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Die junge New Yorkerin Tessa McNaught lebt den amerikanischen Traum: Sie wohnt in Manhattan, ist erfolgreich als Bankerin und verlobt mit dem richtigen Mann. Doch der mysteriöse Tod einer Freundin stellt ihr bisheriges Leben in Frage. Unfähig an einen Selbstmord zu glauben, beginnt Tessa auf eigene Faust zu ermitteln. Doch die Suche nach der Wahrheit ist äußerst gefährlich. Dunkle Mächte sind im Spiel und ziehen Tessa immer tiefer in die düstere Welt der Gefallenen und Dämonen. Tessas letzte Chance ist der Blutengel Nathanael, ein Sohn des Erzengels Michael. Eigentlich wollte der attraktive Dämonenjäger nie wieder den Auftrag eines Menschen annehmen. Doch Tessas Sinnlichkeit kann er nicht widerstehen und so werden beide in einen tödlichen Kampf verwickelt, bei dem es nicht nur um Tessas Körper und ihre unsterbliche Seele geht, sondern auch um ihr Herz …
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Seitenzahl: 484
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Nathanael
Kim Landers
1. Auflage September 2011
Titelbild: Agnieszka Szuba
www.the-butterfly-within.com
©opyright 2011 by Kim Landers
Lektorat: Birte Lilienthal & Franziska Köhler
Satz: nimatypografik
ISBN: 978-3-939239-94-9
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Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Lektorin Birte, die mich beim Schreiben beflügelt hat,und meiner Familie, ohne die ich vielleicht nie New York besucht hätte.
Nur noch einen Schritt vorwärts und alles wäre vorbei. Schon wagte sich ihre Fußspitze über den Rand des Daches.
Jetzt spring endlich, forderte die Stimme in ihrem Kopf. Aber ihre Angst hielt sie zurück. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals.
Eisiger Wind fuhr durch ihre Kleidung. Zitternd verschränkte sie die Arme vor der Brust und betrachtete die Gänsehaut auf ihren nackten Unterarmen, als sähe sie sie zum ersten Mal.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl, noch ein letztes Mal seinen Körper zu spüren, sich lebendig zu fühlen, bevor alles im Nichts versank.
Wie leicht war es, ein Leben auszulöschen. So einfach wie das Ausblasen einer Kerzenflamme.
Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Mit dem Tod verlor alles seine Bedeutung: die Zeit, der Ort, die Menschen, die einem nahe standen, und man selbst. Stille, Dunkelheit und Vergessen. Dinge, nach denen sie sich sehnte, weil das Leben unerträglich geworden war.
Sie schloss die Augen und breitete die Arme aus. Ihre Bluse blähte sich im Wind. Sie fror entsetzlich, aber das war ihr egal. Alles, was für sie in diesem Moment zählte, war das Gefühl von Freiheit, das sie überkam. So mussten Vögel empfinden, wenn sie durch die Lüfte schwebten.
Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie auf Manhattan herab, dessen Lichtermeer sich bis zum Horizont erstreckte. Die City wirkte von hier oben lächerlich klein, wie eine Miniaturspielwelt. Irgendwo heulten Polizeisirenen durch die Straßen.
Dort unten hatte sie gelebt, doch jetzt gab es für sie an diesem Ort keinen Platz mehr.
Kannst du wirklich so aus dem Leben scheiden und alles hinter dir lassen? Mit aller Kraft versuchte sie, die Zweifel niederzukämpfen, als sie an ihre Mutter dachte, die auf sie angewiesen war.
Sie nutzt dich nur aus.
Die Stimme war wieder zurück, eindringlicher als zuvor.
Welchen Sinn hat dein Leben? Dich für andere aufzuopfern? Befreie dich endlich von den Fesseln der Pflicht. Wenn du stirbst, kann sie dich nicht mehr gängeln.
Seit vielen Jahren kümmerte sie sich um ihre Mutter, ertrug ihre Launen und verzichtete ihretwegen auf alles.
Die Stimme hatte recht. Das Leben an ihrer Seite war unerträglich geworden. Es gab keinen anderen Ausweg für sie, als aus diesem Teufelskreis auszubrechen.
Wenn sie jetzt sprang, war sie frei.
Langsam beugte sie den Oberkörper weiter vor.
Ja, so ist es gut. Nur noch einen Schritt, dann bist du frei.
Frei! Frei!, hallte es in ihr nach.
Sie schauderte beim Anblick der Tiefe. In ihrem Innern krampfte sich alles zusammen.
Zwanzig Stockwerke trennten sie vom Boden. Wie würde es sein, wenn ihr Körper dort unten aufschlug? Sie fürchtete sich vor dem schmerzvollen Aufprall und davor, dass sie vielleicht überleben könnte. Herrgott, war sie feige.
Du wirst keinen Schmerz verspüren. Warum zögerst du also noch? Spring!
Die Stimme in ihrem Kopf ließ sich nicht vertreiben, im Gegenteil, sie wurde immer lauter. So laut, dass alles um sie herum sich zu drehen begann, bis ihre Knie weich wurden. Aber die Stimme kannte keine Gnade.
Spring endlich!, forderte sie.
Sie hielt sich die Ohren zu, geriet ins Schwanken und verlor das Gleichgewicht.
Mit einem Aufschrei kippte sie vornüber und stürzte in die Tiefe. In Panik ruderte sie wild mit den Armen und schrie, ohne aufzuhören.
Mit weit aufgerissenen Augen sah sie die Lichter auf sich zurasen.
In wenigen Augenblicken wäre alles vorbei. Bilder ihres Lebens zogen in rasantem Tempo vor ihren Augen vorbei, schneller als die Fenster des Hochhauses, von dem sie gesprungen war.
Plötzlich hörte sie über sich Flügelschläge, die sich rasch näherten.
Geflügelte Wesen tauchten aus dem Nichts neben ihr auf, packten sie und begannen an ihr zu zerren, als veranstalteten sie ein Tauziehen.
Verzweifelt wehrte sie sich gegen die Krallenhände, die mühelos ihren Körper durchdrangen, als bestünde er aus Papier, und ihr rasendes Herz umspannten.
Sekunden später schlug ihr Körper auf den vom Regen nassen Asphalt und ihr Geist versank in Dunkelheit.
Tessa McNaught hastete die Fifth Avenue entlang zur U-Bahn-Station.
Die kühle Frühlingsluft half, aber sie hatte noch immer schreckliche Kopfschmerzen.
Sie war mal wieder spät dran, ausgerechnet heute, wo sie zur Wall Street musste. Ihr Chef würde ihr den Kopf abreißen, wenn sie nicht pünktlich erschien, um am Börsenhandel teilzunehmen. Wenn sie nur nicht so hundemüde gewesen wäre und so lange fürs Aufstehen gebraucht hätte.
Gestern hatte sie bis spät in die Nacht vor dem Laptop gesessen und die Aktienkurse studiert. Vor Tagen war die Börse förmlich explodiert, die Kurse nach oben geschnellt.
Auslöser war die Wahl der Wirtschaftszeitungen gewesen, die ihren Freund Steven zum erfolgreichsten Unternehmer des Jahres gekürt hatten. Seine Firma Greenberg Pharma avancierte zum Spitzenunternehmen der USA.
Im vergangenen halben Jahr hatte Stevens Pharmakonzern bahnbrechende Erfolge mit einem neuen Schmerzmittel erzielt. Seitdem stand täglich etwas über ihn in der Presse. Das war vor allem ihren guten Kontakten zu Journalisten zu verdanken, die sie durch ihren Job kennenlernte. Steven und sie waren ein perfektes Team. Sie verkaufte seine Aktien an der Börse, und er empfahl sie als Finanzberaterin seinen Kunden. Jetzt zahlte sich ihr jahrelanges, gemeinsames Engagement aus und die ganze Arbeit trug Früchte. Sie war unglaublich stolz auf ihn. Und auch auf sich selbst.
Nach Börsenschluss wollte sie ihm zur Wahl gratulieren, allein, ganz intim, bevor das Gala-Dinner im Trump Tower begann. Morgen würden sie ihren Erfolg nach der Pressekonferenz feiern, die sie organisiert hatte. Sie freute sich darauf, mit ihm einen Abend allein zu verbringen, denn seitdem Steven ein so erfolgreicher Geschäftsmann war, fanden sie nur selten Zeit füreinander. Das war der kleine Wermutstropfen in ihrer Beziehung. So erging es auch anderen Paaren ihrer Branche. Freizeit war rar. Dafür arbeiteten sie an einem gemeinsamen Ziel: Einmal ganz oben auf der Erfolgsleiter zu stehen und allen zu beweisen, was in ihnen steckte.
Doch vor ihr lag noch ein langer Tag. Wenn sie ihn durchhalten wollte, brauchte sie einen starken Kaffee.
Sie steuerte Ted’s Coffeeshop an, der sich direkt neben der Treppe zur U-Bahn befand und klopfte gegen die Scheibe des Ausgabefensters. Wie jeden Morgen öffnete ihr lächelnd die dunkelhäutige Eve mit den Rastalocken.
