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Ein Toter am Hamburger Kanal? David könnte schwören, auf seinem Spaziergang am nebligen Goldbekufer Zeuge eines Verbrechens geworden zu sein. Doch die Leiche ist verschwunden, und weder Davids Mutter noch die Polizei wollen ihm glauben. David macht sich auf eigene Faust daran, das Rätsel zu lösen. Bald schon entdeckt er bei seinen Nachforschungen verräterische Spuren - und schwebt plötzlich selbst in höchster Lebensgefahr! Petra Oelkers spannender Jugendkrimi - Spannung garantiert!
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Seitenzahl: 123
Petra Oelker
Nebelmond
«Scheiße.» David gab der Maus einen ärgerlichen Schubs, lehnte sich weit in seinem Stuhl zurück und starrte missmutig auf den Monitor. Schon wieder nach zwei Minuten totgeschossen.
«Blödes Spiel», murmelte er. Und: «Selbst schuld.» Er hatte es unbedingt haben wollen, alle fanden es große Klasse. Es hatte gedauert, bis Ulla es ihm gekauft hatte. Seine Mutter mochte keine Computerspiele. Jedenfalls keine wie dieses, aber andere, das hatte sie zugegeben, waren nur für Kleinkinder. Nicht für einen wie David, dem machte am Computer sonst so schnell keiner was vor. Immerhin war sie nicht wieder mit der Arie von ‹Lies-doch-mal-ein-Buch-oder-mach-was-mit-Freunden› gekommen. Das wäre auch sinnlos gewesen. Alle, alle waren verreist. Wenigstens alle, die David seine Freunde nannte oder mit denen er sich gerne getroffen hätte. In der Nachbarschaft kannte er noch niemanden. Er und Ulla, seine Mutter, waren erst vor wenigen Monaten in diesen Stadtteil gezogen, nach Hamburg-Winterhude. Die Wohnung im vierten Stock direkt unter dem Dachboden war enger als die andere, dafür, hatte Ulla gesagt, war die Aussicht aus dem vorderen Zimmer und der Küche besser. Von dort sah man über die schmale Straße mit dem Namen Goldbekufer auf den Goldbekkanal (logisch!), an dessen jenseitigem Ufer unter großen Bäumen einige kleine Werften für Sportboote lagen. An dieser Seite des Kanals erstreckten sich zwischen Straße und Wasser handtuchschmale Schrebergärten.
‹Geradezu idyllisch›, hatte Ulla gesagt, ‹findest du nicht?›
David hatte genickt, obwohl er die Idylle ziemlich langweilig fand. Zum Glück hatte er nicht auch noch die Schule wechseln müssen, dafür musste er jetzt eine halbe Stunde früher aufstehen, weil der Weg länger war.
«Scheißspiel», sagte er und erschrak vor dem Klang seiner Stimme in der Stille der Wohnung. Er rollte den Schreibtischstuhl zurück, bis er den Radiowecker sehen konnte. Halb acht, sie musste bald kommen.
Er hatte sich auf die Herbstferien gefreut, klar, aber dabei nicht bedacht, wie endlos lang die Tage werden konnten, besonders wenn der Sommer vorbei und die Freibäder geschlossen waren. Eigentlich konnte ihm egal sein, wie das Spiel war, dann spielte er es eben nicht mehr. Andererseits, es war teuer gewesen, er wollte ihr nicht erklären, dass er es blöde fand. ‹Für die Herbstferien›, hatte sie gesagt, ‹damit du dich nicht langweilst.› Und dabei wieder diesen Blick gehabt, von dem er nie wusste, ob er schuldbewusst oder vorwurfsvoll war.
Das Telefon klingelte, und bevor er abnahm, wusste er schon, was nun kam. Er hatte Recht.
«David.» Sie redete gleich los, hastig und ein bisschen atemlos. Wer sie nicht kannte, würde glauben, sie sei einfach nur in Eile. David kannte seine Mutter genau. Sie war wütend.
«Es tut mir so Leid, aber es dauert hier noch länger. Lund ist plötzlich eingefallen, dass auch noch das Angebot für – ach, ist ja egal, was der Chef sagt. Jedenfalls muss heute noch was raus, und es wird später. David? Hörst du mir zu?»
Das fragte sie immer, wenn sie mal wieder so schnell redete, dass man nicht dazwischenkam. «Klar hör ich zu. Du kommst später. Kein Problem. Ich hab ja das Spiel. Das ist wirklich gut. Ich muss nur noch ein bisschen üben, dann …»
«Wirklich? Na, wenn du es sagt. Dann üb schön. Um halb zehn bin ich zu Hause, spätestens um zehn. Und du gehst nicht mehr raus, nicht? Versprochen? David?! Versprochen?»
