Nachtliebe - J. R. Ward - E-Book
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Nachtliebe E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Vampirkrieger Balthazar ist am glücklichsten, wenn er im Schatten der Nacht an Fassaden hochklettern, in Häuser eindringen und den ein oder anderen Gegenstand einstecken kann. Dabei will er sich nicht bereichern, er hat einfach Freude am Stehlen. Doch er kann sich nicht vorstellen, dass auch ihm selbst einmal etwas gestohlen wird – und schon gar nicht sein Herz ... Das ändert sich schlagartig, als er Erika Saunders begegnet. Die schöne Polizistin ermittelt in einer Serie grausamer Morde und vermutet, dass sie es mit einem nicht ganz menschlichen Täter zu tun hat. Dass der attraktive neue Mann in ihrem Leben ein Vampir ist, ahnt sie jedoch nicht. Als durch Erikas und Balthazars Beziehung auch noch ein alter Feind der BLACK DAGGER zu neuem Leben erwacht, gerät die Beziehung der beiden in Gefahr.

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Seitenzahl: 693

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Das Buch

Vampirkrieger Balthazar ist am glücklichsten, wenn er im Schatten der Nacht an Fassaden hochklettern, in Häuser eindringen und den ein oder anderen Gegenstand einstecken kann. Dabei will er sich nicht bereichern, er hat einfach Freude am Stehlen. Und doch kann er sich nicht vorstellen, dass auch ihm selbst einmal etwas gestohlen wird – schon gar nicht sein Herz … Das ändert sich schlagartig, als er Erika Saunders begegnet. Die schöne Polizistin ermittelt in einer Serie grausamer Morde und vermutet, dass sie es mit einem nicht ganz menschlichen Täter zu tun hat. Dass der attraktive neue Mann in ihrem Leben ein Vampir ist, ahnt sie jedoch nicht. Als durch Erikas und Balthazars Beziehung auch noch ein alter Feind der BLACK DAGGER zu neuem Leben erwacht, gerät das Glück der beiden in Gefahr.

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Ein ausführliches Werkverzeichnis der von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:

www.jrward.com

J. R. Ward

NACHTLIEBE

Ein BLACK DAGGER-Roman

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

LOVER ARISEN

Aus dem Amerikanischen von Bettina Spangler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 11/2022 

Redaktion: Anneliese Schmidt

Copyright © 2022 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2022 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Autorenfoto © by John Rott

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29720-6V001

www.heyne.de

Gewidmet:

Euch beiden.

Die Liebe ist umso süßer,

wenn der Kampf gewonnen ist

Danksagung

Vielen, vielen Dank an die Leser der BLACK DAGGER! Es ist eine lange, wunderbare, aufregende Reise mit euch und der Bruderschaft, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was in dieser Welt, die wir alle so lieben, als Nächstes passiert. Ich möchte Meg Ruley, Rebecca Scherer und dem Team bei JRA danken, außerdem Hannah Braaten, Andrew Nguyên, Jennifer Bergstrom, Jennifer Long und der gesamten Gallery- und Simon-&-Schuster-Familie.

Ans Team Waud: Ich liebe euch alle. Ehrlich. Alles, was ich tue, mache ich aus Liebe und Bewunderung für meine Familie, sowohl die blutsverwandte als auch die frei gewählte.

Ach ja, und danke an Naamah, meinen Writer Assistant Nummer zwei, und Obie, Writer Assistant in Ausbildung. Sie arbeiten beide genauso hart an meinen Büchern wie ich! Und in Gedenken an unseren geliebten Archieball!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

 Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

 Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.

 Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Er unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

 Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge sorgfältiger Auswahl der Fortpflanzungspartner besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

 Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Das Halten von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

 Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

 Dhunhd – Hölle.

 Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

 Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

 Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

 Gesellschaft derLesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

 Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

 Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

 Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin zur Partnerin nehmen.

 Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

 Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

 Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischerweise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder zum Abhandenkommen eines Fahrzeugs führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt, und besagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.

 Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngste Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

 Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

 Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

 Lewlhen – Geschenk.

 Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

 Lhenihan – Ein mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von immenser Größe und sexueller Ausdauer.

 Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

 Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

 Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

 Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

 Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

 Novizin – Eine Jungfrau.

 Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

 Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

 Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

 Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

 Rahlman – Retter.

 Rythos – Rituelle Prozedur, um eine verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Schuldigen entgegen.

 Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

 Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

 Symphath – Eigene Spezies der Vampire, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sie sind heute nahezu ausgestorben.

 Talhman – Die böse Seite eines Vampirs. Ein dunkler Fleck auf der Seele, der ans Licht drängt, wenn er nicht ganz ausgelöscht wird.

 Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

 Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

 Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

 Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber vollkommen ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

 Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

 Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

 Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

 Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

Prolog

Im Dhunhd, vier Wochen, zwei Tage, drei Stunden … und exakt dreizehn Minuten vor dem gegenwärtigen Zeitpunkt.

Unsterblich zu sein bedeutete, niemals Bekanntschaft mit dem Tod zu machen.

Als Omega, Bruder der Heiligen Jungfrau der Schrift, Herr und Meister aller Lesser, Ursprung alles Bösen auf der Erde, in seinen Unterschlupf im Dhunhd zurückkehrte und wieder körperliche Gestalt annahm, wurde er durch eben diesen Körper an seine eigene Unsterblichkeit erinnert.

Er würde nicht das Zeitliche segnen. Niemals. Für ihn gab es kein endgültiges Aus.

Scheiß auf diese beknackte Dhestroyer-Prophezeiung.

Er taumelte vorwärts und sagte sich wieder und wieder vor, dass er ewig leben und bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus in Hass und Chaos herrschen würde, weil er pure Energie war, und Energie war nicht nur die Grundlage des Universums, sie war das Universum selbst. Energie versiegte nie, nicht, solange es jenseits alles Irdischen noch Galaxien und Sonnen gab, die Licht erzeugten, sowie Planeten, die im Orbit dieser Welt kreisten. Er war die personifizierte Unendlichkeit, nichts war mächtiger als er, sowohl auf Erden als auch unten in der Hölle …

Wo war er?

Omega drehte sich steif um die eigene Achse und versuchte, seine genaue Position innerhalb des Labyrinths aus grauen Felsenhöhlen und Korridoren zu bestimmen. Waren sie nicht früher einmal weiß gewesen? Oder vielleicht schwarz? Weil sein Gehirn ihm keinerlei Anhaltspunkt bot und seine Erinnerungen wild durcheinanderpurzelten, sah er sich gezwungen, sich mit seinem Innersten zu konfrontieren, dem er sich bislang versperrt hatte. In den vergangenen Nächten war er oftmals ohne Orientierung gewesen, hatte sich in den Straßen und Gassen von Caldwell vollkommen hilflos gefühlt, und selbst hier, in seinem Unterschlupf, wo er sich über Äonen vergnügt und seinen sexuellen Bedürfnissen gefrönt hatte, um seine Batterien aufzuladen, war er vollends verloren. Und warum war er überhaupt zu Fuß unterwegs? Im Normalfall hätte er sich einfach per Willenskraft an den gewünschten Ort hier in seinem Reich versetzt. Und normalerweise … hätte ihn das alles nicht derart erschöpft.

Aber er würde nicht dahinscheiden, nein, niemals. Ihn konnte man nicht auslöschen.

Scheiß auf diese Prophezeiung …

Warum war er hergekommen?

In der Hoffnung, den Zweck seiner Anwesenheit hier unten im Dhunhd herauszufinden, bewegte er sich weiter durch die Korridore seines Reichs und versuchte, nicht an die Vergangenheit zu denken. Schließlich nahm man im Vergangenen normalerweise nur Zuflucht, wenn die Gegenwart zu unschön war und die Zukunft keinerlei Aussicht auf Besserung bot – und sein Schicksal sah gewiss nichts dergleichen für ihn vor. Nein, wenn ihm aktuell der Sinn nach einer Erinnerungsreise zurück zu vergangenen Ereignissen auf seiner Zeitachse stand, dann nur, weil er sich angenehmeren Gedanken widmen wollte. Der rückwärtsgewandte Blick hatte nichts mit seiner gegenwärtigen Situation zu tun …

Er wusste schon wieder nicht, wo er war.

