Nebelschimmer - Anya Omah - E-Book
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Nebelschimmer E-Book

Anya Omah

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Beschreibung

Ist Liebe genug? Der Spiegel-Bestseller von Anya Omah über erste Liebe und zweite Chancen. Zwei Herzen Damals: Calla und Jasper. Sie waren das perfekte Pärchen. Das, von dem alle dachten, es würde für immer zusammenbleiben. Doch manchmal hat das Leben andere Pläne. Manchmal muss man schwere Entscheidungen treffen. Und manchmal führen einen diese Entscheidungen weit weg von zu Hause … Tausend Bruchstücke Heute: Nach über einem Jahr – einem schrecklichen, schmerzhaften Jahr – ist Calla zurück in Deutschland. Endlich wieder zu Hause. Endlich wieder ihre Freundinnen umarmen. Einziger Minuspunkt: Sie trifft auch ihren Ex wieder. Und Jasper kann ihre Gefühle mit nur einem einzigen Blick immer noch ins Chaos stürzen … Ist Liebe genug? Eine zutiefst emotionale, intensive Own Voices Romance über Fehler, Vertrauen und Freundschaft. Band 2 der Sturm-Trilogie. Unabhängig lesbar.

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Seitenzahl: 443

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Anya Omah

Nebelschimmer

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Zwei Herzen

Damals: Calla und Jasper. Sie waren das perfekte Pärchen. Das, von dem alle dachten, es würde für immer zusammenbleiben. Doch manchmal hat das Leben andere Pläne. Manchmal muss man schwere Entscheidungen treffen. Und manchmal führen einen diese Entscheidungen weit weg von zu Hause …

 

Tausend Bruchstücke

Heute: Nach über einem Jahr – einem schrecklichen, schmerzhaften Jahr – ist Calla zurück in Deutschland. Endlich wieder zu Hause. Endlich wieder ihre Freundinnen umarmen. Einziger Minuspunkt: Sie trifft auch ihren Ex wieder. Und Jasper kann ihre Gefühle mit nur einem einzigen Blick immer noch ins Chaos stürzen …

 

Ist Liebe genug? Ein zutiefst emotionaler, intensiver Roman über Fehler, Vertrauen und Freundschaft.

Band 2 der Sturm-Trilogie. Unabhängig lesbar.

 

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Wenn du dich darüber informieren möchtest, findest du auf unserer Homepage unter www.endlichkyss.de/nebelschimmer eine Content-Note.

Vita

Anya Omah, geboren in Nordrhein-Westfalen, hat als Laborassistentin und Wirtschaftspsychologin gearbeitet, bevor sie sich als Autorin selbstständig machte. Über diese Entscheidung sagt sie: «Ich war verrückt genug, dem sicheren Bürojob den Rücken zu kehren und meine Leidenschaft zum Beruf zu machen. Aber mal ehrlich: Wie verrückt kann es sein, seinen Traum zu leben?» Im März 2014 veröffentlichte sie ihr Debüt, es folgten zahlreiche weitere New-Adult-Romane. Mit der Sturm-Trilogie erscheint sie nun erstmals bei KYSS.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Patrycja Krol; Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01013-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für meine Mama, die mir Wurzeln und Flügel gab.

Seltsam, im Nebel zu wandern! Einsam ist jeder Busch und Stein, kein Baum sieht den andern, jeder ist allein.

H. Hesse

Playlist

Fine Line – Harry Styles

Easier – Mansionair

Heavy – Haux

Crazy in Love – Daniela Andrade

drivers license – Olivia Rodrigo

Castles – Lee DeWyze

Like I Want You – GIVĒON

Higher – Tems

Essence – Wizkid (feat. Justin Bieber & Tems)

Sometimes (Backwood) – gigi

Always Been You – Shawn Mendes

Nothing Without You – Tanerélle

Broken – Patrick Watson

Waves – Mr. Probz

Tru Love – James Vincent McMorrow

Do You Remember – Jarryd James

I’m Not OK – H.E.R.

Run to You – Ocie Elliott

My Boo – Usher & Alicia Keys

Take Care of You – Charlotte Day Wilson (feat. Syd)

Don’t Wait – Mapei

Know That You Are Loved – Cleo Sol

1Heute: Calla

«Sie haben Ihren Zielort erreicht. Ihr Ziel befindet sich auf der rechten Seite», verkündet die roboterartige Frauenstimme von Google Maps.

Ich stöhne erleichtert auf. Denn obwohl man von der Haltestelle Koberg bis zur Engelsgrube keine fünf Minuten braucht, habe ich gefühlt eine kilometerlange Wanderung hinter mir. Die Kopfsteinpflaster der Altstadt sind die reinste Tortur, wenn man Flip-Flops trägt und mit einem Riesenkoffer unterwegs ist, dessen Rollen alle zwei Meter an einem Stein hängen bleiben.

Leicht außer Atem schließe ich die App auf meinem Handy und verstaue es in der Hintertasche meiner Jeans-Shorts. Ich bin total fertig. Vom langen Flug, dem Jetlag, der Hitze, die sich unter meinen Locken staut, und meinem viel zu schweren Rucksack, dessen Riemen mir in die Haut schneiden. Doch der Anblick des dreihundert Jahre alten Bürgerhauses vor mir lässt mich all das vergessen und zaubert sogar ein Lächeln auf meine Lippen. Es wird breiter, als ich durch den urigen Gang darunter gehe – leicht gebeugt, mit eingezogenem Kopf, damit ich mich nicht stoße. Wie fast alle historischen Gänge Lübecks führt auch dieser in einen lang gezogenen Innenhof, an den mehrere Häuser grenzen. Ein Boden mit rotem Pflasterstein, kleine Blumenbeete vor den Fenstern, Stockrosen, die an den Häuserfassaden mit Fachwerkelementen emporranken. Ich kann mir kein klischeehafteres Postkartenmotiv vorstellen, um die bezaubernde Idylle und Romantik der historischen Gänge und Höfe Lübecks einzufangen.

Wenn du wieder da bist, machen wir endlich die Gänge-und-Höfe-Tour, hat Jasper vor meiner Reise nach L.A. gesagt. Sechzehn Monate, drei Tage und ein Meer aus Tränen liegen zwischen heute und diesem Versprechen. Den Gedanken, dass er es wahrscheinlich niemals einlösen wird, dränge ich mit aller Macht zurück. Zusammen mit den Erinnerungen und Bildern von uns, dem Schmerz, der Wut und Enttäuschung. Dann gehe ich weiter. Zu dem Haus, in dem sich meine neue Wohnung befindet. Meinen Koffer ziehe ich so leise, wie es die Rollen auf dem Pflasterstein zulassen, hinter mir her. Ich will auf keinen Fall unangenehm auffallen, indem ich die Mittagsruhe störe. Aber diese scheint einer älteren Dame egal zu sein, die sich aus dem Fenster des Parterres lehnt, gerade als ich die Haustür erreiche.

«Sind Sie die neue Mieterin?» Ihre Stimme hallt durch den ganzen Hof.

Ich nicke, lasse meinen Koffer stehen und bringe schnell die paar Schritte zu ihrem Fenster hinter mich, damit wir uns nicht anschreien müssen. «Sind Sie Frau Wagner?» Ich klinge etwas unsicher, da wir bisher nur telefonischen Kontakt hatten. Die Besichtigung vor zwei Monaten haben meine Eltern übernommen und mich online per FaceTime mitgenommen.

«Ja, das bin ich.» Die vielen kleinen Falten um ihre blauen Augen und an den Mundwinkeln graben sich noch etwas tiefer in ihre Haut, als sie lächelt. «Die Haustür ist offen. Gehen Sie ruhig schon mal rein. Ich ziehe mir nur schnell etwas über und bin dann bei Ihnen.»

Erst jetzt fällt mir auf, dass sie da anscheinend kein Kleid trägt, sondern ein dünnes Handtuch um sich gewickelt hat. Keine Ahnung, ob ich das auf eine seltsame Art sympathisch oder einfach nur schräg finden soll, zumal sie ja wusste, wann ich in etwa da sein würde.

Ich gehe zurück zum Eingang und drücke die Tür auf. Selbst der Flur versprüht historisches Flair. Mit seinem Ornamentfliesenboden, der Balkendecke und dem Innenfachwerk. Über eine Wendeltreppe gelangt man nach oben. Und bei der Vorstellung, gleich meinen Koffer ins Dachgeschoss zu schleppen, entkommt mir ein gequälter Laut. Irgendwo zwischen Schnauben und Stöhnen.

