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Namenlos ist ein Roman aus dem Jahr 1862, der die Geschichte der Schwestern Norah und Magdalen Vanstone erzählt. Die beiden jungen Frauen leben mit ihren Eltern glücklich und zufrieden auf dem Landgut Combe-Raven. Doch dann stirbt ihr Vater und hinterlässt ihnen ein dunkles Geheimnis: Magdalen ist ein uneheliches Kind. Magdalen ist entschlossen, ihr Leben zurückzugewinnen und sich ihren Platz in der Gesellschaft zu verdienen. Sie nimmt die Identität einer anderen Frau an und beginnt ein neues Leben in London. Doch ihr Versuch, die Vergangenheit zu vergessen, scheitert. Sie wird von ihrer Vergangenheit eingeholt und muss sich ihren Ängsten stellen.
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Seitenzahl: 1390
Namenlos
Wilkie Collins
Die Zeiger der Uhr im der Hausflur zeigten auf halb Sieben früh. Das Haus war ein Landsitz in West-Somesetshire, welcher Combe-Raven (Rabenschlucht) hieß. Der Tag war der vierte März, das Jahr achtzehn hundert und sechs und vierzig.
Kein Ton außer dem einförmigen Tik-tak der Uhr und dem dummen Schnarchen eines großen Hundes, der auf einer Matte vor der Thür des Speisesaales lag, störte die geheimnißvolle Morgenstille der Flur und der Treppe. Wer waren die Schläfer dort oben in den höheren Regionen des Hauses? — Mag denn das Haus seine Geheimnisse selbst entschleiern, und Einer nach dem Andern, wie sie von ihren Schlafgemächern die Treppe heruntersteigen, mögen die Schläfer sich selber vorführen.
Wie die Uhr ein Viertel vor Sieben zeigte, erwachte der Hund und schüttelte sich. Nachdem das Thier vergeblich auf den Bedienten gewartet, von dem es gewohnt war hinausgelassen zu werden, lief es auf den Hausflur unruhig von einer verschlossenen Thür zur andern, kehrte dann in großer Verlegenheit zu seiner Matte zurück und machte sich der schlafenden Familie durch ein langes klägliches Geheul bemerklich.
Bevor die letzten Töne seiner Klage verhallten, knarrte die eichene Treppe in den oberen Regionen des Hauses unter den Tritten einer langsam herabsteigenden Person.
Eine Minute später wurde die erste der Dienerinnen sichtbar, einen dunkelbraunen Wollenshawl um die Schultern; denn der Märzmorgen war nicht eben sonnig, und Rheumatismus war für die Köchin ein alter Bekannter.
Die Köchin nahm das erste schmeichelnde Endgegenwedeln des Hundes so unfreundlich als möglich auf, öffnete langsam die Hausthür und ließ das Thier hinaus. Es war ein stürmischer Morgen. Ueber einem freien Platze und hinter einer Nadelholzpflanzung bahnte sich die aufgehende Sonne ihren Weg durch Haufen zerrissener grauer Wolken; schwere Regentropfen fielen da und dort einzeln nieder; der Märzwind sauste um die Ecken des Hauses, und die nassen Bäume schwankten träge hin und her.
Jetzt schlägt es sieben Uhr; und nun folgen die Zeichen des erwachenden Lebens im Hause schneller aufeinander.
Die Hausmagd kommt herunter, ein langes, schmächtiges Mädchen, dem die Frühjahrestemperatur roth an der Nase geschrieben steht. Das Kammermädchen folgt, ein junges, pfiffiges, pralles, aber noch etwas verschlafenes Kind. Die nächste ist die Küchenmagd, geplagt mit Kopfreißen und daraus kein Hehl machend. Der Letzte von Allen ist der Bediente, der ganz erbärmlich gähnend zum Vorschein kommt; das lebendige Conterfei eines Menschen der fühlt, wie er um seine süße Nachtruhe betrogen worden ist.
Die Unterhaltung der Dienerschaft, wie sie vor dem nach und nach ins Brennen kommenden Küchenfeuer beisammen war, bezog sich auf ein jüngstes Familienereigniß und blieb bei der Frage stehen: Hat Thomas, der Bediente; etwas von dem Concert zu Cliston gesehen, bei welchem den Abend vorher sein Herr und die beiden jungen Töchter des Hauses zugegen waren?
— Ja.
Thomas hatte das Concert gehört; er hatte Geld erhalten, um auf einen der hinteren Plätze zu gehen.
Es war ein lautes Concert. Es war ein heißes Concert. Es war an der Spitze der Programme als ein »großes Concert« beschrieben.
Ob es sich nun wirklich verlohnte, um es zu hören, sechzehn englische Meilen auf der Eisenbahn zu reisen mit der sich daran knüpfenden Verschärfung, auf der Rückfahrt halb zwei Uhr Morgens neunzehn Meilen auf der Landstraße zu machen: Das war eine Frage, welche er seinem Herrn und den jungen Fräulein zur Entscheidung überlassen wollte. Seine eigene Meinung wäre mittlerweile, ohne daß er sich einen Augenblick zu bedenken brauche:
Nein.
Weitere Fragen, welche seitens aller weiblichen Dienstleute der Reihe nach an ihn gerichtet wurden, brachten keine andere Mitteilung irgend welcher Art aus ihm heraus.
Thomas konnte keines von den Liedern nachsingen, eben sowenig eines von den Kleidern der Damen beschreiben.
Seine Zuhörer gaben ihn daher hoffnungslos auf, und das Küchengeplauder wandte sich wieder seinen gewöhnlichen Unterhaltungsstoffen zu, bis die Uhr Acht schlug und die versammelte Dienerschaft in Bewegung gerieth und sich trennte, indem Jedes an seine Morgenverrichtung ging.
Ein viertel nach acht — und nichts rührte sich. Jetzt schlug es halb — und schon machten sich mehr Lebenszeichen in der Gegend der Schlafgemächer hörbar.
Das nächste Familienglied, das die Treppe herunter kam, war Mr. Andreas Vanstone, der Herr vom Hause.
Ein Mann, groß, stark und von gerader Haltung, mit hellen blauen Augen und gesunder blühender Gesichtsfarbe, sein Jagdkoller von braunem Plüsch nachlässig und verkehrt zugeknöpft, sein kläffender kleiner schottischer Dachshund hinter ihm her bellend, ohne von ihm zur Ruhe verwiesen zu werden; wie er die eine Hand in der Westentasche, mit der andern fröhlich wie im Tacte auf das Treppengeländer schlagend, dabei ein Liedchen summend, die Treppe hernieder stieg: so zeigte Mr. Vanstone schon im Aeußern seinen Charakter offen für Jedermann erkennbar. Ein ruhiger, gemüthlicher, hübscher, launiger Gentleman, welcher auf des Lebens Sonnenseite seinen Weg zu wandeln hatte und der Nichts mehr wünschte, als daß er den Genossen seiner irdischen Pilgerfahrt ebenfalls auf der Sonnenseite begegnen möchte. Wenn man ihn nach den Jahren schätzte, So war er über die Fünfzig hinaus. Beurtheilte man ihn nach seinem allezeit leichten Herzen, nach seinem starken Körper und seiner Lebenslust, so war er eigentlich nicht älter als die meisten Männer, die erst über die Dreißig hinaus sind.
— Thomas! rief Mr. Vanstone und nahm seinen alten Filzhut und seinen dicken Ausgehstock von dem Tische in der Flur. Das Frühstück heute um Zehn. Die jungen Damen werden nach dem Concert von gestern Abend schwerlich früher herunterkommen. — Uebrigens wie gefiel denn Dir das Concert, Dir selbst, he? Du meinst, es war »groß?« Ganz recht. Das war es. Nichts als Getöse abwechselnd mit Gelärm; all die Frauen herausgeputzt, wie es nur menschenmöglich war; erstickende Hitze, blendendes Gaslicht und nirgends mehr Platz für einen Menschen! Ja, ja, Thomas, »groß« ist das rechte Wort für das Alles, angenehm und gemüthlich gewiß nicht. — Nach diesem Bekenntniß seiner Meinung pfiff Mr. Vanstone seinem Dachsköter, schwenkte den Stock in der Hausthür in lustiger Verachtung des Regens und machte sich durch Wind und Wetter auf, um seinen Morgenspaziergang anzutreten.
Die Zeiger, die unvermerkt. ihren stetigen Weg um das Zifferblatt der Uhr beschrieben, zeigten nun auf zehn Minuten vor Neun. Ein anderes Mitglied der Familie wurde jetzt auf der Treppe sichtbar, Miss Garth, die Gouvernante.
Einem aufmerksamen Auge konnte es nimmermehr entgehen, daß sie eine Dame aus dem Norden war. Ihre hart gezeichnete Physiognomie, die männliche Gewandtheit und Bestimmtheit in allen ihren Bewegungen; ihre fortwährende Ehrbarkeit in Blick und Haltung: Alles verrieth ihre Abstammung und Erziehung an der Nordgrenze. Obschon wenig älter als vierzig Jahre hatte sie doch schon ganz weißes Haar und trug über demselben die schlichte Haube einer alten Frau. Weder ihr Haar noch ihr Kopfputz standen mit ihrem Gesichte im Widerspruche: letzteres sah älter aus, als sie war. Die schwere Schrift des Kummers hatte es in vergangener Zeit tief durchfurcht. Das Selbstbewußtsein ihres Schrittes die Treppe herab, der zu befehlen gewohnte Blick, mit dem sie sich umschaute, sprachen deutlich genug von ihrer Stellung in Mr. Vanstones Familie. Dies war ersichtlich keine von der verlassenen, verfolgten, demüthiglich abhängigen Classe der Gouvernanten. Hier hatte man eine Frau vor sich, die in sicherer und ehrenvoller Stellung bei ihrer Herrschaft lebte, eine Frau, welcher man es ansah, daß sie im Stande war, jegliche Aeltern in England energisch zurechtzuweisen, wenn dieselben sie etwa unter ihrem Werthe schätzen sollten.
