem Papa und dessen neuer Familie zu verbringen.

»Die Trennung damals«, sagte Julia. »Wie hat Anne das eigentlich weggesteckt?«

Max konnte sich an keinen Krach erinnern, kein böses Wort. Sie hatte alles stoisch hingenommen. Er hatte sogar den Verdacht gehabt, dass seine Mutter selbst eine Affäre hatte.

Jedenfalls kam es ihr gelegen, ihn am Wochenende los zu sein.

Max zog die Schultern hoch. »Das musst du sie selbst fragen«, antwortete er. »Von einem Drama habe ich nie etwas mitbekommen. Papa war nicht einmal richtig weg. Er ist bloß in die Nachbarschaft gezogen.«

»Wehe, du machst ihm das nach!«

Max lachte. »Wie könnte ich! Du bist die Einzige und die Beste!«

Sie küssten sich.

»Ich bin so glücklich, dass es dich gibt«, flüsterte seine Frau.

8.

Als am nächsten Vormittag der Angeklagte den Saal betrat, fragte sich Max, ob er vielleicht auf André hätte hören sollen.

Geh nicht hin.

Doch da saß er bereits unter den Zuschauern. Rund um ihn waren fast alle Plätze belegt. Medienvertreter sowie neugierige Bürger, die meisten im Rentenalter. Man erinnerte sich auch nach achtzehn Monaten noch sehr lebhaft an die schreckliche Tat.

Fotografen belagerten die Anklagebank. Lutz Meyer verbarg seinen Kopf hinter einem aufgeklappten Aktendeckel. Zwei Anwälte flankierten ihn. Stapelweise packten sie Unterlagen auf den Tisch.

Max erkannte einige Gesichter auf der Bank der Nebenkläger wieder. Familienangehörige von Elif, der toten Kollegin, sowie des Feuerwehrmanns, der sie begleitet hatte, um die Wohnungstür zu öffnen. Max nickte ihnen einen Gruß zu.

Er hatte darauf verzichtet, sich wie sie der Anklage der Staatsanwaltschaft anzuschließen. Er fühlte sich nicht befugt für die Rolle als Nebenkläger. Was war sein Schicksal schon gegen den Verlust, den diese Leute erlitten hatten?

Aber er wollte, dass Meyer sich erklärte.

Dass er seine Tat bereute.

Und dass die Strafkammer die besondere Schwere der Schuld feststellte und man ihn für den Rest seines Lebens wegsperrte.

Die Richter und Schöffinnen betraten den Saal. Auch Max erhob sich von seinem Stuhl. Die Fotografen zogen ab. Der Angeklagte nahm den grauen Aktendeckel runter. Wer nicht wusste, was Meyer getan hatte, musste ihn für einen harmlosen Durchschnittstypen halten. Sein Gesicht zeigte keine Regung.

Der sogenannte Prepper wirkte unbeteiligt.

Ein paar Falten um die starren Mundwinkel. Grau meliertes Haar, im Nacken zum Pferdeschwanz gebunden. Ein Sakko, das eine Nummer zu groß war. Möglicherweise hatte Meyer in der U-Haft abgenommen.

Rasch entspann sich zwischen den Anwälten, dem Staatsanwalt und der Vorsitzenden Richterin ein Geplänkel um Formalien. Max verstand den Sinn nicht ganz, obwohl er glaubte, ein wenig Ahnung vom Strafrecht zu haben.

Max bereute, dass er sich für dieses Theater freigenommen hatte. Demnächst würde er ohnehin in den Zeugenstand treten müssen. Bald verlor er den Faden und hing seinen eigenen Gedanken nach. Im Groben kannte er den Stand der Ermittlungen. Ein Kollege von der Kripo hatte ihm Teile der Akte zugespielt.

Für Max war der Angeklagte ein glasklarer Soziopath. Einer, der keine Regeln gelten ließ und ohne Empathie über Leichen ging. Der den Staat ablehnte und dessen Repräsentanten hasste.

Vermutlich war ihm sogar seine verstorbene Mutter egal gewesen.