Oder sollte er besser sagen »immer noch«?

Alles sah so schrecklich gleich aus, die Korridore, die Räume, die Foltergeräte mit ihren schweren Ketten und den Flecken, die ineinander verliefen. Ihr Anblick löste etwas aus, das ihn verwirrte, was eigentlich nicht hätte sein dürfen. Omegas beschränkte Wahrnehmung und eine schockierende körperliche Schwäche machten sich nun bemerkbar, als seine Beine plötzlich unter ihm nachgaben und er hart auf allen vieren auf dem Boden landete. Das Schlimmste an der Sache für ihn war, dass er die Schmerzen an Händen und Knien keineswegs als süß empfand, ganz im Gegenteil. Sie sorgten nicht wie üblich für ein sexuelles Prickeln in seinen Lenden, und schlimmer noch, sie verstärkten auch nicht wie früher seinen Drang, den Kampf gegen die Bruderschaft der Black Dagger weiter voranzutreiben. Der glühende Schmerz ließ ihn stattdessen nur … alt aussehen. Ja, er fühlte sich tatsächlich alt.

Ein Gefühl, das sich so gar nicht mit seiner Unsterblichkeit in Einklang bringen ließ.

Immer noch auf Knien setzte er sich zurück auf die Fersen und betrachtete seine verschmutzte Robe. Der Stoff, der sich um seine Beine bauschte, war einst blütenweiß gewesen, darunter waren die dichten schwarzen Schwaden seiner Essenz hervorgequollen. Jetzt war das Gewebe ergraut, genau wie seine Aura, grau wie die Felswände ringsum, wie die Decke über ihm, die Wände der Felsengänge, die sich in labyrinthartigen Windungen in alle Richtungen erstreckten. Mit schwacher Hand wischte er über ein paar rötliche Flecken. Sie stammten von dem Blut der vier Lesser, die soeben von ihm initiiert worden waren. Sie waren nun keine Menschen mehr, fristeten ihr weiteres Dasein als seelenlose Vampirjäger. Er wollte sich damit trösten, dass es der Tropfen seiner Essenz war, den er ihnen eingeflößt hatte, der für das gegenwärtige Schwinden seiner Kräfte verantwortlich war. Dabei wusste er genau, dass dies keinen Einfluss auf sein Befinden hatte. Eigentlich hätte er über ausreichend Kraftreserven verfügen müssen, um Hunderte Menschen zu Sklaven des Bösen zu machen, wenn ihm danach wäre.

Früher wäre er mühelos dazu in der Lage gewesen … zu …

Er verlor den Faden, seine Gedanken so unstet wie sein Gesamtzustand. Immer wieder schweiften sie ab, als wollten sie sich auf diese Weise der traurigen Realität, die der ursprüngliche Auslöser für ihre Flatterhaftigkeit war, entziehen.

Sein Bewusstsein hatte sich in einen tiefen Schlund verwandelt, der die Kräfte des Bösen immer weiter in sich aufsaugte. All die Jahrhunderte, die er im Krieg gegen die Schöpfung seiner Schwester, diese Biester mit den langen Beißerchen, gestanden war, hatte er die Augen davor verschlossen, dass auch er Verluste auf dem Schlachtfeld erleiden konnte. In einer kriegerischen Auseinandersetzung, heraufbeschworen einzig und allein durch seine Wut und seine Eifersucht. Er hatte sich mit Leib und Seele dem unvermeidlichen Triumph über seine Schwester verschrieben und sich an seinen Kriegstrophäen erfreut, den Leichen der von ihr geschaffenen Spezies, diesen Vampiren, die sie unbedingt auf diese Welt hatte bringen müssen, als man ihr einen einzigen Schöpfungsakt gewährt hatte. Jeder einzelne Tote hatte ein Stück aus ihrem Herzen herausgerissen, und die Befriedigung, die ihr Leid ihm bereitete, war zu seiner Leibspeise geworden.

Es hatte ihm große Genugtuung bereitet, viele Jahre lang.

Aber jetzt … das ganze Hin und Her kam ihm vor wie ein Kampf, den ein anderer ausfocht, die Siege ohne jeden Nachhall, als hätte es sie nie gegeben. Und während er sich die sadistische Freude in Erinnerung rief, die er seinerzeit empfand, tauchte plötzlich Butch O’Neal, dieser ehemalige Mensch, vor seinem inneren Auge auf. Hätte Omega geahnt, dass die Gefangennahme eines der beliebtesten Mitglieder der Bruderschaft seine eigene Existenz bedrohen würde, wäre er diesem Sterblichen tunlichst aus dem Weg gegangen und hätte ihn gemieden wie … nun ja, der Teufel das Weihwasser.

O’Neal hatte sich als so was wie ein trojanisches Pferd entpuppt. Statt ein Instrument zu sein, das Omega dazu dienen sollte, die Bruderschaft zu unterwandern, hatte sich der Hurensohn als Bedrohung für den erwiesen, der ihn ursprünglich korrumpiert hatte. Das Böse hatte buchstäblich eine Waffe zu seiner eigenen Vernichtung erschaffen. Wenn er sich überlegte, wie sich ihre Wege gekreuzt hatten, fragte er sich, ob er die Erschaffung des Dhestroyer hätte verhindern können. Es war, als hätte dieser Mensch ihn aufgespürt, nicht umgekehrt …

»Schluss mit diesen sinnlosen Grübeleien«, brummte Omega.

Er stählte sich innerlich und zwang seinen Oberkörper und seine leider wenig zuverlässigen Beine, sich in konzertierter Bewegung in die Vertikale zu bringen. Nur um abermals ins Trudeln zu kommen.

Er war unsterblich.

Er würde nicht abtreten.

Er war unsterblich. Er würde nicht abtreten …

Der Rhythmus der Worte deckte sich mit dem seiner Schritte, wie das Ticken eines Metronoms, das ihn vorwärtstrieb, obwohl ihn jede einzelne Bewegung näher an den Rand der Erschöpfung brachte. Einige Zeit später, vielleicht ein ganzes Jahr, erregte ein Funkeln die Aufmerksamkeit des Bösen. Omega blieb stehen und stellte verwundert fest, dass er sich in seinen privaten Schlafgemächern befand. Dort, jenseits des kargen Raumes, fiel sein Blick auf einen Dolch, silbern und mit messerscharfer Klinge. Er stand von einem Marmorpodest senkrecht nach oben, auf der Spitze balancierend, als schwebte er in der Luft.

Das ist es, dachte er. Deshalb bin ich hergekommen. Jetzt erinnere ich mich wieder.

Er bewegte sich auf die Waffe zu und wollte auf dem Weg dorthin per Willenskraft seine Robe abwerfen. Als ihm dieser simple Zaubertrick nicht gelingen wollte, hob er die zitternden Hände frustriert an die Schleife an seinem Hals und zog sie auf. Es war lange her, seit er das letzte Mal etwas von Hand hatte erledigen müssen, deshalb hatte er jetzt seine liebe Not mit dem Knoten, den er zuvor kraft seiner Gedanken gebunden hatte.

Omega aber wollte sich nicht mit der Unbeholfenheit seiner zehn Finger befassen. Irgendwie gelang es ihm schließlich, sich seiner Kleidung zu entledigen.

Er streckte die offene Hand aus, um den Dolch zu sich zu rufen. Als auch der sich weigerte, seinem mentalen Befehl zu gehorchen, sah Omega sich gezwungen, sich weiter zu nähern und das Heft der widerspenstigen Waffe zu ergreifen. Schlagartig stellte sich ein vertrautes Gefühl ein, als Omega die Finger darum schloss, und trotzdem kam ihm der Dolch so schwer vor wie ein Felsbrocken, während er ihn aus seiner unsichtbaren Halterung zu ziehen begann.

Er senkte den Blick und betrachtete seine Geschlechtsteile. Wie alles an seinem »Körper« waren auch sie nichts als ein überzeugendes Trugbild, eine künstliche Prothese gefüllt mit Körperflüssigkeiten, eine Stofflichkeit, die seinen Zwecken auf Wunsch dienlich war und sich ansonsten in das Reich der Illusion zurückzog.

