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Editorisch gesehen gehören Lessings Hauptwerke, und so auch der "Nathan"? fast schon zu den großen Unbekannten unter den Klassikern. Das liegt sicher auch daran, dass die historisch-kritische Lessing-Ausgabe zu den Gründungsdokumenten der Germanistik im frühen 19. Jahrhundert gehört - aber eben auch veraltet ist und einen fehlerhaften Text bietet. Neuere Lessing-Ausgaben haben die Situation nicht grundlegend verbessert. Die Studienausgabe des "Nathan2 hilft dem ab, indem erstmals derjenige Druck (von dreien aus dem Erscheinungsjahr 1779) zugrundegelegt wird, der vollständig vom Autor gutgeheißen war.
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Seitenzahl: 201
Gotthold Ephraim Lessing
Nathan der Weise
Ein Dramatisches Gedicht, in fünf AufzügenStudienausgabe
Herausgegeben von Kai Bremerund Valerie Hantzsche
Reclam
2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2017
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN: 978-3-15-960389-6
ISBN der Buchausgabe: 978-3-15-019142-2
www.reclam.de
Inhalt
Nathan der Weise. Dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen
Ankündigung des Nathan und Entwürfe
Anhang
Zu dieser Ausgabe
Textgrundlage
Editionsprinzipien
Verzeichnis der editorischen Eingriffe
Verzeichnis der Varianten zu 1779a und 1779c auf der Basis von LM
Ankündigung des Nathan
Entwürfe
Literaturhinweise
Nachwort
Personen.
Sultan SALADIN.
SITTAH, dessen Schwester.
NATHAN, ein reicher Jude in Jerusalem.
RECHA, dessen angenommene Tochter.
DAJA, eine Christinn, aber in dem Hause des Juden, als Gesellschafterinn der Recha.
Ein junger TEMPELHERR.
Ein DERWISCH.
Der PATRIARCH VON JERUSALEM.
Ein KLOSTERBRUDER.
Ein EMIR, nebst verschiednen MAMELUKEN des Saladin.
Die Scene ist in Jerusalem.
Erster Aufzug.
Erster Auftritt.
(Scene: Flur in Nathans Hause.)
NATHANvon der Reise kommend.DAJAihm entgegen.
DAJA. Er ist es! Nathan! – Gott sey ewig Dank,
Daß Ihr doch endlich einmahl wiederkommt.
NATHAN. Ja, Daja; Gott sey Dank! Doch warum endlich?
Hab’ ich denn eher wiederkommen wollen?
5
Und wiederkommen können? Babylon
Ist von Jerusalem, wie ich den Weg,
Seit ab bald rechts, bald links, zu nehmen bin
Genöthigt worden, gut zwey hundert Meilen;
Und Schulden einkassiren, ist gewiß
10
Auch kein Geschäft, das merklich födert, das
So von der Hand sich schlagen läßt.
DAJA. O Nathan,
Wie elend, elend hättet Ihr indeß
Hier werden können! Euer Haus …
NATHAN. Das brannte.
So hab’ ich schon vernommen. – Gebe Gott,
15
Daß ich nur alles schon vernommen habe!
DAJA. Und wäre leicht von Grund aus abgebrannt.
NATHAN. Dann, Daja, hätten wir ein neues uns
Gebaut; und ein bequemeres.
DAJA. Schon wahr! –
Doch Recha wär’ bey einem Haare mit
Verbrannt.
20
NATHAN. Verbrannt? Wer? meine Recha? sie? –
Das hab’ ich nicht gehört. – Nun dann! So hätte
Ich keines Hauses mehr bedurft. – Verbrannt
Bey einem Haare! – Ha! sie ist es wohl!
Ist wirklich wohl verbrannt! – Sag’ nur heraus!
25
Heraus nur! – Tödte mich: und martre mich
Nicht länger. – Ja, sie ist verbrannt.
DAJA. Wenn sie
Es wäre, würdet Ihr von mir es hören?
NATHAN. Warum erschreckest du mich denn? – O Recha!
O meine Recha!
DAJA. Eure? Eure Recha?
30
NATHAN. Wenn ich mich wieder je entwöhnen müßte,
Dieß Kind mein Kind zu nennen!