Das Geräusch von quietschenden Scharnieren lenkt meinen Blick von der Wendeltreppe zu einer Wohnungstür, die soeben von Frau Wagner geöffnet wird. In einem Kimono mit Batikmuster und an den Füßen Crocs. Pinkfarbene Crocs. Ihr Outfit ist so schräg, dass ich es schon wieder cool finde. Jetzt humpelt sie auf mich zu. Bei unserem Telefonat hat sie von einer Gehbehinderung gesprochen. Und dass sie deswegen einen Mieter sucht, der ihre Einkäufe erledigt und einmal die Woche im Haushalt hilft. Für zweihundert Euro Mieterlass. Anders hätte ich mir eine möblierte Gänge-Wohnung – trotz der winzigen Größe von knapp vierzig Quadratmetern – niemals leisten können.

«Hallo, Frau O-O… Wie spricht man Ihren Namen doch gleich aus?»

«Welchen meinen Sie denn? Obafemi ist mein Nachname und Obioma mein Vorname», kläre ich sie auf und kann förmlich dabei zusehen, wie Verwirrung die Falten auf ihrer Stirn noch tiefer werden lässt.

«Oh … ich dachte, das wären beides Nachnamen. Ein Doppelname.»

«Ja, das denken viele.» Gefühlt besteht mein halbes Leben darin, Menschen meinen Namen zu erklären, ihn zu buchstabieren oder in Lautschrift auszusprechen und mich jedes Mal zu fragen, warum ich mir die Mühe überhaupt mache. Denn die meisten geben sich schon beim ersten Versuch geschlagen. Oder denken sich einen Namen aus, den sie leichter aussprechen können. Auch wenn er überhaupt keinen Sinn ergibt. Wie zum Beispiel Opium anstatt Obioma.

«Dann nenne ich Sie beim Vornamen, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich bin Elsa.»

Ich ergreife ihre ausgestreckte Hand und schüttle sie. «Obioma oder Calla. Was Ihnen lieber ist.»

«Was ist Ihnen denn lieber?»

Früher hätte ich auf diese Frage ohne Umschweife mit Calla geantwortet. Weil ich während meiner Grundschulzeit für meinen afrikanischen Namen gehänselt wurde. Von den Leuten in meiner Klasse, aber auch unterschwellig von manchen Lehrkräften. Das hat mich so genervt und verletzt, dass ich irgendwann darauf bestand, nur noch Calla genannt zu werden. Von allen – bis auf einen. Ich verscheuche den Gedanken an Jasper und sage Frau Wagner beziehungsweise Elsa, dass es mir wirklich egal ist.

«Dann nenne ich dich Obama.»

Obama? Das ist neu. «Nein, ich heiße O-bi-oma. Mit dem ehemaligen Präsidenten von Amerika bin ich nicht verwandt. Leider», schiebe ich lächelnd hinterher, weil ich diesen Mann und vor allem seine Frau Michelle sehr bewundere.

«Also rein von der Optik könntest du seine Tochter sein.» Frau Wagner lacht, und ich tue es ihr gleich, obwohl dieser Kommentar meinen Puls in die Höhe treibt. Weil er suggeriert, dass alle schwarzen Menschen gleich aussehen. Als würden wir nur aus dunkler Haut, dunklen Haaren und dunklen Augen bestehen. Natürlich meint Frau Wagner es nicht böse. In der Psychologie gibt es sogar eine Erklärung beziehungsweise Bezeichnung für ihre eingeschränkte Wahrnehmung: den sogenannten «Other-Race-Effect». Darüber habe ich im Fach Sozialpsychologie ein Referat gehalten. Trotzdem versetzen mir solche Aussagen einen Stich. Es ist der gefühlt hunderttausendste in die immer gleiche Wunde. Eine, die für weiße Menschen unsichtbar ist, wenn man sie nicht darauf hinweist. Doch dazu habe ich jetzt weder Lust noch die Kraft.

«Und woher kommst du, wenn ich fragen darf?»

Stich Nummer hunderttausendundeins. «Aus Lüneburg.»

«Und wo bist du geboren?»

«In Lüneburg», antworte ich nun doch etwas gereizt.

«Aber deine Wurzeln liegen doch woanders.» Ihr Blick wandert kurz an mir runter. Dann sieht sie mir wieder ins Gesicht. Mit einem Ausdruck, den ich allzu gut kenne und der mir sagt, dass jemand mit meiner Hautfarbe nie und nimmer Deutsche sein kann. Innerlich verdrehe ich die Augen und bin kurz davor, ihr zu antworten, dass meine Wurzeln sie nichts angehen. Aber als ihre neue Mieterin, die auch noch für sie arbeitet, will ich mich nicht unbeliebt machen. Ich möchte diese Unterhaltung nur noch hinter mich bringen und erkläre, dass ein Elternteil aus Nigeria stammt.

«Dann will ich dir jetzt mal die Schlüssel zur Wohnung geben.»

Erleichtert über den Themenwechsel seufze ich lautlos, während sie in die Tasche ihres Kimonos greift. Mit einem Klimpern holt sie einen Bund Schlüssel hervor. Es sind insgesamt vier. «Der rote ist fürs Haus, der blaue für die Wohnung, der dicke für die Kellertür und der kleine für den Briefkasten», erklärt sie.

Dankend nehme ich die Schlüssel an mich und erwarte eine Ansprache zur Hausordnung. Oder dass sie mir mitteilt, was genau meine Pflichten sind und wann und wie ich sie zu erledigen habe. Wir haben schriftlich noch gar nichts vereinbart. Aber sie schließt mit: «Alles Weitere können wir morgen besprechen.»

Wir verabreden einen Termin am Vormittag in ihrer Wohnung, bevor ich die Stufen zu meiner nehme. Und das zweimal. Weil ich zuerst meinen Rucksack und dann den Koffer hochtrage. Oder wohl eher hochwuchte.

Vollkommen außer Atem schließe ich nun endlich die weiße Tür auf und – bleibe abrupt in dem kleinen Flur stehen. Mit großen Augen und vorgehaltener Hand betrachte ich die wohl süßeste Überraschung, die mir seit Langem gemacht wurde. In der Tür zur Wohnküche hängt eine Willkommen-zu-Hause-Girlande, daneben baumeln Luftschlangen und Ballons. Ich ahne, dass Leo und Lissa dahinterstecken. Zu einhundert Prozent sicher bin ich mir jedoch erst, als ich auf einem kleinen Beistelltisch vor dem Landhaussofa die riesengroße Glasschale voller gelber Smarties entdecke. Unsere Liebe zu Smarties verbindet mich und meine besten Freundinnen. Jede von uns hat ihre eigene Lieblingsfarbe. Gelb für mich. Grün für Leo. Und blau für Alissa. Die Erinnerung daran, wie wir mit fünf Jahren trotz des Süßigkeitenverbots von Alissas Eltern heimlich in ihrem Kinderzimmer Smarties gefuttert haben, treibt mir plötzlich Tränen in die Augen. Vor Rührung, aber auch Freude. Darauf, meine Mädels heute Abend wiederzusehen und zu drücken, mit ihnen zu lachen und zu quatschen. Live und in Farbe. Ohne dabei auf den Bildschirm meines Handys starren zu müssen, weil uns über neuntausend Kilometer Luftlinie trennen. Wie zur Hölle habe ich es nur so lange ohne die beiden ausgehalten?

Ich hole mein Handy hervor und öffne unseren WhatsApp-Gruppenchat. Für diese zuckersüße Überraschung muss ich mich sofort bedanken. Außerdem interessiert mich echt, wie sie es angestellt haben, in die Wohnung zu kommen.

Ich ziehe die Flip-Flops aus und gehe zum Sofa. Der helle Holzdielenboden gibt bei fast jedem Schritt ein leises, wohliges Knarzen von sich. Ich liebe es und lasse mich auf das beigefarbene Polster plumpsen.

Danke, danke, danke! Für die Girlande, die Luftschlangen, die Ballons und den Smarties-Vorrat. Ich liebe euch. Selbst wenn ihr dafür in meine Wohnung eingebrochen sein solltet.

