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In Ernst Weißs Werk 'NAHAR' entführt der Autor die Leser in eine unerbittliche Welt der Politik und des Exils. Das Buch erzählt die Geschichte von Nahar, einem diplomatischen Beamten aus dem Nahen Osten, der von seinem eigenen Land verbannt wird und in Frankreich Zuflucht sucht. Weißs literarischer Stil zeichnet sich durch eine eindringliche und poetische Sprache aus, die die seelischen Qualen und politischen Konflikte seiner Protagonisten treffend widerspiegelt. Das Buch steht in der Tradition der politischen Literatur seiner Zeit und thematisiert die Auswirkungen von Macht und Verlust auf das Individuum und die Gesellschaft.
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Gefangen in der Raserei der letzten Stunde, endete Olga, der tierverwandelte Mensch: Nahar erstand, das menschverwandelte Tier. Wiedergeboren, verjüngt, gerettet an den Anfang der Welt: aufgenommen von Gottes Hand aus der Verzweiflung, ausgehoben aus dem mit Wolken der Verwesung drohenden Schacht in neues Leben. Mit zarten Fingern wurde sie eingekleidet in einen neuen Tag.
Olga, die auf der Flucht erschossene, leidenverwüstete, tobende, mordende Dirne wurde verwandelt in die nackte, goldflaumige Gestalt eines eben geworfenen Tigers auf tropischer Insel.
Olga erstand neu, geschöpft aus dem zahllosen Myriadenschoß lebendig beseelter Kreaturen. Ein Mensch kehrte zurück, im wandelnden Kreise der ewigen Wanderung eine gute Wiederkehr.
Olga, zertreten am Boden des Kerkers, in der Nässe der Tränen wie eine Kröte, im sumpfigen Unrat ein armes elendes Herz, sterbend fiel sie in Traum: das Daheim, das niedrige, das immer geliebte, das nievergessene Haus, rot im Baldachin der Laterne, gezeichnet mit heiliger Zahl.
Der Korridor, der langwierige Gang, eng ummauert zog er sich hin, mit kalten Steinen war er gepflastert, von bitter erkalteten Männern durchwandert. Wie Zigaretten waren alle zertreten, erloschen.
Verschollen war der geliebte Mann, in den Winkeln verstreut das aufgeraffte Geld. Wie heimlicher Unrat war alles verscharrt, zurückgeglitten in den sterbenden Tag.
Ferne war die Stadt, hochragend in heiligem Blau die mächtige Kirche.
Von gutem Gebet in der Stunde des Scheidens erhoben.
Niedergedrückt von böser Litanei.
Alles erschütterte die brausend schwingende Glocke.
In der Stunde des Scheidens die Sonne, wie glitzerte sie hoch, wie blendete sie eisig.
Winter und Mond, weißgezirkelt und leer.
Ihre Hände, klein und weiß, kreuzte sie nun, in der Stunde des Sterbens, in der entsetzlichen Sekunde schwärzester Angst um den Leib. Einmal noch sich eingraben in die Grube des bewaldeten Schoßes, der von der Flintenkugel durchschossen ringsum sich bäumte. Ihr Haupt darüber, ein Siegel gesiegelt über die Schrift; das schwarze kahle Haupt schlug in wildester Krümmung nieder auf ihren Schoß: Mund an Blut, Lust an Schmerz.
Die unteren Zähne über die oberen gerafft, die Zunge in wütenden Stößen von einem Winkel zum anderen. Kein Wort mehr, kein Stöhnen.
Schweigen und Nacht. Die Zunge heraus über die eisige Stufe der schon erkalteten Lippen, nieder zur Wunde, zur tödlichen Leere. Leerer Raum wurde sie ganz.
Dunkel umrauschte sie in weichenden Grenzen.
Niedersinkende Wände, verklingender Ruf, verrinnendes Licht.
Aber jetzt, mit dem letzten Schlag des verrinnenden Herzens, mit ungeheurer Flamme der todesvergleitenden Augen, im letzten Krampf des sich lösenden Körpers: hoch erstand sie über sich selbst.
Glühend die Augen, starrend die berstenden Brüste, den runden Kopf gehüllt in ihres schwarz glänzenden Haares metallenen Helm, in den schmalen, dunkel himbeerfarbenen Lippen den letzten Kuß, so lebte sie auf.
Der Geliebte, tief versunken unter ihr, ein kalter Teppich unter ihren Füßen, ein staubig vertrockneter Winter, hingebreitet in die kahle Ebene. Wortlos sein Mund, namenlos die Erscheinung.
Ihre eigene Stimme hörte Olga in gellendem Ruf, er aber schwieg. Ihre eigene Gestalt sah Olga zuletzt in unverwundeter Gestalt, er aber verrann, den anderen Namenlosen zugesellt, wie Wasser unter ihr, wie Wolkenregen von oben, wie Tränen aus ihr selbst, die verging.
