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Heike van Hoorn

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Beschreibung

Die stadtbekannte Querulantin Minna Schneider stirbt beim Brand ihres Hauses in den Flammen. Haben es die Jugendlichen, die Minna als Hexe beschimpft und gehänselt haben, etwa zu weit getrieben mit ihren Streichen?

Während die Ermittlungen von Kommissar Möllenkamp und seinen Kollegen von der Kripo Leer gerade anlaufen, verschwindet Pfarrer Hermann Vrielink spurlos. Mit Hilfe der Lokalreporterin Gertrud Boekhoff machen sich der Kommissar und sein Team zusätzlich auf die Suche nach dem Verschwundenen. Doch dann tauchen immer mehr Hinweise auf, dass der Pfarrer ein dunkles Geheimnis hat ...

Nach DEICHFÜRST und STURMFLUCH ermittelt Kommissar Möllenkamp im dritten Band von Heike van Hoorns packender Küstenkrimi-Reihe! Für alle Fans von Eva Almstädt, Nina Ohlandt und Sabine Weiß.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung


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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Die Osternacht

Die Akten

Vater

Das Verschwinden

Der verlorene Sohn

Die Bande

Die Buße

Wertvolle Ressourcen

Der Mann ohne Eigenschaften

Die Koryphäe

Die Verschwörung

Tom

Um jeden Preis?

Der Komplex Wymeer

Die Sprachregelung

Kevin

Heile Familie

Der Geruch von Glück

Die Geißel

Respekt

Dackel

Morbus Sudeck

Freunde halten zusammen

Der Sturz

Gerüchte

Vergangenheitsbewältigung

Im Moor

Der Geburtstag

Der Brief

Die Flasche

Kröten

Die Kittelschürze

Die Wiederkehr

Tobias

Oliver

Im Stress

Führers Geburtstag

Wahlverwandtschaften

Das Familiendrama

Golf II

Auf der Spur

Offensichtlich unbegründet

Auf Strümpfen

Das Motorrad

Auszeit

Vom Recht zu gehorchen

Leseprobe [Deichfürst]

Weitere Titel der Autorin

Deichfürst

Sturmfluch

Über dieses Buch

Die stadtbekannte Querulantin Minna Schneider stirbt beim Brand ihres Hauses in den Flammen. Haben es die Jugendlichen, die Minna als Hexe beschimpft und gehänselt haben, etwa zu weit getrieben mit ihren Streichen? Während die Ermittlungen von Stephan Möllenkamp und seinen Kollegen von der Kripo Leer gerade anlaufen, verschwindet der Pfarrer Hermann Vrielink spurlos. Mit Hilfe der Lokalreporterin Gertrud Boekhoff machen sich der Kommissar und sein Team zusätzlich auf die Suche nach dem Verschwundenen. Doch dann tauchen immer mehr Hinweise auf, dass der Pfarrer ein dunkles Geheimnis hat ...

Über die Autorin

Heike van Hoorn wurde 1971 in Leer/Ostfriesland geboren. Die promovierte Historikerin war Referatsleiterin in der Hessischen Staatskanzlei und arbeitet als Geschäftsführerin des Deutschen Verkehrsforums. Sie ist außerdem Mutter von Zwillingen und begeisterte Hobbygärtnerin. Durch die Recherchen zu ihren Ostfriesland-Krimis hat sie ihre Heimat neu kennen und lieben gelernt. Heike van Hoorn lebt mit Mann und Kindern in Berlin.

Heike van Hoorn

Nebelschuld

Ostfriesland-Krimi

beTHRILLED

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Dieses Werk wurde vermittelt durch die agentur literatur Gudrun Hebel.

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Bernhard Stäber

Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt

Covergestaltung: Guter Punkt GmbH Co. KG unter Verwendung von Motiven © Olha Rohulya/ iStock / Getty Images Plus

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0181-5

Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Deichfürst« von Heike van Hoorn.

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lesejury.de

Die Osternacht

Samstag, 14. April 2001, Wymeer

Die Freiwillige Feuerwehr war nun auch endlich da. Es konnte losgehen. Stolz entstiegen die Feuerwehrmänner in Zeitlupe dem nagelneuen Löschfahrzeug, das die Gemeinde kürzlich angeschafft hatte. Dieselben Männer, denen noch vor einer halben Stunde Sätze wie »Schatz, halt dich heute Abend zurück. Du weißt, was letztes Jahr passiert ist ...« hinterhergerufen worden waren, fühlten sich nun als Mitglieder des A-Teams. Und aus einem Mann mit Bauch wurde in einer Feuerwehruniform sofort ein stattlicher Kerl. Natürlich wussten sie, dass einige Wymeerer Bürger die Gelegenheit genutzt hatten, schnell noch ein paar zerhauene Resopalmöbel oder carbolineumgetränkte Gartenstühle unter den großen Haufen zu schmuggeln. Heutzutage war ja sowieso bereits alles verboten, aber wenn es in Ostfriesland schon keinen Karneval gab, an dem man Verbote übertreten durfte, dann war das ja wohl wenigstens beim Osterfeuer erlaubt!

Bernhard Pohl hatte seine Bude aufgebaut und machte gute Geschäfte. Dass die meisten Jugendlichen schon vorgeglüht hatten, störte ihn nicht weiter. Erstens erhöhte Alkohol erfahrungsgemäß den Appetit auf weiteren Alkohol und trieb ihm die jungen Leute von allein zu, wenn deren eigene Vorräte aufgebraucht waren. Zweitens geschah das aber erst, wenn die Väter und Mütter selbst so stramm waren, dass sie nicht mehr merkten, wie neben ihnen an der Bude ihre eigenen Kinder und deren Kumpels in ihre Fußstapfen traten.

Endlich begann das Feuer zu knistern. Und während allerhand Kleintiere sich in Sicherheit zu bringen versuchten, hefteten sich die Augen der Menschen auf die Flammen, streckten sich Hände der Wärme entgegen und saugten sich Lungen voll mit warmer, rauchgeschwängerter Luft, die nur ein bisschen nach Plastik roch, dafür aber ein ungemein heimeliges Gefühl in den Seelen auslöste. »Wat för'n mooi Füür«, sagten die Leute zueinander und umklammerten ihre kalten Biergläser.