«Hi, Eve. Wie immer – stark, schwarz, mit wenig Zucker.» Tessa schob Eve einen Fünf-Dollar-Schein über den Tresen.
«Heute mit Kragen?» Eve ließ den Geldschein in der Kasse verschwinden und sah sie fragend an.
«Mit. Ich muss gleich zur Bahn. Außerdem kann ich mich dann besser dran aufwärmen. Für Anfang April ist es ganz schön kalt heute Morgen.»
Als Eve sich umdrehte, um den Kaffee einzuschenken, überflog Tessa die Schlagzeilen auf der Titelseite der Manhattan Post, die in einem Ständer neben dem Fenster festgeklemmt war.
Neuer Selbstmord!, prangte dort in fetten Lettern.
Die Aufnahme von der Leiche unter der Plane jagte ihr einen Schauer den Rücken hinunter. Ihr wurde übel. Bilder strömten auf sie ein, die sie mit aller Macht zu verdrängen suchte.
Sie schloss die Augen, als die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. Das war doch krank! Amateure hatten die Selbstmörder beim Sprung gefilmt. Ein gefundenes Fressen für die Nachrichtensender. Man musste nur einen Fernseher einschalten und bekam einen Selbstmord kredenzt. Tessa stöhnte innerlich auf. Gestern war eine Frau aus der Nachbarschaft vom Dach gesprungen. Die Nachricht von ihrem Tod hatte sie ernsthaft verstört.
«Eine Tragödie! Da hat sich wieder eine umgebracht. Ist vom Flatiron gesprungen. Jetzt sind es schon mehr als fünfzehn Tote diesen Monat.» Eve überreichte ihr mit ernster Miene den Pappbecher mit dem dampfenden Kaffee.
Tessa nickte. Eves Worte stimmten sie sehr nachdenklich.
Wie verzweifelt musste jemand sein, wenn er sich von einem Hochhaus stürzte? Welche Gründe trieben ihn dazu?
Sie erinnerte sich wieder an einen Alptraum, den sie vor einiger Zeit gehabt hatte, als die Selbstmordwelle begann.
Sie stand vor einem Hochhaus und blickte zu einer Frau hinauf, die oben auf der Dachkante stand. Von Entsetzen gepackt war sie aufs Dach gerannt, um sie zurückzuhalten. Aber in dem Moment, in dem sie ihre Hand nach der Frau ausstreckte, sprang sie in die Tiefe. Tessa hatte geschrien und war aufgewacht.
Kein Wunder, dass sie die tragischen Ereignisse bis in den Schlaf verfolgten, wenn an jeder Ecke ein Selbstmord geschah, über den in allen Medien berichtet wurde.
«Ja, schrecklich.» Seufzend griff Tessa den Pappbecher und das Wechselgeld, nickte Eve zu und lief die Treppe zur U-Bahn hinab.
Noch immer drehten sich ihre Gedanken um die Selbstmorde. Das Flatiron Building lag nur zwei Blocks von Stevens Penthouse entfernt. Nicht auszudenken, wenn sie gestern bei ihm übernachtet hätte und womöglich Zeugin des Geschehens geworden wäre.
Zum Glück war ihr das erspart geblieben.
Ganz in Gedanken verloren stieß sie auf der Treppe zum Gleis mit einem Mann zusammen. Als dabei der Deckel absprang, schwappte der heiße Kaffee aus dem Becher über ihre Finger und riss sie aus ihren Grübeleien. Hatte sie es sich nur eingebildet oder hatte der Mann eben rote Augen? Bestimmt Kontaktlinsen. Heutzutage gab es nichts, was es nicht gab.
«Shit!», entfuhr es ihr. Ihre Finger brannten, als sie sie mit einem Taschenbuch abtupfte. Die Lust auf den restlichen Kaffee war ihr gründlich vergangen. Er war sowieso furchtbar bitter gewesen.
Sie warf den Becher in einen Mülleimer und hastete die letzten Stufen in die U-Bahn-Station hinunter. Aber als sie unten ankam, sah sie nur noch die Rücklichter der Bahn und fluchte. Die nächste Bahn kam in fünf Minuten. Die konnte sie nicht mehr aufholen, selbst wenn sie nachher wie eine Verrückte die Treppe von der U-Bahn-Station hinaufrannte. Sie würde wieder zu spät kommen und keine Zeit für ein paar Worte mit den Händlern haben.
Heute war einfach nicht ihr Tag.
Voller Ungeduld wanderte Tessa auf dem Gleis auf und ab, bis sie stoppte, weil sie sich beobachtet fühlte.
Tatsächlich starrte sie vom gegenüberliegenden Gleis ein Mann an, ganz in Schwarz gekleidet. Er überragte die meisten Wartenden um Haupteslänge. Lässig gegen den Fahrscheinautomaten gelehnt, fixierte er sie. Nur sie, als wenn niemand außer ihr auf dem Bahnsteig existierte. Natürlich gab es Männer, die sie attraktiv fanden und sich nach ihr umdrehten, aber die starrten sie in der Regel nicht so aufdringlich an.
Sein Blick besaß etwas Zwingendes, Gefährliches und gleichzeitig Sinnliches. Tessa kaute auf ihrer Unterlippe und trat von einem Bein auf das andere. Obwohl sie versuchte, nicht zu ihm hinüberzusehen, tat sie es wie aus einem inneren Zwang schließlich doch.
«Mit deinen grünen Hexenaugen und dem roten Haar verdrehst du jedem Mann den Kopf», hatte Steven einmal zu ihr gesagt. Attraktiv war sie schon, wenn sie ihren viel zu breiten Mund außer Acht ließ, aber ein männermordender Vamp, wie Steven sie beschrieb, auf keinen Fall. Sie hätte sich im Gegenteil sogar eher als zurückhaltend beschrieben.
Nachher entpuppte sich der Kerl da drüben als Stalker. Darauf konnte sie weiß Gott verzichten.
Das Beste wäre wohl, ihn zu ignorieren.
Sie drehte sich um und studierte scheinbar interessiert die Ankunftstafel. Dennoch ertappte sie sich immer wieder dabei, ihn heimlich aus den Augenwinkeln zu beobachten.
Zugegeben, gut sah er schon aus. Er war durchtrainiert, mit breiten Schultern und muskulösen Armen und Beinen, die sich unter der Kleidung abzeichneten. Seine bronzefarbene Haut bildete einen reizvollen Kontrast zu dem honigfarbenen Haar, das in ungezähmten Locken bis zum Kinn reichte. Die dunklen Augen stachen aus dem gut geschnittenen Gesicht mit den klassischen Zügen wie Kohle hervor. Sie hätte ihn als überaus attraktiv bezeichnet, wenn es da nicht diesen arroganten Zug um seinen Mund gegeben hätte. Ein Mann, der Frauenherzen höher schlagen ließ, aber sie bestimmt ebenso schnell brach.
Er sah tatsächlich noch immer zu ihr herüber. Hoffentlich verschwand der Kerl mit der nächsten Bahn.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, hob er spöttisch eine Braue. Ein Lächeln spielte um seine Lippen, das wider Erwarten überaus charmant war. Dabei verströmte er eine Sinnlichkeit, die sie noch nie zuvor bei einem Mann erlebt hatte, nicht einmal bei ihrem Verlobten Steven.
Tessa erinnerte sich noch gut an ihr erstes Zusammentreffen mit Steven. Es war bei der Eröffnung einer Medienfirma gewesen, für die sie im Auftrag ihrer Bank Jungaktien verkaufte. Damals war er im Management dieser Firma tätig. Sie verbrachten viel Zeit in Meetings miteinander und trafen sich darüber hinaus nach einem harten Arbeitstag auf einen Drink. Dabei kamen sie sich näher und stellten viele Gemeinsamkeiten fest, die gleichen Interessen, die gleichen Arbeitszeiten und dieselben Bekannten. Stevens Pläne von einer eigenen Firma und sein Ehrgeiz beeindruckten sie. Sie passten perfekt zusammen.
Für Leidenschaft und spontanen Sex war in ihrer Beziehung kein Platz. Alles war bis ins Detail geplant und organisiert, selbst die Stunden trauter Zweisamkeit. Ihr Terminplan ließ kaum Abweichungen zu, aber es störte sie nicht. Ihr Job hatte oberste Priorität; gerade jetzt, kurz vor dem Ziel, konnten sie es sich nicht leisten, sich durch Privates ablenken zu lassen und nachlässig zu werden.
Das konnte sie sich hingegen bei ihrem verwegenen Gegenüber irgendwie nicht vorstellen. Er nahm sich, was er wollte und wann er es wollte. Wie mochte es sein, von ihm geküsst zu werden?
Der Fremde grinste anzüglich, als hätte er ihre Gedanken schon wieder erraten.
Tessa fühlte sich wie ertappt und erschrak über ihre Fantasie. Sie ärgerte sich, weil er sie derart durcheinanderbrachte.
Um seinem Blick zu entgehen, zog sie ihre Kapuze über den Kopf.
Die Lautsprecheransage kündigte die Einfahrt der nächsten U-Bahn an. Sekunden später rauschte sie ein und hielt mit einem durchdringenden Quietschen. Türen öffneten sich, Leute stiegen aus und ein und drängten sich an ihr vorbei. Dann schlossen sich die Türen, und die Bahn fuhr mit einem leisen Summen wieder an.