Aller Schmerz verschwand in heiligem Brausen, gerne ging sie ein in flache Ohnmacht. Schon wallte zauberhaft die Vernichtung, da zwang sie ihr ganzes Leben zurück: die Lippen beide in einem, zueinandergewandert, aneinandergebettet, aufgerichtet hoch im kühlen Todeswind: ein Kuß sich selbst.
Süß war sie überträufelt von Wein.
Starr lag Olga da, ausgebreitet auf kahlem Stein, nun selbst ein Stein. Mit metallenem Laut dröhnend fiel ihr Haupt auf die schwarz-weiß gewürfelten Fliesen des Zuchthauses, als die Soldaten sie anfaßten. Schwarz fielen ihre Lider nieder in die weißen Schluchten des ausgebluteten Gesichtes. Leblos, keine Labung mehr, rann der Wein, den ein Weib hilfreich gebracht hatte, ihr über die nun starr verlöteten, innig gesiegelten Lippen hinter das Ohr, über den mädchenhaften Hals rieselte er zu den schweren Brüsten, deren Spitzen noch zitterten vom Fall.
Den nackten Leib vom Pulver körnig geschwärzt, von Wolken des Rauches in Streifen umringt, so war Olga ganz umschattet. Naß von der Nässe des bösen Kerkers, schwarzen Schaum über den weißgewölbten Hüften, nirgends ein Tropfen Blut. Denn ihre Haut, jungfräulich hart, hatte sich über die Wunde gespannt, nichts entsickerte dem nackten Gebilde, dem weiß gepanzerten Leichnam.
Sie, ein ruhendes Mädchen, trug der Soldat auf seinen Armen. Des Mädchens Füße, weiß gegliedert und fein, noch warm vom niedergesunkenen Blut, blieben aneinandergebreitet. Lau schmiegten sie sich in den rauhen Ärmel seiner Strafuniform.
Durch die Reihen der lebenden Sträflinge trug man die Tote. Über die Welt der Sträflinge, der erdengefangenen, lebenslänglich vergitterten, wurde sie getragen, Olga nicht mehr: Nahar, ein ruhendes, kleines, eben erst atmendes Tier.
Zur Glückseligkeit, zum Frieden erwachte das junge Tier am Abend des gleichen Tages, eingelassen wurde der verwundete Mensch, sich zu heilen, das vergeudete Herz, sich zu sammeln, in das Paradies der Tiere, das noch nie zerstörte.
Zur Glückseligkeit Tier: gekleidet in den bunt gespannten Mantel der herrlichsten Kreatur, immer nackt im flammend gestreiften Fell. Furchtloses Leben, Kraft, steigend von Tag zu Tag, schwellend zu siegreichem Schlag.
Tier, gewaschen im schweren, warmen Regen der Tropen, getrocknet, erwärmt von der Sonne im steilsten Kreis in der Mitte des weißdunstenden Himmels.
Auf einer Halbinsel lauschte versteckt das Tierlager, rings umwunden von der smaragdgrünen Flußströmung am Tag, umflüstert vom blauen Gleiten zur Nacht, ewiges Atmen, ewig zischender Zug.
Immer das rauschende, anpochende Herz: ein nie zu Ende, immer lebend in dem nie zu Ende der herrlich quellenden Wildnis.
Von einem Tiger geworfen, atmete Nahar Tigerdunst ein zum erstenmal. Selig in ihrer müden Wonne saugte sie in sich den ersten Schlaf der Tiere. Über sich fühlte sie die Mutter, einen guten, großen Gott.
Guter, großer Gott der wiedergeborenen Kreatur.
Ziehen, Rauschen, Hauchen ganz weich: so blies das Muttertier den jungen Tiger an, um ihn zu trocknen von der triefenden Feuchte der glücklichen Geburt. Die Mutter war glücklich: Nahe zum Greifen, nahe zum Kosen hatte sie vor sich die bis jetzt unsichtbare Last. In ihr aufgerichtetes, hell umbuschtes Ohr schmeichelte sich die Stimme der Jungen, die bis jetzt stumm in der Brunnentiefe ihres Leibes gelebt hatten.
Auf ihren gewaltigen breit gehämmerten Pranken ruhten jetzt, gewichtlos wie abgefallene Knospen, die Köpfe der Geschwister.