Mit gefühlt letzter Kraft schob er seine Hand unter Hoden und Schwanz. Kurz durchzuckte ihn der Gedanke, dass sie warm und schwer zugleich waren.

Wieder funkelte der Dolch, als er die scharfe Klinge unter das schob, was auf Höhe seiner Oberschenkel baumelte.

»Ich werde nicht sterben …«, presste er mit erstickter Stimme hervor. »Ich werde niemals sterben.«

Er hatte die Worte noch nicht zu Ende gesprochen, da kam ihm schlagartig zu Bewusstsein, dass es eine Lüge war. Keine hinterlistige Lüge, sondern eine, die einfach nur mitleiderregend war.

Er wollte nicht, dass es für ihn vorbei war. Als er noch verschwenderisch mit seiner Zeit umgehen konnte, hatte er sie für so viel Nebensächliches vergeudet, ganz wie einer, der im Geld schwamm, wenn er sich mit einem Überangebot an schönen Dingen konfrontiert sah. Jetzt aber, da jede Sekunde unendlich kostbar geworden war, vermisste er die unbekümmerte Freigebigkeit von früher wie ein geliebtes Wesen, das zu früh von einem gegangen war.

Eine einzelne Träne sammelte sich in seinem Augenwinkel. Wie gern hätte er die Zeit zurückgedreht. Aber er war zu schwach. In seiner blinden Arroganz hatte er zu lange gewartet …

Mit einer entschlossenen Handbewegung zog er die Klinge über die zarte, empfindsame Haut seines Geschlechts und schnitt sich Penis und beide Hodensäcke ab. Der Schmerz jagte durch seine Adern und trieb sein Herz an, bis es in seiner Brust zu explodieren drohte. Er fühlte sich belebt von seinem wilden Pumpen, bekam durch den Adrenalinstoß einen Vorgeschmack auf das, was er in rauen Mengen benötigt hätte.

Schwarzes Blut rann an den Innenseiten seiner Schenkel herab und sammelte sich um seine Füße herum in zwei Pfützen. Langsam hob er seine Hand auf Augenhöhe und atmete tief durch die Nase ein. Er roch nichts. Andererseits, gab es ein Wesen, das sich selbst riechen konnte? Ganz gleich, ob es sich um ein Parfüm oder um natürliche Körpergerüche handelte, die Nase erkannte das, was fremdartig und neu war, aber nicht das, von dem sie andauernd durchdrungen war.

Vor langer Zeit hatte ihm jemand gesagt, er rieche nach Babypuder. Es war ein Mensch gewesen, dem er wenig später die Eingeweide herausgerissen hatte.

Im Nachhinein kam es ihm kindisch vor, wie beleidigt er damals reagiert hatte. Aber er war voll ungebändigter Wut gewesen. Mittlerweile musste er sogar damit haushalten …

Der Gedanke zerrieselte zu Staub, als würde er so den Beweis für etwas liefern, an das er sich nicht mehr erinnern konnte.

In seiner hohlen Hand mit den abgetrennten Geschlechtsteilen sammelte sich schwarzes Blut und floss an seinem Handgelenk herab. Er sah zu, wie das glänzende Rinnsal langsam und träge an seinem Unterarm entlangkroch, im diffusen Licht, das keiner bestimmten Quelle zu entspringen schien.

»Mein Sohn.« Er räusperte sich und sprach lauter. »Mein Sohn soll für einen Neubeginn sorgen und mein Werk fortsetzen, wenn ich es nicht mehr kann.«

Die Forderung schien rein gar nichts zu bewirken.

»Mein Sohn soll zurückkehren, jetzt und hier!«

Als wieder nichts passierte, genau wie es ihm zuvor mit der Kleidung und dem Dolch ergangen war, musste er sich zähneknirschend eingestehen, dass sein Machtschwund inzwischen so erheblich war, dass er keine Herrschaft mehr über die unbelebten Objekte besaß.

Sein Frust steigerte sich zu Verärgerung, die sich zu grenzenlosem Zorn auswuchs, und er schleuderte das leblose Fleisch in seiner Hand quer durch den Raum zu seiner Bettstatt. Doch es war nicht der erhoffte kraftvolle Wurf. Vielmehr blieb die Luft so gut wie unberührt von der armseligen Bewegung, was ihm schmerzlich vor Augen führte, dass er seinen einzigen Sohn niemals so hätte verrotten lassen dürfen. Doch damals hatte er sich nicht genügend respektiert und wertgeschätzt gefühlt, wenn man bedachte, was er alles für ihn getan hatte. Und obwohl es der große Blinde Vampirkönig war, der Wrath, also Wut, genannt wurde, wäre dieser Name für Omega mit seinem finsteren Zorn noch sehr viel passender gewesen.

Er war so von blinder Rachsucht erfüllt gewesen, so borniert. Eine üble Mischung.

Jetzt stand er hier, schlagartig um Jahre gealtert und gebrechlich, ohne irgendeine Stütze, ohne seinen Sohn, der ihm helfend zur Seite stehen hätte können, ohne ein Vermächtnis innerhalb seiner Gesellschaft von Lessern. Er war zum gleichen Schicksal verdammt wie alles, das je existiert hatte: Und so würde auch er früher oder später zu einer fernen Erinnerung verblassen, die irgendwann komplett in Vergessenheit geriet, sobald der Letzte derer, die ihn gekannt hatten, das Zeitliche segnete.

In seiner Überheblichkeit war er sich seiner Zukunft viel zu sicher gewesen. Und jetzt … jetzt war es zu spät.

Voller Selbstekel wollte er sich abwenden und sich an den einen Ort begeben, wo er noch eine gewisse Chance hatte, einen Rivalen zu finden … als er auf seiner Bettstatt eine Bewegung registrierte.

Mit schleppenden Schritten schob er sich darauf zu und warf einen Blick auf die schwarze, blutige Schweinerei, die nach seinem lahmen Wurf hier gelandet war. Die einzelnen Bestandteile seiner Geschlechtsorgane drehten und wanden sich, schienen zu zerfließen, sich wieder zu vereinen … sich neu zusammenzusetzen. Es war, als würden sie keimen und frisch austreiben.

Das, was nun daraus entstand, war eine weiche Masse, und er wurde überwältigt von dem Wunsch, zu bleiben und seinen einzigen Sprössling zu beschützen. In dem Wissen, dass er ihn stattdessen in diesem verwundbaren Zustand würde zurücklassen müssen, stand Omega über seine Leibesfrucht gebeugt da und sah zu, wie die Masse zu doppelter Größe anschwoll und sich stufenweise die Form eines Säuglings herausbildete: Pummelige Ärmchen und Beinchen wuchsen aus dem Rumpf hervor, während sich gleichzeitig etwas wie ein Kopf hervorschob. Die Gliedmaßen bewegten sich unkoordiniert und völlig unabhängig vom Wachstumsprozess, begannen, sich zu beugen und zu strecken.

Unter einem feinen Film aus schwarzem Blut schien die weiße, matte Haut durch, wie Knochen.

»Mein Sohn«, flüsterte Omega.

Wäre das Böse zu so etwas wie Liebe fähig gewesen, dann wäre das Gefühl, das ihn gegenwärtig überrollte, wohl vergleichbar gewesen mit dem, wofür so viele lebten und starben. Es war ein eigenartiges, fremdes Gewicht, das auf seiner Brust lastete und das zweifelsohne in Verbindung zu dem Säugling vor ihm stand, ein Gefühl, das jeder Logik entbehrte, sondern einzig einem Instinkt entsprang.

Und auch wenn er es nur ungern zugab, wusste er genau, dass diese Empfindung tatsächlich Liebe war, denn er hatte sie bereits einmal für ein anderes Geschöpf verspürt. Seine Schwester aber, die Heilige Jungfrau der Schrift, war viel zu sehr von ihrer eigenen Schöpfung eingenommen gewesen, um ihrem Bruder auch nur einen Funken Beachtung zu schenken. Er war ihr auf Schritt und Tritt gefolgt, nachdem sie beide von ihrem Schöpfer erschaffen worden waren. Dass sie ihn derart mit Missachtung gestraft hatte, hatte den Samen für seinen Hass auf die Spezies der Vampire gelegt.