— Frühstück um Zehn? wiederholte Miss Garth, als der Diener durch die Klingel herbeigerufen kam und die Befehle des Hausherrn berichtet hatte. O, ich wußte, was von dem Concert von gestern Abend kommen würde. Wenn Leute, die auf dem Lande leben, öffentliche Vergnügungen mitmachen und protegieren wollen, so vergelten diese Vergnügungen das wieder, indem sie die Familie auf ganze Tage hinterdrein aus ihrer Ordnung bringen. Sie sind auch aus Ihrer Ordnung, Thomas, ich sehe es ja selbst, Ihre Augen sind so roth wie die eines Frettchens 1, und Ihre Halsbinde sieht aus, als hätten Sie mit ihr sich schlafen gelegt. Bringen Sie den Kessel um drei Viertel aus Zehn und, wenn Sie sich im Laufe des Tages nicht besser befinden, so kommen Sie zu mir, ich will Ihnen Etwas eingeben. —
— Es ist ein guter Junge, wenn man ihn nur gewähren läßt, setzte Miß Garth im Selbstgespräch hinzu, als Thomas gegangen war. Aber er ist nicht stark genug zu Concertbesuchen von zwanzig Meilen Entfernung. Ich sollte ja gestern Abend auch mit ihnen gehen. Ja, da könnt Ihr lange warten!
Es schlug Neun, und der Minutenzeiger rückte dann noch zwanzig Minuten weiter, ehe wieder Schritte auf der Treppe sich hören ließen. Nun erschienen zwei Damen, die zusammen ins Frühstückszimmer herabstiegen, Mrs. Vanstone und ihre älteste Tochter.
Wenn die persönlichen Reize von Mrs. Vanstone in einer früheren Lebenszeit lediglich auf ihrer angeborenen englischen Schönheit in Farbe und Frische beruht hätten, so mußte sie schon lange die letzten Reste ihres Ichs verloren haben; aber ihre Schönheit als junge Frau hatte sich nicht auf die gewöhnlichen nationalen Reize beschränkt, und sie war noch immer im Besitze von Vorzügen, welche sich weit seltener finden. Obschon sie in ihrem vierundvierzigsten Jahre stand, obschon sie in früheren Zeiten durch den frühzeitigen Verlust von mehr als einem ihrer Kinder und durch lange Krankheitsanfälle, die Folgen des Kummers über jene Verluste früherer Jahre, geprüft worden war, so bewahrte sie doch das schöne Ebenmaß und die weiche Feinheit der Züge, die einst mit dem alles verklärenden Glanze und der Jugendfrische ihrer Schönheit ein so herrliches Ganze bildeten, welche letztere sie freilich nun auf immerdar verloren hatte. Ihre älteste Tochter, die eben an ihrer Seite die Treppe niederstieg, war der Spiegel, in welchem sie sich selber aus früheren Jahren wiedererkennen und den Wiederschein ihrer eigenen Jugend erblicken konnte. Da lag in dichten Flechten auf der Tochter Haupt das schwere dunkle Haar, das bei der Mutter immer stärker mit Grau sich mischte; da auf der Tochter Wangen glühte das lieblich hingehauchte Roth, welches auf denen der Mutter verblichen war, um nie wieder aufzublühen. Miss Vanstone hatte schon die erste Reife des Weibes erreicht: sie hatte ihr sechs und zwanzigstes Jahr vollendet. Wenn sie den dunklen majestätischen Charakter der Schönheit ihrer Mutter erbte, so hatte sie doch deren Reize schwerlich alle geerbt. Obgleich der Schnitt ihres Angesichts derselbe war, waren doch die Züge kaum so zart, auch jenes Ebenmaß fehlte. Sie war auch nicht so groß. Sie hatte die dunklen braunen Augen ihrer Mutter, groß und sanft mit dem stetigen Glanze, den Mrs. Vanstones Blick verloren hatte, und dennoch lebte in ihnen nicht so viel Theilnahme, waren in ihrem Ausdruck nicht jene Feinheit und Tiefe der Empfindung: er war zart und weiblich, aber verschleiert durch eine gewisse ruhige Zurückhaltung, von der das Gesicht ihrer Mutter frei war. Wenn wir es wagen dürfen, Dies schärfer ins Auge zu fassen, werden wir nicht die Bemerkung machen, daß die moralische Kraft des Charakters und die höheren geistigen Fähigkeiten in den Aeltern oft geheimnißvoll abzunehmen scheinen auf dem Wege der Uebertragung auf die Kinder? In dieser Zeit böser nervöser Erschöpfung und allmälig weitergreifender Nervenschwäche ist es doch wohl möglich, daß dasselbe Gesetz — nicht so oft zwar, geben wir gern zu — auch für die leiblichen Vorzüge seine Geltung hat?
Mutter und Tochter stiegen langsam die Treppe herunter, die erstere in Dunkelbraun gekleidet, einen indischen Shawl um die Schulter geworfen, die andere einfacher in Schwarz, mit einem glatten Kragen und Manschetten, auf dem Kleide ein dunkel-orangegelbes Band vorn am Busen. Als sie durch die Flur schritten und in das Frühstückszimmer traten, war Miss Vanstone noch ganz voll von dem alles Andere in den Hintergrund stellenden Thema des gesterabendlichen Concerts.
— Ich bedaure sehr, Mama, daß Du nicht bei uns warst, sagte sie. Du bist so stark und so wohlauf gewesen seit dem letzten Sommer, Du hast Dich wieder um viele Jahre jünger gefühlt, so daß ich glaube, die Anstrengung wäre nicht zu groß für Dich gewesen.
— Vielleicht nicht, meine Liebe, aber es war ebenso gerathen, das Sichere zu wählen.
— Ganz gewiß, bemerkte Miss Garth, welche sich jetzt an der Thür des Frühstückszimmers zeigte. Sehen Sie Nora an (guten Morgen, meine Theure!) sehen Sie, sage ich, nur Nora an. Ein vollständig zerschelltes Wrack, ein leibhafter Beweis Ihrer Klugheit und der meinigen, daß wir zu Hause blieben. Das schlechte Gas, die üble Luft, die späte Zeit, was können Sie da Gutes erwarten? Sie ist auch nicht von Eisen, daher hat sie nun zu leiden. Nein, meine Theure, Sie dürfen es nicht leugnen. Ich sehe, Sie haben sich Kopfweh geholt.
Noras dunkles, hübsches Gesicht erhellte sich zu einem Lächeln, dann hüllte es sich wieder in seine gewöhnliche ruhige Zurückhaltung.
— Ein klein wenig Kopfweh; nicht halb so groß, um mich das Concert bereuen zu lassen, sagte sie und ging dann vor sich hin an das Fenster.
An dem fernen Ende eines Gartens mit Gehege ruhte der Blick auf einem Strom und einigen Pächterwohnungen, die jenseits desselben lagen, und auf der Oeffnung einer bewaldeten Felsschlucht (in Somersetshire ein »Combe« genannt), welche hier die Hügel, die den Hintergrund schlossen, durchbrach. In nicht großer Entfernung sah man einen Streifen Landstraße, welcher sich über die sanften Bodenwellen des offenen Feldes hinschlängelte, und auf diesem Streifen wurde die stattliche Figur Mr. Vanstones deutlich erkennbar, der eben von seinem Morgenspaziergange nach Hause zurückkehrte. Er schwenkte fröhlich seinen Stock, als er seiner ältesten Tochter am Fenster ansichtig wurde. Sie nickte ihm zu und winkte ihm anmuthig und hübsch mit der Hand zum Gegengruß, aber mit einer Art altmodischer Förmlichkeit, wie sie einer so jungen Dame seltsam zu Gesichte stand und auch zu einer Begrüßung nicht passen wollte, die doch dem Vater galt.
Die Hausuhr schlug die heute vorgerückte Frühstücksstunde. Als der Minutenzeiger fünf Minuten weiter zeigte, wurde eine Thür in dem oberen Theile des Hauses zugeschlagen, eine helle jugendliche Stimme ließ sich mit lieblichem Gesange vernehmen, leichte rasche Schritte eilten die oberen Stufen herunter, hüpften in leichten Sprüngen auf den ersten Absatz, und eilten dann noch schneller den unteren Theil der Treppe herab. Einen Augenblick später, und die jüngere von Mr. Vanstones beiden Töchtern, den einzigen am Leben gebliebenen Kindern, wurde auf der alten braunen Eichentreppe schnell wie ein Lichtstrahl sichtbar und stellte sich, die letzten drei Stufen mit einem Satze überspringend, athemlos im Speisezimmer ein, um den Familienkreis vollzählig zu machen.