«Klar, versprochen. Es ist ja stockdunkel draußen, was soll ich da.»
«Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Ich dachte nur, falls du dich langweilst. Und mach dir was zu essen. Im Kühlschrank steht – aber das weißt du ja. David?»
«Ja?»
«Es tut mir Leid, dass das mit Hans nicht geklappt hat. Am Wochenende machen wir was ganz Tolles. Überleg schon mal, worauf du Lust hast. Jetzt muss ich mich aber beeilen, sonst wird es noch später. In zwei Stunden bin ich da, höchstens in zwei. Tschüs, Liebling, bis nachher.»
Es machte ‹klack›, und der Hörer war tot. David steckte das Telefon in die Halterung und ging in die Küche. Am Wochenende! Heute war erst Montag. Ihm tat es gar nicht Leid, dass Tante Sybille sich beim Tennis den Fuß verstaucht und Onkel Hans ihm deshalb abgesagt hatte. Was sollte er in Frankfurt? Da kannte er keinen, und nur damit er in den Herbstferien verreisen konnte? Onkel Hans und Tante Sybille waren nicht gerade abendfüllend. Wahrscheinlich brauchten sie ihn sowieso nur als Babysitter für Timmi. Ferien mit einem Neunjährigen, der an ihm klebte wie ein angelutschter Drops – eine echte Traumvorstellung. ‹Sei nett zu ihm›, sagte Ulla immer, ‹er ist dein einziger Cousin.› Na und?
Außerdem hatte er überhaupt keine Lust, sich von Onkel Hans wieder wie in den Osterferien anzuhören, dass seine Schwester den falschen Mann geheiratet hatte. Er habe das ja gleich gewusst. Nun sei der Kerl weg, seit Jahren schon, zahle keinen Pfennig, und nicht mal ’ne Karte zum Geburtstag für seinen einzigen Sohn. Und Sybille hatte gesagt: ‹Sei doch still, Hans. Der Junge hat es schwer genug, du musst ihn nicht auch noch mit diesem Versager von Vater voll quatschen …›
David hatte tief Luft geholt, um zu protestieren, aber nur gefragt, ob er eine Cola haben könne, und dann hatten sie schnell von etwas anderem geredet.
Zumindest das mit der Karte stimmte nicht. Zum vorletzten Geburtstag war eine gekommen, drei Wochen zu spät, aber schließlich hatte sein Vater sie von Perth geschickt, von der australischen Westküste, das dauerte eben. ‹Noch ein oder zwei Jahre›, hatte er geschrieben, ‹dann habe ich es hier geschafft und schicke dir ein Flugticket.›
Ulla hatte die Lippen aufeinander gepresst und schließlich gesagt: ‹Mach dir nicht zu viele Hoffnungen. Dein Vater ist kein schlechter Mensch, wirklich nicht, er hat seine Qualitäten, und sicher hat er dich lieb, auf seine Weise. Aber, na ja, Verantwortung ist für ihn ein Fremdwort, und dass er mit seiner Malerei ausgerechnet in Australien Geld verdienen kann, ist nicht sehr wahrscheinlich.»
David hätte seinem Vater gerne geschrieben, aber auf der Karte stand keine Adresse. Er hätte sie auch gerne an seine Pinnwand gehängt, neben das alte Foto, aber irgendwie glaubte er nicht, dass es gut war, wenn Ulla sie jeden Tag sah. Deshalb lag die Karte jetzt in seiner Schreibtischschublade, ganz hinten. Er hatte sie schon lange nicht mehr angesehen. Nur an seinem letzten Geburtstag vor zwei Monaten, als keine Post kam. Zwei Monate. Vielleicht war er jetzt in der Antarktis, in einer Forschungsstation. Vielleicht brauchten sie dort Maler, so wie früher Kolumbus oder Captain Cook, als sie ins Unbekannte gesegelt waren. Klar, die hatten Maler gebraucht, weil es damals noch keine Fotoapparate gegeben hatte, aber vielleicht – jedenfalls, in der Antarktis gab’s nun mal keine Briefkästen, und die Post dauerte ewig.
Er warf einen Blick zu dem Foto, das halb verborgen zwischen Zetteln, anderen Fotos und Postkarten an der Pinnwand festgesteckt war. ‹Du wirst deinem Vater immer ähnlicher›, hatte Onkel Hans gesagt. David hatte nichts dagegen, und wahrscheinlich stimmte es: die gleichen dicken blonden Haare mit dem Wirbel links über der Stirn, die gerade schmale Nase, die graublauen Augen. Nur so braun gebrannt und windzerzaust, so abenteuerlustig sah David nicht aus.
«Noch nicht», murmelte er, «noch nicht!»