 

Wir dich auch! Schön, dass du wieder da bist, antwortet Lissa, während von Leo eine Sprachnachricht eintrudelt:

«Wir wollten zuerst Blaumänner überziehen und uns mit angeklebten Fake-Bärten als Elektriker ausgeben, die dringend einen Anschluss in deiner Wohnung überprüfen müssen. So wie im Film, nur dass wir die Guten gewesen wären.» Lissa und ich schicken zeitgleich Lachsmileys. «Aber dann haben wir uns doch dafür entschieden, deine Vermieterin einfach lieb und nett zu fragen, ob wir zur Rückkehr unserer besten Freundin eine kleine Überraschung vorbereiten dürfen», fährt Leo mit einem Lächeln in der Stimme fort.

Frau Wagner war quasi unsere Komplizin, schreibt Lissa. Glaub, sie fand es sogar ziemlich aufregend, Teil dieser «Mission» zu sein.

 

Ach, deshalb wolltest du vorab schon mal die Adresse haben.

 

Siehst du, Leo, ich hab doch gesagt, dass Calla keinen Verdacht geschöpft hat.

 

Hab ich tatsächlich nicht , versichere ich und wechsele dann das Thema. Ich hab uns für heute Abend übrigens einen Tisch im Trave Mundet reserviert. Der Laden ist neu und soll echt gut sein.

So gut, dass sie händeringend Personal suchen. Ich hatte mich von L.A. aus beworben und Glück. Wenn beim Probekellnern am Montag alles glattläuft, habe ich den Job sicher. Aber das behalte ich vorerst für mich. Aberglaube und so.

Perfekt. Schickst du uns die Adresse, oder treffen wir uns in deiner süßen kleinen Bude? Ich wäre ja für Letzteres. Weil’s da einfach so hübsch aussieht, schwärmt Lissa.

 

In Wahrheit will sie nur den Innenhof und das tolle natürliche Licht sehen. Wenn du nicht aufpasst, wird das die Location für das nächste Aktbild von Simon.

Leos Anspielung darauf, dass sie die beiden – oder besser gesagt Simon – dabei überrascht hat, wie er nackt auf deren Wohnzimmersofa Modell saß, entlockt mir ein Kichern.

Das ist vier Monate her, Leo! Wie lange willst du denn noch darauf rumreiten?

 

So lange, bis ich dieses Bild aus meinem Kopf bekomme. Also vermutlich für immer.

 

Solange Leo nur dich und nicht Simon damit aufzieht.

 

Wenn er unsere beste Freundin weiterhin auf Händen trägt, hat er nichts zu befürchten.

Ich sende ein lachendes Emoji, obwohl ein heulendes passender wäre. Denn sosehr ich mich auch für Lissa freue, genauso sehr macht es mir bewusst, was ich verloren habe.

Du bist zu gnädig, Leo! Zurück zum Thema: Wo treffen wir uns denn nun? Bei dir oder beim Restaurant?

 

Also ich finde Lissas Vorschlag nicht schlecht. Denn eigentlich müssen wir ja noch ganz offiziell feiern, dass du diese wunderschöne Wohnung bekommen hast. Und wo ginge das besser als in besagter Wohnung?

Was ich vor allem meinen Eltern verdanke, die mir die Kaution vorgestreckt und für mich gebürgt haben. Vermutlich hätten sie sogar einen Teil der Mietkosten übernommen, nur damit ich nicht noch länger in den USA bleibe. Besonders für Mama war die Zeit, in der ich fort war, hart. Ich weiß, wie sehr sie das verletzt hat, auch wenn ich nichts Falsches getan habe.

Wenn ich gewusst hätte, was mich in L.A. erwarten würde, wäre ich vermutlich nie gefahren.

Vermutlich wäre ich dann auch noch mit Jasper zusammen. Wegen dem ich jetzt auch hier bin und nicht in Lüneburg bei meinen Eltern.

Er kommt wie Leo, Lissa und ich ursprünglich aus Lüneburg und verbringt jedes Jahr die Sommer-Semesterferien bei seinen Eltern. Ich fühle mich einfach noch nicht bereit, ihm über den Weg zu laufen. Deshalb habe ich beschlossen, die Ferien in Lübeck zu verbringen und mich mit Arbeit abzulenken. Und meinen Mädels – zumindest heute Abend.

Okay, dann um sechs bei mir. Ich freu mich sooooo!

Nachdem wir uns verabschiedet haben, lege ich mein Handy auf den Beistelltisch. Eigentlich müsste ich jetzt vom Sofa aufspringen und mir den Rest der Wohnung ansehen. Das Bad und das Schlafzimmer. Aber ich kann mich gerade nicht aufraffen. Und mir gefällt der Gedanke, dass ich das eigentlich auch nicht muss. Weil nur ich hier lebe. Es ist okay, noch ein paar Minuten auf dem Sofa zu sitzen, Smarties zu essen und die Aussicht zu genießen: die rustikale kleine Einbauküche. Das Sideboard, auf dem ein kleiner Flachbildfernseher steht. Die leicht schräge Decke mit der blumenförmigen Hängeleuchte. Und das Regal neben dem Fenster, das diesen Raum mit Licht durchflutet. Ich weiß noch nicht, ob und wann das Gefühl von Zuhause kommen wird. Aber ich fühle mich wohl. Wohl genug, um die Müdigkeit zuzulassen und langsam wegzudämmern.

2Heute: Jasper

Ich bin im Badezimmer und entsorge das benutzte Kondom im Mülleimer, als ich höre, wie jemand den Flur betritt. Da Fiona noch nackt in meinem Bett liegen dürfte, kann es sich bei diesem Jemand nur um meinen Mitbewohner und besten Freund Joel handeln. Was dann wohl bedeutet, dass ich doch keine sturmfreie Bude habe. Denn er wollte eigentlich nach Hamburg zu einem Brunch-Date, woraufhin ich spontan Fiona angerufen habe.

Ich reiße mein Handtuch von der Halterung neben der Dusche und wickle es um meine nackten Hüften. Dann trete ich aus dem Badezimmer in den Flur. Doch der ist leer, dafür ist jetzt im Wohnzimmer der Fernseher zu hören.

Stirnrunzelnd folge ich dem Geräusch und entdecke Joel auf unserem Sofa. In Jogginghose, Unterhemd und einem Buch in der Hand. Joel ist einer der wenigen Menschen, die lesen können, während der Fernseher läuft. Ich hingegen brauche zum Lesen völlige Stille.

«Du bist ja doch da», stelle ich unnötigerweise fest.

«Ich freu mich auch, dich zu sehen.»

Seine sarkastische Bemerkung ignoriere ich. «Was ist mit deinem Date?»

«Hab’s mir anders überlegt.» Er zuckt gleichmütig mit den Schultern.

Ich hebe anklagend eine Augenbraue. «Hast du wieder jemanden geghostet?» Wie er mit seinen Tinder-Bekanntschaften umgeht, ist eigentlich seine Sache. Trotzdem finde ich es maximal asozial, eine Frau, die man gerade kennenlernt, von jetzt auf gleich und ohne jede Erklärung zu ignorieren. Seit er von seiner Ex-Freundin betrogen worden ist, benimmt er sich wie ein Arschloch. Ob es da einen kausalen Zusammenhang gibt, weiß ich nicht.

«Wir waren eh nicht kompatibel. Hab ich schon beim Schreiben gemerkt.»

«Aber du hast dich trotzdem mit ihr verabredet?» Ich schüttele verständnislos den Kopf. «Klar. Das macht Sinn.»

«Sie hat mich gefragt, und ich wollte … sie nicht … verletzen?» Die zweite Satzhälfte kommt abgehackt und zögerlich über seine Lippen. Wahrscheinlich hat er beim Reden selbst gemerkt, dass das totaler Blödsinn ist. «Wie auch immer.» Er klappt das Buch zu. «Werd mir jetzt mal den neuen Marvel ansehen. Bist du dabei?»

«Fiona ist da.»

Ein anzügliches Grinsen breitet sich in seinem Gesicht aus. «Das hab ich mitbekommen.»

«Warum fragst du dann?»

«Weil es sich für mich so angehört hat, als ob ihr fertig wärt.»

«Alter!?», zische ich. «Hast du nichts Besseres zu tun, als uns zu belauschen?» Mir ist klar, dass die Wände unserer Wohnung dünn sind. Aber muss er mir das unbedingt unter die Nase reiben?

«War das ein Ja oder Nein?»

«Nein, Mann.» Weil ich eine Frau, mit der ich vor drei Sekunden Sex hatte, ganz sicher nicht nach Hause schicken werde, nur um mit ihm einen Film anzusehen. Auch wenn es sich bloß um eine lockere Sex-Beziehung handelt.