In den Winkel des gebeugten Schenkels faßte die Mutter das Kind. In ihrem Knie kniete es, das hilflose. An ihre Augen wurde es gehoben, das blinde. Mit rauher Zunge, scharrend wie Stroh berührte die Mutter die Tochter, um sie ganz zu fassen, zu fühlen im Kern ihres Herzens. Zuerst betastete sie das Kind mit der Spitze der Zunge, dann mit der ganzen Fläche, die mit Stacheln aus starrem Bein, mit beißenden Kämmen besetzt war. So schlichtete sie das zerwühlte Fell, ordnete mit langem Ziehen des Kammes die kurzen Härchen der Jungen das Rückgrat entlang, vom mageren Hals bis zum dürren, unruhigen Schweif. Der noch geschlossenen Höhle der Augen, dem Spalt des zahnlosen Mundes spürte die Mutter nach, stark und sanft: tief atmend kostete sie den letzten Duft des eigenen Leibes, des eigenen Blutes. Noch einmal durchrann die Mutter die Wonne des Tragens. Es verzitterte das Beben der ersten Geburt.
Abend. Der Himmel war starr niedergebreitet, die waldige Erde von schwarz rauschenden Wolken überströmt.
Nahar und das Brudertier, von Blindheit umgeben, verschränkten ineinander die winzigen Glieder, flochten ineinander die Ringe, die ihren Leib umspannten, goldflaumig und schwarz. Nahars Kopf hatte sich tief eingelagert in die warmen Flanken des Bruders, Nahars Kopf wurde gehoben und gesenkt mit den Atemschlägen des Bruders.
Kühler Regenwind öffnete das dichte Gezweig der Weide.
Durch das Tor schritt mit schwebendem Gang das Vatertier, Jagdbeute schleppte es nach, raschelte durch Traum und Schlaf.
In Dunkelheit erwachte Nahar, das Tier. Der salzige Geruch des frischen Fleisches weckte es mit bebender Freude, hoch horchte es hin nach dem Fallen der Blutstropfen, die niedertropften in das regengeschützte Versteck. Über ihre emporgewölbte kleine Stirn streifte ein zertrümmerter Knochen, Körnchen von blutigem, fettem Mark glitten über des Tieres Lefzen, die noch ins Leere saugten, und feuchte Luft erhaschten statt Speise.
Scharrend wie Stroh züngelte die Mutter über das tote Wild, mit den Zähnen faßte sie Fetzen, die sich schwer lösten vom krachenden Knochen.
Noch lagerte die Mutter in dem warmen Winkel der Geburt, noch träufelte das Blut der Eröffnung um ihren gewaltigen Hinterleib, als sie Nahar sacht emporhob in die Höhlung ihres gekrümmten Bauches. Sie war gesättigt. Die Kinder zu sättigen, erfaßte sie mit der aufgerollten Zunge eine ihrer starrenden Zitzen und drückte sie Nahar in den zahnlosen, mit hohen Kiefern schnappenden Mund.
Selig sog das Junge die heiß sprudelnde Süßigkeit, in schwarzem, warmem Frieden breitete es sich rings um den Euter, den breiten, runden Heimatherd, es atmete und trank in tiefen Augen, bewußtlos von Wonne wie ein Baum:
Neue Nahrung, Regen ohne Ende floß ihm zu.
Längst versunkener Mensch, längst begrabenes Grab.
Freudenvolle Wollust des Seins.
Der große Mond, weiß in der Mitte des Himmels, durchbrach das Regengewölk.
Matt schimmerte er durch Nahars Augenrund, das noch mit dünnem Gehäuse verschlossen war. Zart wallendes Licht.
Der Wind, sehr feucht vom Regen, begann zu fauchen, zu zittern in der Krone des Baumes, unter dem vier Tiere ruhten.
Aus der Fülle des Traumes, von dem Teppich ihres Bettes, von dem schützenden Dach, vom warmen Heimatherd sang Nahar eintönigen Gesang. Ohne Mühe entquoll es aus ihrer Brust, dehnte alles aus in ruhevollem Laut, in tief summendem Schwirren, hügelan gehoben mit der atmenden Brust, hügelab verseufzend in Stille.
Den Kopf hob Nahar fort von dem warmen Hügel der Mutterbrust. Sie fühlte sich leben, das selig umdunkelte Tier. Mit winziger Zunge leckte sie sich die eckige Schulter, das magere Gebein ihrer Achsel, das dünn behaarte.
Die Mutter regte sich, aus dem gewaltigen Schlund kam dröhnendes Gähnen. In den weitaufgerissenen Rachen der Mutter tappte Nahar ihre ersten Schritte: sie klammerte sich an das Gesicht der Alten, verbarg sich ganz in der Grotte des Maules, frierend in der Nacht. Aber schon glitt sie hinab, den Quellen der Brüste nach.
In großer Beseligung preßte sie sich in das Gewühl des strotzenden Fleisches, sie lagerte sich der milchtropfenden gesegneten Nähe: gesättigt, genährt an freudevollen Düften, sich selbst nahe, alle Glieder näher an sich heran schlingend, in stillstarker Umarmung schlummerte sie ein.