Australien oder eine Forschungsstation in der Eiswüste, das wäre es gewesen. Aber nach Frankfurt zu fahren hatte David wirklich keine Lust gehabt, auch wenn die dort einen noch so tollen Pool im Anbau hatten, beheizt und mit Sprudeldüsen, und im Wohnzimmer einen Fernseher halb so groß wie ein Fußballfeld.
Er öffnete den Kühlschrank, zog den Topf mit dem Nudelauflauf heraus und stellte ihn gleich wieder zurück. Die Tafel Nussschokolade von vorhin lag noch dick und fettig in seinem Magen.
Plötzlich erschien ihm die Wohnung eng und muffig. Ein eigenes Schwimmbad wäre wirklich cool und eine Terrasse, auf der man in der Sonne frühstücken konnte mit einem großen Garten dahinter, so einen, wie hinter dem Haus von Mike. Mikes Eltern hatten ständig Gäste, vor allem im Sommer, Grillfeste oder stinkfeine Partys und den Garten voller Lampions. Manchmal, hatte Mike gesagt, wenn die Geschäftsfreunde von seinem Vater eingeladen waren, kamen auch Kellner. Die könne man mieten, hatte Mike gesagt, im schwarzen Jackett. Oder im roten, wahlweise. Mikes Eltern waren ganz nett, aber Ulla hatten sie noch nie eingeladen.
‹Macht nichts›, hatte sie neulich gesagt, ‹deren Gäste sind garantiert alle total aufgebrezelt, was sollte ich da anziehen?›
Ein durchdringendes Geräusch von draußen ließ ihn zusammenfahren. In der nachtschwarzen Fensterscheibe spiegelte sich die Küche, das müde Licht der Straßenlaternen am Goldbekufer war dahinter nicht mehr als ein Schemen. Er beugte sich vor, formte die Hände gegen das Licht der Küchenlampe zu einem Tunnel zwischen Schläfen und Fensterscheibe und starrte hinaus. Die Schwärze der Nacht war milchig geworden. Es war erst Mitte Oktober, aber schon seit Tagen kam mit der Nacht der Nebel. Wie in England, hatte Frau Ditteken aus dem ersten Stock gestern geschimpft. Die schimpfte allerdings über jedes Wetter, immer war es ihr zu kalt oder zu heiß, zu nass oder zu trocken. Nun eben zu nebelig.
Ein Auto rollte langsam vorbei, sicher auf der Suche nach einem Parkplatz. Der Goldbekkanal hinter den schmalen Gärten am abfallenden Ufer war durch den Dunst kaum mehr zu erkennen. Ebenso wenig wie die kleinen Bootswerften, der Kiosk mit der Kanuvermietung und die alten Bäume am jenseitigen Ufer. Es waren nur die Graugänse gewesen. Manchmal flogen sie auch in der Nacht über den Kanal, dann schrien sie auf diese seltsam schrill krächzende Weise.
Er mochte ihr Geschrei nicht. Vor allem, wenn er allein in der Wohnung war. Er ging wieder zum Kühlschrank, nahm die Limo-Flasche raus und trank sie durstig halb leer. Durch die Wand zur Nachbarwohnung drang Musik. Humptahumptahumpta. Die Merricks guckten im Fernsehen ‹Die lustigen Volksmusikanten›. Manchmal sang Frau Merrick mit, heute nicht, das bedeutete, dass Herr Merrick zu Hause war. Keine Spätschicht heute. Die Merricks waren erst vor ein paar Monaten eingezogen und nicht gerade das, was man Traumnachbarn nennen würde. Frau Merrick huschte stets mit gesenktem Kopf durchs Treppenhaus, als sei ihr das eigentlich verboten. Wenn David ihr begegnete, murmelte sie irgendwas wie ‹Guten Tag› oder ‹Guten Abend›, richtig verstehen konnte man ihr Geflüster nie. David hätte nicht mal wirklich beschreiben können, wie sie aussah. Die Merrick gehörte zu den Leuten, die leicht übersehen oder gleich wieder vergessen wurden.
Herrn Merrick konnte man nicht übersehen. Er war überall quadratisch, sein Kopf, sein Brustkorb, seine Hände, sogar seine Ohren schienen eckig anstatt rund oder oval. Nur sein Bauch war eindeutig rund. Kugelrund. Trotzdem sprang Merrick immer die Treppe rauf, als habe er Spiralfedern unter den Schuhen (eindeutig quadratisch). Was für einen Beruf er hatte, wusste David nicht. Es schien, als arbeite er ziemlich unregelmäßig und meistens nachts.