Pohl suchte mit schmalen Augen das Gelände ab und runzelte die Stirn. Es konnte doch nicht sein, dass diese Taugenichtse nicht da waren. Er hatte sich vorgenommen, eine Gruppe Halbwüchsiger, die ihm vergangenes Jahr reichlich Ärger gemacht hatten, diesmal genau im Auge zu behalten. Kaum im Konfirmandenalter, war das halbe Dutzend pickliger Jungen selbstbewusst aufgetreten und hatte Alkohol verlangt, noch bevor das Feuer angezündet war. Dass Pohl einer solchen Bitte zu diesem frühen Zeitpunkt unmöglich nachkommen konnte, wo noch alle Erwachsenen ihre sieben Sinne beisammenhatten, hatte sie erbost. Das Ergebnis waren wüste Beschimpfungen gewesen, und sie hatten doch tatsächlich in seinen Transporter uriniert!

Der Wagen war jetzt abgeschlossen, und bisher hatte niemand bei ihm Apfelkorn verlangt, dessen Leber noch im Wachstum war – wobei: Lebern im Wachstum hatten sie alle. Na ja, egal. Aber wo waren die Jungs? Vielleicht, so dachte sich Pohl, waren sie auch in Boen oder Stapelmoorerheide zum Osterfeuer gegangen. Sein Konkurrent Pruin hatte seine Bude in Boen. Pohl wusste, dass der es mit der eisernen Regel, vor Einbruch der Dunkelheit keinen Alkohol an Kinder auszuschenken, weniger genau nahm.

Aber dass sie nicht da waren, beunruhigte ihn doch irgendwie. Er beschloss, das Gelände zur Sicherheit einmal zu umrunden. »Tini«, rief er seiner Tochter zu, »halt du hier mit Jasmin die Stellung. Ich muss mal austreten.«

Auf dem Weg über das Gelände begegnete ihm nichts Verdächtiges. Er mischte sich unter die Menschenmenge, die um das Osterfeuer stand, und starrte versonnen in das Feuer. Tiefer Frieden breitete sich in ihm aus.

Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Einzelne Schreie waren zu hören. Pohl schreckte auf, aber es war nur ein brennender Hase, der aus dem Feuer gesprungen war, und von einigen Leuten fotografiert wurde. Der Hase schrie. Er hatte gar nicht gewusst, dass Hasen überhaupt Laute von sich geben können. Pohl fand es unangebracht, das gequälte Tier zu fotografieren. Er überlegte kurz, einen Eimer Wasser zu holen, um es zu löschen. Aber für den Hasen kam die Hilfe sicher zu spät.

Wo waren die Jungs?

Achselzuckend wandte sich Pohl vom Feuer ab und blickte noch einmal in die Ferne. Er sah das Orange des Osterfeuers in Stapelmoorerheide. Drehte er sich nach links, konnte er es in Boen rot leuchten sehen, eine Drehung weiter ... das musste das Orange von Bellingwolde sein. Obwohl, Bellingwolde konnte man von hier aus gar nicht sehen. Und das Orange war auch ziemlich nahe. Hatten sie in Dünebroek was aufgeschichtet? Da wohnte doch kaum einer. Waren diese Halbstarken dort und machten ihr eigenes Ding? Pohls staatsbürgerliches Pflichtgefühl war nicht besonders ausgeprägt. Also unterließ er es, die Feuerwehrleute darauf aufmerksam zu machen, dass es einen Feuerschein am Horizont gab, wo eigentlich keiner sein sollte.

Erst viel später am Abend, als das Osterfeuer nur noch glomm, die Kälte zurückgekehrt und der Hase längst verendet war, sollte sich das Rätsel auflösen. Da brannte die Wymeerer Alte Schule nämlich immer noch lichterloh. Die frierenden Bürger, die sich nach ihren warmen Betten sehnten, wankten staunend auf den nächsten Feuerschein zu, starrten und konnten sich nicht erklären, was dort vor sich ging. Ebenso gebannt wie vorhin vor dem Osterfeuer standen sie vor den Flammen, die aus der Alten Schule schlugen. Auch dieses Feuer zog sie in ihren Bann, aber es machte ihnen Angst. Keine wohltuende Behaglichkeit breitete sich in ihnen aus. Denn dieses Feuer hier war nicht geplant, war nicht sorgfältig aufgeschichtet, absichtsvoll entzündet und aufmerksam bewacht worden. Es hatte einen bösen Ursprung, ob es nun durch Menschenhand gelegt oder aufgrund eines kaputten Kabels, einer Unachtsamkeit oder sonst einer Verrottung von Geist oder Material entstanden war. Und in diesem Feuer verbrannte nicht nur ein Hase, sondern vielleicht die Frau, die dort wohnte und die sie alle kannten und die doch nicht zu ihnen gehörte.

Der eine oder andere dachte bei sich: War ja nur eine Frage der Zeit, bis die verwirrte Alte sich selbst die Hütte über dem Kopf anzündet. Andere wiederum, die Kinderbanden ums Haus hatten schleichen sehen und denen das Splittern der Scheiben noch in den Ohren klirrte, hatten eine Ahnung, dass dies nicht die ganze Wahrheit sein mochte.

Das A-Team war erstaunlich schnell zur Stelle. Obwohl einige der Feuerwehrleute sich nicht an die Ermahnungen ihrer Ehefrauen gehalten hatten, rollten sie professionell ihre Schläuche aus und spritzten, was das Zeug hielt. Und die Bürger von Wymeer raunten einander verstört und verwirrt zu: »Wat is mit Swart Minna?«

In der Nacht, Esklum

Das Telefon klingelte mitten in der Nacht. Es dauerte eine Weile, bis sich Stephan Möllenkamp zwischen Traum und Realität zurechtgefunden hatte. »Geh ran. Mach, dass es aufhört«, knurrte Meike von der anderen Seite des Bettes. Er tastete nach dem Hörer. Immer noch roch es nach frischer Farbe, und er hatte irgendwie das Gefühl, in einem Krankenhausbett zu liegen. Aber das war wohl nur der Geruch, denn das Bett war antik, quietschte seinem Alter entsprechend und hatte so hohe Kopf- und Fußteile, dass er sich mitunter vorkam, als stiege er in eine Kiste und müsste gleich den Deckel über sich ziehen.