DAJA. Nennt Ihr alles,
Was Ihr besitzt, mit eben so viel Rechte
Das Eure?
NATHAN. Nichts mit grösserm! Alles, was
Ich sonst besitze, hat Natur und Glück
35
Mir zugetheilt. Dieß Eigenthum allein
Dank’ ich der Tugend.
DAJA. O wie theuer laßt
Ihr Eure Güte, Nathan, mich bezahlen!
Wenn Güt’, in solcher Absicht ausgeübt,
Noch Güte heißen kann!
NATHAN. In solcher Absicht?
In welcher?
DAJA. Mein Gewissen …
40
NATHAN. Daja, laß
Vor allen Dingen dir erzählen …
DAJA. Mein
Gewissen, sag’ ich …
NATHAN. Was in Babylon
Für einen schönen Stoff ich dir gekauft.
So reich, und mit Geschmack so reich! Ich bringe
45
Für Recha selbst kaum einen schönern mit.
DAJA. Was hilfts? Denn mein Gewissen, muß ich Euch
Nur sagen, läßt sich länger nicht betäuben.
NATHAN. Und wie die Spangen, wie die Ohrgehenke,
Wie Ring und Kette dir gefallen werden,
50
Die in Damascus ich dir ausgesucht:
Verlanget mich zu sehn.
DAJA. So seyd Ihr nun!
Wenn Ihr nur schenken könnt! nur schenken könnt!
NATHAN. Nimm du so gern, als ich dir geb’: – und schweig!
DAJA. Und schweig! Wer zweifelt, Nathan, daß Ihr nicht
55
Die Ehrlichkeit, die Großmuth selber seyd?
Und doch …
NATHAN. Doch bin ich nur ein Jude. – Gelt.
Das willst du sagen?
DAJA. Was ich sagen will,
Das wißt Ihr besser.
NATHAN. Nun so schweig!
DAJA. Ich schweige.
Was Sträfliches vor Gott hierbey geschieht,
60
Und ich nicht hindern kann, nicht ändern kann, –
Nicht kann, – komm’ über Euch!
NATHAN. Komm’ über mich! –
Wo aber ist sie denn? wo bleibt sie? – Daja,
Wenn du mich hintergehst! – Weiß sie es denn,
Daß ich gekommen bin?
DAJA. Das frag’ ich Euch!
65
Noch zittert ihr der Schreck durch jede Nerve.
Noch mahlet Feuer ihre Phantasie
Zu allem, was sie mahlt. Im Schlafe wacht,
Im Wachen schläft ihr Geist: bald weniger
Als Thier, bald mehr als Engel.
NATHAN. Armes Kind!
Was sind wir Menschen!
70
DAJA. Diesen Morgen lag
Sie lange mit verschloßnem Aug’, und war
Wie todt. Schnell fuhr sie auf, und rief: »Horch! horch!
Da kommen die Kameele meines Vaters!
Horch! seine sanfte Stimme selbst!« – Indem
75
Brach sich ihr Auge wieder: und ihr Haupt,
Dem seines Armes Stütze sich entzog,
Stürzt auf das Kissen. – Ich, zur Pfort’ hinaus!
Und sieh: da kommt Ihr wahrlich! kommt Ihr wahrlich! –
Was Wunder! ihre ganze Seele war
Die Zeit her nur bey Euch – und ihm. –
80
NATHAN. Bey ihm?
Bey welchem Ihm?
DAJA. Bey ihm, der aus dem Feuer
Sie rettete.
NATHAN. Wer war das? wer? – Wo ist er?
Wer rettete mir meine Recha? wer?
DAJA. Ein junger Tempelherr, den, wenig Tage
85
Zuvor, man hier gefangen eingebracht,
Und Saladin begnadigt hatte.
NATHAN. Wie?
Ein Tempelherr, dem Sultan Saladin
Das Leben ließ? Durch ein geringres Wunder
War Recha nicht zu retten? GOtt!
DAJA. Ohn’ ihn,
90
Der seinen unvermutheten Gewinst
Frisch wieder wagte, war es aus mit ihr.
NATHAN. Wo ist er, Daja, dieser edle Mann? –
Wo ist er? Führe mich zu seinen Füßen.