Wehender Monsun der ozeanischen Gestade. Der Mond war grau umhüllt. Graues Schimmern durch Nahars Augenlider.
Groß öffneten sich die Mutteraugen. Grünes Funkeln, grüner Blitz in graues Gewölk. So wanderten die Augen um den Schlaf der Jungen. Schützende Gestirne.
Regen rauschte von neuem, umstreichelte die engverschlungenen Zweige des Baumes. Das Vatertier schritt draußen im Regen, leise zwischen kriechendem Gebüsch. Der Vater zerriß die seilartig gestrafften Schlingpflanzen, sein mächtiges Haupt, aufspürend den Waldgang der jagdbaren Tiere, folgte nicht der lockenden Spur. Um das Lager des Weibes und der schlafenden Jungen wanderte er, in niedrig federnden langen Schritten, immer den gleichen Weg, ein treuer Wächter, der niemals entschläft.
Auch die Mutter schlief nicht: hingelehnt auf dem Abhang ihres Leibes, alle Glieder gelöst, ruhte ihre Brut. Ruhig war sie selbst, nur ihr Schweif schlug nervig die Steine des Gebärlagers, die von dem dunstigen Hauch der vereinigten Tiere sanft erwärmt waren. Er erschütterte die letzten Ausläufer der Zweige des schützenden Heimatbaumes:
Noch sah es nicht, das kindheitsblinde Tier: mit blauer Flügeldecke eines in der Sonne ruhenden Insektes war das matte Rund seines Auges verdeckt, mit Dämmerung war es sanft ummantelt. Mit unsicherem Schritt ging Nahar weiter den Weg der ersten Wanderung: auf dem Körper der Mutter schweifte sie fern. Unter ihren tastenden Füßen spannten sich zu ragenden Blöcken die Glieder der Mutter. In tiefe Seufzer versank Nahar im Tal, zwischen den blauen heißen Bergen der starrenden Brüste wand sie sich mühsam hindurch, in den auseinandergewälzten Falten des Halses verstrickte sie sich spielend, wie ein Kind in einen rollenden Teppich gewickelt.
Süßer, brennender Duft. Sommerwind.
Blau alle Welt, verzaubert in die Dämmerung eines halb erwachten Tages. Als wäre sie verfolgt, so flüchtete sie in das meerrauschende Ohr der Mutter. Als wäre sie jagend gehetzt, so schmiegte sie sich auf den gewölbten Bug der mütterlichen Stirn.
In blauer Dämmerung, ein Tier ihr gegenüber, so wie sie, war es geschmiegt in ein Ohr der schlafenden Mutter, mit seinen Krallen umschlang es die ihren, seine Brust pochte an der ihren; es spielte mit dem Schweif in blauen Ringeln wie sie selbst: das vertraute Wesen, ihresgleichen, ein Spiegelbild, der Bruder.
Spiegellaut, der silbern klingende Ruf, der rauh summende Ton, ihrer eigenen Kehle entsponnen oder der anderen?
Im matten Glas der noch blau umträumten Augen sah sie das verwandte sich entgegengleiten über die gerollten Teppichfalten des Halses, den gleichen zagenden Schritt wie sie selbst.
Am Grunde einer hohen Mutterbrust lagen die jungen Tiere, Kopf an Kopf, Zunge in Zunge verspielt, so hauchten sie einander an im ersten Erkennen. Geschwistertiere. Milch quoll ihnen beiden.
Schwarz war versunken der Mensch.
Landschaft um sie: der blau umschattete Berg. Schwarz war versunken das Tal, von breiten Streifen wallend getigert.
Tiermutter, schweigend ruhende, die mit großen Augen niederfunkelt auf ihre Kinder. Golden gesänftigt.
Summen raunte aus allen, schwebender Dreiklang.
Von den ungeheuren Pranken der Mutter waren die Kinder wie mit Mauern umschlossen. In guter Heimat, am atmenden Herd, wie ein einziger Hauch wiegten sich beide auf der weiten Ebene, sie rührten sich nicht.
Ruhe und Nacht, Blut und Luft, Nahrung und Schlaf, Summen und Schweigen.
Der Morgen entbrannte. Viele Stimmen tönten im Chor. Draußen, jenseit des rauschenden Heimatbaumes. Die große Sonne. In weißen Säulen strömender Glanz dröhnte durch den erwachenden Tag.
Das Vatertier, in friedlichem Urlaut, lagerte sich zu den anderen.
Im aufdampfenden Hitzewind lehnte sich das Gebüsch zurück, die Zweige rollten auf. Matt rinnendes Licht. Ferner, weiß glückseliger Schimmer über die blaue Dämmerung der kindheitsblinden Tiere.