Erst als die roten Rücklichter im Tunnel verschwanden, wagte Tessa zum gegenüberliegenden Gleis zu sehen. Der Fremde war fort und sie atmete auf. Doch seine Aura schien weiterhin wie eine unsichtbare Wolke über ihr zu schweben.
Tessa war froh, als auf dem Bildschirm endlich ihre eigene Bahn angekündigt wurde.
Direkt vor ihr wirbelte eine schwarze Feder durch die Luft, die sie mit einer Hand fing. Federn in U-Bahn-Stationen waren nichts Ungewöhnliches, denn die Tunnel boten Tauben ideale Brutplätze. Aber diese war pechschwarz und unterschied sich von denen, die man sonst sah, denn sie besaß keinen festen Federkiel.
Nachdenklich drehte Tessa sie zwischen den Fingern. Sie war weich, mit langen strahlenförmigen Federästen wie eine Daune. Ein seltenes Souvenir.
Sie stopfte die Feder hastig in ihre Handtasche, bevor sie in ihre Bahn stieg. Bis zum Ausstieg an der Wall Street waren es etliche Stationen. Die Fahrzeit überbrückte Tessa stets mit Lesen. Sie zog einen Krimi aus der Handtasche und blätterte. Aber heute versagte ihre Konzentration.
Sie hatte mittlerweile etliche Sätze mehrmals gelesen, ohne den Inhalt zu verstehen. Die Zeilen verschwammen vor ihren Augen, und sie klappte das Buch wieder zu.
Dieser Fremde ging ihr einfach nicht aus dem Sinn. Ach, was nützte es, noch irgendeinen Gedanken an ihn zu verschwenden. Sie würde ihn bestimmt nie mehr wiedersehen. New York war keine Kleinstadt, in der man sich an jeder Ecke über den Weg lief.
An der nächsten Haltestelle stieg ein ganzer Schwung Fahrgäste aus und der Platz ihr gegenüber wurde frei.
Kräftige Beine in einer schwarzen Hose schritten durch den Gang. Tessa sah auf und erstarrte, als sie den Fremden erkannte, der auf den freien Platz zusteuerte. Das Buch entglitt ihren Händen und polterte auf den Boden, direkt vor seine Füße. Sie ärgerte sich über ihre Ungeschicklichkeit.
Er bückte sich und reichte es ihr. Aus der Nähe wirkte er noch beeindruckender.
«Danke», sagte sie mit heiserer Stimme. Er lächelte freundlich. Für ihren Geschmack nach der Begegnung am Gleis zu freundlich. Wie ein Wolf im Schafspelz.
«Gern geschehen.» Die tiefe, samtige Stimme brachte sie wie eine Stimmgabel zum Vibrieren. Genau so hatte sie sich diese vorgestellt. Sie passte zu ihm.
Als er sich setzte und sein Knie dabei gegen das ihre stieß, schnellte ihr Puls in die Höhe. Bestimmt nur, weil sie es grundsätzlich nicht mochte, von einem Fremden berührt zu werden, selbst wenn er noch so attraktiv war. Zugegeben, er war sexy, und in seinem Blick lag etwas Wildes, was manche Frau schwach werden ließe. Aber nicht sie. Männer seines Schlages brachten nur Unruhe in ein geordnetes Leben.
Dennoch ertappte sie sich dabei, wie sie sein Profil betrachtete. Er besaß seidig schimmernde, schwarze Wimpern, um die ihn jede Frau beneidet hätte.
Der Kragen seines Hemdes war offen und entblößte an seiner rechten Halsseite eine Tätowierung, nicht größer als ein Dollarstück, ein doppeltes V, das zwei waagerechte Linien durchbrach.
Von Weitem hätte man es durchaus für ein Victory-Zeichen halten können. Nicht gerade einfallsreich.
Ihr Blick blieb ihm nicht verborgen. Als er sich ihr zuwandte, glaubte sie in seinem Blick Begehren, aber auch eine aufblitzende Warnung zu erkennen. Diesmal blieben seine Augen fest auf sie gerichtet. Sein Blick tastete sie ab wie ein Scanner, bis er auf ihren Brüsten verweilte, die sich unter ihrer weißen Bluse abzeichneten.
Heiße und kalte Wellen rollten über ihren Körper. In diesem Moment bereute sie, ihren Mantel aufgeknöpft und den Blick auf ihren Spitzen-BH freigegeben zu haben. Deutlich zeichneten sich ihre Brustwarzen unter dem seidigen Stoff ab. Sie fühlte sich nackt und zog den Mantel vor der Brust zusammen. Unruhig rutschte sie auf dem Sitz hin und her.
Tessa wurde durch seine Nähe von einer ungewohnten Leichtigkeit erfasst, als säße sie in einem Kettenkarussell. Die Luft um sie herum schien elektrisch aufgeladen zu sein. Es prickelte auf ihrer Haut, als könnte sein Blick sie tatsächlich berühren. Sie war überrascht angesichts der heftigen Gefühle, die er in ihr auslöste, und konnte sich nicht von seinem Gesicht losreißen.
Selbst bei ihrem ersten Date mit Steven hatte sie keine Schmetterlinge im Bauch gespürt. Liebe, Sehnsucht, diese romantischen Gefühlsduseleien komplizierten nur eine Beziehung. Ihr Job war anstrengend genug und beanspruchte sie voll und ganz. Da hatte sie nicht noch Lust auf einen Mann, der von ihr verlangte, nur für ihn da zu sein.
Steven verstand, wie wichtig ihr die Karriere war. Dennoch wusste er, dass er sich stets auf sie verlassen konnte, wenn er sie brauchte. Er vertraute ihr, genauso wie sie ihm. Sie hatte viel von ihm gelernt, Wissen, mit dem sie sich in ihrem Job profilieren konnte. Beständigkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen, das waren die Grundfesten jeder Beziehung und nicht leidenschaftliche Liebe oder Sex. Nicht umsonst scheiterten viele Beziehungen, wenn die Emotionen abkühlten.
Eine Frau mit einem weinenden Mädchen an der Hand und prall gefüllten Einkaufstüten zwängte sich durch den Gang. Dunkle Ringe unter ihren Augen zeugten von Erschöpfung. Vielleicht ließ das Kind sie nicht schlafen, mutmaßte Tessa. Sie empfand Mitleid mit der Frau und stand auf, um ihr ihren Platz anzubieten.
Die gleiche Idee hatte auch ihr Gegenüber, denn auch er erhob sich, trat beiseite und bedeutete der Frau, sich auf seinen Platz zu setzen. Sie nickte dankbar und nahm sein Angebot an. Das Kind stand unschlüssig im Gang und schniefte. Tessa hob es auf ihren freien Platz.
«Danke», sagte die Mutter und schenkte auch Tessa ein warmes Lächeln. Die Bahn war überfüllt, die Fahrgäste drängten sich in den Gängen.
Tessa quetschte sich durch die Reihe, um sich in der Nähe der Tür an einer Schlaufe festzuhalten. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Fremde direkt neben ihr stand und auf sie herabschaute. Sein warmer Atem streifte ihren Hals. Eine Gänsehaut kroch ihren Rücken hoch. Sie wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus.
Verdammt, sie benahm sich wie ein alberner Teenager. Langsam wurde sie wütend auf sich selbst. Wo blieb die Selbstsicherheit, die sie Männern gegenüber gewöhnlich an den Tag legte? Bleib cool, meldete sich ihre innere Stimme, du lässt doch sonst deine Gefühle draußen vor der Tür. Da wird dich doch nicht dieser Kerl irritieren.
Als sie in der Fensterscheibe sah, wie der Fremde sie angrinste, kniff sie wütend die Lippen zusammen. Der sollte sich bloß nicht einbilden, sie fände ihn attraktiv.
Die Bahn bog in einen anderen Tunnel ein und bremste unerwartet so scharf, dass Tessa mit Schwung gegen ihn flog. Als sie ihr Gleichgewicht wiederfand, presste sie ihre Hand gegen seine breite Brust, um sich von ihm wegzudrücken.
Doch ehe sie sich versah, lag sein Arm um ihre Taille, und er zog sie noch näher an sich heran. Eine gefährliche Nähe, denn die Wärme seines Körpers drang durch ihre Kleidung und hinterließ ein Prickeln auf ihrer Haut.
Tessa spürte seinen harten Körper an ihrem und war wütend auf sich selbst, weil diese Berührung ihre Sinne in Aufruhr versetzte. Sie sah zu ihm auf und sah das Verlangen in seinen Augen.
Verärgert startete sie einen neuen Versuch, sich von ihm zu lösen, aber die Bahn fuhr im selben Moment schwungvoll an und presste sie ein weiteres Mal gegen ihn. Er lachte, als sie leise fluchte.
«Keine Angst, es ist mir nicht unangenehm, im Gegenteil», raunte er ihr zu. «Lehnen Sie sich ruhig gegen mich. Sie duften übrigens wunderbar.» Er beugte sich herab und schnupperte an ihrem Hals. Ein wohliger Schauer durchrieselte sie.