Durch eins der seltsamsten Naturspiele, die die Wissenschaft noch unerklärt gelassen hat, hatte sie, das jüngste von Mr. Vanstones Kindern, keine erkennbare Aehnlichkeit mit ihren beiden Aeltern. Wie war sie zu ihrem Haar gekommen? Wie war sie zu ihren Augen gekommen? Auch Vater und Mutter hatten sich selbst diese Fragen vorgelegt, als sie zur Jungfrau heranwuchs, und waren sehr in Verlegenheit sie zu beantworten. Ihr Haar war von dem rein hellbraunen Ton, nicht vermischt mit Flachsgelb oder Gelb oder Roth, das man eher auf dem Gefieder eines Vogels als auf dem Haupte eines Menschlichen Wesens findet. Es war sanft und reich und wallte von ihrer Stirn hernieder in regelmäßigen Flechten, doch für Manche war es ohne Reiz und Leben, bei seinem gänzlichen Mangel an Schattierung, in der einförmigen Reinheit seiner ganz hellbraunen Farbe. Ihre Augenbrauen und Wimpern waren um einen Schatten dunkler als ihr Haupthaar und schienen für veilchenblaue Augen wie geschaffen, die ihren höchsten Zauber üben, wenn sie gepaart sind mit einer schönen Gesichtsfarbe. Aber hier gerade war der Punkt, wo ihr Gesicht sein Versprechen in der auffallendsten Weise nicht hielt. Die Augen, welche hätten dunkel sein sollen, waren unbegreiflicher und störenderweise von heller Farbe, sie waren von jenem farblosem Grau, das, obschon wenig anziehend an sich, doch den selten ausgleichenden Vorzug besitzt, die feinsten Gedankenschattierungen, die zartesten Gefühlssteigerungen, die tiefste Leidenschaft mit einer Durchsichtigkeit des Ausdrucks aussprechen zu können, mit der dunkle Augen nicht wetteifern können. Solchergestalt völlig sich selbst widersprechend im oberen Theile ihres Gesichts, war sie kaum weniger in Widerstreit mit den bestehenden Gesetzen der Harmonie in dem unteren. Ihre Lippen hatten die echte weibliche Zartheit des Schnittes, ihre Wangen die liebliche Rundung und schwellende Frische der Jugend, aber der Mund war zu groß und fest, das Kinn zu stark ausgeprägt und zu groß für ihr Geschlecht und ihr Alter. Ihre Gesichtsfarbe war von derselben Farbmonotonie, die ihr Haar kennzeichnete, sie war von derselben sanften, warmen, milchweißen Schönheit ohne eine Nuance von Farbe auf den Wangen, ausgenommen, wenn sie eine ungewöhnliche Körperanstrengung oder eine plötzliche geistige Aufregung hatte. Das ganze Gesicht, das so auffallend war durch seine starken Gegensätze, erhielt noch ein besonderes Interesse durch seine außerordentliche Beweglichkeit. Die großen blitzenden hellgrauen Augen standen kaum einen Augenblick still, alle Schattierungen des Ausdrucks zogen fortwährend über das schön geformte, immer wechselnde Gesicht mit einer schwindelnden Schnelligkeit, mit welcher Schritt zu halten einer nüchternen Beobachtung nicht möglich war. Die übersprudelnde Lebenskraft des Mädchens machte sich in dessen ganzer Erscheinung von Kopf bis zu Fuß geltend. Ihre Gestalt, höher als die ihrer Schwester, höher als der gewöhnliche Durchschnitt der Frauengröße, belebt von einer solchen verführerischen, schlangenartigen Behendigkeit, so leicht und neckisch anmuthig, daß ihre Bewegungen unwillkürlich an die eines jungen Kätzchens erinnerten; ihre Gestalt war schon so vollkommen entwickelt, daß Niemand, der sie sah, gedacht hätte, sie zähle erst achtzehn Jahre. Sie blühte in der vollen physischen Reife des zwanzigsten Jahres, blühte kraft ihrer unvergleichlichen Gesundheit und Stärke natürlich und unwiderstehlich. Hier lag in That der Hauptgrund ihres seltsam gearteten Wesens. Ihr jäher, halsbrecherischer Lauf die Haustreppe herab, die feurige Lebhaftigkeit aller ihrer Bewegungen, das unausgesetzte Sprühen ihres Gesichtsausdrucks, der reizende Frohsinn, der ihr die Herzen der ruhigsten Leute im Sturme eroberte, sogar das unverhohlene Gefallen an glänzenden Farben, das sich in ihrem prachtvoll gestreiften Morgenanzug, in ihren flatternden Bändern, in den großen Scharlachrosetten auf ihren zierlichen kleinen Schuhen kund gab: Alles schrieb sich aus derselben Ursache her, aus der überströmenden körperlichen Gesundheit, die jeden Muskel schwellte, die jeden Nerven spannte und das warme junge Blut prickelnd durch ihre Adern trieb, wie das Blut eines heranwachsenden Kindes.
Bei ihrem Eintritt in das Frühstückszimmer wurde sie mit dem gewöhnlichen Tadel empfangen, welchen ihre flatterhafte Mißachtung aller Pünctlichkeit von den langmüthigen Häuptern des Hauses herausfordern mußte. Nach Miss Garths Lieblingsausdruck »war Magdalene mit allen Sinnen aus die Welt gekommen, nur nicht mit dem Ordnungssinne.« —
Magdalene! War es nicht ein wunderlicher Name, den man ihr da gegeben hatte? Wunderlich fürwahr und doch unter gar nicht außerordentlichen Umständen ausgewählt. Den Namen hatte eine von Mr. Vanstones Schwestern getragen, welche in zartem Alter gestorben war, und so hatte er in liebevoller Erinnerung an sie seine zweite Tochter so genannt, gerade so wie er seine ältere Tochter Nora nannte um seiner Gattin willen. Magdelene! Und war der große Frauenname aus der Bibel, der uns an eine düstere Frauengestalt erinnert, der in seinen ersten Beziehungen trübe Gedanken von Reue und Einsiedlerleben in uns erweckt, war der Name wirklich wie die Zeit sich erfüllte, so unpassend beigelegt worden? Wirklich hatte dies so durch und durch sich selbst widersprechende Mädchen sonderbarerweise einen Gegensatz; mehr, indem sie einen Charakter entwickelte, der mit ihrem Taufnamen im schroffsten Contrast stand!
— Wieder zu spät! sagte Mrs. Vanstone, als Magdalene noch außer Athem sie küßte.
— Wieder zu spät! stimmte Miss Garth ein, als Magdalene dann zu ihr kam. Sind Sie wohl? fuhr sie fort, indem sie dem Mädchen vertraulich an das Kinn griff, mit einer halb ironischen, halb zärtlichen Aufmerksamkeit, welche verrieth, daß die jüngste Tochter bei all ihren Fehlern doch der Liebling der Gouvernante war. — Sind Sie wohl? Und was hat Ihnen das Concert von gestern Abend angethan? Welche Art von Leiden hat jene Ausschreitung diesen Morgen für Ihren Körper zur Folge gehabt?
— Leiden?! wiederholte Magdalene, die eben wieder zu Athem und zugleich wieder zum Gebrauch ihrer Zunge gekommen war. Ich weiß nicht, was das Wort bedeutet; wenn es etwa auf mich geht, so bin ich ausnehmend wohl. Leiden? Ich bin gleich zu einem Concert für heute Abend bereit, zu einem Ball für morgen und einem Schauspiel für übermorgen. O, rief Magdalene, indem sie sich in einen Stuhl warf und mit hastiger Bewegung ihre Hände übers Kreuz auf den Tisch legte, wie liebe ich das Vergnügen! . . .
— Sieh mal an, das ist auf jeden Fall deutlich gesprochen! sagte Miss Garth. Ich denke, Pope wird Sie gemeint haben, als er seine berühmten Verse schrieb:
Vertheilt ist Scherz und Ernst in Männerbrust,Doch jede Frau im Herzen fröhnt der Lust.2
— Ein kleiner Teufel ist sie! rief Mr. Vanstone, der eben, die Hunde hinterdrein, ins Zimmer trat, als Miss Garth ihr Citat zum Besten gab. Gut; lebt und lernt. Wenn Ihr Alle der Lust fröhnt, Miss Garth, werden die Geschlechter vertauscht und auf den Kopf gestellt werden, und uns Männern wird nichts übrig bleiben, als zu Hause zu hocken und Strümpfe zu stopfen. — Doch frühstücken wir nun!
— Wie gehts Dir, Papa? sagte Magdalene und fiel Mr. Vanstone so ungestüm um den Hals, als ob er nur einer etwas größeren Art Neufundländer angehörte und bloß dazu da wäre, sich mit der Tochter nach deren Gefallen herumzutummeln. — Ich lebe für das Vergnügen, meint Miss Garth, und wahrlich ich möchte zu einem andern Concert gehen, oder in ein Schauspiel, oder zu einem Balle, wenn Du es lieber willst, oder zu einer andern Vergnügung, wobei ich ein neues Kleid anziehen und unter eine Menge Leute kommen und mich vom Lichterglanz umstrahlen lassen, kurz über und über in einem Meere von Wonne schwelgen kann. Es ist mir Alles recht, wenn wir nur nicht um elf Uhr zu Bett zu gehen brauchen.
