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»Es ist zwecklos, ja unmöglich, Emersons Philosophie zu reproduzieren oder zu erläutern, denn wie ein Kristall oder eine Landschaft beschreibt und kommentiert er sich selbst. Seine Sätze sind da, unvorbereitet, undiskutierbar, gleich Matrosensignalen aus einer nebelhaften Tiefe. Man kann Emerson nicht widersprechen. Seine überzeugende Kraft beruht ja eben darauf, dass er alles aus seinem inneren Diktat schöpft und nichts dazutut. Er hält still, lauscht auf sein Herz und schreibt.« Egon Friedell
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Seitenzahl: 83
Ralph Waldo Emerson
Natur
Herausgegeben und aus dem Amerikanischen übertragen von Harald Kiczka
Diogenes
Ein Mensch, der in die Einsamkeit gehen will, muss sich von seiner Wohnstube ebenso weit entfernen wie von der Gesellschaft. Ich bin nicht allein, während ich lese und schreibe, obschon niemand bei mir ist. Aber wenn ein Mensch allein sein will, lass ihn zu den Sternen aufblicken. Die Strahlen, die aus jenen himmlischen Welten kommen, werden ihn absondern von allem, was er berührt. Man möchte denken, die Atmosphäre wäre deshalb durchsichtig gemacht worden, damit dem Menschen in den himmlischen Körpern die immerwährende Gegenwart des Erhabenen gegeben sei. Aus den Straßen der Städte gesehen, wie großartig sind sie! Wenn die Sterne in tausend Jahren nur in einer einzigen Nacht erschienen, wie würden die Menschen glauben und bezeugen und durch viele Generationen die Erinnerung an die Gottesstadt bewahren, die sie erblicken durften! Aber diese Boten der Schönheit erscheinen jede Nacht und erleuchten das Universum mit ihrem mahnenden Lächeln.
Die Sterne erwecken ein bestimmtes Ehrfurchtsgefühl, weil sie, obwohl immer gegenwärtig, dennoch niemals erreichbar sind; aber alle natürlichen Dinge machen einen verwandten Eindruck, wenn der Geist ihren Einflüssen gegenüber offen ist. Die Natur tritt niemals unbedeutend in Erscheinung. Weder entreißt der weiseste Mensch ihr Geheimnis, noch verliert er seine Neugier dadurch, dass er ihre ganze Vollkommenheit erkennt. Die Natur wurde einem weisen Geiste noch niemals zum Spielzeug. Die Blumen, die Tiere, die Berge spiegelten die Wahrheit seiner besten Stunde wider, geradeso, wie sie ihn in der Unbefangenheit seiner Kindheitstage erfreuten.
Wenn wir in dieser Weise von der Natur sprechen, haben wir eine bestimmte, aber höchst dichterische Bedeutung im Sinn. Wir meinen die Ganzheit des Eindrucks, den mannigfaltige natürliche Objekte machen. Dies ist es auch, was das Scheit des Holzfällers vom Baum des Dichters unterscheidet. Die reizvolle Landschaft, die ich heute Morgen sah, besteht unzweifelhaft aus etwa zwanzig oder dreißig Farmen. Miller besitzt dieses Feld, Locke jenes und Manning die Waldung dahinter. Aber keinem von ihnen gehört die Landschaft. Es gibt ein Besitzgut am Horizont, das niemand anderem gehört als demjenigen, dessen Auge alle einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenfassen kann, das heißt: dem Dichter. Dies ist der beste Teil an den Gütern dieser Männer, doch haben sie mit all ihren Besitzurkunden darauf keinen Rechtsanspruch.