So borniert. So kindisch.

»Ich muss nun gehen.« Er wischte sich mit dem Handrücken über die tränennassen Augen. »Du wirst leben. Mit oder ohne mich. Es ist dir bereits einmal geglückt.«

Er wäre zu gerne geblieben, doch er musste zum Allerheiligsten der Bruderschaft, zurück zu diesen Gefäßen, die die Krieger im Laufe der Jahre zusammengetragen hatten. Denn darin befanden sich, wenn auch vertrocknet und zum Teil uralt, die Herzen, die früher sein Blut durch die Adern seiner Geschöpfe gepumpt hatten, Trophäen für die Brüder, genau wie die toten Vampire seine Trophäen gewesen waren in seinem Widerstreit gegen die Jungfrau der Schrift. Wenn es ihm gelänge, an diese Gefäße heranzukommen, könnte er zu neuer Kraft finden, indem er sich die darin befindlichen Überreste seiner eigenen Essenz einverleibte. Ja, es wären nur äußerst klägliche Reste, aber auf die Menge insgesamt kam es an. Hunderte und Aberhunderte von Herzmuskeln stünden ihm dort zur Verfügung, und auch das geringste Quäntchen konnte satt machen, sofern man nur genügend auf dem Teller hatte.

Er war sich sicher, was ihren Aufbewahrungsort betraf. Der Schöpfer war zum Wohle eines fairen Gleichgewichts gezwungen gewesen, Omega zumindest einen Vorteil zu gewähren: Im Falle eines Akts der Übervorteilung durch die Jungfrau der Schrift konnte er diesen rückgängig machen.

Also nein, er würde nicht sterben, niemals. Ihn würde man so schnell nicht auslöschen.

Prophezeiung hin oder her.

Notfalls würde sein Sohn für ihn weiterleben – doch es lag eine gewisse Ironie darin, dass er sich jetzt zwingen musste zu gehen und er sich darum sorgte, was aus dem Kleinen werden würde, falls er nicht überdauerte. Sein Bedürfnis sicherzustellen, dass zumindest ein Teil von ihm fortbestand, war das Einzige, was er jemals mit den Sterblichen gemeinsam gehabt hatte.

Jetzt verstand er, warum die Menschen so viel auf ihre Kinder gaben.

Genau wie die Vampire.

Gegenwart, 267 Primrose Court, Caldwell, New York

»Nein, vergiss es. Diesmal hältst du dich zurück.«

Als sich Detective Treyvon Abscott vor Detective Erika Saunders aufbaute und ihr den Weg verstellte, blieb sie gezwungenermaßen stehen. Niemand lief gern ungebremst gegen eine Ziegelmauer. Ihr Kollege war am College Mitglied der Footballmannschaft gewesen, ein ehemaliger Marine, ehrenhaft entlassen, und mindestens einen halben Kopf größer und siebzig Pfund schwerer als sie. Als hätte sein massiver Körperbau nicht schon gereicht, plusterte er sich zusätzlich auf und hielt beide Hände vor sich hoch, als müsste er einen Sattelschlepper stoppen.

»Die Zentrale hat mich hierherbeordert.« Erika verschränkte trotzig die Arme. »Du kannst mich nicht aufhalten. Das wirst du nicht wagen.«

Hinter ihrem Partner ragte ein schlichtes, zweigeschossiges Wohngebäude mit angrenzender Doppelgarage empor, die Fassade in das blinkende Blaulicht der Einsatzfahrzeuge in der Einfahrt getaucht. Der grelle Schein wurde von den Fenstern zurückgeworfen, sodass das Einfamilienhaus in der Dunkelheit strahlte wie eine Discokugel.

»Mir gleich, was die von der Einsatzplanung sagen.« Treys Stimme klang vollkommen ruhig und doch lag ein unmissverständlicher Unterton darin. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte. »Ich habe es dir bereits am Telefon erklärt. Den Fall übernehme ich. Ich komme hier alleine klar.«

Erika legte die Stirn in Falten. »Nur zu deiner Info: Für diese Tatortaneignung könnte ich dir die Auszeichnung als Mitarbeiter des Monats aberkennen lassen …«

»Geh nach Hause, Erika. Das sage ich dir als Freund …«

»Schon klar, ich« – und damit tippte sie sich mit dem Zeigefinger an die eigene Brust – »habe nie eine Anerkennung für besonders herausragende Kollegialität erhalten. Und willst du wissen, warum?«

»Moment, was?«, hakte ihr Partner nach. Als würde sie in fremden Zungen sprechen.

Sie huschte blitzschnell an ihm vorbei und sprach über die Schulter gewandt weiter, während er im Umdrehen über seine eigenen Füße stolperte: »Ich bin keine gute Zuhörerin, und ich mag es nicht, wenn man mir im Weg steht. Deshalb gewinne ich nie die Mitarbeitermedaille.«

Entschlossen stapfte sie über die Einfahrt auf das Haus zu und hörte Trey in ihrem Rücken verhalten fluchen. Aber ihr lieber Kollege würde sich wohl oder übel damit abfinden müssen. Sein Territorialverhalten überraschte sie allerdings. Normalerweise kamen sie beide nämlich wunderbar miteinander aus. Sie waren seit Januar ein Team, nachdem sein früherer Partner, José de la Cruz, sich nach vielen ehrenwerten Dienstjahren, in denen er herausragende Arbeit geleistet hatte, in den Ruhestand verabschiedet hatte. Sie hatte keinen Schimmer, was Trey dazu trieb, diesen Fall für sich zu beanspruchen …

»Hey, Andy«, sprach sie den uniformierten Beamten an der Tür an.

… aber sie würde sich nicht einschüchtern lassen.

»Detective.« Der Polizist trat zur Seite, um sie eintreten zu lassen. »Brauchen Sie Überschuhe?«

»Danke, hab ich dabei.« Sie machte sich daran, diese über ihre Straßenschuhe zu stülpen, als ihr auffiel, dass sämtliche Hecken um den Eingangsbereich herum frisch gestutzt waren und eine kleine pastellfarbene Osterfahne an einem Stab links von der Tür wehte. »Vielen Dank.«

Bereits beim Betreten des kleinen Windfangs schlug ihr der Duft von Vanillekerzen und frischem Blut entgegen. Sofort spielte sich vor ihrem geistigen Auge eine hypothetische Folge Cupcake Wars ab, bei der eine der Teilnehmerinnen mit der Hand in den Mixer geraten war.

Wie wäre es mit ein wenig in Blut getränktem Biskuit?

Während ihr Gehirn alle möglichen irrwitzigen Querverbindungen herstellte und sich warmlief, nutzte sie die Gelegenheit und sah sich um. Ihr Blick wanderte nach rechts in das völlig verwüstete Wohnzimmer. Es entsprach in Sachen Möbel und Dekor eins zu eins ihren Erwartungen. Jedes einzelne Stück trug den Stempel »solide Mittelschicht«, allem voran die vielen gerahmten Familienfotos auf dem Bücherregal. Auf sämtlichen Bildern waren ein Mann und eine Frau mit ihrer Tochter zu sehen, die Eltern von Aufnahme zu Aufnahme sichtlich gealtert, grauer und fülliger um die Leibesmitte, das Kind mit jeder Aufnahme wieder einen Kopf größer und reifer.

Diese Galerie lieferte ihr einen ersten Hinweis darauf, weshalb Trey so erpicht darauf war, den Fall allein zu übernehmen.

Wobei, eigentlich hätte sie bereits hellhörig werden müssen, als man ihr in der Zentrale die grundlegenden Fakten darlegte.

Die Alarmglocken, die in ihrem Kopf losgingen, stur ausblendend, trat sie um die zerbrochene Tischlampe herum. Trotz des ursprünglich sehr heimeligen Wohnambientes erweckte das Chaos den Eindruck, als hätte vor dem elektrischen Kamin eine massive Kneipenschlägerei stattgefunden: Das geblümte Sofa war verrückt, die dazugehörigen Kissen über den Teppichboden verteilt, ein Sessel umgekippt und der billige Glastisch in tausend Scherben zersprungen.