»Hier Möllenkamp«, brachte er hervor.

»Es brennt in Wymeer«, informierte ihn sein Kollege Johann Abram. Abram klang so frisch, als wäre er den ganzen Abend wach gewesen, um darauf zu warten, dass etwas passierte.

»Johann, es ist Ostersamstag. Es brennt überall.« Der Leiter des Fachkommissariats 1 griff nach einem Wasserglas und trank einen großen Schluck.

»Nein, nein, in Wymeer brennt die Alte Schule.«

»Ja, schade drum. Ist die Feuerwehr da?« Möllenkamp fuhr sich mit der freien Hand durchs dunkle Haar und rieb sich dann über die Augen, während er ins Badezimmer ging, damit er seine Frau nicht störte. Natürlich wusste er, was jetzt kam. Dieses Frage-und-Antwort-Spiel war seine Art der Realitätsverweigerung. Es würde schon jemand tot im Feuer liegen, sonst hätte sein überkorrekter Stellvertreter ihn nicht aus dem Bett geholt. Er stellte das Telefon auf Lautsprecher und ließ sich Wasser aus dem Hahn über Kopf und Nacken laufen.

»Es wurde eine verbrannte Leiche gefunden. Nach Meinung der Zeugen hier vor Ort müsste es sich dabei um die alleinstehende Frau handeln, die in der Alten Schule wohnte.«

»Müsste?«

»Es ist nicht mehr viel von ihr übrig.«

»Keine Chance, dass es ein Unfall war?« Ein Funken Hoffnung glomm noch in Hauptkommissar Möllenkamp.

»Das ist nicht genau zu sagen. Besser, wir sehen es uns an. Sonst war es am Ende auf jeden Fall ein Unfall.«

Er fluchte innerlich, während er versuchte, sich so leise wie möglich anzuziehen. Natürlich waren die Hosenbeine verdreht, und während er herumhüpfte und sich bemühte, sein Bein in die Hose zu treten, stieß er gegen den Badhocker, auf dem die Lampe lag, die er schon seit vier Wochen an die Badezimmerdecke schrauben wollte. Es gelang ihm, die Lampe mit beiden Händen aufzufangen, dafür stieß er an das Telefon, das geräuschvoll in die Badewanne schepperte. Scheiße noch mal!

»Stephan, alles in Ordnung?«, erklang Johann Abrams besorgte Stimme aus dem Hörer.

»Alles bestens«, knurrte Möllenkamp, während er kritisch das Glasdisplay untersuchte, »bin gleich da.«

Als er wieder ins Schlafzimmer kam, hatte Meike bereits die Nachttischlampe angeschaltet und sah ihn fragend an.

»Ein Brand in Wymeer. Eine Tote wurde aufgefunden.«

»Beim Osterfeuer?«

»Offenbar eine alte Schule.«

»Ist das ein Fall für euch?«

»Wenn's Brandstiftung ist, dann schon.«

»Ach herrje«, murmelte Meike, ließ sich wieder in die Kissen fallen und löschte das Licht.

Während Möllenkamp sein Auto aus der Garage fuhr, fragte er sich, ob er gleich in Wymeer auf Gertrud Boekhoff treffen würde. Wundern würde es ihn nicht, denn die Lokalreporterin des »Rheiderländer Tagblatts« hatte ein sicheres Gespür für Storys. Wahrscheinlich hat sie den ganzen Abend vor der Schule gestanden und darauf gewartet, dass es passiert, dachte er, während er am Deich entlang Richtung Leer fuhr. Er hätte sich ein Haus auf der anderen Seite der Ems suchen sollen, denn das Rheiderland, der friedliche kleine Flecken zwischen Ems, Dollart, Niederlande und Emsland schien ihm nach seinen letzten beiden Fällen ein mörderischer Ort zu sein. Dort wäre er viel schneller am Tatort ...

Stattdessen hatte er mit Meike zusammen im vergangenen Jahr einen Resthof in Esklum renoviert, ein Abenteuer, von dem er sich bis heute noch nicht erholt hatte. Doch gelohnt hatte es sich, das musste er zugeben, obwohl es nicht seine Idee gewesen war. Aber die vielen kleinen und großen Katastrophen, handwerklichen Nachlässigkeiten und vor allem der bräsige Bauleiter Werner Groll hatten ihn Nerven gekostet. Er hoffte nun auf ein paar Jahre Ruhe, bevor Meike ihm mit einem anderen Projekt kommen würde. Denn dass sie ein neues Projekt ausbrüten würde, da war er sich sicher.

Er überquerte die Ems, in der sich der Mond spiegelte. Hier und da glomm noch orange der Rest eines Osterfeuers. Ein paar Menschen strebten ihren Häusern zu, und er fragte sich, warum Meike und er eigentlich nicht zum Osterfeuer in Esklum gegangen waren. Vielleicht sollte er in die Freiwillige Feuerwehr eintreten, um so in das soziale Leben des Dorfes hineinzugleiten, das von nun an ihr Zuhause sein würde. Und doch ... Er war nun einmal kein Herdentier.

***

Abram war bereits vor Ort. Was sonst?

Grüppchen von Schaulustigen hatten sich um die Unglücksstelle versammelt und versuchten zu verstehen, was sie nicht begreifen konnten. Osterfeuer gehörten zu den ritualisierten Volksfesten des an Highlights eher armen Landstrichs. Und die meisten fanden es gut, dass diese Ereignisse samt ihren kleinen und mittelgroßen Skandalen berechenbar waren. Aber das hier war nicht vorgesehen gewesen.