Während ihre Leiche im Schlafzimmer verweste, hatte Meyer ihre Wohnung zur Festung ausgebaut. Dass gegen ihn ein Haftbefehl vorlag, weil die Bezahlung einer Geldstrafe wegen Körperverletzung ausstand, hatte man Max und Elif nicht mitgeteilt. Sie waren dem Auftrag der Leitstelle gefolgt, ohne selbst noch einmal alles abzuklären.

Auch dafür fühlte sich Max schuldig.

Die Vermieterin hatte die Polizei gerufen, weil der Briefkasten der alten Frau Meyer seit Wochen überquoll. Alles deutete darauf hin, dass Max und seine Partnerin auf eine hilflose Person stoßen würden, um die sich dringend ein Notarzt kümmern sollte.

Oder auf eine Verstorbene.

Max erinnerte sich daran, dass Elif und er sich unterwegs über ihre unappetitlichsten Leichenfunde unterhalten hatten. Gestank und Maden. Ein Kellerloch voller Fliegen. Ein Typ mit blau angelaufenem Gesicht, dicker Zunge und heruntergelassenen Hosen, der es beim autoerotischen Strangulieren übertrieben hatte.

Mit dem Sohn der alten Frau hatten sie nicht gerechnet.

Nicht damit, dass er sie ohne Vorwarnung angreifen würde.

Max spürte ein Zittern, als ihn die Erinnerung überkam. Meyer, wie er die Tür aufriss, Benzin verschüttete und einen Molotowcocktail warf, der Elif und den Mann von der Feuerwehr von einem Augenblick auf den anderen in lebende Fackeln verwandelte.

Wie sie hinunter auf die Straße rannten und sich schreiend auf dem Asphalt wälzten. Max, wie er die eigenen Verletzungen ignorierte und versuchte, mit seiner Jacke die Flammen zu ersticken.

Er schloss die Augen und vergrub das Gesicht in den Händen.

Dann vertagte die Vorsitzende Richterin die Verhandlung auf den nächsten Tag. Die Anwälte packten zufrieden ein. Meyer grinste. Die Justizbeamten führten ihn ab.

Max ließ sich mit dem Strom der Zuschauer aus dem Saal und durch das Foyer ins Freie treiben. Dort blieb er orientierungslos stehen.

Er atmete tief durch und schlug schließlich den Weg zur Straßenbahn ein.

Seine Aussage vor Gericht war für den übernächsten Freitag terminiert worden. Er fragte sich, wie er das meistern sollte.

Der Sohn des Helden war ein Wrack.

9.

Zu Hause überraschte Julia ihn mit einem Geschenk. Sie zog einen Karton aus der orangefarbenen Tasche eines Modekaufhauses, das an der Königsallee lag.

»Für den besten Ehemann von allen«, sagte sie feierlich.

»Ja, ist denn schon Weihnachten?«, zitierte Max eine TV-Werbung aus seiner Kindheit.

»Mach auf!«

»Das habe ich nicht verdient!«

Sie strahlte ihn wortlos an.

Er hob den Deckel ab. Der Inhalt war in Seidenpapier eingeschlagen. Es war ein Hemd. Die dünne Baumwolle fühlte sich in seinen Händen herrlich weich an.

»Sicher schweineteuer.«

»Heruntergesetzt im Pre-Sale.«

Es war türkisfarben und hatte ein auffälliges Blütenmuster.

Wunderschön, wenn auch für seinen Geschmack zu bunt.

Wann sollte er so etwas tragen?

Julia schien Gedanken lesen zu können. »Das ist für die Party. Wenn wir zu Robert und Birte gehen. Mein schöner Mann soll auch ein schönes Hemd tragen.«

Max umarmte seine Frau und bedankte sich.

Doch er war sich nicht sicher, ob er das zum Gartenfest der Familie anziehen konnte.

Er würde auffallen wie ein Pfau.

10.

Während er das Abendessen zubereitete, dachte Max an seine Brüder, die streng genommen nicht seine Brüder waren. Die sich als Russen bezeichneten, ohne welche zu sein.

Albert und Teresa waren tatsächlich im Süden Sibiriens aufgewachsen. In den Neunzigern waren sie als Russlanddeutsche ausgesiedelt. Die Regierung Helmut Kohls hatte ihnen die Tore geöffnet, weil man sich einen Zuzug treuer Wähler erhoffte. Zumindest im Fall von Albert und Teresa war das Kalkül aufgegangen. Konservativer als die beiden konnte man kaum sein.