Die grauen Wände und der kurzflorige Teppich waren mit Blut gesprenkelt.

Der Leichnam, der mit dem Gesicht nach unten in der Mitte des etwa zwanzig Quadratmeter großen Raums lag, gehörte zu einem älteren Mann heller Hautfarbe, wobei die kahle Stelle am Hinterkopf darauf schließen ließ, dass es sich um den Vater handelte. Es gab ein entsprechendes Foto, das ihn bei einem Feldhockeyspiel zeigte. Ein Arm lag schützend über seinem Kopf, der andere dicht an seinem Körper. Gekleidet war er in ein legeres Bürooutfit, ein Button-down-Hemd, das in einer Stoffhose aus Polyester steckte. Kein Gürtel. An den Füßen schlichte Herrenschuhe.

Mit zwei großen Schritten war sie bei ihm, um ihn sich aus der Nähe anzusehen. Ihre Knie knackten, als sie in die Hocke ging. Das Messer, das senkrecht aus seinem Rücken ragte, hatte offenbar ganze Arbeit geleistet, ehe man es ihm tief zwischen die Rippen gejagt hatte: Da waren bestimmt fünf oder sechs weitere Stichwunden, den blutgeränderten Löchern im Baumwollgewebe nach zu schließen.

Sie atmete tief ein und hatte plötzlich das Gefühl, als gäbe es in ganz Caldwell nicht mehr ausreichend Sauerstoff.

»Erika.«

In der Stimme, die sie jetzt ansprach, schwang eine Erschöpfung mit, die ihr bestens vertraut war. Es war diese besondere Art von Ermüdung, die sie schon viele Male zu hören bekommen hatte, immer dann, wenn die Leute versuchten, sie durch ihr Gerede zur Vernunft zu bringen.

»Ein blindwütiger Mord.« Sie deutete auf das Muster von Stichwunden, obwohl kein Zweifel daran bestand, was sie meinte. »Der Angreifer muss sehr kräftig gewesen sein. Das Opfer hat allem Anschein nach versucht zu entkommen, nachdem es zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen war.«

Erika erhob sich und ging weiter, um sich den angrenzenden Raum anzusehen. Dabei achtete sie penibel darauf, nicht auf die Blutspritzer zu treten, bevor sie durch einen Türbogen in die Küche trat. Der zweite Leichnam lag auf dem Rücken, auf dem Laminat vor dem Herd. Es war die Ehefrau und Mutter, die da in ihrem eigenen Blut lag. Dem Opfer waren massive Verletzungen an Kopf und Hals zugefügt worden, sodass die Gesichtszüge nicht mehr zu identifizieren waren, sämtliche Knochen schienen gebrochen, das Fleisch komplett zu Brei geschlagen. Ihr Oberkörper war derart blutüberströmt, dass der Aufdruck auf ihrem T-Shirt nur noch schwer auszumachen war, dafür waren die Leggings mit dem grellen Pfirsichmuster vor knallblauem Hintergrund eindeutig ein Modell von LuLaRoe.

Über ihr auf der Herdplatte stand ein Kochtopf mit Glasdeckel. Die selbst gemachte Bolognese darin war übergekocht und bildete einen schwarz-braunen, festgebackenen Heiligenschein rund um das Kochfeld. Auf der Herdplatte dahinter stand ein größerer Topf, gefüllt mit nichts als zwei Fingerbreit Wasser, auf dem Küchentresen daneben eine ungeöffnete Packung Spaghetti sowie ein Schneidebrett mit einer halben Zwiebel darauf.

Die Frau hatte offenbar Zwiebeln gehackt, Hackfleisch angebräunt und Wasser für die Nudeln aufgesetzt, ohne zu ahnen, dass es die letzte Mahlzeit sein würde, die sie für ihre Familie zubereitete.

Bittere Galle stieg in Erikas Kehle auf, als ihr Blick auf die geöffnete Kellertür fiel. Die Treppe dahinter wurde erhellt von einer Lampe, die an der Wand montiert war.

»Der Täter hatte zwei Waffen«, sagte sie an niemand Bestimmten gerichtet. In erster Linie sprach sie es aus, um etwas gegen den Kloß in ihrer Kehle zu tun. »Das Messer, das er gegen den Vater verwendet hat, und den Hammer, der hier benutzt wurde. Vielleicht war es auch ein Brecheisen.«

»Ein Hammer«, warf Trey mit düsterer Miene ein. »Er liegt oben im Flur.«

»Sie hatte die Herdplatte für das Nudelwasser angestellt.« Erika ging auf die Kellertreppe zu und atmete tief ein. »Dann ist sie runtergegangen in den Keller, vermutlich um Wäsche aus der Maschine zu holen – das erklärt den Vanilleduft. Der kommt vom Weichspüler und nicht von Duftkerzen. Meine Mitbewohnerin am College, Alejandra, hat dieselbe Marke benutzt.«

»Erika …«

»Sie hört Lärm von oben. Rennt die Treppe hinauf, um nachzusehen, was dort los ist. Bis sie hier ankommt, ist ihr Mann bereits tot oder liegt im Sterben, und der Killer geht mit dem Hammer auf sie los.« Erika begegnete Treys finsterem Blick. »Die Eingangstür war unbeschädigt, der Vater muss den Täter also ins Haus gelassen haben. Gibt es eine Überwachungsanlage?«

»Nein.«

»Wo sind die anderen beiden Toten, oben?«

Trey nickte. »Aber Erika, hör zu, du musst das nicht tun …«

»Geh mir nicht auf die Nerven. Und spar dir dein Mitleid. Ich kann es ertragen, wie eine Erwachsene behandelt zu werden. Ich bin nicht mehr das Kind von damals.«

Sie durchquerte das angrenzende Wohnzimmer, trat hinaus in die Diele und stieg die mit Teppich ausgelegte Treppe ins erste Stockwerk hinauf. Am oberen Absatz angekommen, wanderte ihr Blick den engen, nur spärlich beleuchteten Flur entlang. Ganz am Ende, in einem Zimmer, dessen Farbkonzept stark an Hubba-Bubba-Kaugummi erinnerte, lagen gut sichtbar zwei Leichen, eine auf dem Bett, die andere auf dem Boden sitzend gegen die Wand gelehnt.

Erika blinzelte entgeistert.

Sie stand wie versteinert da, mit angehaltenem Atem.

»Gehen wir wieder nach unten«, forderte Trey sie direkt neben ihrem rechten Ohr behutsam auf.

Als ihr Kollege sie am Arm greifen wollte, machte sie sich unsanft los und ging entschlossen auf den Tatort zu. Sie wollte kein Mitgefühl. An der weit geöffneten Tür blieb sie stehen. Der Leichnam auf dem Bett war halb nackt, das T-Shirt über dem rosa-weißen BH hochgeschoben, die schwarzen Leggings heruntergezogen. Die Hose hing nur noch an einem Fuß. Die junge Frau hatte dunkle Haare, genau wie die Eltern, lang und glänzend und an den Enden leicht gelockt. In der rechten Hand hielt sie … eine Pistole. Eine Neunmillimeter.

Erika stach der pinkfarbene Nagellack ins Auge. Von der Farbe war nichts abgesplittert. Ihr Blick wanderte weiter zu der vollgestellten Schminkkommode. Darauf stand ein Fläschchen OPI-Nagellack genau in dieser Farbe. Das Mädchen hatte sich die Nägel offenbar kurz zuvor frisch lackiert, zumindest konnte es noch nicht lange her gewesen sein.

Gleich neben dem Nagellack stand eine gerahmte Fotografie. Sie zeigte das tote Mädchen neben einem jungen Mann, der gut einen Kopf größer war als sie. Sie blickte mit einem breiten Lächeln direkt in die Kamera, während er sie von oben her ansah.