Ihr gabt ihm doch vors erste, was an Schätzen
95
Ich euch gelassen hatte? gabt ihm alles?
Verspracht ihm mehr? weit mehr?
DAJA. Wie konnten wir?
NATHAN. Nicht? nicht?
DAJA. Er kam, und niemand weiß woher.
Er ging, und niemand weiß wohin. – Ohn’ alle
Des Hauses Kundschaft, nur von seinem Ohr
100
Geleitet, drang, mit vorgespreitztem Mantel,
Er kühn durch Flamm’ und Rauch der Stimme nach,
Die uns um Hülfe rief. Schon hielten wir
Ihn für verloren, als aus Rauch und Flamme
Mit eins er vor uns stand, im starken Arm
105
Empor sie tragend. Kalt und ungerührt
Vom Jauchzen unsers Danks, setzt seine Beute
Er nieder, drängt sich unters Volk und ist –
Verschwunden!
NATHAN. Nicht auf immer, will ich hoffen.
DAJA. Nachher die ersten Tage sahen wir
110
Ihn untern Palmen auf und nieder wandeln,
Die dort des Auferstandnen Grab umschatten.
Ich nahte mich ihm mit Entzücken, dankte,
Erhob, entbot, beschwor, – nur einmal noch
Die fromme Kreatur zu sehen, die
115
Nicht ruhen könne, bis sie ihren Dank
Zu seinen Füßen ausgeweinet.
NATHAN. Nun?
DAJA. Umsonst! Er war zu unsrer Bitte taub;
Und goß so bittern Spott auf mich besonders …
NATHAN. Bis dadurch abgeschreckt …
DAJA. Nichts weniger!
120
Ich trat ihn jeden Tag von neuem an;
Ließ jeden Tag von neuem mich verhöhnen.
Was litt ich nicht von ihm! Was hätt’ ich nicht
Noch gern ertragen! – Aber lange schon
Kommt er nicht mehr, die Palmen zu besuchen,
125
Die unsers Auferstandnen Grab umschatten;
Und niemand weiß, wo er geblieben ist. –
Ihr staunt? Ihr sinnt?
NATHAN. Ich überdenke mir,
Was das auf einen Geist, wie Rechas, wohl
Für Eindruck machen muß. Sich so verschmäht
130
Von dem zu finden, den man hochzuschätzen
Sich so gezwungen fühlt; so weggestoßen,
Und doch so angezogen werden; – Traun,
Da müssen Herz und Kopf sich lange zanken,
Ob Menschenhaß, ob Schwermuth siegen soll.
135
Oft siegt auch keines; und die Phantasie,
Die in den Streit sich mengt, macht Schwärmer,
Bey welchen bald der Kopf das Herz, und bald
Das Herz den Kopf muß spielen. – Schlimmer Tausch! –
Das letztere, verkenn’ ich Recha nicht,
Ist Rechas Fall: sie schwärmt.
140
DAJA. Allein so fromm,
So liebenswürdig!
NATHAN. Ist doch auch geschwärmt!
DAJA. Vornehmlich Eine – Grille, wenn Ihr wollt,
Ist ihr sehr werth. Es sey ihr Tempelherr
Kein irdischer und keines irdischen;
145
Der Engel einer, deren Schutze sich
Ihr kleines Herz, von Kindheit auf, so gern
Vertrauet glaubte, sey aus seiner Wolke,
In die er sonst verhüllt, auch noch im Feuer,
Um sie geschwebt, mit eins als Tempelherr
150
Hervorgetreten. – Lächelt nicht! – Wer weiß?
Laßt lächelnd wenigstens ihr einen Wahn,
In dem sich Jud’ und Christ und Muselmann
Vereinigen; – so einen süßen Wahn!
NATHAN. Auch mir so süß! – Geh, wackre Daja, geh;
155
Sieh, was sie macht; ob ich sie sprechen kann. –
Sodann such’ ich den wilden, launigen
Schutzengel auf. Und wenn ihm noch beliebt,
Hiernieden unter uns zu wallen; noch
Beliebt, so ungesittet Ritterschaft
160
Zu treiben: find’ ich ihn gewiß; und bring’
Ihn her.
DAJA. Ihr unternehmet viel.