Im Rückblick empfand Max es als Bereicherung, dass ihm die Trennung seiner Eltern eine neue Welt erschlossen hatte. Vieles wurde in Teresas Haushalt anders gehandhabt. Das Essen, die Umgangsformen. Und sein Vater wurde selbst ein halber Russe, wie er manchmal im Spaß bemerkte.

Max hatte auch noch den Vater von Teresa und Albert kennengelernt, der mit hartem Akzent kuriose Geschichten erzählte. Von einer schier endlosen Bahnfahrt im Viehwaggon nach Osten. Von Hunger und Kälte. Die Episode von den Krähen, die im Winter erfroren vom Himmel fielen und unverhofft rettende Nahrung boten, hatte sich Max besonders eingeprägt.

Erst viel später hatte er den historischen Zusammenhang recherchiert. Kaiser Joseph hatte Siedler aus dem Saarland nach Galizien abgeworben, das damals zu Österreich gehörte. Die Nazis lockten sie wiederum nach Polen, um einen ganzen Landstrich »deutsch« zu machen. Die Russen verschleppten sie schließlich gegen Kriegsende in einen Landstrich, der heute zu Kasachstan gehörte.

Sie galten als Faschisten. Deutsch sprachen sie nur, wenn sie unter sich waren. Sie lebten in ständiger Furcht, im Gulag zu landen, was das Todesurteil gewesen wäre.

Max erinnerte sich, dass der alte Mann oft belächelt worden war, wenn er seinen Erinnerungen nachhing. Heute tat es ihm leid, dass er nie nachgefragt hatte. Wart ihr wirklich Nazis? Wie habt ihr Sibirien überlebt?

Wenn sich Robert und André als Russen bezeichneten, taten sie das auch, weil sie nach der Ankunft im Rheinland noch lange als Fremde behandelt worden waren.

Max tat es vor allem als ironische Attitüde ab.

Sie beherrschten weder Russlands Sprache noch Schrift und hatten vom Land keine Ahnung. Eigentlich ging es ihnen nur um die korrekte Wodka-Marke.

Baikal, Beluga, Stolichnaya.

Und sie fanden, einer wie Putin würde Deutschland guttun.

Für Julia ein Grund, den Brüdern aus dem Weg zu gehen.

Max hoffte, die Aversion würde sich legen. Vielleicht könnte die Party den Weg dazu ebnen. Die Familie sollte zusammenhalten, fand Max.

Vor dem Einschlafen berichtete Max seiner Frau von dem Besuch im Gericht. Wie heftig ihn seine Erinnerung attackiert hatte. Max erwähnte seine Gewissensbisse.

Hätte er anstelle von Elif die Klingel gedrückt, würde sie noch leben.

Monatelang hatte er sich deshalb schuldig gefühlt.

Und sich gewünscht, ebenfalls tot zu sein.

»Sag mir, Julia, warum bin ich nicht darüber hinweg?«

Sie strich mit dem Finger über seinen Handrücken. »Ich bin froh, dass du nicht den Helden spielst. Lebend mag ich dich lieber.«

Er gab Julia einen Kuss.

»Du weißt gar nicht, wie wichtig du für mich bist«, sagte sie.

Plötzlich fiel Licht in den Raum.

Emilia stand in der Tür. Barfuß in ihrem Pyjama mit dem Einhorn auf dem Bauch.

»Ich kann nicht schlafen«, quengelte sie. »Meine Augen sind noch auf.«

Max knipste die Lampe auf dem Nachtkästchen an und blickte auf die Uhr. Er fragte sich, ob Emilia wegen des vermeintlichen Verfolgers von neulich beunruhigt war.

Er stieg aus dem Bett.

»Nein!« Emilia stampfte auf. »Mami soll!«

Julia strich ihm im Vorbeigehen über den Rücken und lachte. »Nicht eifersüchtig sein, mein Schatz. Die Phase geht vorbei.«

11.