Erikas Blick ging zu dem zweiten Leichnam. Der Teenager von dem Foto lehnte an der knallpinken Wand, die Beine vor sich ausgestreckt. Er sah aus wie eine Vogelscheuche, die von ihrer Stange heruntergerutscht war. Er machte einen durchtrainierten, athletischen Eindruck, mit breiten Schultern und einem stämmigen Nacken. Außerdem hatte er das gute Aussehen der typischen Sportskanone, mit kantigem Kiefer und tief liegenden Augen. An der Vorderseite seines Football-Trikots von der Lincoln High prangte ein riesiger Blutfleck, und auch an der Kehle und an seinem Kinn war Blut zu sehen. Seine Hände waren ebenfalls blutbefleckt, vermutlich, weil er das Gesicht der Mutter mit dem Hammer zu Brei geschlagen hatte.

Der Reißverschluss seiner Jeans stand offen.

Erika sah sich die Einschusswunde genauer an. Dabei fiel ihr auf, dass da noch eine zweite war, ein wenig tiefer, direkt unterhalb des Zwerchfells.

Du hast ihn zweimal mitten in den Oberkörper getroffen, dachte Erika perplex. Gutes Mädchen.

Sie machte einen Schritt in das Zimmer hinein und stellte dabei fest, dass die Tür gewaltsam geöffnet worden war. Kurz schloss sie die Augen und glaubte die Schläge zu hören, das verzweifelte Schluchzen, als er die Tür zu dem Zimmer aufbrach, in dem die Tochter sich eingeschlossen hatte, während er direkt unter ihr im Erdgeschoss ihre Eltern ermordet hatte …

Erika hielt sich die Ohren zu, die zu schrillen begannen. »Schon gut«, murmelte sie, als Trey besorgt vor sie hintrat. »Alles in Ordnung.«

»Ich begleite dich nach draußen.«

»Das lässt du schön bleiben.«

Erika duckte sich an ihm vorbei, um noch einmal einen Blick auf das Gesicht des Mädchens zu werfen. Sie starrte mit leeren Augen zur Decke, das Make-up verschmiert. Über beide Wangen zogen sich schwarze Schlieren, und der rote Lippenstift, der den vielen Pinseln und Puderdöschen auf der Kommode nach zu schließen ursprünglich sehr professionell aufgetragen worden war, war zu einem hässlichen Clownsmund verwischt.

Ihr Gesicht zierte noch ein weiterer Fleck, der allerdings nicht von einem Kosmetikprodukt stammte. Das Einschussloch an ihrer Schläfe war kreisrund und relativ sauber, es waren lediglich winzige Pulverrückstände rund um die kleine hellrote Vertiefung im Fleisch zu sehen. Schlimmer allerdings war das klaffende Loch auf der anderen Schädelseite, aus dem Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse auf die rosa Bettdecke gespritzt waren.

»Er hatte sogar drei Waffen dabei«, hörte Erika sich sagen. »Das Messer, den Hammer und diese Pistole.«

Hatte das Mädchen ihm die Neunmillimeter entwendet, als er über sie hergefallen war? Ja, so musste es sich abgespielt haben. Er war gewaltsam hier eingedrungen, nachdem er ihre Eltern kaltblütig abgeschlachtet hatte, und hatte sich dann über sie hergemacht … dabei musste sie ihm die Waffe abgenommen haben … vielleicht hatte sie so getan, als wäre sie dem Sex nicht abgeneigt?

Sie musste das Gemetzel unten mit angehört haben, hatte die panischen Schreie und das Grauen hautnah miterlebt. Zumindest ein Elternteil, wenn nicht beide, musste ihr zugebrüllt haben, sie solle sich einschließen und Hilfe rufen …

»Die Eltern wissen es noch nicht«, sagte Trey. »Seine Eltern, meine ich. Wir haben gerade erst einen Streifenwagen zu der Adresse losgeschickt.«

»Wer hat die Leichen gefunden?«, fragte Erika mit belegter Stimme.

»Wir waren das. Sie hat noch den Notruf gewählt, bevor sie sich selbst erschossen hat.«

Erikas Blick zuckte zum Bett. Ja, da war es. Auf der blutgetränkten Decke direkt neben ihr lag ein Handy.

Das Mädchen hielt die Neunmillimeter in der Hand, nicht das Telefon.

»Unser Mitarbeiter in der Zentrale, der den Anruf entgegengenommen hat, hat noch gehört, wie der Schuss abgefeuert wurde.« Trey trat zu dem jungen Mann und ging neben dem Leichnam in die Hocke. »Das Mädchen war wohl derart in Tränen aufgelöst, dass es kaum ein Wort herausbekam. Es gelang ihm aber, seinen Namen zu nennen und dem Beamten zu sagen, dass er eingebrochen war und seine Eltern getötet hatte. Dann teilte es ihm noch die Adresse mit und zog den Abzug ein drittes Mal.«

»Aber es war doch nicht ihre Schuld«, flüsterte Erika, die sich nun auf das Bett zuneigte, um dem leeren Blick aus diesen starren Augen zu begegnen. »Es war nicht deine Schuld, Liebes. Das verspreche ich dir.«

Ihre Stimme versagte und sie räusperte sich. Geistesabwesend führte sie ihre Hand an eine Stelle unterhalb ihres linken Schlüsselbeins. Durch den dicken Stoff ihres Mantels konnte sie die Narben nicht ertasten, aber sie waren da.

In der undurchdringlichen Stille des Todes hier im Raum wurde Erika hinterrücks von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. Ein Strudel an Erinnerungen riss sie fort aus der Realität, saugte sie zurück zu jener Nacht, die sie nie wieder erleben wollte und es doch laufend tat. Immer und immer wieder. Sie hatte verzweifelt dagegen angekämpft, und Gott allein war ihr Zeuge, auch sie hatte sich in den vergangenen vierzehn Jahren oftmals gewünscht, sie hätte sich damals das Leben genommen – oder würde es nachholen können.

Einen plötzlichen Brechreiz unterdrückend, lauschte sie auf die Stimmen, die von unten zu hören waren. Mehrere Personen traten soeben durch die Haustür. Darunter vermutlich der Tatortfotograf. Vielleicht waren das schon die Leute von der Spurensicherung.

Erika sah zu ihrem Partner und nahm ihn zum ersten Mal seit ihrem Eintreffen richtig wahr. Trey war wie immer militärisch akkurat gekleidet, in der Fleecejacke des CPD, die Haare an den Seiten und im Nacken ordentlich gestutzt, mit sauber rasiertem Kinn, um das selbst Superman ihn beneidet hätte. Düster erwiderte er ihren Blick, seine braunen Augen von Sorge überschattet, die Lippen zu einer schmalen Linie gepresst.

»Schon gut«, sagte Erika. »Ich komme klar. Aber danke, dass du … du weißt schon, ein Auge auf mich hast.«

»Wenn du lieber gehst, wird dir das keiner übel nehmen.«

Noch einmal sah sie hinunter auf das Bett, auf das hübsche junge Mädchen, dessen Leben viel zu früh geendet hatte. Die ganzen Familienfotos im Wohnzimmer, alle diese Bilder, die ganz bewusst und mit großer Sorgfalt gemacht worden waren, um ihr Aufwachsen im Kreis ihrer sie liebenden Eltern zu dokumentieren …

Es würde keine weiteren Fotografien geben, von keinem von ihnen.

Die Treppenstufen knarzten, jemand kam nach oben.

Erika korrigierte sich gerade gedanklich, denn ein Satz Fotos stand noch aus, nämlich der, den jemand von der Kriminaltechnik schießen würde, um festzuhalten, wie sie alle gestorben waren.

»Ich komme klar«, versicherte Erika ihrem Partner noch einmal. Wohl auch zur eigenen Beruhigung.

Denn im Grunde glaubte sie selbst nicht an das, was sie da sagte.

2464 Crandall Avenue,

rund elf Kilometer entfernt

Nein! Ich will das nicht, ich will dich nicht! Aufhören!