NATHAN. Macht dann
Der süße Wahn der süßern Wahrheit Platz: –
Denn, Daja, glaube mir; dem Menschen ist
Ein Mensch noch immer lieber, als ein Engel –
165
So wirst du doch auf mich, auf mich nicht zürnen,
Die Engelschwärmerinn geheilt zu sehn?
DAJA. Ihr seyd so gut, und seyd zugleich so schlimm!
Ich geh! – Doch hört! doch seht! – Da kommt sie selbst.
Zweyter Auftritt.
RECHA, und dieVORIGEN.
RECHA. So seyd Ihr es doch ganz und gar, mein Vater?
170
Ich glaubt’, Ihr hättet Eure Stimme nur
Vorausgeschickt. Wo bleibt Ihr? Was für Berge,
Für Wüsten, was für Ströme trennen uns
Denn noch? Ihr athmet Wand an Wand mit ihr,
Und eilt nicht, Eure Recha zu umarmen?
175
Die arme Recha, die indeß verbrannte! –
Fast, fast verbrannte! Fast nur. Schaudert nicht!
Es ist ein garst’ger Tod, verbrennen. O!
NATHAN. Mein Kind! mein liebes Kind!
RECHA. Ihr mußtet über
Den Euphrat, Tygris, Jordan; über – wer
180
Weiß was für Wasser all? – Wie oft hab’ ich
Um Euch gezittert, eh das Feuer mir
So nahe kam! Denn seit das Feuer mir
So nahe kam: dünkt mich im Wasser sterben
Erquickung, Labsal, Rettung. – Doch Ihr seyd
185
Ja nicht ertrunken: ich, ich bin ja nicht
Verbrannt. Wie wollen wir uns freuen, und GOtt,
GOtt loben! Er, er trug Euch und den Nachen
Auf Flügeln seiner unsichtbaren Engel
Die ungetreuen Ström’ hinüber. Er,
190
Er winkte meinem Engel, daß er sichtbar
Auf seinem weißen Fittiche, mich durch
Das Feuer trüge –
NATHAN. (Weißem Fittiche!
Ja, ja! der weiße vorgespreitzte Mantel
Des Tempelherrn.)
RECHA. Er sichtbar, sichtbar mich
195
Durchs Feuer trüg’, von seinem Fittiche
Verweht. – Ich also, ich hab’ einen Engel
Von Angesicht zu Angesicht gesehn;
Und meinen Engel.
NATHAN. Recha wär’ es werth;
Und würd’ an ihm nichts schönres sehn, als er
An ihr.
RECHA(lächelnd.)
200
Wem schmeichelt Ihr, mein Vater? wem?
Dem Engel, oder Euch?
NATHAN. Doch hätt’ auch nur
Ein Mensch – ein Mensch, wie die Natur sie täglich
Gewährt, dir diesen Dienst erzeigt: er müßte
Für dich ein Engel seyn. Er müßt’ und würde.
205
RECHA. Nicht so ein Engel; nein! ein wirklicher;
Es war gewiß ein wirklicher! – Habt Ihr,
Ihr selbst die Möglichkeit, daß Engel sind,
Daß GOtt zum Besten derer, die ihn lieben,
Auch Wunder könne thun, mich nicht gelehrt?
Ich lieb’ ihn ja.
210
NATHAN. Und er liebt dich; und thut
Für dich, und deines gleichen, stündlich Wunder;
Ja, hat sie schon von aller Ewigkeit
Für euch gethan.
RECHA. Das hör ich gern.
NATHAN. Wie? weil
Es ganz natürlich, ganz alltäglich klänge,
215
Wenn dich ein eigentlicher Tempelherr
Gerettet hätte: sollt’ es darum weniger
Ein Wunder seyn? – Der Wunder höchstes ist,
Daß uns die wahren, echten Wunder so
Alltäglich werden können, werden sollen.
220
Ohn’ dieses allgemeine Wunder, hätte
Ein Denkender wohl schwerlich Wunder je
Genannt, was Kindern bloß so heißen müßte,
Die gaffend nur das Ungewöhnlichste,
Das Neuste nur verfolgen.
DAJA(zu Nathan.)
Wollt Ihr denn
225
Ihr ohnedem schon überspanntes Hirn
Durch solcherley Subtilitäten ganz
Zersprengen?