«Versteh schon. Aber wenn du eine andere Form der Ablenkung brauchst oder reden willst, bin ich da.»

Ich war gerade dabei, mich zum Gehen zu wenden, doch Joels seltsam besorgter Unterton lässt mich innehalten. Auch auf die Gefahr hin, dass sich Fiona vermutlich fragen wird, ob ich das Kondom zur nächsten Mülldeponie bringe. «Worüber sollte ich denn reden wollen?»

«Über …» Dass er stockt, liegt vermutlich an den Fragezeichen auf meiner Stirn. «Oh.»

«Oh was?»

«Du weißt es noch gar nicht.»

«Was denn?»

«Calla … Sie ist wieder da.»

Seine Worte schlagen wie eine Bombe bei mir ein. Schmerz explodiert in meiner Brust und reißt den Krater darin wieder auf. Ich kann nicht verhindern, dass ich zischend einatme, aber dann sammle ich mich und setze eine gleichgültige Miene auf. Versuche es zumindest. «Woher weißt du das?»

«Eine Story bei Insta.»

Mein Kopf hat gefühlt das Gewicht einer Wassermelone, als ich nicke.

«Tut mir leid, Mann. Dachte, du hättest es gesehen.»

Hätte ich vermutlich auch, wenn ich die Sichtbarkeit ihres Accounts nicht eingeschränkt hätte. Ihr gar nicht mehr zu folgen, hab ich nicht gepackt. War mir zu endgültig. Ich wollte zumindest die Option haben, alle paar Monate zu checken, was in ihrem Leben abgeht, seit ich kein Teil mehr davon bin.

«Kommst du klar?»

«Klar!» Ich tackere mir ein Grinsen ins Gesicht, das sich jedoch eher wie eine Grimasse anfühlt.

Joel sieht mich nachdenklich an. «Du weißt, wo du mich findest, falls …»

«Danke, aber mir geht’s gut.» Kaum dass ich mich umgedreht habe, sacken meine Mundwinkel wieder hinab. Im Flur bleibe ich stehen. Es braucht einige tiefe Atemzüge, um den Sturm, der in mir wütet, zu bändigen. Damit Fiona ihn nicht bemerkt. Trotzdem werde ich gleich eine Show abziehen müssen. Eine noch größere als sonst. Doch als ich mein Zimmer betrete und auf sie zugehen will, streiken meine Beine. Ich kann nicht so tun, als wäre es mir egal, dass sie wieder da ist. Ich kann mich nicht wieder neben Fiona legen. Ich schaffe es nicht mal, ihr Lächeln zu erwidern. Stattdessen bleibe ich mitten im Raum stehen und sehe mich verloren um. Als wäre das hier gar nicht mein Zimmer.

«Was suchst du?»

«Mein … T-Shirt.»

«Hängt über dem Stuhl.» Sie setzt sich auf, hält sich das Laken vor die Brüste. «Ist alles okay bei dir?»

Ich nehme wortlos das T-Shirt von der Lehne und ziehe es über. Dann hebe ich meine Hose vom Boden auf, was Fiona sichtlich zu irritieren scheint. Kein Wunder. Ich benehme mich ja auch wie das letzte Arschloch.

«Hab ich was verpasst? Herrscht hier jetzt Aufbruchsstimmung?» Sie schiebt sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr und lächelt etwas unsicher. «Was ist los?»

«Nichts. Alles gut», versuche ich, vor allem mir selbst einzureden. Doch der Druck in meinem Magen, das rasche Klopfen in meiner Brust sind das krasse Gegenteil von Alles gut.

«Ist das deine Art, mir zu sagen, dass ich gehen soll?» Ich höre die Verletztheit in ihrer Stimme und komme mir maximal mies vor.

«Nein.»

«Sondern?»

Ich kann ihr nicht sagen, dass meine Gedanken gerade voll von einer anderen sind. Voll von Calla. Auch wenn das zwischen uns was Lockeres ohne Verpflichtungen ist, will ich ihr nicht das Gefühl geben, sie benutzt zu haben. Weil ich sie mag. Mit ihr ist es unkompliziert. Sie stellt keine Forderungen, die über den Sex hinausgehen. Nur deshalb konnte ich mich nach neun Monaten Trennung überhaupt erst auf das hier einlassen. Um zu vergessen. Zu verdrängen, dass ich eigentlich noch immer eine andere will. Aber das kann ich Fiona nicht sagen. So tun, als wäre alles wie sonst, kann ich aber auch nicht.

Ich setze mich zu ihr auf die Bettkante. «Sorry, aber … ich hab grad etwas erfahren, das mich … extrem runterzieht.»

«Okay.» Abwartend sieht sie mir in die Augen. In ihren steht eine Frage, auf die ich jedoch mit Schweigen reagiere. Sie nickt schließlich, als wäre das Antwort genug. «Dann möchtest du jetzt also lieber allein sein?»

«Schätze, dass ich aktuell echt keine gute Gesellschaft bin. Tut mir leid, Fiona.»

Ein Lächeln kaschiert ihre Enttäuschung. «Gibst du mir meinen BH und das Kleid? Du sitzt drauf.»

Ich rücke ein Stück zur Seite, reiche ihr beides und beobachte, wie sie sich hastig anzieht. Als wäre es ihr plötzlich unangenehm, vor mir nackt zu sein. Deshalb schaue ich wieder weg, bis sie angezogen aus dem Bett gestiegen ist. Immer noch hastig zupft sie nun den hellen Stoff ihres Kleides zurecht und fährt mit den Fingern durch ihr langes blondes Haar. Dann – ohne was zu sagen – nimmt sie ihre Tasche von meinem Schreibtisch und wendet sich zum Gehen.

«Warte, ich bring dich noch zur Tür.» Mein schlechtes Gewissen lässt mich von der Bettkante hochspringen.

«Schon okay, Jasper. Das machst du sonst ja auch nicht.»

«Sonst hab ich dich aber auch noch nie so früh rausgeworfen.» Ich schiebe meine Hände tief in die Taschen meiner Jeans und sehe sie entschuldigend an.

«Wem sagst du das.» Sie hebt anklagend eine Augenbraue, doch ihre Lippen umspielt ein versöhnliches Lächeln.

«Dann ist zwischen uns also alles gut?»

«Klar», sagt sie mit einem Schulterzucken. Keine Ahnung, ob sie nur so entspannt tut. Aber ich werde nicht nachbohren und aus einer Mücke, die vielleicht gar nicht da ist, einen Elefanten machen. Außerdem fehlt mir für so was jetzt echt der Nerv.

«Meld dich einfach, wenn … was auch immer du erfahren hast, geklärt ist.»

«Mach ich.» Ich verabschiede sie mit einem Nicken. Als ich höre, wie die Haustür auf und wieder zu gemacht wird, lasse ich mich rücklings ins Bett fallen und starre an die Decke.

Sie ist wieder da. Calla ist wieder da und hat es mir nicht gesagt. Obwohl mir klar ist, dass sie mir schon lange keine Rechenschaft mehr schuldet, tut das verdammt weh. Mehr, als ich erwartet habe.

«Fuck.» Ich setze mich wieder auf und nehme mein Handy von der Kommode neben dem Bett. Dann tue ich das exakte Gegenteil von dem, was ich jedem anderen in meiner Situation raten würde, und schaue mir ihr Instagram-Profil an. Ein Foto, das sie aus dem Fenster des landenden Flugzeugs gemacht zu haben scheint. Dazu der Text: Home Sweet Home

Ich schlucke, als mir klar wird, was das bedeutet. Nämlich dass wir zur gleichen Zeit in Lüneburg sein werden. Und die Vorstellung, sie nach über einem Jahr wiederzusehen, überfordert mich. Weil ich keine Ahnung habe, wie ich ihr nach dem harten Bruch begegnen soll. Und aus genau diesem Grund schicke ich meiner Mutter folgenden Text:

Ich hab spontan beschlossen, die Ferien nun doch in Lübeck zu verbringen. Seid mir bitte nicht böse, okay?

Als Nächstes rufe ich Stephan, den Besitzer des Trave Mundet, an. Dort arbeite ich seit fast vier Monaten im Service. Sehr viel länger gibt es das Restaurant auch noch nicht. Eigentlich hatte ich mir für die Semesterferien freigenommen, um wie immer nach Hause zu fahren. Jetzt hoffe ich, dass Stephan mir doch noch ein paar Schichten geben kann. Wenn ich schon hierbleibe, dann will ich wenigstens ein bisschen Geld verdienen.