Das Feuer glomm noch schwach an einigen Stellen. Flutlichter erhellten das Gelände, über dem der skelettierte Dachstuhl in die Finsternis des Himmels ragte. Die Seitenwände des alten Gebäudes standen wie große Tiere um den Unglücksort herum.

Die Feuerwehr hatte das schwere Gerät schon eingepackt. Jetzt wuselten die weißen Gestalten von der Kriminaltechnik wie große Maden zwischen den nassen, aber trotzdem rauchenden Trümmern herum. Ihre Werkzeuge waren feiner als die der Feuerwehr: Fotoapparate, Videokameras, Asservatenbeutel, Photoionisationsdetektoren.

Stephan Möllenkamp hatte Szenen wie diese schon etliche Male gesehen. Er kannte die Faszination, die Feuer auf Menschen ausübte. Viele konnten sich auch dann nicht abwenden, wenn es für sie selbst gefährlich wurde. Hier jedoch befremdete ihn das Verhalten der Zuschauer. Ja, sie standen noch in Grüppchen herum, aber sie schienen einen großen Abstand zu halten, kehrten sich zur Hälfte ab, als wären sie bereit, jederzeit fortzulaufen, sollte man sich ihnen nähern. Alle miteinander schienen sie zu erwarten, dass jemand sie gleich schuldig sprechen würde.

»Hast du schon mit jemandem geredet?«, fragte er seinen Stellvertreter.

»Mit einigen«, erwiderte Abram. »Sie sagen alle dasselbe: Sie waren beim Osterfeuer und haben nicht mitbekommen, dass das Haus gebrannt hat. Einige sind ziemlich alkoholisiert, manche stehen unter Schock. Die Frau, die hier gewohnt hat, scheint etwas merkwürdig gewesen zu sein. Sie war alleinstehend ...« Er blätterte in seinem Notizblock. »... hieß Minna Schneider. Sie war offenbar ziemlich isoliert. Dor fehlde wat an1, sagen die einen. De was in't Kopp neet heel up Stee2, sagen die anderen.«

»Johann!«

»Okay, okay. Dement oder psychisch krank.«

»Also könnte es sein, dass sie selbst das Feuer – freiwillig oder unfreiwillig – verursacht hat?«

Abram zuckte mit den Schultern. »Nichts Genaues weiß man nicht.«

Gemeinsam stiegen sie über das Absperrband und tasteten sich durch schmutzig weißen Löschschaum zum Unglücksort vor. Möllenkamp registrierte den skeptischen Blick, den Johann Abram auf seine Turnschuhe warf. Zu Recht. Für einen Gang über glühende Asche waren diese Treter definitiv nicht geeignet. Er spürte schon die Wärme unter den Füßen und schrieb die Schuhe innerlich ab.

Zuerst konnte er in dem Durcheinander rauchender Trümmer gar nichts erkennen. Aber je näher sie kamen, umso beißender wurde der Geruch von verbranntem Fleisch. Johann Abram reichte ihm ein Taschentuch, auf das er Kölnisch Wasser getropft hatte, was die Sache nur schlimmer machte. In den matschigen Trümmern waren Einzelheiten schwer auszumachen. Ein Feuer ebnete alles ein, machte grau, was eben noch bunt gewesen war, ließ Holz, Papier und menschliche Haut zu Asche werden, verschmolz Strukturen zu undefinierbaren Klumpen.

Dann sah er es – und schrak zurück. Der verbrannte Körper hob sich kaum von den schwarzen Balken ab, die wild durcheinanderlagen. Er war stark geschrumpft und unnatürlich gekrümmt. Die Arme waren vorgestreckt, als hätten sie etwas abwehren wollen. Die Gestalt sah aus, als wäre sie einem Horrorfilm entstiegen, so wenig Menschliches wies sie noch auf. Das Gesicht war zu einer Fratze verzerrt, in der die Zunge weit aus dem Mund hing. Möllenkamp fühlte sich an eine alemannische Fastnachtsmaske erinnert. Die alemannische Fastnacht war ihm immer so unheimlich vorgekommen. Jetzt wusste er, warum. Möllenkamp kam plötzlich in den Sinn, wie er als Kind mit Hilfe einer Lupe und des Sonnenlichtes Ameisen verbrannt hatte. Beschämt schüttelte er sich.

»Brauchen Sie 'nen Schnaps?«, hörte er die Stimme von Dr. Schlüter. Überrascht blickte Möllenkamp auf den Mann in dem weißen Overall, den er zunächst kaum wahrgenommen hatte.

»War zufällig beim Osterfeuer in Bingum eingeladen. Wenn ich geahnt hätte, dass es gleich Arbeit gibt ...« Schlüter grunzte missbilligend. »Das Einzige, was ich sicher sagen kann: Es ist eine Frau. Ich vermute, dass sie bei Ausbruch des Brandes noch lebte. Hier ...« Er bückte sich und zeigte auf das, was einmal ein Gesicht gewesen war. »... diese Wimpernzeichen sind ein Hinweis. Wenn Augenbrauen und vordere Kopfhaare vollständig versengt, von den Wimpern aber nur die Spitzen gekräuselt sind, können wir auf zugekniffene Augen schließen. Dann war sie noch nicht tot, als das Feuer ausbrach. Ob sie allerdings durch Rauchgasvergiftung gestorben ist oder schon tot war und erst dann verbrannte, kann ich noch nicht sagen.«

»Warum liegt sie so komisch da?«, fragte Abram, der offenbar noch nicht viele Brandopfer gesehen hatte.

Dr. Schlüter deutete auf die Arme der Toten. »Die Abwehrhaltung ist typisch. Man nennt sie die Fechterstellung. Sie entsteht nach dem Todeseintritt durch Hitzeschrumpfung aller Muskeln.« Er bückte sich und zeigte auf die Hände. »Hier, die Verkohlung der Fingernägel zeigt an, dass die Verbrennungstemperatur über vierhundert Grad betragen hat.«

»Ist eine solche Hitze ein Hinweis auf Brandstiftung?«, fragte Möllenkamp nachdenklich.