Als Max und Julia eintrafen, war das Fest bereits in vollem Gang. Beim Grill im Garten hatten sich zahlreiche Kollegen versammelt, weshalb es Max zuerst dorthin zog. Julia schloss sich unterdessen einer Hausbesichtigung an, die Roberts Frau Birte anführte.

»Schickes Shirt«, begrüßte Robert ihn und grinste spöttisch.

»Mir gefällt’s«, verteidigte Max das Geschenk, das Julia ihm gemacht hatte.

»Alles gut. Ich weiß ja, dass du nicht schwul bist.«

André und die anderen empfingen ihn mit gewohnter Herzlichkeit. Umarmungen, High five. Offenbar waren nicht alle auf dem aktuellen Stand, was seine Tätigkeit in der Behörde anbelangte. Man bedrängte ihn mit Fragen.

»Schon eine ganze Weile arbeite ich wieder«, erklärte Max. »Innendienst.«

»Führungsstelle Direktion GE«, fügte Robert hinzu.

Die anderen nickten. Max stellte sich vor, was ihnen durch den Kopf ging. Der bemitleidenswerte Psycho versucht, ins Leben zurückzufinden. Weil er nicht mehr für die Straße taugt, lässt man ihn Büroklammern biegen und Akten abstauben.

Natürlich war da etwas dran.

Weil das psychologische Gutachten empfahl, ihn dort zu verwenden, wo keine überraschende Situation sein Trauma triggern konnte, hatte man ihn in den Innendienst gesteckt. Direktion Gefahrenabwehr und Einsatzangelegenheiten. Aber zur eigentlichen Gefahrenabwehr taugte er nicht mehr.

Nicht einmal zum Telefondienst in der Leitstelle. Ein Notruf könnte seine seelische Verletzung triggern. Die Psychologin hatte das Schreiben schon aufgesetzt, bevor sie ihn zum Gespräch bat.

Kein ganzer Kerl, dachte Max. Nett, dass die Kollegen es sich nicht anmerken lassen.

»Wie ist Priebe so aus der Nähe?«, fragte eine Kommissarin, die er nur vom Sehen kannte.

Sie meinte den Chef der Direktion, die Nummer vier der Behördenleitung.

»Bis jetzt kann ich nichts Negatives sagen«, antwortete Max. »Und euer neuer PI-Leiter? Wird das Rad jetzt neu erfunden?«

»Ganz okay.«

»Immerhin hält er uns die internen Ermittler vom Leib«, sagte Timo, dessen kleiner Sohn ihm am Bein hing und schüchtern jeden Blickkontakt mit den Erwachsenen vermied.

»Die internen Ermittler? Was wollen die von euch?«

»Haben es auf Mirko abgesehen«, antwortete Robert. Weil Max fragend schaute, schob er eine Erklärung hinterher: »Hat wohl mal ein Asservat falsch deklariert. Muss sich jetzt einen Anwalt nehmen.«

»So schlimm?«

Die Kollegin warf ein: »Wen die mal am Haken haben …«

Timo sagte: »Sie behandeln uns, als sei die gesamte Wache eine kriminelle Vereinigung. Vor allem Mirkos Einsatztrupp Präsenz und Intervention. Aber Robert hat dem neuen PI-Leiter klargemacht, wie er den Laden am besten zusammenhält.«

»Indem er zu euch steht«, sagte Max.

»Themenwechsel«, ordnete Robert an.

Die Kollegen begannen, leidenschaftlich über die polizeifeindliche Stimmung im Land zu schimpfen. Vermeintliche Übergriffe von Beamten würden hochgespielt. Die Medien bliesen Bagatellen zu Skandalen auf. Grüne und Linke schwadronierten von strukturellem Rassismus. Plötzlich gelte jeder, der eine Uniform trug, als tumber Schläger.

Auch auf die Landesregierung sei kein Verlass. Das Kriminalkommissariat für Beamtendelikte tobe sich in blindem Aktionismus aus. Es war aufgestockt worden. Man hatte auswärtige Leute geschickt, die unvoreingenommen arbeiten sollten.

Kollegen, die gegen Kollegen ermittelten.

Max fragte sich, wie sein Vater sie genannt hätte.

Ehrlose Verräter, Abschaum ohne Anstand.

»Schreibtischtäter ohne jede Ahnung, was auf der Straße los ist«, sagte André, was noch mild klang.