Noch sah es nicht, das kindheitsblinde Tier. Noch war es getaucht in blauen Morgentraum. Dem feuchten Hauch der mütterlich entgegenstarrenden Brüste entglitt es, über die lau gewärmten Steine des Lagers lief es dahin, geleitet vom Schimmer, herangelockt vom fernen Strahl am Ende des kaltfeuchten Ganges. Die Sonne stieg. Aber unsichtbar, unerreichbar, nicht zu fassen verrann vor ihren Augen das Licht.
Scharfe Halme rissen mit Stacheln an Nahars Hals. Die Glieder hielt sie geklammert um hin und widerschwingende Äste.
Kalter Sturm brach plötzlich von oben, brausender Morgenwind schaukelte die Zweige und das gewichtslose Tier. Vögel kreischten wild. Des Spiegeltieres silbern klingender Laut hauchte kaum noch zu ihr aus der Ferne. In kalte Flut versank Nahar, tauchte in eisiges Wasser, mit Not rettete sie sich, sie zitterte in Angst. Hilflos klebte sie in einer Höhlung der Erde, um sich selbst geringelt, damit sie sich labe an der kärglichen Wärme des eigenen Körpers, an den Blättern züngelte sie, um sich wäßrige Nahrung zu saugen. Nun schrie sie kläglich zurück nach der Mutter.
Vögel flatterten auf in rieselndem Rauschen, schwerer Regen prasselte nieder, über den mageren Hals goß es, schnell erkaltete alles auf der Haut. Je weiter sie wanderte, desto fremder die Welt. Schnellende Zweige, Schläge und Peitschen, Niederkrachen durch tückisch schwankendes Unterholz. Rettungslos die Welt, von allen Seiten versperrt und verkerkert.
Düsterer Kerker, von Dämmerung kaum noch erhellt.
Das Tier allein. Langhin verseufzte die Stimme in Verzweiflung.
Aber jetzt sauste ein Ungeheures durch die Luft, schon warf es sich nieder, krachte im splitternden, regensprühenden Gezweig.
Aber jetzt, im gesegneten Augenblick, erglühte Nahar im blitzenden Licht, hoch rauschte auf der Vorhang der matt gespannten Lider, zum erstenmal sah Nahar:
über sich den großen rettenden Gott, den ungeheuren Pfeil des Leibes noch federnd vom Sprung.
Es kreiste der Mutter ruhiges Haupt mächtig über ihr, ein Himmel schwarz und fahl gestreift, ein Funkeln goldig grün aus Urgrundtiefe: die Tieraugen, runde Sterne, wandelten über ihr.
Wie ein weithin gelagerter Berg kniete die Mutter vor dem Kind. Schon raffte sie es auf, bettete es in ihrem Munde. Zwischen die Flächen der Wangen war es gepreßt, die breite Zunge rollte sich als ein wärmendes Lager unter ihr, Atem Zug um Zug strich über sie hin. Stürmend wurde sie durch Nässe und Fremde zurückgetragen. In sausendem Fluge schwebte sie in der Luft, in gleitender Senkung landete sie im guten, schattigen Lager, auf dem steinernen Boden, in dem festgegründeten Haus. In herrlichster Wiederbegegnung sah sie das Spiegeltier, in ruhender Besänftigung hörte sie es sich entgegensingen.
Zerbrochen die Blindheit, der Kerker frei.
Morgen war es, in der Ferne noch stürmender Regen in donnerndem Guß am Ende des Himmels das fliehende Gewitter.
Sie aber, die von der Mutter gerettet, von Mutter doppelt besonnt dalag, sie, die dem Bruder zugesellt, mit den anderen sich vereinte, sie war zur Freude als Tier unter Tiere gebreitet, versöhnt war sie im Zuhause des fest gegründeten Lagers.
Die Sonne brach mitten durch weißkochende Luft.
Wipfelbäume ragten in fast schwarzem Grün, zart geteilte Blätter, tausendfach verzweigt, breite Flächen, geglättet im Glanze. Licht spannte sich aus, endlich niedergesegnet zu ihr, überschwenglich hingeschüttet, kaum zu fassen, blendende Glut, gierig getrunken, grün siedendes Metall um Himmel, Pflanzen, Tiere, Stein.
Die Mutter, der schützende, rettende Gott, sonnte sich, die sanfte, riesenhafte Gestalt.
Goldleuchtendes Braun, durch schwarze Streifen gegittert, schwarze Ketten, in vielen Reihen gewunden um das herrlich funkelnde Fell, das feuerfarbene: so wand sie sich träg in der brütenden Hitze. Unter dem weißlichen Flaus des noch schleppenden Bauches strotzten ihr sechs Euter. Freudige Rosenfarbe, am Gipfel mit Milch umträufelt, am Grunde von fahlem Teppich dicht umstanden.