Mr. Vanstone saß unter dem überströmenden Redefluss seiner Tochter ruhig da, wie ein Mann, der es schon gewohnt ist, von dieser Seite her mit Worten überschwemmt zu werden. — Wenn ich mir die Wahl der Vergnügungen für nächste Zeit vorbehalten darf, versetzte der würdige Herr, so denke ich, ein Schauspiel wird besser sein, als ein Concert. Die Mädchen haben sich erstaunlich ergötzt, meine Liebe, fuhr er zu seiner Gattin gewendet fort, mehr als ich, muß ich gestehen. Es war eben nicht meine Sache. Man führte ein Musikstück auf, das vierzig Minuten dauerte. Dasselbe hatte drei Pausen, und bei jeder dachten wir, es wäre aus, und klatschten, froh, daß wir es überstanden hatten; aber es begann zu unserm großen Erstaunen und Mißbehagen immer wieder, bis wir uns in Verzweiflung drein ergaben und uns Alle nach Jericho hinweg wünschten. Nora, meine Liebe! als wir den Vierzig-Minuten-Lärm hatten mit den drei Pausen, wie nannte man das Stück?
— Eine Symphonie, Papa, erwiderte Nora.
— Ja, Du lieber alter Gothe, eine Symphonie von dem großen Beethoven! fügte Magdalene hinzu. Wie kannst Du nur sagen, daß Du Dich nicht daran erfreut hättest? Hast Du die gelb aussehende fremdländische Dame vergessen, mit dem unaussprechlichen Namen? Erinnerst Du Dich nicht mehr, was sie für Gesichter machte beim Singen? und wie sie sich verneigte und immer wieder verneigte, bis sie die närrischen Leute dahin hatte, daß sie sie noch einmal riefen? Sieh her, Mama, sehen Sie her, Miss Garth!
Sie nahm einen leeren Teller vom Tische, um ein Notenblatt vorzustellen, hielt ihn vor sich in der Weise der Concertsängerinnen und gab nun eine Nachahmung der Grimassen und Verneigungen der unglücklichen Sängerin, so treu dem Original abgelauscht, zum Besten, daß ihr Vater vor Lachen den Leib hielt und sogar der Bediente (der eben mit dem Briefbeutel hereintrat) gleich das Zimmer wieder verlassen mußte und die Unschicklichkeit beging, draußen vor der Thür ganz hörbar als Echo seines Herrn mitzulachen.
— Briefe, Papa. Ich brauche den Schlüssel, sagte Magdalene, welche von der mimischen Szene am Frühstückstische an den Nebentisch zu dem Briefbeutel eilte, indem sie wieder mit der ihr bei allen Handlungen eigenthümlichen Leichtigkeit abbrach.
Mr. Vanstone suchte in den Taschen und schüttelte das Haupt. Obschon seine jüngste Tochter ihm sonst m nichts weiter ähnlich war, so sah man doch leicht, woher Magdalenens Mangel an Ordnungssinn kam.
— Ich muß gestehen, ich habe ihn in der Bibliothek gelassen, bei meinen anderen Schlüsseln, sagte Mr. Vanstone. Geh und sieh einmal nach, meine Liebe. —
— Du solltest wirklich Magdalenen verweisen, brachte Mrs. Vanstone vor und wandte sich an ihren Gatten, als ihre Tochter das Zimmer verlassen hatte. Diese schauspielerischen Einfälle nehmen bei ihr immer mehr überhand, und sie spricht mit Dir in einem so leichtfertigen Tone, daß man es ohne Aergerniß nicht mehr mit anhören kann.
— Genau dasselbe, was ich selbst gesagt habe, bis ich müde wurde, es zu wiederholen — bemerkte Miss Garth. Sie behandelt Mr. Vanstone, als wäre er eine Art jüngerer Bruder von ihr.
— Du bist freundlich gegen uns in jeder Art, Papa, und Du gibst Magdalenens aufgewecktem Geiste freundlich nach, nicht wahr? sagte die ruhige Nora, indem sie die Partie ihres Vaters und ihrer Schwester nahm, so anscheinend unabsichtlich, daß wenige Beobachter die wirkliche ursprüngliche Regung wahrzunehmen im Stande gewesen wären.
— Ich danke Dir, meine Liebe, sagte der gutmüthige Mr. Vanstone. Ich danke Dir für Dein gutes Wort. Was Magdalene betrifft, fuhr er fort zu seiner Gattin und Miss Garth sich wendend, so ist sie ein unbändiges Füllen. Laßt dies in seinem Gehege nur springen und ausschlagen nach Herzenslust. Es ist Zeit genug, sie zu zäumen, wenn sie ein wenig älter ist.
Die Thür ging auf, und Magdalene kam mit dem Schlüssel zurück. Sie schloß den Briefbeutel auf dem Nebentische auf und schüttete die Briefe auf einen Haufen. Sie sortierte sie in weniger als einer Minute und kam dann, beide Hände damit voll, an den Frühstückstisch und vertheilte die Briefe rings herum mit der geschäftsmäßigen Fingerfertigkeit eines Londoner Briefträgers.
— Zwei für Nora, sagte sie an, indem sie bei der Schwester anfing. Drei für Miss Garth. Keinen für Mama. Einen für mich. Und die anderen sechs alle für Papa. —— Du fauler lieber Alter, Du beantwortest nicht gern Briefe, nicht wahr? fuhr Magdalene fort, indem sie den Briefträgerton fallen ließ und wieder den der Tochter annahm. Wie wirst Du im Bibliothekszimmer brummen und hin und her laufen und gar bald wünschen: Wenn es doch nur keine Briefe auf der Welt gäbe! Und wie roth wird Dein liebes altes ödes Haupt werden bei der Plage, die Antworten zu schreiben! Und wie viele von den Antworten wirst Du auf morgen verschieben, bei alle dem! — Das Bristoler Theater ist eröffnet, Papa, rannte sie schlau und plötzlich ihrem Vater ins Ohr; ich sah es in der Zeitung, als ich in die Bibliothek ging, um den Schlüssel zu holen. Laß uns morgen Abend gehen!
Während seine Tochter um ihn her plauderte, ordnete Mr. Vanstone mechanisch seine Briefe, legte sich die ersten vier in eine Reihe und las die Adressen ohne Theilnahme; als er aber zum fünften kam, richtete sich seine Aufmerksamkeit, die sich bis dahin Magdalenen zugewendet hatte, plötzlich ausschließlich auf den Poststempel des Briefes.
Sich über ihn beugend, ihr Haupt auf seine Schulter legend, konnte Magdalene den Stempel so deutlich sehen als der Vater selbst: — New Orleans.
— Ein amerikanischer Brief, Papa! sagte sie. Wen kennst Du in New-Orleans?
Mrs. Vanstone horchte auf und sah begierig ihren Mann an, als Magdalene diese Worte sprach.
Mr. Vanstone sagte nichts. Er nahm ruhig den Arm seiner Tochter von seinem Halse weg, als ob er wünschte, nicht unterbrochen zu werden. Sie kehrte daher an ihren Platz beim Frühstückstische zurück. Ihr Vater wartete mit dem Briefe in der Hand eine Weile, ehe er ihn öffnete; ihre Mutter sah ihn dabei mit einer Miene aufmerksamer gespannter Erwartung an, was Miss Garth und Nora so wenig, als Magdalenen entging.
Nach einem minutenlangen Zögern öffnete Mr. Vanstone den fraglichen Brief.
Sein Gesicht wechselte sofort die Farbe, als er die ersten Zeilen gelesen; seine Wangen verfärbten sich zu einem matten Gelbbraun, welches bei einem weniger blühenden Manne Aschgrau gewesen sein würde; seine Miene nahm augenblicklich einen düsteren Ausdruck an und wurde finster. Nora und Magdalene ängstlich harrend sahen nur die Veränderung, die mit ihrem Vater vorgegangen. Miss Garth allein bemerkte die Wirkung, welche diese Veränderung auf die aufmerksam gewordene Frau vom Hause ausübte.
Es war nicht eine Wirkung, wie sie oder jemand Anderes sie vorausgesetzt haben würde. Mrs. Vanstone sah eher aufgeregt, als beunruhigt aus. Eine schwache fliegende Röthe auf ihren Wagen, die Augen blitzend, rührte sie den Thee in ihrer Tasse in einer unruhigen und ungeduldigen Art und Weise, die ihr sonst fremd war.
Magdalene kraft ihrer Eigenschaft als verzogenes Kind war wie gewöhnlich die Erste, welche das Schweigen unterbrach.
— Was gibt es, Papa? fragte sie.
— Nichts, erwiderte Mr. Vanstone mit scharfem Tone, ohne sie anzusehen.
— Ich glaube aber doch, daß es Etwas gibt, beharrte Magdalene. Ich glaube sogar, es sind schlimme Nachrichten, Papa, in dem Briefe aus Amerika.
— Es ist Nichts in dem Briefe, was Dich angeht, sagte jetzt Mr. Vanstone.
Das war die erste directe Zurückweisung, die Magdalene seitens ihres Vaters je erfahren hatte. Sie sah ihn mit einer ungläubigen Ueberraschung an, die unter weniger ernsten Umständen ohne Widerrede arg verlegen ausgesehen haben würde.