Schlüter schüttelte den Kopf. »Nein, solche Temperaturen können ohne Weiteres auch bei spontan entstandenen Bränden auftreten.«

Möllenkamp versuchte durch den Mund zu atmen. Der beißende Geruch, die verkrümmte schwarze Gestalt, die unheimlichen, halb abgewandten Zuschauer – er fühlte sich unbehaglich. Auch Abram schien mitgenommen, aber seine Stimme war klar. »Ich nehme an, Näheres erfahren wir, wenn du das Opfer auf dem Tisch gehabt hast.«

Schlüter hob den Daumen und machte seinen Mitarbeitern ein Zeichen, die sterblichen Überreste fortzubringen.

»Kann uns schon jemand was zum Brandherd sagen?« Stephan Möllenkamp sah sich um.

»Ostendorp war gerade hier. Meinte, das Feuer sei vermutlich nahe dem Opfer entstanden. Genaueres hat er noch nicht. Aber das findet sicher der neue Brandexperte heraus, den sie in Oldenburg angeworben haben.«

»Es gibt einen Brandexperten in Oldenburg?«, fragte Möllenkamp. »Sind wir mit den bisherigen Sachverständigen nicht gut ausgekommen?«

»Die Polizei Niedersachsen wollte sich mit einem bekannten Experten verstärken«, sagte Johann Abram. »Es gehört zur Offensive für innere Sicherheit und Katastrophenschutz, mit der unsere Landesregierung Punkte machen will. Hast du das schicke neue Löschfahrzeug nicht gesehen, mit dem die Feuerwehr gerade hier war? Dafür haben die richtig Fördermittel lockergemacht. Demnächst hat jedes Dorf einen ELW 3.«

Möllenkamp verzichtete auf die Nachfrage, was ein ELW 3 sei, und entschied, erst einmal die Zeugen zu befragen.

***

»Wie ist Ihr Name? Haben Sie etwas von dem Brand gesehen? Haben Sie eine Beobachtung gemacht, die wichtig sein könnte? Bitte rufen Sie uns an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Es kann sein, dass wir in den nächsten Tagen noch einmal mit Ihnen sprechen müssen.« Stephan Möllenkamp und Johann Abram kämpften sich durch die Grüppchen der Zeugen.

Ein Mann war Möllenkamp aufgefallen, weil er sich, anders als die übrigen Beobachter, frontal zum brennenden Haus aufgestellt und die Hände in die Hüften gestemmt hatte. Der will uns was sagen, dachte sich Möllenkamp, und ging auf ihn zu.

»Ah, endlich«, sagte der Mann, als der Kriminalkommissar sich ihm näherte. »Mein Name ist Bernhard Pohl. Ich würde Ihnen raten, einmal nach einer Gruppe von Jugendlichen zu suchen, die sich hier oft herumgetrieben hat. Die haben nur Scheiße im Kopf, haben der armen Frau die Scheiben eingeschmissen und die Blumen im Garten rausgerissen. Ich trau denen zu, dass sie auch ein kleines Feuerchen gelegt haben.«

»Haben Sie die Jugendlichen heute Abend gesehen?«

»Nein, ich war den ganzen Abend beim Feuer. Hab Getränke ausgeschenkt. Mach ich immer. Aber die Jungs sind sonst auch immer beim Feuer. Ich hab die im Auge, weil sie Ärger machen. Nur heute Abend waren sie nicht da, und ich frag mich, warum wohl nicht.«

Der untersetzte Mann in der Schürze machte eine bedeutungsvolle Pause. Möllenkamp wartete, ob er noch etwas sagen würde, aber er schien fertig zu sein. »Haben Sie Namen für mich? Oder können Sie jemanden von dieser Gruppe beschreiben?«

Pohl wiegte den Kopf. »Schwierig, weil ich sie heute Abend nicht gesehen habe und nicht weiß, was sie anhaben. Aber ich kann sie beschreiben. Einer ist so ein Dicker, ein anderer hat mächtig abstehende Ohren, der dritte läuft immer so komisch, als hätte er ein Hinkebein.« Pohl machte den Gang des Jugendlichen nach, und Möllenkamp notierte stirnrunzelnd die Eigenheiten dieser Jugendlichen, die in seiner Vorstellung allmählich zu einem Gruselkabinett wurden.

»Es sind also fünf Jungen, vom Alter her so zwischen zwölf und fünfzehn Jahren, sagen Sie?«

Pohl nickte und spuckte aus. »Suchen Sie die, und nehmen Sie sie richtig in die Mangel.«

»Ich hab's mir notiert. Aber ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Wir wissen noch nicht, ob es nicht doch ein Unglück war.«

»Dieses Kröppzeug ist auch 'n Unglück«, sagte Pohl und spuckte wieder aus.

Möllenkamp ging zu Abram hinüber, der sich schon ziemlich viele Notizen gemacht hatte. »Kommt es dir auch so vor, als wollten die Leute alle nicht richtig mit der Sprache raus?«, fragte er.

»Ja, irgendwie sind sie verdruckst«, gab Abram zu. »Ich habe den Eindruck, dass Minna Schneider nicht sonderlich beliebt im Dorf war. Sie habe ›immer gut aufgepasst, dass hier alles seine Ordnung hatte‹, so sagten einige. Eine Frau hat den Begriff ›Negenoog‹ benutzt, das ist so was wie ein Blockwart. Aber sonst hat sich niemand so eindeutig geäußert. Da war mehr so etwas zwischen den Zeilen.«

Möllenkamp sah sich noch einmal um. »Vielleicht denken sie alle voneinander, dass jemand den Brand gelegt hat, und sind darum so verstört.«

»Und weil jeder von ihnen der armen Frau schon einmal den Tod an den Hals gewünscht hat, fühlen sie sich schuldig«, ergänzte Abram, der inzwischen mit einem Papiertaschentuch seine feuerfesten Gummistiefel sorgfältig abputzte, um sie dann wieder in der Klappkiste seines Kofferraums zu verstauen. Möllenkamp war es ein Rätsel, wie man auf jede denkbare Lebenssituation so gut vorbereitet sein konnte wie sein Stellvertreter vom Fachkommissariat 1. Der hatte allerdings auch eine Frau zu Hause, die ihn umsorgte, während seine Frau Meike der Ansicht war, er sollte sich um seine Ausrüstung selbst kümmern, schließlich ginge sie ja auch arbeiten. Dagegen konnte – und durfte – man als Mann nichts sagen.