Ewig funkelten der Mutter grün-goldene Augen über den Kindern. Weißes Haar an den Wangen, lichtes Gewölk um die Kiefer, ein Nebelhof um den Mond des großen Gesichtes. Langschwankende Haare umzitterten der Mutter blaß gedehnte Lippen, es glimmerte hart das wollüstig in Ruhe knirschende Gebiß.
Die Pranken, vier ungeheure Säulen, rankte die Mutter um den zarten, rippenstarrenden Leib der Jungen. Sich selbst vergaßen Mutter und Kind. Lange ruhten sie, aneinandergelehnt, in glücklichem Tierblick eins ins andere gespiegelt.
Im Mittag zitterte der tropische Hain. Vögel, schwirrend in schwarzgoldenem Flug, zwitscherten ihren kreischenden Laut. Durch das Dunkel des Weidengezweigs rann das Licht, die blendend hinabgegossene Sonne. Glimmernde Feuerflecken flackerten auf dem feuerfarben gestreiften Fell, vom Winde flüchtig verscheucht, hingezaubert um das Haupt der gelagerten Tiere. Schnell trocknete Nahars Haut, die von dem feuchten Rachen der Mutter wie von Tränen dunkel benetzt war, schnell verging Angst und Schrecken der blinden Zeit, die jetzt in Glut strahlte.
Kindertag des Tieres: auf dem Rücken zu liegen in Trägheit, den weiß umflaumten Bauch hinspielen lassen, von Wärme hold umströmt, die Endlosigkeit des Daseins vor sich.
Rot durchleuchtete die zischende Sonne Nahars Schlaf.
Von Mückenschwärmen geweckt, hörte sie in der Ferne des Vatertieres dröhnendes Rollen, still atmete neben ihr die Mutter, über ihr, eine leichte Last, schlief der Bruder, des holden Spiegeltieres Gestalt. Im Sommer waren beide geboren.
Mit zärtlicher Zunge langte Nahar nach dem Bruder. Sie fühlte seine Brust, die kärglich bewachsene, den Leib mit dem zarten Geschlecht.
Auf ihren Armen trug sie das weichgegliederte Knochenspiel, als wäre es ihr Kind.
Nachts kam der Vater zurück: schwere Beute schleppte er im ungeheuren, blitzenden Rachen, auf die Jungen träufelte als düsterer Regen Blut herab, Geifer und Schweiß. Weiß flimmerte seine schmale Lippe, in der lichten Kehlgrube zuckte sein Puls. Über den aufatmenden Kindern donnerte dumpf sein Herz. Krachend zertrümmerten seine Zähne, die wild zuhackenden Hauer, die runden Schenkelknochen eines Rehes. Neben das Junge hin fielen Fleischstücke, noch rauchend von Leben, Eingeweide, glatte weiße Schlangen, ringelten sich um die Füße der Tiere, feucht und warm.
In lautlos gebeugtem Knie ruhte der Vater, der gewaltige Bau, der selbst die Mutter noch übertürmte. Fernhin blickte er, während er an seine Brust in unzerreißbarer Umarmung geklammert hielt den blutig nackten Rücken seiner Beute.
Licht schimmerte das Haar um seine Wangen, die vom Fraß noch zitterten, ein Nebelhof, wallend um den weißen Mond seines großen Gesichtes. Bevor er sich einsenkte in Ruhe und Schlaf, kreiste sein Blick über die Kinder. An Nahar beugte er sich tief herab. Plötzlich warf er sich mit knurrendem Laut auf den Rücken, faßte das Kind zwischen seine weichen Pranken, spielend schleuderte er es hoch, fing es im Spiele wieder auf in der flaumigen Bucht seines Bauches. Bald rollte er schwer zur Seite, gesättigt, am Eingang des Schlafs. In den Zotteln seines Felles ließ er sein Kind.
Morgens verließ er das Lager. Goldleuchtend und schwarz schwirrte sein Abglanz durch den windgebogenen Bambus ins dichte Gespinst der Gebüsche.
In der Wolke seines Dunstes, im Mund noch den Duft seines Schweißes, witterte Nahar das Blut der Jagd. Lüstern erwachte sie, in warmer Erregung schwebte das junge Tier noch lange.
Auch die Mutter schritt fort. In einen hohen Bogen streckte sie gähnend ihren Leib, und wie sie die Vorderpranken in die Rinde eines Baumes einkrallte, erbebte der Baum, erbebte der festgegründete Boden des Heimatgeländes. Langsam hob sich ihr Kopf, witterte hin nach dem milchig tropfenden Morgen, lautlos zog sie dahin unter dem sausenden Wind.
Im Spiel begegneten sich Bruder und Schwester.