«Das könnte Ihnen so passen.» Tessa schnaubte wütend. Was nahm der Kerl sich überhaupt heraus? Die anderen Fahrgäste wurden bereits auf sie aufmerksam, was ihr unangenehm war. Dieser Kerl hielt sich wohl für ein Geschenk an die Frauenwelt und zeigte sich von ihrer abweisenden Art unbeeindruckt. Das stachelte Tessas Wut nur noch mehr an.
Plötzlich fuhr seine Hand unter ihrem geöffneten Mantel wie beiläufig ihre Körperseite hinauf und berührte dabei eine Brustwarze. Ein Blitz schoss durch Tessas Körper, der mit einem verräterischen Ziehen in ihrem Schoß endete. Sie zuckte zusammen. Das Gefühl verstärkte sich noch durch die harte Wölbung in seiner Hose, die sich gegen ihren Bauch drückte. Zu ihrem Entsetzen erregte sie das. Sie musste diese seltsame Situation beenden.
«Was bilden Sie sich ein?», fauchte sie. «Lassen Sie mich los.»
Aber er grinste nur.
In diesem Augenblick lief die Bahn in Tessas Station ein. Als sie stoppte und die Türen sich automatisch öffneten, riss sie sich von ihm los und drängte sich zur Tür.
«Bye!», rief er hinter ihr her. Tessa drehte sich nicht um und stürmte aus der Bahn. Erleichtert atmete sie aus, als sie die Treppe nach oben rannte.
Tessa dachte noch immer an den Fremden in der U-Bahn, als sie durch den Eingang der Börse rauschte. Erst hatte er sie angestarrt und dann auch noch an einer intimen Stelle berührt. Flegel!
Dennoch konnte sie nicht verleugnen, welch lustvolles Gefühl sich in ihrem Körper ausgebreitet und nach mehr verlangt hatte. Unter seinem Blick waren Schauer über ihren Rücken gelaufen.
Lautes Stimmengewirr schlug ihr entgegen, als sie die Tür zum Handelsplatz aufschlug. Jetzt durfte sie keinen Gedanken mehr an den Fremden verschwenden, sondern musste sich konzentrieren, um den Angeboten und Nachfragen der Händler und Broker folgen zu können.
Es gelang ihr tatsächlich, den Fremden eine Zeit lang zu vergessen. Bis zum Nachmittag schwirrte es in ihrem Kopf, ausgelöst durch die ständig wechselnden Aktienkurse, die sie notierte und an andere Händler weitergab. Nebenbei verfolgte sie, so gut es ging, das Laufband mit den aktuellen Meldungen. Sie lächelte und ballte triumphierend die Faust, als sie las, dass sich Stevens Firmenaktien überaus gut verkauften. Tessa war stolz auf ihn und seinen Erfolg.
Erst am frühen Abend verließ sie das Gebäude, zufrieden über die erfolgreich abgewickelten Geschäfte, aber hundemüde. Sie ertappte sich dabei, wie sie unter den Passanten nach dem attraktiven Fremden suchte. Doch sie konnte ihn nirgends entdecken.
Ihre Stimme war vom vielen Reden ganz heiser und ihre Füße geschwollen. Am liebsten wäre sie jetzt nach Hause gefahren, um eine heiße Dusche zu genießen. Anschließend könnte sie bei einem Glas Wein und ihrer Lieblingsmusik auf der Couch den Abend genießen. Ein perfekter Ausklang für einen stressigen Arbeitstag.
Doch leider stand heute Abend das Dinner in Stevens Firma an. Delikates Essen und Small Talk.
Plötzlich klingelte ihr Handy in der Manteltasche. Neugierig zog sie es heraus und schaute aufs Display. Es war Hazel, ihre beste Freundin.
«Hi, meine Liebe, wo steckst du gerade?» Hazel klang aufgekratzt, als befände sie sich auf dem Weg zu einer Party oder als hätte sie einen tollen Typ kennengelernt.
Tessa war froh, dass ihre Freundin in letzter Zeit unbeschwert und glücklich wirkte, denn die langwierige Scheidung von Simon im vergangenen Jahr hatte sie mitgenommen. «Komme gerade von der Wall Street und will jetzt zu Steven. Wieso?»
«Ach, schade. Weil ich dich fragen wollte, ob du Lust hast, heute Abend mit mir zu einer Séance zu gehen.»
Tessa glaubte im ersten Moment sich verhört zu haben, denn ihre beste Freundin hatte eigentlich nichts übrig für irgendwelche okkulten Themen. Da konnte doch nur ein Mann dahinterstecken.
«Willst du mich veräppeln? Rück schon raus, wie heißt er?»
«Wer?», kam die Gegenfrage von Hazel.
«Na, der Typ, mit dem du zur Séance gehen willst.»
«Ich gehe dieses Mal allein. Oder mit dir.»
«Nee, ich gewiss nicht. Heute findet doch Stevens Dinnerparty statt. Außerdem halte ich von diesem Hokuspokus nichts. Ich kann nicht verstehen, dass du da hingehen willst.»
«Schade. Bin halt neugierig. Eine Kollegin war ganz begeistert. Ihre Oma hat bei der Sitzung angeblich mit ihr geredet. Ich wollte es nicht glauben. Da hat sie mich eingeladen, um es zu beweisen. Leider kann sie heute auch nicht.»
Tessa konnte es sich nicht erklären, aber sie verspürte plötzlich ein ungutes Gefühl dabei, dass Hazel diese Séance besuchen wollte.
«Ich weiß nicht, ob du das machen solltest …», wandte sie ein.
«Ach, wird bestimmt lustig. Und es lenkt mich ein wenig ab. Vielleicht brauche ich dann mal keine Schmerztablette zu nehmen.» Hazel seufzte in den Hörer.
Hazels Migräne hatte mit der Trennung von Simon begonnen. Zwar liebte sie ihn noch immer, aber das Zusammenleben mit diesem eifersüchtigen Despoten war die Hölle gewesen. Der drehte vor Eifersucht jedes Mal völlig durch, wenn sie einen anderen Mann auch nur anlächelte.
Natürlich begrüßte es Tessa, wenn ihre Freundin als Single nicht nur zu Hause herumhockte, sondern unter Leute ging. Aber ob eine Séance sich dafür eignete, bezweifelte sie.
«Oder du kannst dann gar nicht mehr schlafen, weil du dich gruselst, und bekommst neue Migräneattacken. Ich halte das für keine gute Idee.»
«Ach, Quatsch. Ich werde dir dann berichten. Vielleicht unternehmen wir in den nächsten Tagen was anderes zusammen. Viel Spaß heute Abend. Ich ruf dich an.»
«Okay, aber versprich mir, dass du gehst, bevor es dir graust.»
Hazel kicherte.
«Ja, ja, keine Sorge. Du kennst mich doch. Ich fürchte mich nicht. Und wenn, vielleicht finde ich ja den passenden Beschützer? Oder ich kann Simon die Geister auf den Hals hetzen. Nein, im Ernst, bin nur neugierig, was da so alles abgeht. Also, bis dann, meine Liebe.»
«Okay, ich warte auf deinen Anruf.»
Während des Telefonats hatte Tessa kurz überlegt, ob sie Hazel von der Begegnung mit dem attraktiven Fremden erzählen sollte, dann aber den Gedanken wieder verworfen, weil sie befürchtete, sie könnte sie damit aufziehen.
Tessa steckte das Handy wieder ein und winkte nach einem Taxi.
Nathanael verfolgte den Dämon schon eine Weile, bis er am Ende der Straße um die Ecke bog. Dieses Mal würde er sich nicht von ihm abschütteln lassen. Was hatte der bloß in dem leeren Wohnblock vorhin gesucht? Wenn er den zu fassen bekam, würde er ihm die gewünschten Informationen aus seinem Schlund pressen und ihn umgehend in die Hölle zurückbefördern. Die besondere Fähigkeit dieses Dämons, seine Gestalt zu wandeln und mit seiner Umgebung zu verschmelzen, machte die Sache leider nicht einfacher.
Nathanael beobachtete, wie er vor ihm auf das nächste Haus sprang. Mühelos setzte er nach und jagte ihn über die Dächer New Yorks. Es wehte ein eisiger Wind, der das Geheul von Polizeisirenen herauftrug. Der Dämon lief an der Dachkante weiter und hechtete mit einem gewaltigen Satz aufs nächste Haus. Wenn der dachte, ihm damit zu entgehen, hatte er sich gewaltig geschnitten.
Zornig ballte Nathanael die Hände zu Fäusten, bevor auch er sich aufs nächste Dach katapultierte. Er stoppte, als der Dämon aus seinem Blickfeld verschwand. Verdammt! Wo war er geblieben? Nathanael drehte sich im Kreis und suchte jeden Winkel, jede Kontur des Daches ab. Dieser Dämon konnte wie ein Chamäleon jedes Muster und jede Farbe seiner Umgebung annehmen.