»Gut, sehen wir erst mal, ob wir es überhaupt mit Brandstiftung zu tun haben«, sagte Möllenkamp und machte sich auf den Weg zu seinem Auto. Als er gerade einsteigen wollte, hörte er aus einem Gebüsch ein leises »Hurra, hurra, die Schule brennt«, begleitet vom stimmbrüchigen Kichern einer Gruppe Jungs. Er sprintete los, musste aber schnell feststellen, dass die Jungs sich sofort in verschiedene Richtungen verdrückten. Die machten das nicht zum ersten Mal. Er hechtete einem hinterher, der etwas zu hinken schien. Aber die Ortskenntnis gab dem Verfolgten einen Vorteil, und bald war auch dieser Teenager zwischen den Garagen einer kleinen Landarbeitersiedlung verschwunden. Verdammt! Das war die Jungsbande aus Pohls Erzählung gewesen.

Möllenkamp schnaufte und schwor sich, sein Lauftraining, das er während des Hausbaus hatte schleifen lassen, wieder zu intensivieren. Etwas unschlüssig stand er noch eine Weile herum, spähte in alle Richtungen und gestand sich zähneknirschend ein, dass er die Gelegenheit verpasst hatte, die Jugendlichen heute Abend zu fangen. Er zog die Schultern hoch, drehte sich um und stieg in seinen alten Ford Escort. Er würde sie schon kriegen. In einem Ort wie Wymeer konnte man nicht dauerhaft verschwinden.

Samstag, 14. April 2001, Charlottenpolder

Gertrud war schon den ganzen Abend grummelig. Normalerweise hätte sie um diese Zeit mit ein paar hartgesottenen Rheiderländern an einer Bierbude gestanden, hätte das bereits abgebrannte Feuer noch einmal Revue passieren lassen und versucht, noch etwas Klatsch und Tratsch aufzuschnappen. In ganz frühen Jahren war sie dann oft noch mit in die »Pyramide« gegangen, und wenn sie betrunken genug war, dann hatte sie sogar ein mehr oder weniger unbeholfenes Tänzchen gewagt. Seit sie einmal dabei fotografiert worden war, hatte sie von dieser Gewohnheit jedoch Abstand genommen. Sie fand, sie hatte damit aus reiner Vernunft schon einige Abstriche an den Vergnügungen gemacht, die das jährliche Osterfest zu bieten hatte.

Sie hatte nicht mit den Begleiterscheinungen von Gottfried Schäfers strenger Religiosität gerechnet, als sie sich in ihn verliebt hatte. Der meist evangelisch-reformierte Rheiderländer besaß ein pragmatisches Verhältnis zu seiner Konfession. Gott mochte es geben, sicherheitshalber ging man ab und an in die Kirche, um dieser Möglichkeit Rechnung zu tragen, das alles aber bitte ohne sentimentales Brimborium. Selbstverständlich vertrug sich der Protestantismus auch mit allen möglichen heidnischen Bräuchen, wenn sie nur promilleträchtig genug waren. Bei ihrem schwärmerischen Gottfried sah die Sache allerdings ganz anders aus: Er lehnte Ostereier und Osterhasen ebenso ab wie Osterfeuer, ging während der Osterfeiertage in den Gottesdienst und hielt mit seiner Meinung über die Verlogenheit der »Schönwetterchristen« nicht hinterm Berg.

Er schrieb Gertrud nicht vor, seinen Lebensstil zu teilen. Trotzdem hatten seine Überzeugungen ihr Leben verändert. Manchmal machte ihr das Angst. Jetzt saß sie allein in seinem Haus in Charlottenpolder und dachte darüber nach, was sie gerade verpasste, während sie darauf wartete, dass er von der ausgiebigen Osternachtfeier in der Kirche zurückkam. Sie stand auf und holte sich ein Jever aus dem Kühlschrank. Es war das zweite. Sie hatte nicht übel Lust, sich einfach zu betrinken. Sie könnte mit sich selbst vereinbaren, sich jede halbe Stunde ein neues Bier zu holen. Wenn Gottfried nach Hause kam, dann würde sie ihm sagen: »Da kannst du mal sehen, wie ungesund dein Kirchenwahn ist.« Der Gedanke gefiel ihr.

Leider kam sie nicht dazu, ihren Plan in die Tat umzusetzen, denn schon zwanzig Minuten später hörte sie den Schlüssel in der Haustür.

Gottfried betrat das Wohnzimmer. Er strahlte sie an, und seine blauen Augen hinter der Nickelbrille glänzten. Sie schämte sich ein wenig ihrer aufsässigen Gedanken.

»Na, war es schön?«, fragte sie versöhnlich. Er setzte sich zu ihr und nahm ihre Hände in seine. »Es war toll. Sie hatten einen Chor von den Philippinen zu Gast, die haben wirklich großartig gesungen. Alle Altersgruppen, von ganz kleinen Kindern bis zu älteren Leuten. Ich weiß gar nicht, wie sie die alle hier untergebracht haben.«

Gertrud entzog ihm ihre Hände. Die Philippinen, das war seit dem letzten Sommer vermintes Gelände. Seitdem sie sich geweigert hatte, die kleine Tochter eines ermordeten Seemanns aus einem Waisenhaus in Leyte mit nach Deutschland zu nehmen, stand dieses Mädchen zwischen ihnen. Ein stummer Vorwurf, eine verpasste Chance, ein fleischgewordener Zweifel an ihrer gemeinsamen Zukunft. Noch auf den Philippinen hatte Gottfried mit Macht versucht, sie davon zu überzeugen, dass sie das Kind adoptieren müssten. Aber er hatte ihre strikte Weigerung akzeptiert, und nachdem sie wieder in Deutschland waren, hatte er die Sache mit keinem Wort mehr erwähnt. Doch sie wusste auch so, dass er daran dachte.