Anschleichend, durch die Trümmerstätte gebleichter Knochen und gedörrter Sehnen gedeckt, wie zwei Schlangen glitten sie, goldflaumig und schwarz im stillen Mondmorgen. Schon bissen sie zu, verfingen sich mit ihren kaum sprießenden Zähnen. Dem Vatertier gleich, warf sich Nahar auf den Rücken, auf ihren Gliedern trug sie den leichten Körper des Bruders, schaukelte ihn, schnellte ihn fort, setzte ihm nach, umgirrte ihn im spiraligen Lauf. Hoch wogte die Sonne.
Schon kam er ihr nahe, fauchte sie an mit zornigen Nüstern, faßte ihren Rücken, kämmte ihn bis zum Schweif, mit seinem spitzigen Gebiß. Nahar entfloh, im Sprung warf sie sich an einen niedrigen Zweig des Heimatbaumes, wippend lugte sie von oben herab, senkte sich, umfaßte den Bruder mit den Vorderpranken, um seinen Kopf hin und her zu wiegen, den wehrlos gefangenen unentrinnbar zu umarmen.
Zwischen ihren Armen leuchtete das wiedergespiegelte Ich.
Selig erkannte sie sich im spielenden Bruder. Keine Erinnerung verdunkelte ihren glücklichen Tag.
Vögel flatterten vom zitternden Zweig, in purpurnem Fluge durchzuckten sie den Morgen. Pfauen, blau schattend, mit riesig funkelndem Spiegel, huschten rauschend rings um die Tiere, die kämpften und spielten im Jubel der Kindheit.
Mit Leben bis in die letzte Ader gefüllt, spielten sie Tod. Flach, wie mit durchschnittenen Sehnen, lagen sie da.
Keine Regung, kein Hauch.
Nahar, geblendet in der Mittagssonne, gebadet in flimmernde Hitze, nackt im bunten Fell. Des Bruders rauh keuchender Atem floß herab an ihrer goldschwarzen Hüfte, die seine kühlen, dunklen Nüstern berührten. Aber jetzt, aufstampfend in der blühenden Kraft ihrer Jugend, setzte sie in herrlichem Tiersprung ab von der Erde. Hoch gespannt, zwitschernd in silbernem Laut, warf sie sich in die schwirrende Luft, überflog jauchzend den langgestreckten Körper des Bruders. Im Schatten des Heimatbaumes landete sie, auf kühlem Totengebein lagerte sie.
Zur glücklichen Wiederkehr drängte sich die Mutter durch das buntfarbige windgeschüttelte Gebüsch. Wie Gesang, im Jagen verklingend, raste um sie, die ruhig stehende, der Kehllaut der gurrenden Kinder, die sich bald nahten, um mit freudigem Schnauben sie zu umwittern. Zwischen die winzigen, gold und schwarz geströmten Körper bohrte die Mutter, selig in ihrer Wiederkehr, ihre großen, wie Nachtregen so feuchten Nüstern. Sie rieb die Geschwister ab mit den Barthaaren, die ihr dicht die schmalen weißen Lippen umkränzten.
Zwischen die ragenden Säulen ihrer vier Glieder nahm sie die Kinder, sie baute sie ein in den Untergrund ihres königlich strahlenden Lebens, bot ihnen die Brust, die sie einsogen, in gleichmäßig pochendem Zuge, gleichzuckend in dreifach einklingenden Takt mit ihrem Herzen, dem mütterlich strahlenden.
Im stehenden Glanze der hochragenden Sonne sanken sie zu dritt, gesättigt.
Trockener Laut flüsterte aus dem Busch: blitzschnell wandte die alte Tigerin ihr Haupt hin, schon schlug sie zu mit lässig massiger Pranke, in der Umklammerung ihrer schillernden Krallen drehte sich eine graue Ratte, in wütenden Schlägen ringelte sich, ein ohnmächtig sich windender Erdwurm, der dünne Rattenschweif um die ehern getriebenen Tigerklauen. Aus weißgezähntem spitzigem Maule jammerte an der Erde ein hochklagender Laut. Gelb und rot umschäumt, drängte sich der Rattenkopf vor, im Kreise rasten zwei schwarzglimmernde Augen, rings umgittert von den wie ein Kerker geschlossenen Krallen, gedeckt von der Kuppel der riesigen Tigerpranke.
Jetzt wandte sich das Auge der Mutter zum Kind: lockend löste die Alte die Tatze von der Ratte. Nahar erbebte: sich ganz auf das graue Tier zu stürzen, es zu zermalmen, Wonne weitete ihr die Mundwinkel aus, lebendig das graue Tier darin zu verschlingen, aus ihren Füßen sprangen Krallen: noch waren sie eingeankert in den toten Boden, zielsichernd starrte sie: sich ganz zu klammern in den Leib der fliehenden Ratte.