War da nicht eben eine Bewegung zwischen den Kaminen gewesen? Langsam näherte er sich den metallenen Abzügen. Aber da waren nur Tauben, die gurrend auf dem Dach spazierten und ihn misstrauisch beäugten. Eilige Schritte erklangen hinter ihm. Sofort wirbelte er herum und rannte zur anderen Seite des Hochhauses. Aber er konnte den Dämon nicht sehen und blickte in die Tiefe.
Unter ihm befand sich ein von Unrat übersäter Innenhof, aus dem es nach Urin, Abfällen und Rattenkot stank. Nathanael verzog angewidert das Gesicht. Langsam zog er das Messer mit der Sichelklinge aus der Scheide unter seiner Jacke hervor. Diese Waffe aus der Engelsschmiede war die wirkungsvollste gegen Dämonen. Ein präziser Wurf genügte, um einer dieser Kreaturen den Kopf vom Rumpf zu trennen.
Er ließ sich lautlos in den Innenhof gleiten und verbarg sich in einer Mauernische. Das Messer fest umklammert wartete er auf ein verräterisches Zeichen des Dämons, um zuzuschlagen. Nichts regte sich, und er glaubte schon, sich geirrt zu haben.
Plötzlich hörte er über sich kräftige Flügelschläge. Instinktiv drückte er sich fester gegen die Mauer. Eine geflügelte Gestalt befand sich im Sinkflug. Nathanael wagte nicht zu atmen. Die schwarzen Schwingen berührten fast sein Gesicht. Nicht nur sein Herz schlug Takte schneller, auch seine Muskeln spannten sich an. Ein Gefallener? Hier? Er konnte es nicht fassen. Seit über tausend Jahren hatte keiner mehr die Erde betreten. Das Gleichgewicht der Mächte musste sich verschoben haben. Warum wusste er dann nichts davon?
Nathanael spürte ein Beben unter seinen Füßen, das ihn beunruhigte. Er neigte leicht den Kopf nach vorn und erkannte, dass der Boden aufriss und einen feuerroten Schlund offenbarte. Schwefeldämpfe stiegen aus der Spalte und erweckten mit dem fauligen Geruch Übelkeit. Hier befand sich ein Höllentor! Aus der Nähe hatte er noch keines gesehen.
Der Dämon sprang aus dem Mauerschatten und stürzte sich mit wildem Gekreische in den roten Abgrund. Flammen loderten empor, begleitet von gelben Schwefelwolken. Der Gefallene eilte seinem Dämon hinterher, ohne dass Nathanael ihn erkennen konnte. Kaum waren die beiden im Untergrund verschwunden, verschloss sich die Oberfläche. Zurück blieb eine Wulst im Boden, die auch von einem Erdbeben oder Bauarbeiten stammen könnte. Nathanael stieß einen derben Fluch aus. Wieder war ihm der Dämon entwischt.
Wütend trat er gegen eine Mülltonne, die mit lautem Scheppern umkippte. Der stinkende Unrat verteilte sich auf dem Pflaster des Innenhofs. Ratten huschten aufgeschreckt an der Mauer entlang. Er hasste diese stinkenden Viecher. Wegen ihnen war ihm der Dämon in der Kanalisation letzte Woche schon einmal entkommen, als sie sich in seinem Bein verbissen hatten.
Heute trug die Rothaarige mit ihrer sinnlichen Ausstrahlung die Schuld daran, dass der Dämon ihm erneut entwischt war. Unter allen Wartenden in der U-Bahn war sie ihm sofort aufgefallen. Sie besaß eine Ausstrahlung, der er sich nicht entziehen konnte. Er hatte den Dämon laufen lassen, weil er ihr sogar in die U-Bahn gefolgt war, um sie aus der Nähe zu betrachten. Und es hatte sich gelohnt. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er an ihre rosigen Brustwarzen dachte, die sich unter dem dünnen Blusenstoff abgezeichnet hatten.
Nathanael war sich seiner Wirkung auf Frauen bewusst und hatte ein gewisses Gespür dafür entwickelt, ob sein Interesse erwidert wurde. Die Rothaarige war interessiert, sonst hätte sie sich eher aus seiner Umarmung befreit. Das Funkeln in ihren Augen und die harten Brustwarzen nach seiner Berührung waren ihm nicht entgangen. Aber auch er hatte gespürt, wie das Blut in seine Lenden geschossen war und sein Glied sich aufgerichtet hatte. Die Versuchung, sie zu küssen, war groß gewesen. Er hätte es getan, wenn die Bahn nicht angehalten und sie ihm davongerannt wäre.
Das heftige, aufflammende Begehren, das er in ihrer Gegenwart verspürt hatte, irritierte ihn. Das hatte er nach Gina nicht mehr in dieser Intensität empfunden. Nach dem Tod seiner Freundin hatte er nicht gerade wie ein Mönch gelebt, aber er hatte geschworen, sich nie mehr zu verlieben. Das Leben an seiner Seite war für eine Frau gefährlich, wie er schmerzlich hatte erfahren müssen.
Gina war durch seine Schuld gestorben. Das würde er sich nie verzeihen.
Er schloss die Augen und versuchte, sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen, aber es verschwamm. Stattdessen formte sich ein anderes, schmales, umrahmt von roten Haaren.
Verdammt! Diese Frau ging ihm einfach nicht aus dem Kopf! Wie würde sich ihre Haut unter seinen Fingern anfühlen? Ihre Brüste? Um das herauszufinden, würde er sich ins Zeug legen müssen, denn er spürte, dass sie nicht die Art Frau war, die sich leicht erobern ließ. Aber er vertraute voll und ganz seiner Erfahrung. Bislang war es ihm immer gelungen, jede Frau zu bekommen, die er begehrte. Nathanael lächelte bei der Vorstellung, sie bald in seinen Armen zu halten.
«Deine Liebschaften werden dich eines Tages noch den Kopf kosten», klangen die Worte seines Vaters in ihm nach.
Das mochte sein, aber Sex ließ ihn für eine Weile den Schmerz wegen Ginas Tod vergessen. Und bis jetzt hatte noch kein Auftrag unter seinen kleinen Eskapaden gelitten. Bis jetzt. Alles in ihm schrie danach, Tessa bald wiederzusehen.
Wenig später schlenderte er auf dem Weg zu seiner Wohnung die düstere Hafenstraße entlang. Wie alle Mischwesen wohnte er im Engelsghetto, das aus einem Wohnblock und der Hell’s Bar, dem geheimen Treffpunkt der Blutengel und Propheten in New York, bestand.
Ein eisiger Wind pfiff durch die verwaiste Straße, die durch die hohen Lagerhallen zu beiden Seiten wie eine Schlucht wirkte. Schwarze Wolkenschleier fegten über den Himmel und verhüllten das Sternenlicht. Er stellte den Kragen seiner Jacke auf und vergrub die Hände tief in den Taschen. Die Straßenbeleuchtung war ausgefallen, es war stockfinster. Aber er verfügte über die Fähigkeit, auch in der Dunkelheit zu sehen. Selbst den Staub eines Dämons konnte er erkennen. Er schnitt eine Grimasse, als er an das Fiasko von vorhin dachte.
Er blieb stehen, als er einen Luftzug vor sich wahrnahm, und zog das Flammenschwert aus der Scheide zwischen seinen Schulterblättern. Jeder Muskel seines Körpers war gespannt, bereit für einen eventuellen Kampf. Sein Blick suchte nach einer Kontur in der Dunkelheit. Eine Bewegung neben ihm ließ ihn herumfahren.
Verblüfft starrte er seinen Vater an, der mit seiner fluoreszierenden Aura das Dunkel erhellte. Ganz in Gedanken versunken hatte er sein Kommen nicht gespürt.
Es kam nur selten vor, dass sein Vater ihn aufsuchte, meistens aus einem unangenehmen Grund. Nathanael ahnte, weshalb er hier war. Er schob seine Waffe zurück in die Scheide.
Sein Vater, Erzengel Michael, trug einen schwarzen, eng anliegenden Anzug, der seinen muskulösen Körper zur Geltung brachte. Seine Flügel verbarg er genau wie Nathanael auch zwischen den Schulterblättern, unter zwei roten Streifen in der Haut, die man auf den ersten Blick für Narben halten konnte. Es bedurfte großer Konzentration, die Flügel zum Einsatz zu bringen.
Nathanael verzichtete meist darauf, sie zu nutzen. Es raubte viel Energie und dauerte zu lange, bis Haut und Fleisch an der Stelle, wo die Schwingen ausbrachen, wieder verheilt waren. Er brauchte Tage, um sich davon zu erholen.
Blondes Haar fiel auf Michaels breite Schultern. Sein kantiges Gesicht schien wie aus Granit gemeißelt. Der bohrende Blick war der eines Kriegers, unter dem sich Nathanael als Kind unwohl gefühlt hatte. Heute empfand er nur noch Verachtung für den Erzengel.
Michael hatte Gina sterben lassen, obwohl Erzengel Heilkräfte besaßen, die es ihnen ermöglichten, einen Menschen aus dem Totenreich ins Leben zurückzurufen. In seiner Verzweiflung hatte er damals seinen Vater angefleht, Gina zu retten, als sie sterbend in seinen Armen lag. Aber Michael hatte nur den Kopf geschüttelt und zugesehen, wie das Leben mit jedem Atemzug aus ihrem Körper wich, bevor er wortlos gegangen war. Das konnte er nicht verzeihen. Niemals!