NATHAN. Laß mich! – Meiner Recha wär’
Es Wunders nicht genug, daß sie ein Mensch
Gerettet, welchen selbst kein kleines Wunder
230
Erst retten müssen? Ja, kein kleines Wunder!
Denn wer hat schon gehört, daß Saladin
Je eines Tempelherrn verschont? daß je
Ein Tempelherr von ihm verschont zu werden
Verlangt? gehofft? ihm je für seine Freyheit
235
Mehr als den ledern Gurt gebothen, der
Sein Eisen schleppt: und höchstens seinen Dolch?
RECHA. Das schließt für mich, mein Vater. – Darum eben
War das kein Tempelherr; er schien es nur. –
Kömmt kein gefangner Tempelherr je anders
240
Als zum gewissen Tode nach Jerusalem:
Geht keiner in Jerusalem so frey
Umher: wie hätte mich des Nachts freywillig
Denn einer retten können?
NATHAN. Sieh! wie sinnreich.
Jetzt, Daja, nimm das Wort. Ich hab’ es ja
245
Von dir, daß er gefangen hergeschickt
Ist worden. Ohne Zweifel weißt du mehr.
DAJA. Nun ja. – So sagt man freylich; – doch man sagt
Zugleich, daß Saladin den Tempelherrn
Begnadigt, weil er seiner Brüder einem,
250
Den er besonders lieb gehabt, so ähnlich sehe.
Doch da es viele zwanzig Jahre her,
Daß dieser Bruder nicht mehr lebt, – er hieß,
Ich weiß nicht wie; – er blieb, ich weiß nicht wo: –
So klingt das ja so gar – so gar unglaublich,
255
Daß an der ganzen Sache wohl nichts ist.
NATHAN. Ey, Daja! Warum wäre denn das so
Unglaublich? Doch wohl nicht – wie’s wohl geschieht –
Um lieber etwas noch unglaublichers
Zu glauben? – Warum hätte Saladin,
260
Der sein Geschwister insgesammt so liebt,
In jüngern Jahren einen Bruder nicht
Noch ganz besonders lieben können? – Pflegen
Sich zwey Gesichter nicht zu ähneln? – Ist
Ein alter Eindruck ein verlorner? – Wirkt
265
Das Nehmliche nicht mehr das Nehmliche? –
Seit wenn? – Wo steckt hier das Unglaubliche? –
Ey freylich, weise Daja, wär’s für dich
Kein Wunder mehr; und deine Wunder nur
Bedürf … verdienen, will ich sagen, Glauben.
DAJA. Ihr spottet.
270
NATHAN. Weil du meiner spottest. – Doch
Auch so noch, Recha, bleibet deine Rettung
Ein Wunder, dem nur möglich, der die strengsten
Entschlüsse, die unbändigsten Entwürfe
Der Könige, sein Spiel – wenn nicht sein Spott –
Gern an den schwächsten Fäden lenkt.
275
RECHA. Mein Vater!
Mein Vater, wenn ich irr’, Ihr wißt, ich irre
Nicht gern.
NATHAN. Vielmehr du läßst dich gern belehren. –
Sieh! eine Stirn, so oder so gewölbt;
Der Rücken einer Nase, so vielmehr
280
Als so geführet; Augenbraunen, die
Auf einem scharfen oder stumpfen Knochen
So oder so sich schlängeln; eine Linie,
Ein Bug, ein Winkel, eine Falt’, ein Mahl,
Ein Nichts, auf eines wilden Europäers
285
Gesicht: – und du entkömmst dem Feur, in Asien!
Das wär’ kein Wunder, wundersücht’ges Volk?
Warum bemüht ihr denn noch einen Engel?
DAJA. Was schadets – Nathan, wenn ich sprechen darf –
Bey alle dem, von einem Engel lieber
290
Als einem Menschen sich gerettet denken?
Fühlt man der ersten unbegreiflichen
Ursache seiner Rettung nicht sich so
Viel näher?
NATHAN. Stolz! und nichts als Stolz! Der Topf
Von Eisen will mit einer silbern Zange
295
Gern aus der Gluth gehoben seyn, um selbst
Ein Topf von Silber sich zu dünken. – Pah! –
Und was es schadet, fragst du? was es schadet?