Um die Wahrheit zu sagen, wenige Erwachsene können die Natur sehen. Die meisten sehen die Sonne nicht. Zumindest ist ihr Sehen sehr oberflächlich. Die Sonne bescheint nur das Auge des Mannes, aber in das Auge und das Herz des Kindes scheint sie hinein. Derjenige ist ein Naturliebhaber, dessen innere und äußere Sinne noch wahrhaft übereinstimmen; wer sich den Geist der Kindheit noch bis hinein in die Jahre des Mannesalters erhalten hat. Sein Verkehr mit dem Himmel und der Erde wird ein Teil seiner täglichen Nahrung. In der Natur durchströmt den Menschen wunderliches Wohlbehagen trotz all seiner Sorgen. Die Natur spricht – er ist mein Geschöpf, und trotz all des bedrängenden Kummers soll er mit mir glücklich sein. Nicht die Sonne oder der Sommer allein, sondern jede Stunde und jede Jahreszeit zollen ihren Tribut an Wonne, denn jede Stunde und jeder Wechsel entspricht einer unterschiedlichen Gemütsverfassung und rechtfertigt sie vom windstillen Mittag bis zur finsteren Mitternacht. Die Natur bietet eine Ausstattung, die zu einem Lustspiel ebenso gut passt wie zu einem Trauerspiel. Bei gutem Befinden wird die Luft zu einem Labsal unglaublicher Wunderkraft. Wenn ich über eine kahle Gemeindewiese schreite, durch Schneepfützen stapfe, in der Dämmerung unter bedecktem Himmel wandere, ohne den Gedanken irgendeines besonderen Glücksfalles zu hegen, erfreue ich mich vollkommener Erheiterung. Fast wage ich nicht zu denken, wie glücklich ich bin. Auch streift in den Wäldern der Mensch seine Jahre ab wie eine Schlange ihre Haut und ist, in welchem Jahre seines Lebens er auch stehen mag, doch immer ein Kind. In den Wäldern ist immerwährende Jugend. In diesen Pflanzungen Gottes herrscht Würde und Heiligkeit, eine immerwährende Festlichkeit wird bereitet, und kein Gast vermag zu erkennen, wie er in tausend Jahren ihrer überdrüssig werden sollte. In den Wäldern kehren wir zur Vernunft und zum Glauben zurück. Dort fühle ich, dass mich im Leben nichts treffen kann – keine Schande, kein Unheil (solange mir die Augen erhalten bleiben), was nicht die Natur heilen kann. Wenn ich auf dem kahlen Erdboden stehe – meinen Kopf in die heitere Luft getaucht und in den unendlichen Raum erhoben –, schwindet alle eitle Selbstgefälligkeit dahin. Ich werde zu einem durchsichtigen Augapfel; ich bin nichts; ich sehe alles; die Ströme des universellen Wesens durchwogen mich; ich bin ein Teil oder Splitter Gottes. Der Name des engsten Freundes klingt dann fremdartig und wie zufällig: Brüder oder Bekannte, Herr oder Diener, alles erscheint wie eine bedeutungslose Kleinigkeit und wirkt wie eine Störung. Ich liebe die unendliche und unsterbliche Schönheit. In der Wildnis finde ich etwas Wertvolleres und Verwandteres als auf den Straßen und in den Dörfern. In der ruhigen Landschaft, und besonders in der weit entfernten Linie am Horizont, erblickt der Mensch etwas, das so schön ist wie seine eigene Natur.
Die größte Wohltat, die uns Felder und Wälder gewähren, ist die Idee einer geheimen Verwandtschaft zwischen dem Menschen und der Pflanzenwelt. Ich bin nicht allein und unerkannt. Sie neigen sich mir zu, und ich neige mich ihnen zu. Das Schwingen der Zweige im Sturm kommt mir neuartig und doch wieder altbekannt vor. Es überrascht mich, und doch ist es mir nicht unbekannt. Seine Wirkung ist wie die eines höheren Gedankens oder einer edleren Gemütsbewegung, die über mich kommt, wenn ich meinte, ich dächte richtig und handelte recht.
Doch gilt es als sicher, dass die Kraft, die diese Freude hervorruft, nicht der Natur innewohnt, sondern dem Menschen oder der Harmonie zwischen Mensch und Natur. Es ist notwendig, sich diesen Vergnügen nur mit der allergrößten Mäßigung hinzugeben. Denn nicht immer ist die Natur in ihrem Festtagsgewand geschmückt, sondern eine Gegend, die noch gestern Wohlgerüche ausatmete und im Glanz sich zeigte, wie für den Frohsinnstanz der Nymphen, ist heute schon umweht von Melancholie. Die Natur trägt stets die Farben des Geistes. Für denjenigen Menschen, der unter Trübsal leidet, ist die Glut seines eigenen Feuers voll der Traurigkeit. Es gibt eine bestimmte Art von Geringschätzung der Natur gegenüber, die derjenige empfinden kann, der gerade einen lieben Freund durch den Tod verloren hat. Der Himmel erscheint nicht mehr so großartig, wenn er sich über Menschen wölbt, für die er an Wichtigkeit eingebüßt hat.