Genauso wenig wie er ihn mit «Vater» anreden könnte. Wie hatte er auch nur einen Moment daran glauben können, Michael würde sich einem Menschen gegenüber gnädig zeigen, wenn er nicht mal für seinen Sohn einen Funken Liebe empfand?
Solange Nathanael noch ein Kind war, hatte Michael sich nicht für ihn interessiert. Erst als er dreizehn Jahre alt geworden war, erinnerte der Erzengel sich daran, einen Sohn zu besitzen.
Gegen den Willen seiner Mutter nahm Michael ihn mit nach Rom, um sich seiner Erziehung zu widmen und ihn dort fern von allen, die er kannte und liebte, auf seine künftigen Aufgaben vorzubereiten. Nur selten konnte Nathanael seine Mutter besuchen.
Erst nach ihrem Tod kehrte er nach New York zurück und lernte Gina kennen. Der Beginn ihrer Beziehung stand unter keinem guten Stern, denn Gina wurde von den Nephilim, den Kindern Gefallener, verfolgt. Ausgerechnet den Sohn des gefallenen Engels Leviathan hatte sie in Notwehr erschossen, als er sie vergewaltigen wollte. Leviathan, der Günstling Luzifers, sandte seine Dämonen aus, um Gina zu töten. Nathanael konnte sie vor den Angriffen beschützen – bis zu jenem verhängnisvollen Tag.
Michael bewegte sich mit der Kraft und Geschmeidigkeit eines Raubtiers auf ihn zu. Der goldene Schwertknauf seines Flammenschwertes, das er stets bei sich führte, ragte hinter seiner linken Schulter hervor. Seine tiefe Stimme holte Nathanael in die Gegenwart zurück.
«Ich hatte dir doch einen Auftrag erteilt.» Der sanfte Tonfall hätte jeden getäuscht außer Nathanael. Er kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass er ihn hart bestrafen würde, wenn er den Auftrag nicht erfüllte.
Die Frist war bereits vor einem Monat abgelaufen. Die anfangs simpel erscheinende Aufgabe, über die er gelacht hatte, war zu einer echten Herausforderung mutiert. Das Lachen war ihm schon lange vergangen.
Nathanael hasste es zu versagen.
«Ich brauche mehr Zeit.»
Michaels Miene versteinerte angesichts seiner Forderung. «Noch immer renitent. Ich kann dir keinen Aufschub gewähren. Luzifer hat einen neuen Seelenpakt mit einem Irdischen geschlossen. Deshalb ist ein Gefallener hier. Er hat neue Dämonen erschaffen und mehr Verbündete unter den Irdischen, als du dir vorstellen kannst.»
«Das habe ich befürchtet.» Knapp und sachlich umriss Nathanael das Geschehen von vorhin.
Michael schnaubte, seine Miene verfinsterte sich.
«Das bestätigt nur, wie dringend du deine Aufgabe erfüllen musst. Die Macht Luzifers wächst, wenn wir den Gefallenen nicht stoppen. Immer mehr Seelen werden ihm zum Opfer fallen. Unter meinem Gefolge ist Unruhe ausgebrochen. Es ist zu befürchten, dass noch einer überläuft. Ich muss die Pforten bewachen. Du bist von meinem Blut. Vernichte den Gefallenen und seine Dämonen. Erweise dich als Blutengel würdig. Enttäusche mich nicht, mein Sohn.»
Michael unterstrich seine Worte mit einer entschiedenen Geste, die keinen Zweifel darüber ließ, dass er keinen Widerspruch duldete. Er beugte sich vor und sah Nathanael mit strengem Blick an. Nathanael wusste, sein Vater forderte jetzt von ihm das Versprechen.
«Ich werde dich nicht enttäuschen, Michael.»
Nach seinen Worten entspannte sich die Miene des Erzengels.
«Möge der Herr mit dir sein und dir Kraft spenden.» Er hob den Arm. Aus seiner Handfläche trat ein gleißender Lichtstrahl, der Nathanael wie eine dünne Membran umhüllte.
Der Blutengel spürte, wie die Energie seines Vaters überall in seinen Körper drang und sich in warmen Wellen ausbreitete. Das Blut begann in seinen Adern zu pulsieren. Mit jedem Herzschlag fühlte er sich stärker. Die energetische Kraft drang aus seinen Händen und Füßen und ließ ihn eine Handbreit über dem Erdboden schweben. Ein Gefühl von Stärke und Macht durchströmte ihn, die Droge der Unbesiegbarkeit. Durch die zugeführte Energie würde sein Körper schneller regenerieren und weniger ermüden. Seine Muskeln strotzten vor Kraft und er fühlte sich stärker denn je.
Als Michael seine Hand schloss, erlosch der Lichtstrahl. Langsam ließ Nathanael sich wieder zu Boden gleiten.
Der Erzengel trat zurück. Seine Miene verzerrte sich. Er senkte den Kopf, als seine Flügel Haut und Anzug durchdrangen und sich wie bei einem frisch geschlüpften Schmetterling entfalteten.
Nathanael betrachtete die weißen Schwingen, auf denen ein silbriger Glanz lag. Er legte seine rechte Hand aufs Herz und neigte respektvoll den Kopf, so wie er es gelernt hatte und es von ihm erwartet wurde. Doch immer, wenn er seinem Vater begegnete, wurde er an Ginas Tod erinnert. Jedes Mal wallte der Zorn erneut in ihm auf.
Der Erzengel schlug mit den Flügeln, stieg in die Luft und verschwand schließlich im Dunkel der Nacht.
Nathanael sah ihm lange nach.
Die Stelle, wo sein Vater eben noch gestanden hatte, glitzerte vom silbrigen Staub seiner Schwingen.
Er verfluchte sein Schicksal, das ihn dazu zwang, sich den himmlischen Mächten und Gesetzen zu unterwerfen. Es war das Leben eines Sklaven, das er führte, geboren, um Dämonen und Gefallene in die Hölle zurückzuschicken. Und wenn er sich widersetzte oder versagte, würde er entweder das Leben eines Geächteten führen oder ein Diener Luzifers werden. Es war ein gefährlicher Job, bei dem er Kopf und Kragen riskierte und der ihm keine Anerkennung zuteilwerden ließ. Wer hätte mit einem Blutengel tauschen wollen? Dennoch hatte er nie gegen sein Schicksal aufbegehrt, noch an seiner Bestimmung gezweifelt, bis zu Ginas Tod.
Vergebung, Nächstenliebe und Gnade – alles nur leeres Geschwätz.
Steven genoss es sichtlich, der Mittelpunkt des Abends zu sein, und schlenderte lächelnd zwischen den zahlreichen Gästen umher, schüttelte unzählige Hände und wechselte mit jedem ein paar belanglose Worte. Dieser Small Talk ging Tessa mit der Zeit auf die Nerven. Es war wie verhext, immer wenn sie glaubte, sie hätte ihn einen Moment für sich allein, um ihm zu sagen, wie stolz sie auf ihn war, stand ein neuer Gratulant vor ihnen und beanspruchte Stevens Aufmerksamkeit. Am liebsten hätte sie sich zurückgezogen, aber als Lebensgefährtin des erfolgreichen Steven Greenberg war ihr Platz an seiner Seite.
Ihr brummte der Schädel vom Stimmengewirr. Noch vor wenigen Tagen hatte sie diesem Abend entgegengefiebert, um Steven und all den anderen zu beweisen, dass sie nicht nur eine talentierte Bankerin war, sondern auch eine perfekte Gastgeberin. Und jetzt das!
Ausgerechnet heute musste sie erfahren, wie anstrengend es sein konnte, mit einem Dauerlächeln jedem der Gäste genügend Aufmerksamkeit zu schenken, auch wenn sie die Gespräche langweilten. Meistens drehte sich alles nur um Klatsch und Tratsch, wer sich gerade scheiden ließ, seinen Partner betrog, oder um irgendwelche Wohltätigkeitsveranstaltungen von Promis. Daran musste sie sich wohl an Stevens Seite gewöhnen. In solchen Momenten zweifelte sie daran, ob sie dieses Leben auf Dauer glücklich machen konnte.
Die Luft im Saal wurde immer heißer und stickiger, das Stimmengewirr schwoll an und verursachte ihr Kopfschmerzen. Tessa war todmüde, ihre Füße schmerzten vom langen Stehen. Ständig musste sie sich mit den Fingern die Schweißperlen von der Stirn tupfen.
«Senator Davis, ich danke Ihnen für Ihre Glückwünsche.» Steven schüttelte die Hand eines kleinen, untersetzten Mannes im weißen Smoking, den Tessa nur aus der Presse kannte. Der Senator befragte Steven nach der Versuchsreihe des neu entwickelten Migränemedikaments. «Alles bestens, Senator. Keinerlei Nebenwirkungen.»
Steven berichtete ausführlich von seinen Gesprächen mit den Behörden. Tessa hörte nicht mehr zu und unterdrückte ein Gähnen. Steven warf ihr einen warnenden Blick zu.