Die Leitung knackt, und Stephan hebt endlich ab. «Was gibt’s?»

«Brauchst du für die Ferienzeit noch Leute?», komme ich sofort zur Sache.

«Warum? Kannst du jemanden empfehlen?»

«Ja, mich.»

«Ich dachte, du bist weg.» Ich höre die Verwunderung in seiner Stimme und im Hintergrund das Mahlen des Kaffeeautomaten.

«Dachte ich auch, aber mir ist was dazwischengekommen.» Wohl eher jemand.

«Das heißt konkret?»

«Ich hab Zeit.»

«Auch an diesem Wochenende?»

«Jap.»

«Dann komm heute, um achtzehn Uhr. Wir sind komplett ausgebucht. Und könntest du Montag meine Frühschicht übernehmen?»

Ich rümpfe die Nase. Vormittags steht man sich die Beine in den Bauch, weil da kaum was los ist. Aber egal. «Klar.»

«Sehr gut. Dann bis später.»

Keine Sekunde nachdem wir aufgelegt haben, klingelt mein Telefon. Meine Ma ruft an – wahrscheinlich um mich davon abzuhalten, meinen Besuch zu canceln.

«Hey, Ma», sage ich so neutral wie möglich. Sie soll nicht merken, dass etwas nicht stimmt.

«Was ist los, Jasper? Wieso kommst du nicht nach Hause? Wir freuen uns doch auf dich.»

«Ich hab vorhin ein paar Schichten auf der Arbeit übernommen, weil ich Geld brauche. Kann jetzt nicht mehr absagen. Tut mir leid. Dafür komme ich an ein paar Wochenenden vorbei, okay?»

«Wofür brauchst du denn Geld? Bist du in Schwierigkeiten?»

«Nein, nein», sage ich schnell, damit sie sich nicht sorgt. «Ich will mir nur ein bisschen was ansparen, falls ich während des neuen Semesters nicht zum Arbeiten komme.»

«Aber du kannst doch jederzeit uns fragen, wenn du was brauchst», sagt sie und klingt so verdammt enttäuscht, dass ich schließlich doch mit der Wahrheit rausrücke.

«Sie … Sie ist wieder da.»

«Sprichst du von Obi?»

Ich zucke zusammen, als ich den Spitznamen höre. Denn ich selbst nenne sie schon seit einer Weile nicht mehr so. Ich habe es mir verboten, weil daran einfach zu viele Erinnerungen hängen. Unsere erste Unterhaltung und wie ich mir erst verdienen musste, sie als Einziger Obi nennen zu dürfen. Damals. In der zwölften Klasse.

3Damals: Jasper

Das ist sie also. Die Neue.

Meine Mutter, die hier Rektorin ist, hatte mir zwar erzählt, dass die Klasse Zuwachs bekommt, aber nicht, wie unfassbar hübsch dieser sein würde. Denn dann hätte ich mir definitiv was anderes angezogen und würde jetzt nicht in einem meiner ältesten Pullis vor dem wohl schönsten Mädchen der Stufe sitzen.

Danke, Mama.

«Hi, ich bin Calla und neu hier.» Sie winkt kurz zur Begrüßung und scheint noch was sagen zu wollen, aber Herr Kappen, der neben ihr steht, kommt ihr zuvor.

«Also laut Klassenbuch …» Er schlägt es auf und blättert irritiert darin rum. «… heißt du anders. Wie spricht man deinen Namen denn aus? Und wie möchtest du angesprochen werden?»

«Mit Calla.»

«Verrätst du der Klasse trotzdem den anderen Namen?»

Sie tritt von einem Bein aufs andere und spielt dabei mit einem der vielen langen Zöpfe, die in wellenförmigen Mustern eng an ihrem Kopf entlanggeflochten sind und über ihre schmalen Schultern fallen. Als ich mir mit vierzehn eine ähnliche Frisur machen lassen wollte, waren meine Eltern dagegen. Warum, kapiere ich bis heute nicht so ganz. Sie meinten nur, ich würde mir damit eine fremde Kultur aneignen oder so. Heute bin ich dankbar, dass sie es mir verboten haben. Bei mir hätte die Frisur nicht mal halb so cool ausgesehen wie bei Calla, die noch immer ein Geheimnis aus ihrem Namen macht. Vielleicht ist er ihr peinlich. Mir geht es mit meinem Zweitnamen nicht anders. Wer will schon Benediktus heißen?

Als sich Callas volle Lippen zögerlich öffnen, erwarte ich also einen Namen, der mindestens so scheiße klingt wie meiner, doch stattdessen …

«Mein Name ist … Obioma.»

Außergewöhnlich, aber definitiv nicht peinlich. Im Gegenteil. Ich würde den Namen gerne noch mal hören. Aber aus ihrem Mund, weil mir der Klang gefällt. Doch als ich sie bitten will, ihn zu wiederholen, höre ich hinter mir Gekicher und Getuschel.

Ich drehe den Kopf fast automatisch – und zwar zu Isa und Lydia. Mein Blick muss ziemlich finster sein, so schnell, wie sie verstummen.

«Ich denke, es ist einfacher, wenn wir bei Calla bleiben», höre ich Herrn Kappen sagen und drehe mich wieder zur Tafel. «Wenn du willst, kannst du Platz nehmen. Ist der Stuhl neben dir frei, Jasper?»

Eigentlich nicht. Aber so oft, wie Tobi blaumacht, braucht er sich nicht zu wundern, wenn ich seinen Platz anderweitig vergebe. «Ja, ist er.»

Sie wirkt fast erleichtert. Allerdings schätze ich, dass das nichts mit mir zu tun hat. Sondern eher damit, dass es ätzend ist, vor der gesamten Klasse zu stehen und angestarrt zu werden. Trotzdem kann ich nicht aufhören, sie anzusehen. Wie sie auf mich zu kommt. In engen Jeans und einem weiten, weißen Pulli, der sich gegen ihre braune Haut abhebt.

«Darf ich?», fragt sie und deutet auf meinen Rucksack, den ich sofort vom Stuhl nehme.

Ich nicke.

Sie bedankt sich mit einem extrem süßen Lächeln. Ich grinse zurück – und bekomme die restlichen Stunden kein einziges Wort über meine Lippen. Obwohl ich tausend Fragen habe. Auf welcher Schule sie vorher war. Ob sie hergezogen ist oder schon immer hier in Lüneburg lebt. Und ob sie ihren Namen wiederholen könnte. Okay, das sind eigentlich nur drei Fragen, aber ich kriege es nicht mal hin, eine davon zu stellen. Jedes Mal, wenn ich den Kopf zu ihr drehe und sich unsere Blicke treffen, streikt meine Zunge. Mein Mund will sich einfach nicht öffnen, als hätte ich eine Kieferstarre. Dabei bin ich echt nicht schüchtern. Im Gegenteil: Ich bin sogar Stufensprecher. Eben weil ich gut reden kann. Selbst vor über hundert Leuten in der Schulaula macht mir das nichts aus. Nur bei ihr bin ich stumm wie ein beschissener Fisch, weil mich ihre Augen total aus dem Konzept bringen. Sie sind wahnsinnig groß, umgeben von langen schwarzen Wimpern und so dunkel, dass ich ihre Pupillen kaum erkennen kann. Das verleiht ihrem Blick etwas Geheimnisvolles und anscheinend auch ziemlich Einschüchterndes. Denn als sie sich nach der letzten Stunde mit einem «Bis morgen» von mir verabschiedet, bekomme ich nicht mal ein simples «Tschüs» über meine Lippen.

Am nächsten und übernächsten Tag wiederholt sich der Mist. Aber nur bei ihr. Um auszuschließen, dass ich über Nacht eine Frauenphobie entwickelt habe, suche ich in den Pausen bewusst das Gespräch zu Mandy, Laura und ein paar anderen Mädchen aus der Stufe. Ohne Probleme. Aber sobald ich neben Calla sitze, ist die Blockade wieder da. Inzwischen traue ich mich nicht mal mehr, sie überhaupt anzusehen. Jemanden wortlos anzustarren ist eine ziemliche Psychonummer. Nachher bekommt sie noch Angst vor mir und setzt sich weg. Eine Befürchtung, die sich am Donnerstagmorgen tatsächlich bewahrheitet. Als ich das Klassenzimmer betrete, bemerke ich sofort, dass sie woanders sitzt. Neben Karim – und sie unterhalten sich. Das zu sehen, fühlt sich wie ein Stich an. Eine feine spitze Nadel, die sich zwischen meine Rippen bohrt.