Weiter wurde Nichts gesprochen. Zum ersten Male vielleicht in ihrem Leben saß die Familie um den Frühstückstisch in peinlichem Stillschweigen. Mr. Vanstones gesunder Morgenappetit war vergangen, ebenso seine gesunde Morgenlaune. Er brach zerstreut ein paar Bissen vom trocknen Röstbrode ab aus dem Körbchen neben sich, trank zerstreut seine erste Tasse Thee aus, verlangte dann eine zweite, die er aber unberührt vor sich stehen ließ.
— Nora, sagte er nach einer Pause, Du brauchst nicht auf mich zu warten. Magdalene, meine Liebe, Du kannst gehen, wenn Du willst.
Seine Töchter erhoben sich augenblicklich, und Miss Garth folgte bedächtig ihrem Beispiele. Wenn ein Mann von leichter Gemüthsart sich in seiner Familie doch einmal geltend macht, so thut die Seltenheit der Kundgebung unfehlbar ihre Wirkung, und der Wille des sonst so leichtgemuthen Mannes ist Gesetz.
— Was muß denn vorgefallen sein? wisperte Nora, als sie die Thür des Frühstückzimmers hinter sich hatten und über die Flur gingen.
— Was hat nur Papa vor, daß er so bös mit mir ist? rief Magdalene, die nur über ihre eigene eben erfahrene Kränkung aufgeregt war.
— Darf ich wohl erfahren, was Sie für ein Recht hatten, in Ihres Vaters Privatangelegenheiten einzudringen? entgegnete Miss Garth.
— Was für ein Recht? wiederholte Magdalene. Ich habe keine Geheimnisse vor Papa, wie kommt Papa dazu, welche vor mir zu haben? Ich betrachte mich beleidigt!
— Wenn Sie sich doch lieber als zurechtgewiesen ansehen wollten, dafür, daß Sie sich nicht um Ihre Sachen bekümmern, sagte Miss Garth, die kein Blatt vor den Mund nahm, so würden Sie der Wahrheit ein wenig näher kommen. O, Sie sind gerade so, wie die andern Mädchen heutzutage. Keine einzige von Euch Hunderten weiß, wie verkehrt sie mit sich selber daran ist.
Die drei Damen traten in das Morgenzimmer, und Magdalene erkannte den Tadel von Miss Garth dadurch an, daß sie die Thüre zuschlug.
Eine halbe Stunde verging, und weder Mr. Vanstone, noch seine Gattin verließen das Frühstückszimmer. Der Bediente, der nicht wußte, was vorgefallen war, kam herein, um den Tisch abzuräumen, fand aber seinen Herrn und die Frau nebeneinander in eifrigem Gespräche und verließ daher augenblicklich das Gemach. Eine weitere Viertelstunde verstrich, bevor die Thür des Zimmers sich öffnete und die vertrauliche Besprechung zwischen Herr und Frau vom Hause zu Ende war.
— Ich höre Mama aus der Flur, sagte Nora. Vielleicht kommt sie, um uns etwas zu erzählen.
Mrs. Vanstone trat ins Zimmer, als noch die Tochter sprach. Die Farbe auf ihren Wangen war dunkler, und der Glanz halbverwischter Thränen war in ihren Augen sichtbar. Ihr Schritt war hastiger, ihre Bewegungen schneller als gewöhnlich.
— Ich bringe Neuigkeiten, meine Lieben, die Euch überraschen werden, sagte sie zu ihren Töchtern. Euer Vater und ich gehen morgen nach London.
Magdalene faßte ihre Mutter mit sprachlosem Erstaunen beim Arme; Miss Garth ließ ihre Arbeit in den Schoß sinken, sogar die gesetzte Nora sah auf ihre Füße, und wiederholte betroffen die Worte: . . . Gehen nach London.
— Ohne uns! setzte Magdalene hinzu.
— Euer Vater und ich, wir gehen allein, sagte Mrs. Vanstone. Vielleicht auf drei Wochen, aber nicht länger. Wir gehen — sie hielt inne — wir gehen in dringender Familienangelegenheit (Laß mich los, Magdalene.) Es ist eine unerwartet eingetretene Nothwendigkeit, — ich habe heute viel zu schaffen, — Mancherlei bis morgen in Ordnung zu bringen. Nun, nun, meine Liebe, laß mich gehen.
Sie legte ihren Arm weg, küßte die jüngste Tochter auf die Stirn und verließ plötzlich das Zimmer wieder. Selbst Magdalene sah, daß ihre Mutter sich heute nicht darauf einließ, weitere Fragen anzuhören oder zu beantworten.
Der Morgen verging langsam, und von Mr. Vanstone war nichts zu sehen. Mit der rücksichtslosen Neugier ihres Alters und Charakters entschloß sich Magdalene, trotz des Verbots von Miss Garth und der Vorstellungen ihrer Schwester nach dem Bibliothekszimmer zu gehen und dort ihren Vater aufzusuchen. Als sie die Thür öffnen wollte, war sie von innen verschlossen. Sie sagte: Ich bin’s nur, Papa, und wartete aus eine Antwort.
— Ich bin beschäftigt, meine Liebe, war die Antwort. Störe mich nicht.
Anderseits war auch Mrs. Vanstone nicht zugänglich. Sie blieb in ihrem eigenen Zimmer mit den Dienstmädchen um sich, vertieft in endlose Vorbereitungen zur bevorstehenden Abreise. Die Mädchen, bisher in dieser Familie an plötzliche Entschließungen und unerwartete Befehle nicht gewöhnt, waren linkisch und verwirrt, wie sie diese Weisungen erhielten. Sie liefen unnöthiger Weise aus einer Stube in die andere und verloren Zeit und Geduld, indem sie einander auf der Treppe stießen. Wenn ein Fremder in das Haus gekommen wäre an diesem Tage, so würde er wohl gedacht haben, daß ein unerwartetes Unglück vorgefallen wäre, anstatt einer unerwarteten Reise nach London. Nichts blieb in der gewohnten Ordnung. Magdalene, welche gewohnt war, den Vormittag am Piano zuzubringen, wanderte unruhig auf der Treppe und in den Gängen hin und her und aus einem Zimmer ins andere, wenn es dort »gut Wetter« zu geben schien. Nora, deren Leselust in der Familie sprichwörtlich geworden war, nahm ein Buch nach dem andern von dem Tische und aus dem Schranke und legte alle wieder weg, weil sie ihre Aufmerksamkeit nicht fesseln konnten. Sogar Miss Garth spürte an sich den Alles durchdringenden Einfluß der Störung des Hauswesens und saß allein beim Kamin des Morgenzimmers, ihr Haupt hin- und herschüttelnd, die Arbeit bei Seite gelegt.
— Familienangelegenheiten? dachte Miss Garth, indem sie über Mrs. Vanstones allgemein gehaltene Mitteilung nachsann. Ich habe nun meine zwölf Jahre auf Combe-Raven gelebt, und dies sind die ersten Familienangelegenheiten, die sich zwischen Aeltern und Kinder gestellt haben, so lange ich denken kann. Was soll das bedeuten? Eine Veränderung? Ich merke, ich werde alt. Ich mag Veränderungen nicht leiden.
Zehn Uhr am nächsten Morgen standen Nora und Magdalene allein in der Flur von Combe-Raven und sahen den Wagen abfahren, welcher Vater und Mutter nach der Londoner Eisenbahn bringen sollte.
Bis zum letzten Augenblick hatten beide Schwestern einige weitere Aufklärung über jene »Familienangelegenheit« zu erhalten gehofft, auf welche Mrs. Vanstone Tagsvorher so kurz angespielt hatte. Keine solche Erklärung war gegeben worden. Sogar die Erregtheit beim Abschiednehmen unter Umständen, welche in den häuslichen Erinnerungen der Aeltern und der Kinder ganz neu waren, hatte das entschlossene Schweigen von Mr. und Mrs. Vanstone nicht zu erschüttern vermocht. Sie waren unter den wärmsten Zärtlichkeitsbeweisen abgereist, unter immer und immer wiederholten herzlichen Abschiedsumarmungen, aber ohne von Anfang bis zuletzt ein Wort fallen zu lassen über den Grund ihrer jähen Reise.
So wie das Geräusch des wegfahrenden Wagens plötzlich bei einer Wendung der Straße verstummt war, sahen sich die Schwestern einander ins Angesicht. Jede fühlte und Jede verrieth auf ihre Weise die herbe Empfindung, sich zum ersten Male von dem Vertrauen ihrer Aeltern ausgeschlossen sehen zu müssen. Noras gewöhnliche Verschlossenheit verhärtete sich zu bitterem Schweigen, sie setzte sich auf einen der Stuhle in der Halle und schaute mit düsterem Blick durch die offene Hausthür. Magdalene wie gewöhnlich, wenn ihr Wesen aufgeregt war, machte ihrem Mißvergnügen in den offensten Worten Luft.
Mir ist es einerlei, wer es hört, aber ich meine, wir sind Beide schmählich mißhandelt!
Mit diesen Worten folgte die junge Dame dem Beispiel ihrer Schwester, indem sie sich ebenfalls auf einen Stuhl in der Flur niederließ und durch die offene Hausthür ins Freie schaute.
Gerade in demselben Augenblick trat Miss Garth aus dem Morgenzimmer in die Flur. Ihre rasche Beobachtung zeigte ihr die Notwendigkeit, sich hier nützlich ins Mittel zu legen, und ihr richtiges Tactgefühl ließ sie sogleich den Weg dazu finden.