Was hilft es? dürft ich nur hinwieder fragen. –
Denn dein »Sich Gott um so viel näher fühlen,«
300
Ist Unsinn oder Gotteslästerung. –
Allein es schadet; ja, es schadet allerdings. –
Kommt! hört mir zu. – Nicht wahr? dem Wesen, das
Dich rettete, – es sey ein Engel oder
Ein Mensch, – dem möchtet ihr, und du besonders,
305
Gern wieder viele große Dienste thun? –
Nicht wahr? – Nun, einem Engel, was für Dienste,
Für große Dienste könnt ihr dem wohl thun?
Ihr könnt ihm danken; zu ihm seufzen, beten;
Könnt in Entzückung über ihm zerschmelzen;
310
Könnt an dem Tage seiner Feyer fasten,
Almosen spenden. – Alles nichts. – Denn mich
Deucht immer, daß ihr selbst und euer Nächster
Hierbey weit mehr gewinnt, als er. Er wird
Nicht fett durch euer Fasten; wird nicht reich
315
Durch eure Spenden; wird nicht herrlicher
Durch eur Entzücken; wird nicht mächtiger
Durch eur Vertrauen. Nicht wahr? Allein ein Mensch!
DAJA. Ey freylich hätt’ ein Mensch, etwas für ihn
Zu thun uns mehr Gelegenheit verschafft.
320
Und GOtt weiß, wie bereit wir dazu waren!
Allein er wollte ja, bedurfte ja
So völlig nichts; war in sich, mit sich so
Vergnügsam, als nur Engel sind, nur Engel
Seyn können.
RECHA. Endlich, als er gar verschwand …
325
NATHAN. Verschwand? – Wie denn verschwand? – Sich untern Palmen
Nicht ferner sehen ließ? – Wie? oder habt
Ihr wirklich schon ihn weiter aufgesucht?
DAJA. Das nun wohl nicht.
NATHAN. Nicht, Daja? nicht? – Da sieh
Nun was es schadt! – Grausame Schwärmerinnen! –
330
Wenn dieser Engel nun – nun krank geworden! …
RECHA. Krank!
DAJA. Krank! Er wird doch nicht!
RECHA. Welch kalter Schauer
Befällt mich! – Daja! – Meine Stirne, sonst
So warm, fühl! ist auf einmal Eis.
NATHAN. Er ist
Ein Franke, dieses Klima’s ungewohnt;
335
Ist jung; der harten Arbeit seines Standes,
Des Hungerns, Wachens ungewohnt.
RECHA. Krank! krank!
DAJA. Das wäre möglich, meint ja Nathan nur.
NATHAN. Nun liegt er da! hat weder Freund, noch Geld
Sich Freunde zu besolden.
RECHA. Ah, mein Vater!
340
NATHAN. Liegt ohne Wartung, ohne Rath und Zusprach,
Ein Raub der Schmerzen und des Todes da!
RECHA. Wo? wo?
NATHAN. Er, der für eine, die er nie
Gekannt, gesehn – genug, es war ein Mensch –
Ins Feur sich stürzte …
DAJA. Nathan, schonet ihrer!
345
NATHAN. Der, was er rettete nicht näher kennen,
Nicht weiter sehen mocht’, um ihm den Dank
Zu sparen …
DAJA. Schonet ihrer, Nathan!
NATHAN. Weiter
Auch nicht zu sehn verlangt’, – es wäre denn,
Daß er zum zweyten Mahl es retten sollte –
Denn gnug, es ist ein Mensch …
350
DAJA. Hört auf, und seht!
NATHAN. Der, der hat sterbend sich zu laben, nichts –
Als das Bewußtseyn dieser That!
DAJA. Hört auf!
Ihr tödtet sie!
NATHAN. Und du hast ihn getödtet! –
Hättst so ihn tödten können. – Recha! Recha!
355
Es ist Arzney, nicht Gift, was ich dir reiche.
Er lebt! – komm zu dir! – ist auch wohl nicht krank;
Nicht einmahl krank!
RECHA. Gewiß? – nicht todt? nicht krank?