«Wenn du mich entschuldigst, Steven, ich werde mal nachsehen, ob das Buffet aufgefüllt werden muss», sagte sie und war heilfroh, diesem langweiligen Gespräch zu entkommen.
«Ja, ja, mach das, Darling», pflichtete er ihr hastig bei, bevor er sich wieder in das Gespräch mit dem Senator vertiefte. Tessa verspürte nur noch den Wunsch, dem Stimmengewirr und der schlechten Raumluft zu entgehen. Sie zwängte sich in Richtung Ausgang durch eine Flut neu hereinströmender Gratulanten und wurde regelrecht eingekeilt, sodass sie weder einen Schritt vor noch zurück konnte. Und das bei ihrer Platzangst!
Schweiß brach ihr aus allen Poren, ihre Hände begannen zu zittern und ihr Herz raste. Raus hier, bloß raus hier, hämmerte es in ihrem Kopf. Tessa wusste nicht mehr, wie oft sie ‹Excuse me› gesagt und ihre Ellbogen eingesetzt hatte, bis sie dem Pulk entkommen war. Als sie den Ausgang sah, atmete sie erleichtert auf.
Draußen im Flur war es bedeutend kühler und die Stimmen hinter ihr klangen nur noch wie das Summen eines Bienenschwarms. Eine Weile suchte sie vergeblich vor der Tür nach einer Sitzgelegenheit. Als ihre Waden krampften, lief sie auf die Fahrstühle zu. Sie brauchte jetzt einen Kaffee und einen Stuhl.
Wenig später trat sie aus dem Lift und stand im Atrium des Gebäudes, das exklusive Geschäfte und Cafés beherbergte. Auch hier war es nicht menschenleer, doch im Gegensatz zu Stevens Party waren die Stimmen gedämpfter und die Luft durch die künstlichen Wasserfälle, die von den Wänden plätscherten, angenehm kühl. In der nächsten halben Stunde würde Steven sie mit Sicherheit nicht vermissen. Nur für eine Weile abschalten und die Beine ausruhen, bevor sie wieder nach oben fuhr.
Tessa lief auf das orientalische Café zu, das sie von zahlreichen Besuchen kannte, wenn sie hier im Tower auf Steven gewartet hatte. Seufzend sank sie auf einen der Stühle und bestellte sich einen Cappuccino.
Während sie trank, beobachtete sie die Liebespaare, die eng umschlungen an ihr vorüberschlenderten. Sie wirkten alle so glücklich, dass es ihr einen Stich versetzte. In letzter Zeit waren die Stunden trauter Zweisamkeit mit Steven immer seltener geworden. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann sie gemeinsam in einem Café in Ruhe eine Tasse Kaffee getrunken hatten. Doch sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ, als sie Steven bei seinen Plänen unterstützte, und konnte sich nicht beklagen. Der Verzicht auf ein Privatleben war der Preis, den sie für das Verwirklichen ihrer Ziele zahlen musste. So war das Business.
Ein hochgewachsener Mann vor dem gegenüberliegenden Laden weckte ihre Aufmerksamkeit. Tessa erstarrte. Es war der gut aussehende Fremde aus der U-Bahn, der lässig einen Finger durch den Aufhänger seiner Lederjacke gesteckt hatte, die über seiner Schulter hing. Unwillkürlich ließ sie den Blick über seine muskulöse Figur gleiten.
Bei der Erinnerung an die kräftigen Arme, die sie gehalten hatten, schnellte ihr Puls nach oben. Wie nah sie seinem Körper gewesen war, so nah, dass sie seine Erektion gespürt hatte. Allein das bewirkte abwechselnd heiße und kalte Schauer, die ihr über den Rücken liefen.
Dazu fiel ihr Hazels flapsiger Spruch in einer solchen Situation ein: «Ein Sahneschnittchen wie den würde ich nicht von der Bettkante stoßen.» Wenn sie ihm allein auf einer Party begegnet wäre, hätte sie vielleicht eine Nacht mit ihm verbracht. Himmel! Wie konnte sie auch nur einen Gedanken daran verschwenden, mit einem Wildfremden Sex zu haben?
Sie sah, wie er den Kopf neigte und zu jemandem sprach, den er mit seinem Körper verdeckte. Tessa lehnte sich ein Stück zur Seite, um zu erkennen, wem seine Aufmerksamkeit galt. Alles, was sie erhaschte, war ein Blick auf schmale Finger mit pink lackierten Nägeln, die sich auf seinen Arm legten, und ein brünetter Zopf.
War ja klar, ein Mann mit diesem Aussehen und der sinnlichen Ausstrahlung zog Frauen wie ein Magnet an. Die Brünette trat hinter ihm hervor und lächelte ihn kokett an, während sie mit einer aufreizenden Geste wie zufällig ihren Zopf über die Schulter gleiten ließ. Sie war Tessa auf Anhieb unsympathisch.
Du bist nur eifersüchtig, Tessa McNaught, meldete sich eine Stimme in ihr, die sie zu ignorieren versuchte. Es war sowieso Zeit, wieder nach oben zu fahren. Dort oben war ihr Platz, an Stevens Seite. Was ging sie der Kerl an?
Hastig trank sie den letzten Schluck Kaffee, bevor sie nach dem Kellner rief. Sie zückte ihr Portemonnaie und schob ihm über den Tisch eine Fünfdollarnote zu. Als sie danach wieder zum Laden gegenüber sah, waren der Fremde und seine Begleiterin verschwunden. Da hatte er für heute Abend also ein williges Opfer gefunden, dachte sie bissig. Aber diese Erkenntnis besaß einen bitteren Beigeschmack.
Was bist du enttäuscht? Hast du geglaubt, er würde dich an ihrer Stelle mitnehmen?
Wütend auf sich selbst steuerte Tessa auf die Aufzüge zu. Dabei warf sie einen flüchtigen Blick über die Schulter zurück und übersah prompt den Mann, der mit einer vollen Einkaufstüte um die Ecke gehastet kam. Als sie zusammenprallten, zerriss die Einkaufstüte, aus der eine Flasche Alkohol fiel und vor ihren Füßen mit einem Knall zersplitterte.
Erschrocken trat Tessa einen Schritt beiseite und glitt in der Wodkapfütze aus. Die Katastrophe des Abends! Unerwartet umfassten kräftige Hände ihre Ellbogen und fingen den Sturz ab.
«Haben Sie keine Augen im Kopf?» Der Mann mit der Einkaufstüte warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
«Das Gleiche könnte man von Ihnen auch behaupten.» Das Timbre der männlichen Stimme klang trotz des barschen Tonfalls unglaublich sexy. Schon wieder der Fremde aus der U-Bahn. Tessa wagte nicht, sich umzudrehen, sondern heftete den Blick auf ihr Gegenüber, das wutschnaubend nach einem Reinigungsdienst rief.
Als ein Mann in Security-Uniform nahte, wurde ihr bewusst, dass sie noch immer hier stand und der Fremde sie festhielt. Ihre Haut brannte unter seiner Berührung.
«Danke, dass Sie mich aufgefangen haben. Sie können mich jetzt wieder loslassen.»
Mein Gott, ihre Stimme klang fremd und heiser, als steckte ein Kloß in ihrem Schlund. Als sein warmer Atem ihren Hals streifte, stellten sich ihr die Härchen im Nacken auf. Der Fremde dachte nicht daran, sie loszulassen, sondern drehte sie um.
Unter seinem begehrlichen Blick fühlten sich ihre Beine wie Gummi an und in ihrem Magen schien ein ganzer Schmetterlingsschwarm zu flattern. Aber sie gönnte ihm nicht die Gewissheit, welche Wirkung er auf sie besaß, und setzte eine freundlich distanzierte Miene auf. Sie würde sich genauso cool geben wie in der Metro. Cool?
Widerwillig gestand sie sich ein, dass sie neulich keineswegs kühl gewesen war und auch heute nicht die Lage beherrschte. Vielmehr brodelte in ihr ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Obwohl er sie nur ansah und am Ellbogen berührte, glaubte sie, seine Hände überall heiß und verlangend auf ihrem Körper zu spüren. Drehte sie jetzt durch?
«Und wenn ich das nicht will?»
Eigentlich hätte sie mit dieser provokanten Gegenfrage rechnen können, aber seine Dreistigkeit ließ sie dennoch wütend werden. Sie ärgerte sich, weil er sie verunsicherte.
«Ich bin Ihnen sehr dankbar, aber nun lassen Sie mich bitte los. Ich muss zu einem wichtigen Termin.» Tessa senkte den Blick und wand sich aus seinem Griff. Doch er packte erneut ihren Arm und trat dicht hinter sie.
«Wichtiger als ich?», raunte er ihr ins Ohr.
Sein warmer Atem kitzelte auf ihrer bloßen Haut und die Sinnlichkeit in seiner Stimme drang bis zu ihrem Innersten vor, süß und düster wie Satans Stimme. Himmel, jetzt verlor sie sich in irgendwelchen Metaphern, dabei war dieser Kerl einfach nur selbstherrlich und unverschämt. Ihrem Körper schien das allerdings völlig egal zu sein. Tessa stöhnte innerlich auf.