— Sehen Sie mich an, Sie Beide, wenn Sie wollen, und hören Sie mich an, sagte Miss Garth. Wenn wir Alle Drei hübsch gemüthlich und froh mit einander leben wollen, jetzt wo wir allein sind, so müssen wir ein Jedes zu seiner gewohnten Beschäftigung zurückkehren und die alte Lebensweise wieder aufnehmen. Das ist gerade heraus gesagt, der Stand der Dinge. Nehmen Sie die Situation an, wie sie ist, um den französischen Ausdruck zu gebrauchen. Ich bin hier, um Ihnen mit meinem Beispiele vorauszugehen. Ich habe soeben ein vortreffliches Mittagsessen zur gewöhnlichen Zeit bestellt. Ich gehe nun zu meinem Arzneikasten, um der Küchenmagd etwas einzugeben, ein ungesundes Mädchen, dessen Kopfschmerz im Magen sitzt. Mittlerweile werden Sie, Nora, meine Theure, Ihre Arbeit und Ihre Bücher wie gewöhnlich in der Bibliothek finden. Und Sie, Magdalene, denke ich, werden nun aufhören, Knoten in Ihr Taschentuch zu knüpfen und lieber Ihre Finger auf der Claviatur des Piano üben. Wir werden um Eins etwas essen und dann die Hunde ausführen. Seien Sie Beide so lebendig und munter, wie Sie mich sehen. Wohl an, stehen Sie gleich mit auf. Wenn ich diese verdüsterten Gesichter noch länger mit ansehen soll, so werde ich, so wahr ich Garth heiße, Ihre Mutter schriftlich um meine Entlassung bitten und mit dem gemischten Zuge um 12 Uhr 40 Minuten zu meiner Familie zurückkehren.
Indem Miss Garth ihre Ansprache mit diesen Worten schloß, führte sie Nora an die Bibliothekthür, schob Magdalene in das Morgenzimmer und ging dann ihren eigenen Wege nach der Gegend des Arzneikastens.
In dieser halb scherzenden, halb ernsthaften Weise war sie gewohnt, eine Art freundschaftlicher Autorität über Mr. Vanstones Töchter auszuüben, nachdem ihre eigentlichen Dienste als Gouvernante nothwendig ihre Endschaft erreicht hatten. Nora hatte, was wohl kaum erst gesagt zu werden braucht, lange schon aufgehört, ihre Schülerin zu sein, und auch Magdalene hatte jetzt ihre Erziehung vollendet. Allein Miss Garth hatte zu lange und zu vertraut unter Mrs. Vanstones Dach gelebt, als daß man sie aus bloßen formellen Erwägungen gehen lassen mochte, und der erste Wink in Bezug aus Ehren Weggang, den sie für ihre Pflicht hielt fallen zu lassen, wurde mit einer so warm empfundenen Ablehnung zurückgewiesen, daß sie ihn nie wiederholte, es sei denn zum Scherz. Die ganze Führung des Hauswesens war von der Zeit an in ihre Hände gelegt worden, und zu diesen Pflichten fügte sie aus freiem Antriebe die freundschaftliche Beihilfe, die sie Nora bei der Lectüre geben konnte, und die Aufsicht über Magdalenens musicalische Uebungen. Das war die Stellung, in welcher Miss Garth Mr. Vanstones Familie angehörte.
Gegen den Nachmittag hin hellte sich das Wetter auf. Halb zwei Uhr schien die Sonne recht schön, und die Damen verließen das Haus, um, begleitet von den Hunden, ihren Spaziergang zu machen.
Sie gingen über den Fluß und stiegen durch den kleinen Felsenpaß nach den Hügeln im Hintergrunde hinan; dann wendeten sie sich wieder links und kehrten auf einer Seitenstraße zurück, die durch das Dorf Combe-Raven führte.
Als sie in Sicht der ersten Häuser kamen, stießen sie auf einen Mann, der am Wege rastete und aufmerksam erst Magdalene, dann Nora ansah. Sie bemerkten nur, daß er nicht groß war, einen schwarzen Anzug hatte und ihnen vollständig fremd erschien, und setzten ihren Weg nach Hause fort, ohne mehr an den ruhenden Fußwanderer zu denken, den sie auf dem Wege vorher getroffen hatten.
Nachdem sie das Dorf verlassen hatten und wieder auf der gerade auf ihr Haus führenden Straße waren, überraschte Magdalene Miss Garth durch die Mitteilung, daß der schwarzgekleidete Fremde umgekehrt war, nachdem sie an ihm vorüber waren, und ihnen nun gefolgt sei.
— Er hält sich an Noras Seite auf der Straße, setzte sie ärgerlich hinzu. Ich bin nicht der anziehende Gegenstand, ich kann nichts dafür.
Ob der Mann ihnen wirklich folgte oder nicht, machte wenig Unterschied, denn sie waren jetzt dicht am Hause. Als sie durch das äußere Gitter traten, sah sich Miss Garth um und sah, daß der Fremde seine Schritte beschleunigte, offenbar in der Absicht, sie anzureden. Als sie Das bemerkte, ließ sie die jungen Damen allein mit den Hunden voraus in das Haus treten, während sie selber am Thore wartete, was da kommen sollte.
Es war gerade nur so viel Zeit übrig, als nöthig, um diese Weisung auszuführen, bevor der Fremde das Landhaus erreichte. Er nahm höflich den Hut vor Miss Garth ab, als sie sich umdrehte Wonach sah er dem Gesichte nach aus? Er sah aus wie ein verarmter Geistlicher.
Wenn wir sein Bild von oben bis unten geben wollen, so fängt sein Conterfei mit einem hohen Hute an, der mit einem breiten Streifen Trauerband von zerknittertem Krepp umgeben war. Unter dem Hute war ein mageres, langes, blasses Gesicht tief von Blatternarben durchfurcht und merkwürdig genug durch Augen von verschiedener Farbe, das eine gallengrün, das andere gallenbraun, beide scharf und geistreich, gekennzeichnet. Sein Haar war eisengrau und sorgfältig an den Schläfen aufgebürstet. Wangen und Kinn standen in schönblauer Blüte durch die Klinge des Barbiers, seine Nase war kurz und komisch, seine Lippen lang, dünn und fein, an den Winkeln aufgekräuselt durch ein sanftes launiges Lächeln. Sein weißes Halstuch war hoch, steif und — braun; der Kragen, noch höher, steifer und — brauner als ersteres, streckte seine rauhen Spitzen auf beiden Seiten seines Kinnes empor. Weiter unten war der Anzug der kleinen flinken Gestalt ganz schwarz, aber ärmlich und abgetragen. Sein Frack war um den Leib fest zugeknöpft, öffnete sich aber stolz an der Brust. Seine Hände waren mit schwarzen Baumwollhandschuhen, die an den Fingern sorgfältig ausgebessert waren, bedeckt; sein Regenschirm, obschon an dem Stabe bis auf das letzte Theilchen eines Zolles abgetragen, wurde nichtsdestoweniger sorgsam in einer Wachstuchhülle bewahrt. Die Stirnansicht von ihm war diejenige, wo er am ältesten aussah; wenn man ihn aber von der Seite nahm, so konnte man ihn auf Fünfzig und da herum schätzen. Ging man hinter ihm her, so sahen Rücken und Schultern bei ihm jung genug aus, um für Fünfunddreißig zu gelten. Seine Haltung und Gebärden waren durch eine salbungsvolle Heiterkeit ausgezeichnet. Wenn er die Lippen öffnete, sprach er in einem schönen Baß, mit leichtem Redefluß und sorgfältiger Beachtung der rednerischen Betonung von mehrsilbigen Wörtern Beredtsamkeit strömte von seinen mildgekräuselten Lippen, und so ärmlich er aussah, so war er doch reichlich in immergrüne Blumen voll Höflichkeit eingehüllt von Kopf bis zu Fuß.
— Dies ist die Wohnung von Mr. Vanstone, nicht wahr? begann er mit einer Handbewegung nach dem Haus deutend. Habe ich die Ehre, ein Mitglied von Mr. Vanstones Familie vor mir zu sehen?
— Ja, erwiderte die wahrheitsliebende Miss Garth. Sie sprechen mit der Gouvernante von Mr. Vanstones Töchtern.
Der beredte Mann trat einen Schritt zurück, bewunderte Mr. Vanstones Gouvernante, trat dann wieder einen Schritt vor und setzte die Unterhaltung fort.
— Und die zwei jungen Damen, fing er an, die beiden Fräulein, welche mit Ihnen gingen, sind ohne Zweifel Mr. Vanstones Töchter? Ich erkannte die dunklere von den Beiden und zugleich die ältere wie ich glaube, an der Aehnlichkeit mit ihrer hübschen Mutter. Die jüngere Dame —
— Sie sind vermuthlich mit Mrs. Vanstone bekannt? sagte Miss Garth und unterbrach den Redefluß des Fremden, der bei Lichte besehen nach ihrer Meinung freimüthig genug sich ergoß. Der Fremde erwiderte die Unterbrechung durch eine seiner höflichen Verbeugen und überflutete dann Miss Garth in seiner nächsten Rede, als ob nichts vorgefallen wäre.