Ausgerechnet Karim, der im Unterricht nie mitmacht, immer still ist. Ausgerechnet er bringt sie gerade zum Lachen. Damit niemand mitbekommt, wie sehr mich das nervt, schlendere ich mit gesenktem Kopf zu meinem Tisch und nehme Platz.

«Wie ich sehe, hast du den Tischnachbarn gewechselt», stellt Herr Kappen kurze Zeit später fest und drückt die Nadel noch ein bisschen tiefer zwischen meine Rippen. «Bleibt die Sitzordnung denn jetzt so?»

Die Frage gilt Calla, und sie antwortet mit einem eindeutigen «Ja». Mein Körper spannt sich an. Ich spüre die Blicke der anderen auf mir und wie meine Ohren heiß anlaufen. All das führt dazu, dass ich von der Kurvendiskussion kaum was mitkriege. Das ist doch scheiße. Ich debattiere fast die ganze Stunde mit mir selbst, was ich jetzt mache, und reiße schließlich eine Ecke Papier aus meinem Collegeblock. Den fertig beschriebenen und gefalteten Zettel reiche ich unauffällig nach hinten weiter und flüstere: «Für Calla.»

Herr Kappen, der mit dem Rücken zur Klasse vor der Tafel steht und wie immer einen Monolog hält, bekommt nicht mit, wie der Zettel von Tisch zu Tisch geht, bis er schließlich in der letzten Reihe bei ihr angekommen ist. Wird sie ihn überhaupt öffnen, wenn sie weiß, dass er von mir ist? Oder ihn einfach wegwerfen, nachdem sie ihn gelesen hat?

4Damals: Calla

«Hier, von Jasper», flüstert mir das blonde Mädchen zu und hält mir mit ausgestrecktem Arm einen kleinen Zettel hin.

Schnell nehme ich ihn an mich. Ich will nicht schuld sein, wenn Herr Kappen etwas mitkriegt und sie – ich glaube, ihr Name ist Anna – deswegen Ärger bekommt. Sie dreht sich wieder nach vorne, und ich sehe unschlüssig auf den Zettel in meinen Fingern hinab. Will ich überhaupt wissen, was drinsteht? Bestimmt nichts Nettes, so böse, wie mich dieser Jasper die letzten beiden Tage angesehen hat. Seine abweisende Art hat sich so scheiße angefühlt, dass ich mich lieber weggesetzt habe.

Meine Angst, dass die ganze Klasse was gegen mich haben könnte, hat sich zum Glück nicht bestätigt. Karim war auf Anhieb sehr nett zu mir. Ich glaube, es hat ihn sogar ein bisschen gefreut, dass ich mich zu ihm gesetzt habe. Und mit ein paar anderen bin ich auch schon ins Gespräch gekommen. Es liegt also auf keinen Fall an mir. Ganz egal, was in diesem Zettel steht, es ist Jaspers Problem, nicht meines.

Argwöhnisch sehe ich zu diesem Jasper hinüber. Natürlich genau in dem Moment, als er sich umdreht. Diesmal kommt mir sein Blick nicht ganz so feindselig vor wie sonst. Aber vielleicht ist das ein Trick. Um mich in Sicherheit zu wiegen, so wie am ersten Tag, als er mich einmal kurz angelächelt hat.

Ich vergewissere mich, dass Herr Kappen noch immer mit dem Rücken zur Klasse steht. Dann öffne ich den Zettel und … versuche zu entziffern, was da steht. Wie kann man nur so eine Sauklaue haben? Nachdem ich mir die beiden Sätze zusammengereimt habe, blinzele ich überrascht:

Falls ich der Grund dafür bin, dass du dich umgesetzt hast, tut es mir leid. Wollte dich nicht vertreiben oder so. Jasper

Erneut sehe ich zu ihm rüber, als könnte ich dadurch herausfinden, ob er das wirklich so meint, wie es da steht. Doch sein Blick ist inzwischen nach vorn gerichtet, und ich starre verwirrt auf seinen Rücken.

Soll ich ihm antworten? Und wenn ja, was? Was würden mir Lissa und Leo raten? Ich würde den Zettel am liebsten abfotografieren und ihn meinen besten Freundinnen schicken, aber das wäre zu auffällig. Außerdem sitzen die beiden gerade selbst im Unterricht und haben ihre Handys auf stumm geschaltet. Ich bin also auf mich allein gestellt, und nach einem Moment Überlegen schreibe ich:

Kam mir aber anders vor. Du warst nicht gerade nett.

Zwei kurze Sätze, die ich gefühlt noch hundertmal lese, bevor ich Anna flüsternd darum bitte, den Zettel weiterzureichen. Und so nimmt er wieder seinen Weg. Denselben wie vorhin. Nur rückwärts. Von Lea zu Sara. Von Sara zu – ich glaube, er heißt Kevin. Und von Ich-glaube-er-heißt-Kevin zu einem rothaarigen Typen mit Brille. Mein Herz klopft schneller, als der Zettel sein Ziel erreicht hat. Plötzlich frage ich mich, ob meine Antwort zu zickig war? Oder zu lieb, dafür, dass er mich wie Luft behandelt hat. Vielleicht hätte ich auch einfach gar nicht antworten und lieber dem Unterricht folgen sollen. Nur ist es für das alles jetzt zu spät. Jasper hat den Zettel gelesen, und es dauert nicht mal eine Minute, bis ich seine Antwort in der Hand halte.

Gibst du mir die Chance, dir zu beweisen, dass ich nicht nur nett, sondern eigentlich auch ziemlich cool bin?

Dass er das eigentlich durchgestrichen hat, lässt mich innerlich die Augen verdrehen. Anstatt cool müsste da eingebildet stehen. Trotzdem verzieht sich mein Mund zu einem Lächeln. Auch vor Erleichterung darüber, dass er anscheinend doch nichts gegen mich hat.

Und wie willst du das anstellen?, schreibe ich ganz klein unter seine Frage, weil darunter kaum noch Platz ist. Anna reagiert leicht genervt, als ich sie erneut mit gesenkter Stimme bitte, die Postbotin zu spielen. Was ich sogar verstehen kann. Ich halte sie vom Aufpassen ab, etwas, das ich selbst tun sollte. Vor allem da ich in Mathe nicht wirklich gut bin. Aber ich wäre eh nicht in der Lage, mich zu konzentrieren, weil ich viel zu gespannt auf Jaspers Antwort bin. Als er aufsteht und zum Mülleimer geht, schnellt mein Puls in die Höhe. Denn es macht kurz den Anschein, als würde er den Zettel entsorgen und unsere Unterhaltung so demonstrativ beenden wollen. Doch anstatt sich auf direktem Weg zurück zu seinem Platz zu begeben, macht er einen Abstecher zu meinem. Ohne mich anzusehen, lässt er im Vorbeigehen den Zettel auf meinen Tisch fallen. Jeder bekommt es mit. Bis auf Herrn Kappen. Weil der noch immer vor der Tafel steht und Unterricht für sich selbst gibt. Er scheint uns vollkommen vergessen zu haben, oder ihm ist egal, ob wir seinen Rechenschritten folgen können. Daher gebe ich mir keine Mühe, den Zettel heimlich zu lesen.

Wir könnten die Zeit zurückspulen und einfach von vorne beginnen? Du darfst mir dabei nur nicht in die Augen schauen.

 

Warum nicht?

Ich runzele die Stirn, während ich diese Frage auf das inzwischen total zerknitterte Karopapier schreibe. Weil ich mich nicht traue, Anna erneut um Hilfe zu bitten, und auch nicht bis zur Pause auf eine Antwort warten will, bleibt mir nur, es Jasper gleichzutun. Also stehe ich auf, gehe zu Herrn Kappen und behaupte, dringend auf die Toilette zu müssen. Nickend gibt er sein Okay. Und noch während er sich wieder der Tafel zuwendet, fällt mir auf, dass ein Gang zum Papierkorb wesentlich unkomplizierter gewesen wäre, um Jasper unbemerkt den Zettel zu übergeben. Denn als ich ihn zu einer Kugel geformt unauffällig auf seinen Platz werfen will, landet er knapp daneben auf dem Boden.