‹Ist doch klar›, hatte Ulla gesagt, die die neuen Nachbarn nicht besonders interessant fand, ‹der ist Nachtwächter. Oder Türsteher auf St. Pauli›, hatte sie dann noch gemurmelt, aber David hatte es genau verstanden. Türsteher auf St. Pauli war auf alle Fälle spannender als Nachtwächter in einer Fabrik oder einem leeren Bürohaus.
David trottete zurück in sein Zimmer und setzte sich wieder vor den Computer. ‹Üb schön›, hatte sie gesagt. Wie bei Mathehausaufgaben. Dieses Spiel erschien ihm kaum besser, aber so schnell ließ er sich nicht austricksen, schon gar nicht von einem Haufen Elektronik. Nicht dass Ehrgeiz zu seinen hervorstechendsten Eigenschaften zählte, aber aufgeben kam für ihn nicht in Frage. Jedenfalls nicht so schnell.
So doof, wie er zuerst gedacht hatte, war das Spiel doch nicht. Als er das nächste Mal auf die Uhr sah, war es zehn nach neun. Der Nebel vor dem Fenster war noch dicker geworden. Sie würde nun bald kommen, mit raschen kurzen Schritten die Treppe heraufeilen, die Tür aufschließen, und während sie noch den Schlüssel aus dem Schloss zog, rufen: ‹Ich bin da!! Mensch, war das ein Tag! Hast du was gegessen? Mensch, bin ich froh, dass ich endlich da bin. Hast du deine Schularbeiten gemacht?›
Nein, das Letzte nicht, sie würde nicht vergessen haben, dass Ferien waren. Immer das Gleiche, immer mit der gleichen gehetzten schrecklich munteren Stimme. Schon wenn er ihre Schritte auf der Treppe hörte, spürte er, wie sich seine Schultern hochzogen. Vor diesem Schwall von hektischer Munterkeit. Warum machte sie das? Warum tat sie so, als wär alles toll und ihr Job die reine Freude? Als wär’s das Größte, in zweieinhalb Zimmer, Kücheduscheklo zurückzukommen.
Vielleicht machte sie deshalb Überstunden. Im Büro war einfach mehr los als hier.
Geh nicht mehr raus, David. ‹Klar›, hatte er gesagt, und: ‹Versprochen.› Andererseits: Nur einmal die Straße runter, über die Moorfurthbrücke und am anderen Ufer des Kanals entlang, über die andere Brücke (er wusste noch nicht, wie sie hieß) bei der vierspurigen Barmbeker Straße und wieder zurück – das dauerte höchstens zwanzig Minuten, wenn er sich beeilte nur eine Viertelstunde. Sie würde es nicht erfahren. Und wenn doch? Wenn sie ausgerechnet heute früher kam? Dann sah sie auch mal, wie es war, wenn keiner zu Hause wartete.
Als er die Tür ins Schloss zog und die Treppe hinunterrannte, ging im ersten Stock eine Tür auf. Frau Ditteken steckte die Nase durch den Spalt über der Türkette, anderthalb Meter tiefer versuchte sich Kuno, eine braune Mischung aus Dackel und Rollwurst, knurrend in den Flur zu drängen. Zum Glück war er zu fett.
«Ach, du bist es, David. Ich dachte, es ist mein Kevin. So spät noch nach draußen? Ich weiß ja nicht. Wenn ich deine Mutter wäre …»
«’n Abend», nuschelte David, murmelte noch etwas wie: «Nur schnell einen Brief zum Kasten bringen», und war schon im Erdgeschoss verschwunden. Als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete er auf.
‹Wenn ich deine Mutter wäre.› David schüttelte sich, kroch tiefer in seine Jacke und lief die Straße hinunter. Er kannte Kevin nur flüchtig vom Sehen, er arbeitete in einer Bank in der City, trug teure Klamotten und fuhr ein nagelneues Auto. Frau Dittekens Sohn war schon lange ausgezogen, was Frau Ditteken nicht verstand, wo er bei ihr ein so schönes Zimmer hatte, Essen, Wäsche und alles umsonst. David grinste, er konnte Kevin gut verstehen. Wenn die Ditteken seine Mutter wäre – dagegen hatte er mit Ulla wirklich Glück gehabt, obwohl sie manchmal so spät nach Hause kam. Plötzlich hatte er es sehr eilig. Er wollte unbedingt zurück sein, bevor sie kam.
Der Nebel stand wie wässerige Milchsuppe in den Straßen und über dem Kanal, verschluckte die Geräusche der Stadt und machte alles grau. David ging langsamer, er sah zum Himmel hinauf und fühlte sich wie in einem Aquarium. Die feuchte Kälte kroch in seine Ärmel und legte sich um seinen Hals. Er schloss die Jacke bis zum Kinn, steckte fröstelnd die Fäuste in die Taschen und ging rasch weiter.