— Die jüngere Dame, fuhr er fort, schlägt nach ihrem Vater, denke ich? Ich versichere Ihnen, ihr Gesicht machte mich betroffen. Indem ich es mit dem freundschaftlichen Interesse betrachte, das ich an der Familie nehme, hielt ich es für sehr merkwürdig. Ich sagte zu mir selbst: Reizend, eigenthümlich, merkwürdig! Nicht ihrer Schwester ähnlich, auch nicht der Mütter ähnlich. Ohne Zweifel das Ebenbild ihres Vaters?
Noch einmal versuchte Miss Garth die Flut von Worten des Mannes zu unterbrechen. Es war deutlich, er kannte Mr. Vanstone nicht, nicht einmal von Ansehen; andernfalls hätte er ja nicht den Irrthum begangen, daß Magdalene ihrem Vater ähnlich wäre. Kannte er Mrs. Vanstone besser? Er hatte Miss Garths Frage über diesen Punct unbeantwortet gelassen. Bei allen Heiligen, wer war er denn? Bei dem Gotte der Unverschämten, was wollte er?!
— Sie sind wohl ein Freund der Familie, obschon ich mich Ihres Gesichts nicht entsinne, sagte Miss Garth. Was wünschen Sie, wenn ich bitten darf? Kamen Sie hierher, um Mrs. Vanstone einen Besuch zu machen?
— Ich hatte schon früher das Vergnügen, mit Mrs. Vanstone in Verbindung zu stehen, antwortete der Mann, im Ausweichen und Complimente machen ein erfahrener Meister. Wie befindet sie sich?
— So wie gewöhnlich, versetzte Miss Garth, welche fühlte, daß ihre Höflichkeit nun bald auf die Neige ging.
— Ist sie zu Hause?
— Nein.
— Wird sie lange wegbleiben?
— Abgereist na London mit Mr. Vanstone.
Das lange Gesicht des Mannes wurde noch länger. Sein gallenbraunes Auge sah verlegen aus, und sein gallengrünes Auge folgte dessen Beispiele. Seine Haltung wurde ersichtlich unsicher, und die Wahl seiner Worte wurden noch sorgfältiger denn zuvor.
— Wird Mrs. Vanstones Abwesenheit vielleicht längere Zeit dauern? fragte er.
— Sie wird über drei Wochen dauern, erwiderte Miss Garth. Ich denke, Sie haben nun genug gefragt, fuhr sie fort, indem zuletzt ihr Unmuth wieder die Oberhand in ihr zu gewinnen begann. Seien Sie so gut, gefälligst ihr Anliegen und Ihren Namen zu sagen. Haben Sie eine Mitteilung für Mrs. Vanstone; gut, ich schreibe heute Abend an Mrs. Vanstone und kann sie mit an sie besorgen.
— O tausend Dank! Ein sehr annehmbares Anerbieten. Erlauben Sie mir dasselbe sogleich anzunehmen.
Er war nicht im Mindesten von dem Ernste in Miss Garths Blick und Rede betroffen; er war einfach erfreut über ihr Erbieten und zeigte Dies mit der einnehmendsten Offenheit. Dies Mal gab das gallengrüne Auge den Ton an und dem andern gallenbraunen Auge das leuchtende Beispiel wiederhergestellter Heiterkeit. Seine gekräuselten Lippen nahmen eine neue, sanfte Biegung nach oben an, er drückte s einen Schirm lebhaft unter den Arm und brachte aus der Brust seines Fracks eine große altmodische Brieftasche zum Vorschein. Aus dieser nahm er einen Bleistift und eine Karte, zögerte und dachte einen Augenblick nach, schrieb dann schnell Etwas aus die Karte und legte diese mit der höflichsten Gewandtheit von der Welt in Miss Garths Hand.
— Ich werde mich persönlich tief verpflichtet fühlen, wenn Sie mich durch Einschluß dieser Karte in Ihren Briefe ehren wollen, sagte er. Es ist nicht nöthig, daß ich Sie noch mit einem Auftrage belästige. Mein Name wird vollkommen genügen, Mrs. Vanstone an eine kleine Familiensache zu erinneren, die ihr ohne Zweifel aus dem Gedächtniß entschwunden ist. Nehmen Sie meinen besten Dank. Dies ist ein Tag von angenehmen Ueberraschungen für mich gewesen. Ich habe das Land hier herum recht hübsch gefunden; ich habe Mrs. Vanstones beide reizende Töchter gesehen, ich bin mit einer ehrenwerthen Lehrerin in Mr. Vanstones Familie bekannt geworden. Ich wünsche mir Glück; ich bitte um Entschuldigung, Ihre werthvolle Zeit in Anspruch genommen zu haben; genehmigen Sie die Versicherung meiner Ergebenheit — ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!
Er setzte seinen hohen Hut aus. Sein braunes Auge zwinkerte, sein grünes Auge zwinkerte, seine gekräuselten Lippen lächelten süß. In einem Augenblick wandte er sich um. Sein jugendlicher Rücken erschien im besten Lichte, seine lebhaften kleinen Beine trugen ihn trippelnd in der Richtung des Dorfes hinweg. Eins, zwei, drei — jetzt war er an der Wendung der Straße. Vier, fünf, sechs — und er war verschwunden.
Miss Garth sah auf die Karte in ihrer Hand nieder und blickte wieder auf in hellem Staunen. Der Name und die Adresse des geistlich aussehenden Fremden (beide mit Bleistift geschrieben) lauteten wie folgt:
Hauptmann Wragge. Postamt Bristol.
Als sie ins Haus trat, machte Miss Garth gar keinen Versuch, ihre ungünstige Meinung in Bezug auf den schwarzgekleideten Herrn zu verbergen. Sein Zweck war ohne Zweifel, von Mrs. Vanstone eine Geldunterstützung zu erlangen. Was er bei ihr für Ansprüche darauf hatte, das war ihr allerdings noch nicht klar, wenn es nicht etwa der Anspruch als armer Verwandter derselben war. Hatte Mrs. Vanstone jemals vor ihren Töchtern den Namen des Hauptmann Wragge ausgesprochen? Keine von Beiden konnte sich ihn je gehört zu haben erinneren. Hatte Mrs. Vanstone jemals auf irgend welche arme Verwandte angespielt, welche von ihr Unterstützung bezögen? Im Gegentheil, sie hatte in früheren Jahren erwähnt, daß sie zweifle, überhaupt noch Verwandte zu haben, die am Leben wären. Und doch hatte Hauptmann Wragge deutlich erklärt, daß der Name auf seiner Karte Mrs. Vanstone eine »Familiensache« ins Gedächtniß zurückrufen werde. Was sollte das heißen? Eine falsche Angabe seitens des Fremden, ohne ersichtlichen Grund, eine solche zu machen? Oder gar noch ein zweites Geheimniß, das der geheimnißvollen Reise nach London auf dem Fuße folgte?
Alle Wahrscheinlichkeit schien auf einen gewissen verborgenen Zusammenhang zwischen den »Familienangelegenheiten«, die Mr. und Mrs. Vanstone so plötzlich vom Hause weggeführt hatten, und der »Familiensache« hinzudeuten, die mit dem Namen des Hauptmann Wragge verknüpft war. Miss Garths Zweifel vom Tage vorher kamen ihr stärker denn zuvor in den Sinn, als sie den Brief an Mrs. Vanstone mit der Karte des Hauptmanns im Einschluß versiegelte.
Mit umgehender Post kam die Antwort an.
Stets die am Frühesten aufstehende Dame im Hause, war Miss Garth allein im Frühstückszimmer, als der Brief ankam. Der erste Blick auf den Inhalt desselben überzeugte sie von der Nothwendigkeit, daß er, bevor irgend welche unbequeme Fragen an sie gerichtet würden, auf ihrem Zimmer aufmerksam durchgelesen sein wollte. Indem sie durch das Dienstmädchen an Nora bestellen ließ, daß sie doch diesen Morgen den Thee bereiten möchte, ging sie die Treppe hinauf, um auf ihrem Zimmer allein und ungestört zu bleiben.
Mrs. Vanstones Brief war ziemlich lang. Der erste Theil desselben bezog sich auf Hauptmann Wragge und ging ohne Rückhalt auf alle diesen Mann selbst und die Gründe, die ihn nach Combe-Raven geführt hatten, betreffenden Einzelheiten ein.
Es er ab sich aus den Angaben von Mrs. Vanstone, daß ihre Mutter zwei Mal verheirathet war. Der erste Gemahl ihrer Mutter war ein gewisser Doctor Wragge gewesen, ein Witwer mit kleinen Kindern, und eines von diesen Kindern war eben jener so gar nicht militärisch aussehende Hauptmann dessen Adresse »Postamt Bristol« war. Mrs. Wragge hatte von ihrem ersten Gatten keine Kinder; sie hatte nachmals Mrs. Vanstones Vater geheirathet. Aus dieser zweiten Ehe war Mrs. Vanstone selber die einzige Frucht. Sie hatte ihre beiden. Aeltern, als sie noch jung war, verloren, und im Laufe der Jahre war von den Verwandten mütterlicherseits einer nach dem andern gestorben (diese Verwandten aber waren ihre nächsten lebenden Angehörigen gewesen). Sie stand nun nach dem vorliegenden Briefe allein noch da ohne Verwandte in der Welt, ausgenommen vielleicht einige Vettern, die sie nie gesehen und von deren Dasein sie zur Zeit keine bestimmte Kenntniß hatte.