Na toll.

Mich durchzuckt der Impuls, ihn aufzuheben. Ich unterdrücke ihn, gehe weiter und öffne die Tür. Wenn ich so tue, als wäre nichts passiert, fällt mein kleines Missgeschick vielleicht niemandem auf. Niemandem, außer Jasper. Ich erkenne im Augenwinkel, wie er mit seinem Fuß nach dem Papierkügelchen tastet, bevor ich den Raum verlasse.

Während ich nun im Flur darauf warte, dass genügend Zeit vergangen ist, um alle glauben zu lassen, ich sei auf der Toilette gewesen, laufe ich den grün gestrichenen Gang auf und ab. An den Wänden hängen Plakate, die auf zukünftige Veranstaltungen hinweisen. Es wird wohl demnächst «Die Welle» als Theaterstück aufgeführt. Das Buch fand ich nicht schlecht und sehe mir die Vorstellung eventuell an. Ich hatte auch kurz mit dem Gedanken gespielt, mich bei der Theater-AG anzumelden. Nur habe ich ein bisschen Angst, dann nicht mehr genug Zeit zum Lernen zu haben. Ich will unbedingt Psychologie studieren und brauche dafür einen Einserschnitt. Deshalb sollte ich eigentlich dem Unterricht folgen, anstatt so zu tun, als wäre ich auf dem Klo. Aber sich Zettel hin und her zu schreiben ist eindeutig aufregender, als Nullstellen und Schnittpunkte zu errechnen. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr und beschließe, wieder reinzugehen. Als ich den Raum betrete, fällt mein Blick wie von selbst auf Jaspers Tisch. Doch einen Zettel suche ich vergeblich, womit ich mir den ganzen Aufwand auch hätte sparen können. Ich schlucke meine Enttäuschung hinunter, will sie mir auf keinen Fall anmerken lassen. Schon gar nicht vor Jasper. Ganz bewusst sehe ich an ihm vorbei. Er wollte ja eh keinen Blickkontakt. Herr Kappen sitzt inzwischen wieder an seinem Pult, beachtet mich aber nicht weiter. So leise wie möglich gehe ich zurück an meinen Platz. Vorbei an Jaspers Tisch – und seinem halb ausgestreckten Arm.

«Hier …», zischt er, und ich entdecke den Zettel in seiner Handfläche. Meine Enttäuschung verwandelt sich in Nervosität. Hoffentlich bekommt Herr Kappen nichts von der heimlichen Übergabe mit, bei der sich unsere Hände berühren. Es ist eigentlich nur ein kurzer Moment. Nicht länger als zwei Wimpernschläge. Und trotzdem nehme ich diesen winzig kleinen Hautkontakt, die Wärme seiner Finger, überdeutlich wahr. Als wäre mein Tastsinn mit einem Mal viel sensibler als sonst. Ich ignoriere das Kribbeln an der Stelle, wo wir uns berührt haben, und setze mich. Ein dunkelhaariges Mädchen erklärt gerade, wie man irgendeine Formel nach X auflöst, während ich Jaspers Antwort lese. Eine Antwort, die mein Herz zwei Takte schneller schlagen lässt.

Weil ich dann irgendwie kein Wort mehr rausbekomme. Du hast ungelogen die schönsten Augen, die ich je gesehen habe.

O mein Gott.

So was hat mir bisher noch niemand gesagt. Oder geschrieben. Ein Teil von mir will sofort dahinschmelzen und unbedingt glauben, was da steht. Weil Jasper von allen Jungs hier mit Abstand der bestaussehende ist. Und gerade deshalb kann ich mir vorstellen, dass er genau weiß, was er sagen und tun muss, um Mädchenherzen höherschlagen zu lassen.

Viel zu hoch.

5Heute: Calla

Sie sind da. Lissa und Leo.

Eingewickelt in zwei Handtücher – eins ums feuchte Haar und das andere um meinen Körper – flitze ich aus dem Badezimmer in den Flur. Fast stolpere ich dabei über meinen Koffer, der noch immer im Weg steht. Ich drücke den Türöffner und reiße die Wohnungstür auf. Als nicht nur die Schritte, sondern auch die Stimmen meiner besten Freundinnen durchs Treppenhaus hallen, legt sich ein Lächeln auf meine Lippen. Pure Freude strömt durch meinen vom Jetlag erschöpften Körper. Wie ein Energie-Booster, der meine müden Zellen wieder zum Leben erweckt.

Gleich sind wir wieder komplett.

Die Zeit, die die beiden zum Hochkommen brauchen, nutze ich, um meinen Koffer ins Schlafzimmer zu rollen. Mit seinen tiefen Dachschrägen, den quer laufenden Holzbalken und dem Fenster zum Innenhof ist dies der schönste Raum in der Wohnung. Ich hocke mich vor den Koffer und krame ein paar Klamotten heraus. Kleidungsstücke, die ich kurz vor meiner Abreise aus L.A. noch gewaschen habe. Denn ein Großteil meiner Klamotten sowie einige persönliche Dinge sind noch bei meinen Eltern, nachdem Lissa und Leo die Sachen nach der Trennung aus unserer Wohnung geholt haben. Aus Jaspers Wohnung, korrigiere ich mich schnell. Und der Gedanke daran, dass wir nicht mehr zusammenleben, schießt wie ein Pfeil durch meine Brust und verfehlt nur knapp mein Herz. Das rede ich mir zumindest ein und jage den Gedanken wieder fort. Alles, was ich heute will, ist einen entspannten Abend mit Lissa und Leo zu verbringen. Ohne dabei an ihn denken zu müssen.

Ich hole eins meiner Schlafshirts sowie einen Slip hervor und ziehe beides schnell an. Ein restauranttaugliches Outfit suche ich mir später heraus.

«Hallo?»

«Jemand zu Hause?»

Die Stimmen meiner Mädels lassen mich zurück zum Flur eilen. Mit einem Aufschrei laufe ich auf Lissa und Leo zu. Wir fallen uns um den Hals, halten uns lachend und quiekend in den Armen. Gott, wie ich das hier vermisst habe. Wer braucht da noch Schlaf?

«Ihr habt mir sooooo gefehlt», murmele ich und drücke die beiden ganz fest an mich.

Sie drücken mich ebenso doll zurück, während wir uns so lange hin und her wiegen, bis Leo irgendwann einen halb erstickten Laut von sich gibt. «Bei aller Liebe, aber …» Ihre Arme lockern sich. «Ich bekomme kaum noch Luft und hab jetzt schon mindestens eine Quetschung und zwei Blutergüsse am Rücken.»

Lissa und ich lachen. Bevor also eine von uns noch schwerwiegende Schäden aus dieser Umarmung davonträgt, lassen wir einander los. Ich habe ein breites Grinsen auf den Lippen, während ich meine Freundinnen betrachte. Leo in ihrem kurzen Jeansoverall und Lissa in einem Jerseykleid, das exakt den gleichen Lilaton hat wie ihr Haar. «Gut seht ihr aus.»

«Danke! Du auch.» Ein amüsiertes Funkeln glitzert in Lissas blauen Augen, während sie ihren Blick demonstrativ von meinen rot lackierten Fußnägeln bis zu dem blauen Frottee-Turban auf meinem Kopf gleiten lässt. «Aber … wollten wir nicht in einer halben Stunde los?» Ihre Augenbraue wandert nach oben, als würde sie bezweifeln, dass wir pünktlich hier wegkommen. Wobei wir nach Lissas Definition von Pünktlichkeit ohnehin eine Viertelstunde zu früh im Restaurant sein müssten.

«Ich bin eingeschlafen und hatte vergessen, mir den Wecker zu stellen», erkläre ich. «Aber keine Sorge, ich schaffe das. Wir können um Punkt sechs los. Muss mir nur was anderes anziehen.»

Leo grinst wissend. «So siehst du also aus, wenn du uns fünf Minuten vor Verabredungen schreibst, dass du gleich losfährst und …», sie zeichnet Gänsefüße in die Luft, «du dir nur noch was anderes anziehen musst. Jetzt verstehe ich auch, warum das Anziehen so lange dauert.» Schmunzelnd deutet sie auf meinen Kopf.

Ertappt ziehe ich die Schultern hoch. «Hm, okay … Ich rufe vorsichtshalber im Restaurant an und sage, dass wir ein bisschen später kommen.»