Balthazar, Sohn des Hanst, erwachte schreiend aus seinem Traum und schlug wie von Sinnen nach den Händen, die sich am Bund seiner Lederhose zu schaffen machten. Während er seine Kronjuwelen verbissen verteidigte, fuhr er hoch und sprang auf die Füße, um der Dämonin zu entkommen, die über ihn hergefallen war. Sie war überall, um ihn herum, tief in ihm. Er rannte gegen etwas Hartes, einen Baum vielleicht, und taumelte ins Leere, stolperte, schlug der Länge nach hin. Er landete weich, auf glitschig feuchtem Untergrund.

Während er sich auf Händen und Fußspitzen in den Liegestütz hochstemmte, stach ihm ein beißender Gestank in die Nebenhöhlen, eine alarmierende Mischung aus Asche, giftigen Chemikalien und Feuchtigkeit. Der Geruch bot ihm Orientierungshilfe: Er befand sich offenbar an der Stelle des Brandes, in dem Sahvage und Mae um ein Haar umgekommen wären.

Verzweifelt und mit einer ordentlichen Portion ratloser Benommenheit, sah er sich über die Schulter nach der Ruine dessen um, was einst ein nettes kleines Einfamilienhaus gewesen war. Die heruntergebrannten Grundmauern waren überzogen von einer dicken Schicht aus verschiedenen Grau- und hellen Blauschattierungen, die Überreste von Balken und Brettern, Rigipsplatten und Sperrholz, Möbeln und anderen Habseligkeiten von einer Schicht Asche bedeckt. Nichts von alledem ließ sich je wieder zusammensetzen, war für immer unbrauchbar geworden. Das Feuer hatte so gewaltig getobt, dass selbst die Nachbargrundstücke deutlich in Mitleidenschaft gezogen waren, die Zäune und Häuser zu beiden Seiten und auch das dahinterliegende Gebäude mit Ruß und Asche verschmutzt, wie mit Airbrush-Technik aufgetragen.

Die Nachbarn würden Unmengen an Glasreiniger brauchen, aber sie konnten von Glück sagen, dass noch etwas zum Reinigen übrig war.

Auf allen vieren schleppte Balz sich zu einer halbwegs trockenen Stelle auf dem angekokelten Rasen, richtete sich zu voller Größe auf und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Eigentlich lächerlich, sich die Mühe zu machen wegen ein wenig Asche an den Knien, bei dem ganzen Mist, der gerade abging. Andererseits war die Liste an Dingen, auf die er noch Einfluss hatte, relativ kurz, und man musste im Leben nun einmal nehmen, was man kriegen konnte. Und wenn es nur darum ging, die eigene Kleidung in Ordnung zu halten. Wobei ihm vor allem wichtig war, dass er sie anbehielt, solange er schlief.

»Verdammte Scheiße!«

Balz sah sich nach dem verkohlten Ahorn um, gegen den er geprallt war. Nachdem er sich durch den Schutthaufen gewühlt hatte, ohne fündig zu werden, hatte er sich am Fuß des Baumes niedergelassen, um über seine erfolglose Suche nachzudenken. Er war nur kurz eingenickt, aber das hatte genügt. Der Schlaf hatte ihn hinterrücks übermannt und mit einem Schlag ins Koma befördert, denn er erinnerte sich nicht daran, gegen die Müdigkeit angekämpft zu haben. Die Dämonin hatte ihre Chance sofort gewittert. Wenn sein Bewusstsein ausgeschaltet war, war das für Devina wie eine Einladung, der sie mit Vergnügen nachkam, auch wenn sie nicht von ihm persönlich kam.

Er brauchte dieses verdammte Buch mit den Zaubersprüchen. Wenn er diese Dämonin loswerden wollte, würde er das Scheißding finden und für seine Zwecke nutzen müssen.

Noch einmal ließ er den Blick über den Schauplatz der Verwüstung schweifen und überlegte, ob er das Grundstück erneut ablaufen sollte. Andererseits, warum sollte ausgerechnet etwas mit Seiten aus Papier und einem Ledereinband einen derart verheerenden Brand überstehen?

Nun, die Antwort war ganz simpel: Dieses Buch war nicht irgendein Buch.

Es ärgerte ihn maßlos, dass er dieses stinkende, widerliche Ding schon in Händen gehalten hatte, dass er diesen Einband aus Menschenhaut eigenhändig berührt hatte … nur um es am Ende doch einem anderen zu überlassen.

»Lassiter, du verdammtes Arschloch.«

Der gefallene Engel hatte ihm weisgemacht, es würde einen anderen Weg geben, Devina aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Allein deshalb hatte Balz im entscheidenden Moment, als er sich mit Sahvage ein Tauziehen um das Buch geliefert hatte, nachgegeben und das Buch losgelassen. Doch mittlerweile war er nicht mehr so überzeugt von der Lösung, die der Engel ihm aufgezeigt hatte. Von wegen, die wahre Liebe wäre seine Rettung … Niemals.

Das Bild einer Menschenfrau tauchte vor seinem inneren Auge auf, im marineblauen Hosenanzug stürmte sie in sein Bewusstsein und zog sich einen Stuhl heran, um sich von ihm betrachten zu lassen.

Plötzlich sah er sie wieder vor sich stehen, wie sie ihn über den Lauf ihrer Dienstwaffe gemustert hatte. Sie hatte ihn scharf angesehen, die Augenbrauen fest zusammengekniffen, in ihrem Blick ein Funkeln, das deutlich signalisierte »Bleib bloß stehen, Arschloch«, ihre Haltung wie aus einem Actionstreifen. Witzigerweise erinnerte er sich an jedes einzelne Detail an ihr, und das nicht nur, weil er ein Dieb war und sie Polizistin, zwei, die hoffentlich nie zusammenkämen. Ganz zu schweigen davon, dass sie unterschiedlichen Spezies angehörten.

Nein, er erinnerte sich an sie, als hätte er sein Leben lang nur nach ihr gesucht, in all den Häusern und Wohnungen, in die er eingebrochen war, zwischen all dem Schmuck und den Edelsteinen, die er entwendet hatte, und dem vielen Geld, mit dem er sich die Taschen vollgestopft hatte.

»Aber du wirst mich auch nicht retten, gute Frau«, murmelte er in die mondhelle Nacht hinein, umgeben von einem Haufen Schutt und Asche, perfektes Sinnbild für seine aktuelle Scheißsituation.

Denn zum einen glaubte er nicht an die wahre Liebe. Dieser Schwachsinn war doch eine dreiste Erfindung der Disney-Industrie, die den Menschen aus reiner Profitgier eine heile Welt vorgaukelte. Und zum anderen hatte der gefallene Engel die Romantikkarte vermutlich nur aus dem Grund ausgespielt, weil er gerade einen Sandra-Bullock-Marathon hinter sich hatte und in seinem weich gekochten Fanhirn Während du schliefst in Dauerschleife lief.

Eins aber war klar wie Kloßbrühe: Dank Lassiters beschissenen Ratschlags hatte Balz aktuell keine andere Wahl, er musste sich damit abfinden, dass er im Schlaf regelmäßig von einer sexbesessenen Harpyie heimgesucht wurde und mittlerweile halb wahnsinnig war, weil er fast nie in die REM-Phase kam.

Panisch vergewisserte er sich, dass sein Hosenschlitz geschlossen war, und wurde von einer Woge der Übelkeit erfasst. Wie gut, dass er nichts gegessen hatte. Beinahe glaubte er wieder zu spüren, wie diese Dämonin rittlings auf ihm saß und ihn mit funkelnden schwarzen Augen hasserfüllt anstarrte, rasend vor Eifersucht …

Wie kannst du es wagen, du Bastard. Und dabei ist sie nur ein jämmerlicher Mensch.

Die Stimme der Dämonin drang glockenklar an sein Ohr, und als die eigentliche Botschaft ihrer Worte zu ihm durchdrang, spürte Balz, wie alles Blut aus seinem Kopf wich. Er warf einen letzten Blick zu dem Baum und fragte sich, ob er sich diese eifersüchtigen Worte nicht aus reiner Paranoia zusammenfantasierte oder ob sie wirklich gerade laut ausgesprochen worden waren.