Was hatte unter diesen Umständen Hauptmann Wragge denn für Familienansprüche an Mrs. Vanstone?
Durchaus keinerlei. Als der Sohn von ihrer Mutter erstem Manne von dessen erster Ehefrau konnte er, selbst wenn man die Rücksicht aufs Aenßerste treiben wollte, unmöglich jemals in die Reihe von Mrs. Vanstones entferntesten Verwandten aufgenommen werden 3. Indem er dies auch recht gut wußte (fuhr der Brief fort), war er doch nichtsdestoweniger dabei geblieben, sich ihr als eine Art Blutsverwandter aufzudrängen, und sie war schwach genug gewesen, seiner Zudringlichkeit nachzugeben, lediglich aus Furcht, er könnte sich sonst bei Mr. Vanstone selber einführen und ohne Scheu Mr. Vanstones Großmuth brandschatzen. Indem es ihr natürlich nur unangenehm sein konnte, wenn ihr Gatte belästigt und wahrscheinlich noch obendrein betrogen werden sollte, von einer Person, die, wenn auch ohne Berechtigung, einen nahen Verwandtschaftsgrad mit ihr selber vorgab, so war es seit Jahren ihre Gewohnheit gewesen, den Hauptmann aus ihrer eigenen Börse zu unterstützen, unter der Bedingung, daß er niemals in ihr Haus käme und daß er sich nicht unterstehen sollte, sich in irgend einer Weise Mr. Vanstone zu nähern.
Mrs. Vanstone gab gern zu, daß sie darin nicht klug gehandelt habe; aber sie war, wie sie im weiteren Verlaufe des Schreibens entwickelte, um so mehr zu dieser Handlungsweise veranlaßt gewesen, als sie seit ihrer frühen Jugend aus Erfahrung gewußt habe, wie der Hauptmann auf Kosten bald dieses, bald auf Kosten jenes Gliedes der Familie ihrer Mutter lebte. Im Besitze von Fähigkeiten, die ihn vielleicht es zu einer ausgezeichneten Stellung hätten bringen lassen, was für eine Laufbahn er auch hätte ergreifen mögen — so war er doch nichtsdestoweniger von Jugend auf für alle seine Verwandten eine Schande gewesen. Er war aus dem Milizregimente ausgestoßen worden, in welchem er eine Offiziersstelle bekleidete. Er hatte einen Beruf nach dem andern versucht und hatte in jedem mit Schimpf und Schande bestanden. Er hatte in der niedrigsten und kläglichsten Bedeutung des Wortes sich durch geschwindelt. Er hatte ein armes Mädchen geheirathet, welche in einem gewöhnlichen Speisehause als Kellnerin gedient hatte und unverhofft zu etwas Gelde gekommen war, und hatte deren kleines Vermögen unbarmherzig bis auf den letzten Heller durchgebracht. Gerade herausgesagt war er ein unverbesserlicher Taugenichts, und er hatte nur einen üblen Streich mehr auf sein Sündenregister gebracht, wenn er jetzt unverschämt genug war, die Bedingung zu brechen, unter der ihn Mrs. Vanstones bisher unterstützt hatte. Sie hatte sofort unter der auf seiner Karte angegebenen Adresse an ihn geschrieben und ihn so deutlich und dergestalt zurecht gewiesen, daß er, wie sie hoffte und wünschte, sich niemals wieder einfallen lassen würde, ihrem Hause zu nahe zu kommen. Solchergestalt schloß Mrs. Vanstone den ersten ausschließlich auf Hauptmann Wragge bezüglichen Theil ihres Briefes.
Obschon die Mitteilungen welche er enthielt, eine Schwäche Mrs. Vanstones Charakter offenbar machten, welche Miss Garth trotz ihres vieljährigen vertrauten Umgangs mit derselben ihr nimmer zugetraut hätte, so nahm sie doch die Erklärung ohne Weiteres an und gab sich damit zufrieden; indem sie dieselbe um so lieber hinnahm, als sie ohne jede Unzuträglichkeit der erwachten Neugier der beiden jungen Fräulein im Wesentlichen mitgetheilt werden konnte. Namentlich aus diesem letzten Grunde las sie die erste Hälfte des Briefes mit dem angenehmen Gefühl einer gewissen Befriedigung durch. Ganz und gar verschieden davon war der Eindruck, den die zweite Hälfte, je weiter sie las und als sie den Brief zu Ende gelesen hatte, auf sie hervorbrachte.
Die zweite Hälfte des Briefes war dem Zwecke der Londoner Reise gewidmet.
Mrs. Vanstone begann damit, sich auf die langjährige vertraute Freundschaft zu beziehen, die zwischen Miss Garth und ihr selbst bestanden hätte. Sie glaubte es ihr als Freundin schuldig zu sein, ihr offen die Beweggründe vorzulegen, welche sie dazu vermocht hätten, mit ihrem Gemahl vom Hause weg zu reisen. Miss Garth habe sich zwar zart genug nichts merken lassen, müsse aber doch im Herzen sehr überrascht gewesen sein und noch sein, von dem Geheimnisse, welches die jähe Abreise umgeben habe, und sie werde sich die Frage vorgelegt haben, was Mrs. Vanstone mit Familienangelegenheiten zu schaffen habe (in ihrer, was Verwandte anlangt, so unbehelligten Stellung), welche doch nur allein Mr. Vanstone persönlich angehen mußten.
Ohne diese Angelegenheiten weiter zu berühren, was sie eben weder gern mochte, noch brauchte, fuhr Mrs. Vanstone fort zu erklären, sie werde alle Vermuthungen von Miss Garth, wenigstens soweit sie selbst dabei in Rede komme, durch ein offenes Geständniß mit einem Male beseitigen. Ihr Zweck dabei, daß sie ihren Gatten nach London begleitete, sei gewesen, einen gewissen berühmten Arzt aufzusuchen und ihn ins Geheim zu befragen über gewisse sehr zarte und zugleich Besorgniß erregende Umstände ihrer Gesundheit. In deutlicheren Worten, diese Besorgniß erregenden Umstände bedeuteten nichts Geringeres, als die Möglichkeit, daß sie vielleicht wieder Mutterfreuden genießen würde.
Als sich dieser Gedanke ihr zuerst aufgedrängt habe, habe sie ihn lediglich als einen Wahn betrachtet. Der lange Zeitraum, welcher vergangen sei nach der Geburt ihres letzten Kindes, die schwere Krankheit, welche sie nach dem in frühester Jugend erfolgtem Tode jenes Kindes ergriffen habe, das Lebensalter, in dem sie nun stehe: Alles veranlaßte sie, den Gedanken sofort, als er in ihrer Seele entstanden war, zurückzuweisen. Er war aber wieder und wieder gekommen, trotz ihres Widerwillens Sie habe nun die Nothwendigkeit erkannt, die erste ärztliche Autorität darüber zu Rathe zu ziehen, und habe doch zugleich um Alles in der Welt ihre Töchter nicht erschrecken mögen, indem sie einen Londoner Arzt ins Haus kommen ließ. Dies ärztliche Gutachten, unter den schon erwähnten Umständen angerufen, lag nun vor. Ihre Vermuthung habe sich als richtig herausgestellt, und der Ausgang, welcher voraussichtlich gegen Ende des Sommers stattfinden könnte, sei nun in ihrem Alter und bei ihren eigenthümlichen Zuständen ein Gegenstand ernster Besorgnisse für die Zukunft, um nicht noch Schlimmeres anzudeuten, für sie geworden. Der Arzt habe sein Möglichstes gethan, sie zu beruhigen, allein sie habe das Bedeutungsschwere seiner Fragen deutlicher, als er geahnt, erkannt und wisse, daß er mit mehr als gewöhnlicher Besorgniß in die Zukunft schaue.
Nachdem sie diese Einzelheiten enthüllt, bat Mrs. Vanstone, daß selbige zwischen ihr und der Adressatin ein Geheimniß bleiben möchten. Sie habe es nicht über sich vermocht, Miss Garth ihre Vermuthungen mitzutheilen, bis sich diese Vermuthungen als wahr erwiesen hätten, und sie erschrecke nun mit noch größerem Widerwillen vor dem Gedanken, ihre Töchter irgendwie betreffs ihrer selbst in Unruhe und Bestürzung zu versetzen. Es würde das Beste sein, für jetzt ganz von der Sache zu schweigen und getrost den Sommer herankommen zu lassen. Mittlerweile würden sie hoffentlich am dreiundzwanzigsten des Monats Alle wieder beisammen sein, Mr. Vanstone habe dies als Tag ihrer Rückkehr festgesetzt. Mit dieser Andeutung und den gewöhnlichen Aufträgen brach der Brief plötzlich und verwirrt ab.
Im ersten Augenblicke war ein natürliches Mitgefühl für Mrs. Vanstone die einzige Empfindung, deren sich Miss Garth bewußt war, als sie den Brief weggelegt hatte. Alsbald aber tauchte in ihrer Seele ein leiser Zweifel auf, der sie verstimmte und verwirrte. War die Erklärung, die sie eben gelesen hatte, wirklich eine genügende und so vollständig, also wofür sie ausgegeben wurde? Soweit die Thatsachen für sich selbst sprachen, gewiß nicht.