«Wir rufen an, und du machst dich fertig.»

Leos Vorschlag lässt mich entschuldigend das Gesicht verziehen. «Sorry für den chaotischen Empfang. Wir wollten ja eigentlich hier zusammen anstoßen.»

«Das holen wir im Restaurant nach», antwortet Lissa genauso entspannt wie Leo.

«Dann macht es euch bequem. Ich bin gleich wieder da.» Damit verschwinde ich ins Badezimmer und beginne mit dem, was am längsten dauert. Meinen Haaren. Das hier ist einer der seltenen Momente, in denen ich mir glattes, pflegeleichtes Haar wünsche. Als Kind und besonders in der Pubertät habe ich meine Afrolocken gehasst. Mich für sie geschämt, weil ich mir nicht die gleichen Frisuren machen konnte wie meine Freundinnen oder andere Mädchen. Ich habe sie gehasst, weil jeder mal mit seinen Fingern reinfassen wollte und ich mir dann immer wie im Streichelzoo vorkam. Das ist auch heute noch der Fall. Aber im Gegensatz zu früher traue ich mich zu sagen, dass ich das nicht möchte. Ich habe keine Hemmungen mehr, fremden Personen, die ungefragt meine Haare anfassen, deutlich die Meinung zu sagen. Inzwischen sind es die anderen, die sich nicht die gleichen Frisuren machen können wie ich.

Ich massiere schnell etwas Pflegeöl in mein noch feuchtes Haar und binde es zu einem Knoten nach oben. Damit wir halbwegs pünktlich loskommen und entspannt zum Restaurant gehen können, belasse ich mein Make-up bei Wimperntusche und Lipgloss.

Es ist fünf nach sechs, als ich in einem trägerlosen Maxikleid vor Lissa und Leo trete. «Ich bin so weit.»

Eine halbe Stunde später sitzen wir an einem kleinen runden Fenstertisch im Restaurantbereich des Trave Mundet. Es gibt auch noch eine Bar, wo ausschließlich Getränke serviert werden. Unsere wurden uns soeben gebracht. Drei Gläser Sekt, die wir nun zum Anstoßen in die Höhe halten.

«Auf deine Rückkehr, Calla!»

«Auf unseren ersten gemeinsamen Abend seit einer Ewigkeit.»

«Und auf die weltschönste Wohnung», ergänze ich mit einem Lächeln auf den Lippen, bevor ich zum Trinken ansetze. Noch während der erste prickelnde Schluck meine Kehle hinabrinnt, fällt mir ein, dass ich heute kaum etwas gegessen habe. Jedenfalls nichts, was eine Grundlage für den Alkohol schafft. Da ich ohnehin nicht viel vertrage – besonders bei Sekt und Wein –, lasse ich mir beim Trinken Zeit.

«Der Laden ist wirklich hübsch.» Lissa sieht sich um. «Ich mag den Mix aus rustikal und modern. Total gemütlich.»

Leo und ich stimmen nickend zu.

So wie Lissa habe ich auch empfunden, als ich die Bilder im Internet sah und mich von L.A. aus beworben habe. Und auch live sprechen mich die hellen, teils verschnörkelten Holzmöbel und die stylishen Dekorelemente an. Ich muss mir fast auf die Zunge beißen, um das Probearbeiten nicht zu erwähnen. Allerdings fällt es mir jetzt – da wir hier zusammensitzen – hundertmal schwerer als vorhin am Handy. Ich bin eine absolute Niete darin, gute Nachrichten für mich zu behalten. Erst recht, wenn mich nichts als ein vager Aberglaube davon abhält. Also …

«Ich muss euch was erzählen», beginne ich genau in dem Moment, als die Kellnerin von eben wieder an unseren Tisch tritt.

Fragend sieht sie in unsere kleine Runde. «Wisst ihr schon, was ihr essen möchtet? Dann würde ich eure Bestellung noch aufnehmen. Ansonsten übergebe ich euch an meinen Kollegen, weil jetzt Schichtwechsel ist.»

«Wir haben ehrlich gesagt noch keinen Blick in die Speisekarte geworfen», sage ich.

«Gar kein Problem.» Lächelnd winkt sie ab.

Lissa greift in ihre Handtasche. «Sollen wir unsere Getränke schon mal zahlen?»

«Nein, nicht nötig. Die Rechnung übernimmt dann mein Kollege.»

«Oh, wie nett von ihm!», meint Leo trocken, und wir müssen alle lachen.

Die Kellnerin stimmt ein. «Sorry, aber so war das nicht gemeint. Es sei denn, jemand von euch hat heute Geburtstag. Dann gibt es einen Überraschungscocktail aufs Haus.»

«Leider nein, aber gut zu wissen», entgegne ich und hoffe, dass alle, die hier arbeiten, so nett sind wie sie. Mit ihr werde ich mich sicher gut verstehen.

Wir wünschen ihr einen schönen Feierabend. Dann schnappen wir uns die Speisekarten, damit wir uns nicht wieder verquatschen und nach einer Stunde immer noch nichts bestellt haben. So wie uns beim letzten Treffen kurz vor meiner Abreise erst beim Bezahlen der Rechnung auffiel, dass wir nichts gegessen hatten. Wir mussten uns dann mit Pizza aus einem Imbiss begnügen. Also erst die Bestellung, und dann werde ich Leo und Calla von meinem potenziellen neuen Job erzählen.

«Wisst ihr schon, was ihr nehmt?», frage ich. «Ich kann mich nicht entscheiden.»

Leo schnaubt. «Wer hätte das gedacht?»

Ja, okay, ich bin bei Essensbestellungen immer die Unentschlossenste von uns. Ich habe die Macke, erst wissen zu müssen, was andere nehmen, um mich entscheiden zu können. Keine Ahnung, warum das so ist.

«Also, ich schwanke zwischen Nummer neun und dreiundzwanzig», antwortet Lissa. «Wobei die Nummer elf auch nicht schlecht klingt.»

«Dir ist klar, dass du Calla damit nur noch mehr verwirrst, oder?»

«Genau. Ich brauche klare Ansagen», scherze ich, den Blick auf die Karte gerichtet.

«Dann frag mich in einer Minute noch mal.»

«Ich habe mich entschieden», verkündet Leo. «Und zwar für das vegetarische Schnitzel, und als Vorspeise nehme ich … ach du Scheiße.»

«Das klingt aber nicht besonders appetitlich.»

«Ach du Scheiße …», wiederholt Lissa. «Wusstest du, dass er hier arbeitet, Calla?»

Ich sehe von der Karte hoch. «Wer?» Stirnrunzelnd folge ich den nervösen Blicken meiner Freundinnen – und erstarre.

Ach. Du. Scheiße.

Jasper. Und er scheint auf uns zuzukommen.

O Gott!

Bitte nicht.

Bitte lass das ein Double sein, jemand, der ihm einfach nur ähnlich sieht. Zu ähnlich. Viel zu ähnlich. Verdammt. Er ist es. Ihn würde ich unter Tausenden erkennen. Es gibt nur einen Menschen in meinem Leben, der meinen Herzschlag so aus dem Takt bringen und meine Atmung derart beschleunigen kann.

Jasper kommt weiter auf uns zu. Näher und näher, und es gibt nichts, was ich tun kann, außer ihn anzustarren, obwohl ich das gar nicht will. Er trägt eine schwarze Schürze und ein weißes Hemd, unter dem sich Muskeln abzeichnen. Muskeln, die vor sechzehn Monaten noch nicht da waren. Seine Schultern und Oberarme sind eindeutig breiter geworden. Mein Blick gleitet höher. Über den sich auf und ab bewegenden Adamsapfel. Über sein markantes Kinn. Über den zuckenden Muskel an seinem Kiefer, weil er die Zähne zusammenbeißt. Zu seinen smaragdgrünen Augen. Augen, die ausdruckslos in meine blicken und sich dann abwenden, als hätte er mich nicht erkannt. Als wären wir nicht vier Jahre ein glückliches Paar gewesen. Wir hatten die gleichen Pläne. Träume. Von einem «Für immer», an das er plötzlich nicht mehr glauben wollte.

Ich kann so nicht weitermachen. Das mit uns hat so keinen Sinn mehr.

«Bist du okay, Calla?»

Leos besorgte Stimme und Lissas Hand, die unterm Tisch sanft mein Bein drückt, befreien mich aus meiner Starre. Gerade rechtzeitig, um Haltung anzunehmen.