«Sie bilden sich wohl ein, mit diesen Sprüchen bei jeder Frau landen zu können», erwiderte sie, wehrte seine Hand ab und streckte den Arm nach dem Fahrstuhlknopf aus.
Er stützte seinen Arm neben ihrem Kopf an der marmorierten Wand ab. Tessa wandte sich empört zu ihm um.
Er grinste anzüglich. «Vielleicht.»
Sein Gesicht kam ihrem gefährlich nah. Seltsam, seine Züge wirkten vertraut, als würde sie ihn schon lange kennen. Was kamen ihr nur für Gedanken in den Sinn?
Tessa war es nicht möglich, den Blick abzuwenden. Sie starrte auf seine vollen, geschwungenen Lippen, die sich zu diesem unwiderstehlichen Lächeln kräuselten, das sich seit der Metro in ihr Hirn gebrannt hatte. Fast hätte sie mit dem Finger sein Kinngrübchen berührt.
Sie leckte nervös mit der Zunge über ihre spröden Lippen, was er als Einladung zu einem Kuss zu interpretieren schien, denn er beugte sich vor und spitzte die Lippen. Reglos stand Tessa da und wurde erst aus ihrer Erstarrung gerissen, als sich hinter ihr mit einem Klingelton die Aufzugtüren öffneten.
Sie stolperte rückwärts in den Aufzug und drückte hastig auf den Knopf, um die Türen zu schließen. Wider Erwarten machte er keine Anstalten, ihr zu folgen. Ohne dass sie es gewollt hätte, enttäuschte es sie, dass er so schnell aufgab. Mit einem Summen begannen die Türen sich zu schließen. Ein unergründlicher, aber warmer Ausdruck lag in seinen Augen, der sie mehr berührte, als ihr lieb war.
«Du kannst vor mir, aber nicht vor deinen Gefühlen davonlaufen», flüsterte er.
Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als die Türen sich schlossen und der Aufzug sich in Bewegung setzte. Nathanaels Worte klangen in ihr nach.
Du kannst nicht vor deinen Gefühlen davonlaufen.
Mit seinen Worten hatte er ins Schwarze getroffen. Ja, sie lief vor ihm und ihren Gefühlen davon. Ihr Leben war geordnet, und das war gut so. Vor allem wollte sie nicht, dass sich jemand in ihre Beziehung mit Steven drängte.
Tessa lehnte sich an die Wand und verfolgte die Stockwerksanzeige in der Hoffnung, sich durch Ablenkung zu beruhigen. Aber ihr Puls raste noch immer.
Außer ihr befand sich noch ein Pärchen mittleren Alters im Aufzug, das sie neugierig musterte. Befanden sie sich etwa auf dem Weg zu Stevens Feier? Nicht auszudenken, wenn die beiden Steven kannten und ihm erzählen würden, was eben geschehen war.
Sie heftete den Blick fest auf ihre Schuhspitzen. Hoffentlich sah man ihr nicht an, wie aufgewühlt sie war. Was wäre geschehen, wenn er ihr in den Lift gefolgt wäre? Es war besser, nicht darüber nachzudenken. Er besaß eine Anziehungskraft, der sie offensichtlich nur schwer widerstehen konnte.
Der Aufzug hielt und das Pärchen stieg aus. Tessa atmete erleichtert auf, weil die beiden nicht zu Stevens Gästen gehörten. Der Aufzug hielt im nächsten Stockwerk, und ehe sie protestieren konnte, trat der Fremde ein. Überrascht machte sie einen Schritt zurück und die Türen schlossen sich wieder.
Der Aufzug setzte sich in Bewegung. Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals. Noch zehn Stockwerke bis zum Saal, zählte sie im Geist.
Der Fremde streckte den Arm aus und betätigte einen Schalter. Mit einem Ruck blieb der Aufzug stecken.
«Hey, was soll das?» Tessa beugte sich vor, um den Schalter wieder umzulegen und die Fahrt fortzusetzen. Doch der Ausdruck in seinem Gesicht ließ sie innehalten. Sein Blick besaß etwas Hypnotisches, das sie lähmte.
Sie starrte in seine dunklen Augen mit den goldenen Einsprengseln. Langsam neigte sein Kopf sich zu ihr herab, bis seine Lippen sich auf ihre legten. Sein Kuss schmeckte nach Schokolade und war verführerisch sanft. Tessa umklammerte den Haltegriff hinter ihr, weil ihr die Beine nachgaben.
Seine Zunge öffnete ihre Lippen, tauchte in ihren Mund und schickte eine Flamme des Verlangens durch ihren Körper. Sie schloss die Augen und stöhnte leise in seinen Mund, als er seine Hände auf ihr Gesäß legte, um sie näher an sich heranzuziehen. Deutlich spürte sie seine Erektion an ihrem Bauch, die eine Welle ungeahnter Lust in ihr auslöste.
Wie von selbst schlangen sich ihre Arme um seinen Nacken, während ihre Zunge gierig nach der seinen suchte. Sie vergaß alles um sich herum und gab sich ganz dem köstlichen Geschmack seines Kusses hin.
Plötzlich ruckte der Aufzug und Tessa schlug die Augen auf. Der Fremde löste sich von ihr. Verwirrt sah sie ihn an. Sie spürte, wie ihre Wangen vor Erregung glühten.
Er tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze und lächelte. «Du schmeckst noch besser, als ich es mir vorgestellt habe», flüsterte er.
Genauso schnell, wie er in den Aufzug gestiegen war, schlüpfte er hinaus, als sich die Tür im nächsten Stockwerk öffnete.
Die eben empfundene Lust wich einem plötzlichen Schamgefühl. Wie sollte sie jetzt Steven begegnen, ihm in die Augen sehen? Sie hätte ihn fast mit dem Fremden im Aufzug betrogen. Was war nur los mit ihr?
Was regst du dich auf, war doch nur ein Kuss, hätte Hazel gesagt. Stimmt, es war nur ein Kuss. Aber es wäre mehr gewesen, wenn er sich nicht zurückgezogen hätte.
Großer Gott, niemand durfte ihr ansehen, was geschehen war. Als die Türen des Aufzugs sich in der gewünschten Etage öffneten, stürzte sie hinaus in Richtung Toiletten, um ihr erhitztes Gesicht zu kühlen.
Nachdem sie sich eiskaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, fühlte sie sich besser. Aber als sie in den Spiegel über den Waschbecken sah, besaßen ihre Augen einen seltsamen Glanz, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte.
Sie gab sich noch ein paar Minuten, aber ewig konnte sie sich hier nicht verstecken. Wahrscheinlich würde sich Steven ohnehin schon wundern, wohin sie verschwunden war. Sie atmete noch einmal tief ein und aus, zog ihre Kleidung glatt und verließ die Toilette mit entschlossenem Schritt.
Bevor sie den Saal betrat, meldete sich ihr schlechtes Gewissen zurück. Da drinnen befand sich der Mann, den sie heiraten wollte. Wie konnte es sein, dass sie diesen dreisten Fremden begehrte?
Wenn du jetzt den Saal betrittst, hast du ihn vergessen. Es war nur ein Kuss, mehr nicht, versuchte sie sich einzureden. Entschlossen drückte sie die Klinke hinunter.
Die Luft im Saal war noch stickiger, das Stimmengewirr lauter geworden. In der Zwischenzeit waren weitere Gäste eingetroffen, die vom Buffet mit einem gefüllten Teller zurückkehrten und vergeblich nach einem freien Tisch suchten.
Steven stand zusammen mit einer Handvoll Männern in dunklen Nadelstreifenanzügen in der Nähe der Tür und unterhielt sich angeregt. Er hatte sie noch nicht bemerkt. Tessa nutzte den Augenblick, um ihn zu betrachten. Du willst ihn nur mit dem anderen vergleichen, meldete sich eine spöttische Stimme in ihrem Hinterkopf, die sie geflissentlich ignorierte.
Steven trug einen nachtblauen Armani-Anzug, der seine schlanke Figur betonte. Sein kurz geschnittenes, blondes Haar besaß an den Schläfen bereits feine Silberfäden, was seine Attraktivität jedoch keinesfalls minderte.
Dennoch musste sie sich eingestehen, dass er sie nicht auf dieselbe Weise faszinierte, wie der Fremde es tat. Es fehlte dieses Charisma, das sie in den Bann zog. Bei Steven war der Wunsch nie übermächtig gewesen, ihn überall zu spüren.
Sie verwarf den Gedanken sofort. Es mochte ja sein, dass die Verwegenheit und Sinnlichkeit des Fremden ihr für einen Moment den Kopf verdreht hatte. Ein kurzes Aufflammen der Leidenschaft, nicht mehr. Das, was sie wollte – Beständigkeit, Sicherheit, gemeinsame Werte –, würde sie sicher nicht bei ihm finden. Ihre Zukunft war hier. Bei Steven.
Sie trat zu ihm hinüber und hakte sich beim ihm ein. Er drehte sich zu ihr und lächelte sie kurz an, bevor er sich wieder seinem Gesprächspartner zuwandte.