Sie schluckte, bemühte sich um ein unbefangenes Lächeln: »Ich hatte dich noch gar nicht so früh zurückerwartet. Muss man nicht durchmachen bis zum nächsten Morgen?«

Gottfried schüttelte den Kopf. »Solche Exzesse gibt's bei den Ostfriesen nicht. Das kannst du nur in Mittelhessen haben.« Gertrud lachte. »Das hat dir sicher leidgetan.«

»Morgen gibt's ja wieder eine Gelegenheit zum Kirchgang. Übrigens: In Wymeer soll es gebrannt haben.«

»Ich hoffe, nicht nur in Wymeer.«

»Kein Osterfeuer, sondern ein Haus. Anscheinend ist eine Frau dabei umgekommen.«

Gertrud richtete sich auf. »Weißt du mehr?«

»Nein. Nur dass es eine alte Schule war. Was hatte dort in der Osternacht eine alte Frau zu suchen ...«

Sie hörte gar nicht mehr zu, war schon an der Tür, griff sich die Schlüssel und rannte zum Auto. Das konnte nur Minna sein. Diese Schweine! Dieses ganze selbstgefällige und verlogene Pack. Mit Wymeer hatte sie noch eine Rechnung offen, seit Harald Meinders sie damals in der Pyramide fotografiert hatte. Die Fußballer des SV Wymeer-Boen hatten gesammelt und ihr einen Gutschein für einen Tanzkurs in der Tanzschule Schrock-Opitz spendiert. Dann hatten sie dafür gesorgt, dass das Foto im Vereinsumfeld Verbreitung fand. Was für eine Demütigung!

Und jetzt hatten sie sie abgefackelt! Sie hatten es geschafft, dass Minna, dieser Störenfried, aus ihrem Dorf verschwand. Aber denen würde sie helfen! Sie würde in Wymeer keinen Stein mehr auf dem anderen lassen. Und wenn sie mit ihnen fertig war, dann würden sich Wymeers Bürger wünschen, sie hätten Minna auf Händen getragen.

Hinter sich hörte sie Gottfried rufen: »Gertrud, warte, ich komme mit!« Aber Gottfried hatte in diesem Spiel nichts zu suchen. Das war eine Sache zwischen Wymeer und ihr.

Gertrud raste los. Ihre Wut hielt so lange vor, bis sie vor den rauchenden Trümmern der Alten Schule angekommen war. Dann wurde ihr schlagartig klar, dass sie zu spät kam. Nur noch einige wenige Menschen standen um den Unglücksort herum, die meisten hatten sich längst verzogen. Auch die Feuerwehr hatte ihren Job erledigt, zwei waren noch da und passten auf, dass das Feuer nicht noch einmal aufflammte. Die Polizei hatte das Grundstück mit rot-weißem Absperrband umzogen. Wenn es sich, wovon Gertrud ausging, hier um Brandstiftung handelte, dann würde nichts Verwertbares übrig bleiben.

Sie fixierte die paar Gaffer, die noch da waren. Niemand, den sie kannte. Kein Wunder: An die Mär, dass es den Verbrecher immer wieder zum Unglücksort zurückzog, hatte sie sowieso nie geglaubt. Und in diesem Fall hätte dann mindestens das ganze Dorf hier herumstehen müssen. Die wenigen Schaulustigen hinderten Gertrud daran, die Unglücksstelle sofort selbst zu inspizieren. Sie entschloss sich, zunächst zum Osterfeuer zu fahren. Vielleicht bekam sie dort noch was zu trinken.

Aber Bernhard Pohl hatte seine Bude schon zugesperrt. Das Osterfeuer glomm vor sich hin. Ein Pärchen stand noch nahe am Feuer und knutschte so unbeholfen, dass Gertrud direkt Mitleid bekam. Sonst war niemand mehr zu sehen.

Sie drehte sich um und wollte zu ihrem Wagen zurück. Wie aus dem Nichts stand plötzlich Harald Meinders vor ihr, dem sie das Foto ihres Tanzes in der Pyramide verdankte. Sie schrak zusammen, worüber sie sich selbst furchtbar ärgerte.

»Gertrud, du bist 'n bisschen spät. Hast das Beste verpasst.« Gertrud musterte ihn kalt. »Ich hoffe, damit meinst du nicht den Brand.«

Meinders hob abwehrend die Hände. »Gott nein, ich meine das Osterfeuer. Die Stimmung war gut, bis die alte Schule brannte. Danach war hier natürlich tote Hose. Jetzt muss ich nur noch meinen Sohn holen, bevor der sich mit Katja Vollmers ins Unglück stürzt.« Er nickte abfällig zu dem knutschenden Pärchen.

»Warst du beim Haus?«

»Klar bin ich gucken gegangen. Hab der Polizei alles erzählt, was ich gesehen habe.«

»Und?«

»Was und?«

»Was hast du gesehen?«

Meinders grinste sie abschätzig an. »Ermittelst du schon wieder? Diesmal hier in Wymeer?«

Gertrud sah ihm unbeeindruckt ins Gesicht. »Ich mach meinen Job als Journalistin. Sonst nichts. Aber wenn du meinst, dass es was zu ermitteln gibt, dann sehe ich gerne genauer hin. Swart Minna war hier ja nicht so beliebt im Ort. Da hatten sicher manche ein Motiv ...«

Harald Meinders verschränkte die Arme vor der Brust. »Davon weiß ich nichts.«

Gertrud war sich bewusst, dass die Gäule mit ihr durchgingen, als sie sagte: »Ich denke da nur an Kfz-Betriebe, die ihre Autobatterien auf unorthodoxe Art entsorgen, an schlecht gesicherte Dorfteiche, an Kommunalwahlurnen, die an seltsamen Stellen auftauchen ...«