Hoch hob sich die Tatze der Mutter, erlöst entglitt das kleine Tier, befreit war es von der Gefangenschaft, kaum geritzt war der graue Samt des Felles, unzerbrochen die Knöchelchen, so fein. So fein zog die Ratte ihr Körperchen dahin, immer noch im Schatten der unbewegten Königstiere, in eilig trippelndem Lauf. Aber wie es auch raste, wie es die Gräser durchschnitt, und als graugezückter Schatten verging, dem grauen Schatten nach setzte Nahar, die junge Tigerin, feuerfunkelnd in lautlosem Sprung. In eiligster Flucht jagte sie, schon hatte sie es, schon krallte sie das Tier, versank in die atemlose Wonne der unentrinnbar ergriffenen Welt, der begriffenen Beute. Mit den Pranken sie fest zu umarmen, wie vorhin den spielenden Bruder: aber nicht spielenden Bruderlaut entließ sie jetzt aus der zitternden Kehle, sondern dumpfes Vaterdröhnen und Wut der beseligten Jagd.
Das Maul, die Zunge, der Bauch, eben noch mit Milch getränkt, mit Frieden gesättigt, dorrten jetzt, gepeinigt vom Durste nach Blut.
Bluttropfen zitterten auf den nickenden Gräsern, die Nahar mit ihren dunkel glühenden Augen erfaßte, während an ihrer Brust die Ratte in unzerreißbarer Umarmung sich krümmte.
Still blickte die Mutter, ein unbewegter Berg.
An die schnell pochende Kehle der Ratte schmeichelten sich Nahars Zähne, glätteten sich an dem gleitenden samtenen Fell.
Still jubelnd, im Blutzauber beseligt, biß sie zu nach der grau zuckenden Frucht, löste die Zähne mit Mühe nur los, fühlte noch Leben in der Beute, schlug zum zweitenmal tiefer, löste sich ab im bebenden Schweigen, unter winkenden Zweigen. Und nun, im äußersten Krampf der Lust, zum Rasen erregt, die kleine Brust zum Bersten geschwellt, stumm warf sie sich hinein in die Tiefe des Körpers, um der Ratte die Lunge, das Herz zu zerfleischen: Leben zu töten.
Blut und Luft, in wonnevollem Wirbel wogten auf, Blut und Luft ihr ins Auge, das rot umblitzte, Blut und Luft ihr ins nackte, kühl aufgerichtete Ohr, Rauschen und Toben, stürmendes Meer.
Über der sterbenden Ratte, in allen Gliedern gelöst, ruhte schwer das blutselige Tier. Durch Nahars eng geschlossenen Lippen bohrte sich der Blutquell, eine neue herrlich streichelnde Zunge, von außen zwang sich nach innen die Wollust. Die sterbend zuckenden Muskeln schlugen ihr Herz, ihren Bauch, ihr aufbebendes Geschlecht.
Wie ein Liebesweib ruhte sie auf dem zerfleischten Tier. Weithin blickte sie, zwei Welten in einer zu genießen.
Aber schon erkaltete die Ratte, grau erstarrte ihr Fleisch, zu eisigem Schleim verhärtete sich das Blut.
Unter große Blätter, in den Schatten saftquellender Farne, über die Stiegen bunt gespannter Winden, jenseits von Mutter und Bruder, jenseits des feuchtschattenden Heimatbaumes, in eine eigene Höhle, sich selbst zur dunklen Freude, sich selbst zu letzter Sättigung schleppte Nahar ihre Beute. Mit den Krallen grub sie ein Loch in die Erde, die Ratte hier zu lagern, sich selbst darauf zu türmen. Dumpf knurrte sie, kochend in tiefster Lust.
Noch zitterte der tropische Hain, durch das Dunkel der weichgefiederten Farne brach Licht, des Nachmittags blendend hinabgegossene Sonne. Glimmernde Feuerflecken auf dem grell getigerten Fell: so ruhte sie auf dem Grabe des getöteten Tieres, ein Liebesweib auf blutigem Lager.
Nahar erwachte des Nachts: die Mutter drohte mit böse dröhnendem Laut: der Vater umschlich sie, er brach durch das spritzende Weidengeäst, grollend wich er zurück, vertrieben von der schwer schlagenden Pranke der Mutter. Feucht benetzt zitterten die Jungen, nahe schmiegten sie sich aneinander. Wie die Mutter sich herumwarf, um von der anderen Seite den Mann abzuwehren, schlugen ihre Brüste die Kinder zu Boden. Sie schlugen nieder wie warme Steine über ihren Leibern. Die Kinder rollten dahin, auf den Berg der toten Gebeine retteten sie sich.
Stürmisch mit einem Satz zerriß der Vater das Gebüsch, mit grimmig jubelndem Laut warf er sich von rückwärts über die Mutter, in süß zitternden Ruf verklang sein Zorn, als das Weib sich unter ihn schmiegte, regungslos, wie ein Kind zwischen den Säulen seiner Pranken gegliedert.