Einem edleren Bedürfnis des Menschen ist die Natur dienlich, nämlich der Liebe zur Schönheit. Die alten Griechen nannten die Welt xόσμος, Schönheit. Derart ist die Beschaffenheit aller Dinge, derart die bildenden Kräfte des menschlichen Auges, dass die ursprünglichen Formen, wie der Himmel, der Berg, der Baum, das Tier, uns ein Wohlgefallen bereiten, das wir an ihnen und für sie empfinden; ein Wohlgefallen, das uns zukommt durch Linie, Bewegung und Anordnung. Dies scheint teilweise von dem Auge selbst abzuhängen. Das Auge ist der größte Künstler. Durch die wechselseitige Tätigkeit seines Gefüges und der Gesetze des Lichtes entsteht die Perspektive, die jeden Gegenstand, welcher Art er auch immer sein mag, in ein Erdenrund einschließt, das ausgewogen ist in Farbe, Licht und Schatten. Wenn auch die einzelnen Gegenstände geringbedeutend und ohne Reiz sind, so hat die Landschaft, die sie zusammen ausmachen, Form und Ebenmaß. Und wie das Auge alles aufs Beste zusammenfügt, so ist das Licht der größte Maler. Kein Ding ist so hässlich, dass nicht die Kraft des Lichtes es schön machen würde. Und der Reiz, mit dem es auf die Sinne wirkt, eine Art Unbegrenztheit wie Raum und Zeit, machen alle Dinge heiter. Selbst der Leichnam hat seine eigene Schönheit. Aber neben dieser allgemeinen Grazie, die in der Natur ausgebreitet liegt, sind fast alle einzelnen Formen dem Auge gefällig. Der Beweis dafür ist erbracht, wenn wir unsere endlosen Nachbildungen einiger dieser Formen betrachten, wie die Eichel, die Traube, den Tannenzapfen, die Weizenähre, das Ei, den Flügel und die Körper der meisten Vögel, die Löwenklaue, die Schlange, den Schmetterling, die Seemuschel, Flammen, Wolken, Knospen, Blätter und die Gestalt vieler Bäume, wie die der Palme.
Wir können die Gesichtspunkte zur Schönheit einer einfacheren Betrachtungsweise zuliebe in drei Bereiche aufteilen:
1. Zunächst ist die einfache Wahrnehmung der natürlichen Formen eine Freude. Der Einfluss der Formen und Vorgänge in der Natur ist so notwendig für die Menschen, dass er schon in seiner niedrigsten Wirksamkeit an Dienlichkeit und Schönheit zu grenzen scheint. Auf Leib und Seele, die durch schädliche Arbeit oder schädlichen Umgang zusammengekrampft sind, wirkt die Natur heilsam und stellt die Harmonie wieder her. Kaufmann und Anwalt fliehen das Getöse und das Treiben der Straßen; kaum erblicken sie wieder den freien Himmel und die Wälder, und sie sind wieder Mensch. In ihrem ewigen Frieden findet er sich selbst wieder. Die Gesundheit des Auges scheint nach dem Horizont zu verlangen. Wir sind niemals müde, solange wir noch weit sehen können.
Dann, zu anderen Zeiten, befriedigt die Natur allein schon durch ihre Lieblichkeit, ohne dass dabei körperliches Wohlgefallen empfunden wird. Ich betrachte das Schauspiel des Morgens vom Berggipfel drüben, oberhalb meines Hauses, vom Tagesanbruch bis zum Sonnenaufgang, mit Empfindungen, die ein Engel mit mir teilen könnte. Die langgezogenen schlanken Wolkenstreifen schwimmen wie Fische in einem karmesinroten Lichtmeer. Wie von einem Ufer blicke ich von der Erde aus in jenes friedvolle Meer. Ich scheine teilzuhaben an seinen raschen Umschwüngen; ein wirkender Zauber reicht bis her zu dem Staube unter meinen Füßen, und ich ströme aus und verbinde mich mit dem Morgenwind. Wie vergöttlicht uns die Natur mit ein paar einfachen Elementen. Gebt mir Gesundheit und einen Tag dazu, und ich lache über allen Pomp der Herrscher. Die Morgendämmerung ist mein Assyrien1, der Sonnenuntergang und der Aufgang des Mondes mein Paphos2 und unvorstellbare Feenreiche; der helle Mittag soll mein England der Sinne und des Verstandes sein, die Nacht mein Deutschland der mystischen Philosophie und der Träume.