NATHAN. Gewiß, nicht todt! – Denn GOtt lohnt Gutes, hier
Gethan, auch hier noch. – Geh! – Begreifst du aber,
360
Wie viel andächtig schwärmen leichter, als
Gut handeln ist? wie gern der schlaffste Mensch
Andächtig schwärmt, um nur, – ist er zu Zeiten
Sich schon der Absicht deutlich nicht bewußt –
Um nur gut handeln nicht zu dürfen?
RECHA. Ah,
365
Mein Vater! laßt, laßt Eure Recha doch
Nie wiederum allein! – Nicht wahr, er kann
Auch wohl verreist nur seyn? –
NATHAN. Geht! – Allerdings. –
Ich seh, dort mustert mit neugier’gem Blick
Ein Muselmann mir die beladenen
Kameele. Kennt ihr ihn?
370
DAJA. Ha! Euer Derwisch.
NATHAN. Wer?
DAJA. Euer Derwisch; Euer Schachgesell!
NATHAN. Al-Hafi? das Al-Hafi?
DAJA. Itzt des Sultans
Schatzmeister.
NATHAN. Wie? Al-Hafi? Träumst du wieder? –
Er ists! – wahrhaftig, ists! – kömmt auf uns zu.
375
Hinein mit Euch, geschwind! – Was werd’ ich hören!
Dritter Auftritt.
NATHANund derDERWISCH.
DERWISCH. Reißt nur die Augen auf, so weit Ihr könnt!
NATHAN. Bist du’s? bist du es nicht? – In dieser Pracht,
Ein Derwisch! …
DERWISCH. Nun? warum denn nicht? Läßt sich
Aus einem Derwisch denn nichts, gar nichts machen?
380
NATHAN. Ey wohl, genug! – Ich dachte mir nur immer,
Der Derwisch – so der rechte Derwisch – woll’
Aus sich nichts machen lassen.
DERWISCH. Beym Propheten!
Daß ich kein rechter bin, mag auch wohl wahr seyn.
Zwar wenn man muß –
NATHAN. Muß! Derwisch! – Derwisch muß?
385
Kein Mensch muß müssen, und ein Derwisch müßte?
Was müßt’ er denn?
DERWISCH. Warum man ihn recht bittet,
Und er für gut erkennt: das muß ein Derwisch.
NATHAN. Bey unserm Gott! da sagst du wahr. – Laß dich
Umarmen, Mensch. – Du bist doch noch mein Freund?
390
DERWISCH. Und fragt nicht erst, was ich geworden bin?
NATHAN. Trotz dem, was du geworden!
DERWISCH. Könnt’ ich nicht
Ein Kerl im Staat geworden seyn, des Freundschaft
Euch ungelegen wäre?
NATHAN. Wenn dein Herz
Noch Derwisch ist, so wag’ ichs drauf. Der Kerl
Im Staat, ist nur dein Kleid.
395
DERWISCH. Das auch geehrt
Will seyn. – Was meint Ihr? rathet! – Was wär’ ich
An Eurem Hofe?
NATHAN. Derwisch; weiter nichts.
Doch neben her, wahrscheinlich – Koch.
DERWISCH. Nun ja!
Mein Handwerk bey Euch zu verlernen. – Koch!
400
Nicht Kellner auch? – Gesteht, daß Saladin
Mich besser kennt. – Schatzmeister bin ich bey
Ihm worden.
NATHAN. Du? – bey ihm?
DERWISCH. Versteht:
Des kleinern Schatzes, denn des grössern waltet
Sein Vater noch – des Schatzes für sein Haus.
NATHAN. Sein Haus ist groß.
405
DERWISCH. Und grösser, als Ihr glaubt;
Denn jeder Bettler ist von seinem Hause.
NATHAN. Doch ist den Bettlern Saladin so feind –
DERWISCH. Daß er mit Strumpf und Stiel sie zu vertilgen
Sich vorgesetzt, – und sollt’ er selbst darüber
Zum Bettler werden.
410
NATHAN. Brav! So meyn’ ichs eben.
DERWISCH. Er ists auch schon, trotzt einem! – Denn sein Schatz
Ist jeden Tag mit Sonnenuntergang
Viel leerer noch, als leer. Die Fluth, so hoch
Sie morgens eintritt, ist des Mittags längst
Verlaufen –
415
NATHAN. Weil Kanäle sie zum Theil
Verschlingen, die zu füllen oder zu
Verstopfen, gleich unmöglich ist.