Hatte Devina etwa spitzgekriegt, dass …

Reiß dich zusammen, rief er sich selbst zur Ordnung. Es gab rein gar nichts zu wissen über ihn und diese Menschenfrau. Verflucht, er war ihr nur einmal flüchtig begegnet, in den Räumen dieses irren Sammlers, als Sahvage und er um dieses Buch gerungen hatten. Und sie erinnerte sich noch nicht mal an diese Begegnung, weil er ihr Gedächtnis gelöscht hatte.

Es gab nichts, worüber Devina sich hätte aufregen können. Nicht den geringsten Anlass zur Eifersucht …

Ja, genau, wenn man mal davon absieht, dass du nur noch diese Frau im Kopf hast, du erbärmlicher Trottel, rief ihm sein innerer Nörgler ins Gedächtnis. Denkst du allen Ernstes, diese Dämonin hat während deines Nickerchens nicht mitbekommen, was du von dieser Polizistin willst?

Fluchend legte er den Kopf nach hinten und sah in den Himmel.

»Nicht sie«, stöhnte er. »Du wirst ihr verdammt noch mal nichts tun.«

Die Stimme der Dämonin durchbrach abermals seine Gedanken, so klar und deutlich, als stünde sie direkt hinter ihm: Ich hasse Konkurrenz, selbst wenn sie in einer Liga weit unter mir spielt.

Balz griff sich blitzschnell eine seiner Vierziger, wirbelte herum und richtete den Lauf der Waffe auf …

… nichts. Trotzdem sprach er das Folgende laut aus, als stünde seine Feindin leibhaftig vor ihm: »Sie ist keine Konkurrenz für dich – sie ist gar nichts! Also wovon redest du, verdammt?«

Während seine eigene Stimme verhallte, hätte er schwören können, das höhnische Lachen einer Frau zu hören. Aber wenn das hier wirklich real war, wenn diese Dämonin es auf diese Menschenfrau abgesehen hatte, die vollkommen unschuldig war, würde sie ihr blaues Wunder erleben. Denn es war eine Sache, dass Devina ihn unfreiwillig als Fitnessgerät missbrauchte. Aber wenn eine unbeteiligte Dritte, die mit der ganzen Sache rein gar nichts am Hut hatte, ins Kreuzfeuer geriet, verstand er keinen Spaß mehr.

»Scheiße, sie bedeutet mir nichts«, stieß er wütend hervor, als wären die einzelnen Silben Steine, die er nach ihr warf. »Sie bedeutet mir rein gar nichts!«

Balz behielt die Waffe oben und lief noch einmal das gesamte Gelände ab, stieß mit der Spitze seiner Kampfstiefel gegen verkohlte Balken und verbogenes Metall, entschlossen, diesen einen Gegenstand zu finden, der ihn vielleicht retten konnte. Mit ein wenig Glück fand er in dem Buch weit mehr als nur eine Anleitung, wie man eine Dämonin loswurde. Vielleicht gab es sogar einen Zauberspruch, mit dem man Devina endgültig zum Teufel jagen konnte.

Doch auch diese zweite Suche endete erfolglos. Frustriert blieb er an der Stelle stehen, wo zuvor die Garage gestanden haben musste. Zumindest legte das die glatte Betonfläche unter seinen Füßen nahe. Er wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht, strich sich mit den Fingern durch die Haare und hätte diesen Ort am liebsten gleich noch mal abgefackelt. Stattdessen dachte er an das, was Sahvage ihm erzählt hatte, und klopfte dessen Story nach hilfreichen Details ab: Mae hatte das Buch mit nach Hause gebracht, um ihren toten Bruder zum Leben zu erwecken. Dann war Devina hier aufgetaucht. Es war recht turbulent zugegangen, einiges war schiefgelaufen. Als das alles überstanden war, waren das Buch und die Dämonin vernichtet, und Sahvage rettete Mae mit einem kleinen Trick das Leben, den seine Cousine vor vielen Jahrhunderten bei ihm selbst angewandt hatte. Die Story war absolut hieb- und stichfest und ergab ein schlüssiges, wenn auch ziemlich rußgeschwärztes Bild.

Nur dass Sahvage sich in einem Punkt getäuscht haben musste. Das Buch konnte nicht einfach weg sein. Es war Teil der Dämonin, oder die Dämonin war Teil des Buchs, wie auch immer. Und zufällig wusste Balz aus erster Hand, dass die Dämonin immer noch auf diesem Planeten herumgeisterte …

Weißt du, was ich mit meiner Konkurrenz anstelle? Wieder drang diese aalglatte, bösartige Stimme in sein Bewusstsein. Ich schalte sie aus.

Schlagartig erfasste Balz eine nie gekannte Wut.

»Was du kannst, kann ich auch«, presste er zähneknirschend hervor.

Er hob seine Waffe vors Gesicht, betrachtete im Mondschein ihre Konturen, sah das blau-schwarze Metall des Gehäuses glänzen.

Na warte, dachte er, während er sich den Lauf an die rechte Schläfe presste. Kein Buch?

Und da faselte Lassiter irgendwelchen Bullshit von wegen »glücklich bis an ihr Lebensende«, während Devina eifrig Pläne schmiedete, eine ganz neue Frontlinie rund um eine Menschenfrau zu ziehen, die mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu schaffen hatte.

Er würde die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. Dazu musste er nur ein besonders ausgiebiges Nickerchen machen. Indem er selbst ins Gras biss. Sich die Lichter für immer ausknipste. Die lang erhoffte Erlösung war zum Greifen nah, endlich …

Zwei Häuser weiter kam etwas um die Garagenecke gebogen, weshalb er die Mündung seiner Waffe blitzschnell in diese Richtung lenkte. Doch es war nur ein Mensch, dem Geruch nach zu urteilen – und der Typ sah ganz und gar nicht aus, als würde er irgendwie Schwierigkeiten machen. Der arme Kerl schleppte eine Recyclingtonne nach draußen, um sie an den Straßenrand zu stellen, und stieß dabei grummelnde Laute aus. Offenbar hatte sein durch Schreibtischarbeit geschwächter Körper seine liebe Not mit dem Gewicht der knallgelben Tonne, die bis obenhin gefüllt war mit leeren Plastikflaschen. Beim Briefkasten angekommen, stellte er seine schwere Last ab, und lautes Gepolter ertönte.

Gerade als er sich umdrehen wollte, um in sein gemütliches Heim zurückzukehren, blickte er auf – und hielt wie versteinert inne.

Der Ausdruck auf seinem sichtlich vom Alter gezeichneten Gesicht war eine Mischung aus völliger Verwirrung und abgrundtiefem Entsetzen. Erst da wurde Balz klar, dass der Mond hell genug schien, dass auch das menschliche Auge kein Problem damit hatte, einen von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gehüllten Typen auszumachen, der sich eine Knarre an den Kopf hielt.

Herrje, Alter, warum musst du mir diesen Moment verderben, dachte Balz. Die Sache hier geht dich nichts an, also schwirr ab.

Auf der nächsten Kugel im Magazin stand sein Name, nicht Harry McHappy, glücklicher Daddy und Ehemann, der brav recycelte, von Ischias geplagt war und zwei Wochen im Jahr Urlaub machte.

Der Mensch wich langsam einen Schritt zurück. Und dann zur Sicherheit gleich noch einen. Und im nächsten Moment spurtete er los, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her, sein schlichtes weißes Unterhemd und die Pyjamahose ungefähr so aerodynamisch wie sein übergewichtiger Körper, der um die Mitte herum bestimmt fünfzehn Kilo zu viel angesetzt hatte. Wenig später hörte man eine Tür schlagen, und Balz konnte sich lebhaft vorstellen, wie der arme Tropf fieberhaft absperrte, sich sein Handy ans Ohr klemmte und dem Polizeinotruf meldete, da würde sich ein Serienmörder im Garten dieses abgebrannten Hauses herumtreiben.

»Idiot«, murmelte Balz, während er seine Pistole im Holster unter seiner linken Achsel verstaute.

Kann man sich als Vampir denn nicht mal ungestört umnieten? Scheißmenschen, stecken ihre Nasen wirklich in alles rein.