Max fragte sich, wann ihn seine Brüder ebenfalls so einsortieren würden.

Robert winkte ab. »Themenwechsel, hab ich gesagt.«

Timo ging in die Hocke und sprach seinen Jungen an. »Willst du nicht mit den anderen Kindern spielen?«

Der Kleine schüttelte den Kopf und klammerte sich noch fester an den Papa.

Birte brachte eine Platte mit rohen marinierten Steaks aus dem Haus. Offenbar war die Besichtigung abgeschlossen. Teresa und Onkel Albert folgten mit großen Schüsseln, die sie auf dem Gartentisch neben den gestapelten Tellern und den Papierservietten abstellten.

Der Kartoffelsalat sah gut aus. Max spürte Appetit.

Julia eilte herbei.

Sie wirkte unruhig, wie Max auffiel.

Als hätte sie etwas auf dem Herzen.

12.

Birte beschwerte sich: »Warum glüht das noch nicht? Wozu steht ihr Männer hier herum?«

Der Grill war eine große Kugel aus schwarz emailliertem Stahl, der Deckel aufgeklappt, nur ein dünner Rauchfaden stieg daraus auf. Timo fühlte sich angesprochen, griff nach einer Flasche mit Flüssiganzünder und schüttete etwas davon über die Kohle.

Flammen schossen hoch.

Max schreckte zurück.

Timo wiederholte das Spiel mit einem ganzen Schwall aus der Flasche. Gerade noch rechtzeitig brachte er sich vor dem fauchenden Feuerball in Sicherheit und lachte sichtlich verlegen.

»Spinnst du?«, fuhr Julia ihn an. »Was soll der Scheiß?«

Sie nahm Max in den Arm.

Robert nahm dem Kollegen die Flasche ab.

»War sicher keine Absicht«, beteuerte er stellvertretend für ihn. »Komm schon, Timo, entschuldige dich. Du weißt genau, dass Max das nicht abkann!«

»Sorry«, murmelte der Angesprochene. »Hab ich ganz vergessen.«

»Immerhin stimmt nun die Hitze«, sagte Birte und begann, das Fleisch auf den Rost zu legen.

Das Brutzeln der Steaks erinnerte Max daran, was der Molotowcocktail des sogenannten Preppers mit seiner Haut angestellt hatte. Und mit Elif und dem Feuerwehrmann.

Max registrierte den Blick, den Birte ihm zuwarf.

Als hätte er den Aufruhr verursacht.

»Geht’s wieder?«, fragte Julia leise.

»Ja, danke.«

»Was ich dich fragen wollte: Weißt du, wo deine Mutter mit Emilia hinwollte?«

»Nein, warum?«

»Ich kann sie nicht erreichen. Weder mobil noch übers Festnetz.«

»Emilia ist in guten Händen. Mach dir keine Sorgen.«

Julia widersprach nicht, wirkte aber immer noch beunruhigt.

»Was hast du, Schatz?«, fragte er.

Julia schüttelte nur den Kopf.

Sie nahm ihr Handy ans Ohr. Offenbar versuchte sie erneut, Anne zu erreichen.

Im nächsten Moment war Julia aus seinem Blickfeld verschwunden.

13.

Nachdem Max eine Kleinigkeit gegessen hatte, ging er ins Haus, um nach Julia zu sehen. Vielleicht wünschte sie, vorzeitig zu gehen. Er hatte es ihr angeboten.

Durch die Terrassentür gelangte er in eine großzügig geschnittene Wohnküche. Es roch nach frischer Farbe, Teile der Einrichtung waren nagelneu. Unter der Decke hingen zwei Luftballons in Form von Ziffern, die eine 40 bildeten.

Auf dem Sofa unterhielt sich Onkel Albert mit einem Mann, den Max zum ersten Mal sah. Er war schlank und muskulös, etwa fünfzig Jahre alt, vielleicht auch sechzig. Das Gesicht voller grauer Bartstoppeln, das Kopfhaar ebenso kurz und grau.

»Hey, schickes Hemd«, rief Albert ihm zu.

»Danke.«

»Danke noch mal für die Lieferung aus Vlissingen neulich!«