DERWISCH. Getroffen!
NATHAN. Ich kenne das!
DERWISCH. Es taugt nun freylich nichts,
Wenn Fürsten Geyer unter Äsern sind.
420
Doch sind die Äser unter Geyern, taugts
Noch zehnmal weniger.
NATHAN. O nicht doch, Derwisch!
Nicht doch!
DERWISCH. Ihr habt gut reden, Ihr! – Kommt an:
Was gebt Ihr mir? so tret ich meine Stell’
Euch ab.
NATHAN. Was bringt dir deine Stelle?
DERWISCH. Mir?
425
Nicht viel. Doch Euch, Euch kann sie treflich wuchern.
Denn ist es Ebb’ im Schatz, – wie öfters ist, –
So zieht Ihr Eure Schleusen auf: schießt vor,
Und nehmt an Zinsen, was Euch nur gefällt.
NATHAN. Auch Zins vom Zins der Zinsen?
DERWISCH. Freylich!
NATHAN. Bis
430
Mein Kapital zu lauter Zinsen wird.
DERWISCH. Das lockt Euch nicht? So schreibet unsrer Freundschaft
Nur gleich den Scheidebrief! Denn wahrlich hab’
Ich sehr auf Euch gerechnet.
NATHAN. Wahrlich? Wie
Denn so? wie so denn?
DERWISCH. Daß Ihr mir mein Amt
435
Mit Ehren würdet führen helfen; daß
Ich allzeit offne Kasse bey Euch hätte. –
Ihr schüttelt?
NATHAN. Nun, verstehn wir uns nur recht!
Hier giebts zu unterscheiden. – Du? warum
Nicht du? Al-Hafi Derwisch ist zu allem,
440
Was ich vermag, mir stets willkommen. – Aber
Al-Hafi Defterdar des Saladin,
Der – dem –
DERWISCH. Errieth ichs nicht? Daß Ihr doch immer
So gut als klug, so klug als weise seyd! –
Geduld! Was Ihr am Hafi unterscheidet,
445
Soll bald geschieden wieder seyn. – Seht da
Das Ehrenkleid, das Saladin mir gab.
Eh es verschossen ist, eh es zu Lumpen
Geworden, wie sie einen Derwisch kleiden,
Hängts in Jerusalem am Nagel, und
450
Ich bin am Ganges, wo ich leicht und barfuß
Den heißen Sand mit meinen Lehrern trete.
NATHAN. Dir ähnlich gnug!
DERWISCH. Und Schach mit ihnen spiele.
NATHAN. Dein höchstes Gut!
DERWISCH. Denkt nur, was mich verführte! –
Damit ich selbst nicht länger betteln dürfte?
455
Den reichen Mann mit Bettlern spielen könnte?
Vermögend wär’ im Huy den reichsten Bettler
In einen armen Reichen zu verwandeln?
NATHAN. Das nun wohl nicht.
DERWISCH. Weit etwas abgeschmackters!
Ich fühlte mich zum erstenmahl geschmeichelt;
460
Durch Saladins gutherz’gen Wahn geschmeichelt –
NATHAN. Der war?
DERWISCH. »Ein Bettler wisse nur, wie Bettlern
Zu Muthe sey; ein Bettler habe nur
Gelernt, mit guter Weise Bettlern geben.
Dein Vorfahr, sprach er, war mir viel zu kalt,
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Zu rauh. Er gab so unhold, wenn er gab;
Erkundigte so ungestüm sich erst
Nach dem Empfänger; nie zufrieden, daß
Er nur den Mangel kenne, wollt’ er auch
Des Mangels Ursach wissen, um die Gabe
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Nach dieser Ursach filzig abzuwägen.
Das wird Al-Hafi nicht! So unmild mild
Wird Saladin im Hafi nicht erscheinen!
Al-Hafi gleicht verstopften Röhren nicht,
Die ihre klar und still empfangnen Wasser
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So unrein und so sprudelnd wieder geben.
Al-Hafi denkt; Al-Hafi fühlt wie ich!« –