Meinders Augen wurden schmal. Er war Kfz-Schlosser in dritter Generation. »Manche würden das üble Nachrede nennen. Aber im Ernst: Hältst du das für Mordmotive?«

»Ich sage ja nicht, dass es ein Mord werden sollte. Vielleicht nur ein Denkzettel, und dann ist etwas schiefgegangen.«

Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber und überlegten, welche Wendung das Gespräch jetzt nehmen sollte. Schließlich erwiderte Meinders: »Na ja, ich bin ja großzügig. Kann jeder seine Meinung sagen. Aber ich sag dir jetzt mal, was ich denke: Die Alte hat wieder einen ihrer Anfälle gehabt. Dabei hat sie ihr Haus in Brand gesteckt. Vielleicht hat sie Dämonen gesehen. Soll ja öfter vorgekommen sein. Vielleicht ist ihr auch eine Kerze umgefallen. Ganz sicher hat keiner aus dem Dorf diese arme verwirrte Frau auf dem Gewissen.«

»Wir werden ja sehen«, war Gertruds einsilbige Erwiderung, bevor sie sich umdrehte und den Festplatz verließ.

»Ey, Gertrud, fahr in die Pyramide. Hab noch ein bisschen Spaß heute«, rief Harald Meinders ihr hinterher.

»Und du guck mal nach deinem Nachwuchs. Der ist nämlich mit seiner Liebsten schon seit Längerem verschwunden«, bellte Gertrud über die Schulter zurück. Sie drehte sich nicht mehr um, um sich keine Blöße zu geben. Aber sie ballte die Faust in der Tasche.

Samstag, 14. April 2001, Wymeer

Er lag in seinem Bett und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit, als könnte er mit ihnen seine Ohren unterstützen, die mit äußerster Anstrengung lauschten. Unter der Decke war er vollständig angezogen. Er trug sogar seine Turnschuhe. Je nachdem, wie sein Vater gelaunt war, wenn er nach Hause kam, konnte es helfen, wenn er schnell wegkam. Meistens hörte er schon in den ersten Minuten, woran er war. Also versuchte er, seine Sinne auf das zu konzentrieren, was unten im Hausflur vor sich ging. Er war ein Fluchttier, immer auf der Hut, ständig bereit, das Weite zu suchen. Das hatte er gelernt.

Heute aber fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Die Dinge hatten ihn verwirrt, es war zu viel auf einmal passiert, als dass sein einfacher Geist alles hätte verarbeiten können. Swart Minna war tot. Wie hatte das passieren können? Natürlich, es war seine Schuld. Nicht nur seine. Es war auch die Schuld von den anderen. Von Specki, Olli, Fanti und Bronto, von denen noch mehr. Wieso hatten die sie nicht einfach in Ruhe gelassen? Dann wäre das alles nicht passiert. Dann hätte er nicht geredet. Mit dem Reden hatte es angefangen. »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold«, hatte seine Mutter ihm beigebracht. Die musste es ja wissen, und Gold war sicher nicht dabei herausgekommen. Da hatte er es ja mit Reden versuchen müssen, und das hatte in einem riesengroßen Haufen Scheiße geendet.

Unten hörte er die Haustür zufallen und schwere Schritte, dann vernahm er, wie sein Vater die Nase hochzog, ausspuckte und anschließend hustete. Das Licht in der Küche wurde angeknipst, der Kühlschrank geöffnet. Hoffentlich hatte Mutter Bier kaltgestellt. Wenn nicht, wurde es schlimm. Er hörte das metallische Klicken, als eine Dose geöffnet wurde, und atmete vorsichtig aus. Es dauerte zwei, drei Minuten, dann vernahm er ein langes Rülpsen. Die Kühlschranktür wurde erneut geöffnet, und das Geräusch wiederholte sich. Er roch den Zigarettenqualm, der durch die Türritzen in sein Zimmer drang. Hoffentlich stand der Aschenbecher sauber ausgeleert auf dem Tisch. Verdammt, er hatte nicht darauf geachtet!

Seine Finger krampften sich um die Bettdecke. Er bemerkte es gar nicht, weil er sich darauf konzentrierte, so leise wie möglich zu atmen. Gleichzeitig ging er in seinem Kopf fieberhaft die unteren Räumlichkeiten durch. Hatte er seine Schuhe sorgfältig weggestellt? War die Jacke aufgehängt, lag die Fußmatte gerade?

Das Messer! Er hatte sich damit Wurst abgeschnitten, als er nach Hause kam. Hatte er das Messer abgespült und in die Schublade zurückgelegt? Er konnte sich nicht erinnern. Es war gut möglich, dass das Messer noch dort lag und er es vergessen hatte. Er versuchte sich zu erinnern: Hatte er? Oder hatte er nicht? Wenn nicht, dann würde er das Messer gleich an seinem Hals haben. Und den stinkenden Geruch von Vaters Atem in seinem Gesicht. Er hörte die Schritte im Flur, dann auf der Treppe. Das Knarren der Stufen. Lieber Gott, lass ihn nicht stolpern.

Das Poltern, das er gut kannte. Wenn Vater auf dem obersten Treppenabsatz angekommen war und trotzdem noch einen Schritt machte, weil er dachte, die Treppe ginge noch weiter, dann fiel er manchmal hin. Auch das konnte ihn wütend machen, weil er sich gedemütigt fühlte. Von der Treppe – und von seiner Familie, deren Treppe er mit dem Haus geheiratet hatte. Dann suchte er ein Opfer, und es war nur Zufall, ob das Opfer sein Sohn war oder seine Frau.

Er hatte den Atem so lange angehalten, dass er Sterne vor seinen Augen sah. Er japste in Panik und hoffte, dass Vater ihn nicht hörte. Vorsichtshalber hatte er das Fenster einen Spalt offen gelassen. Zwei-‍, dreimal war es ihm gelungen zu verschwinden, bevor der Alte ihn erwischte. Es war nicht ganz ungefährlich, aus dem ersten Stock zu springen, aber immer noch besser, als ihm in die Hände zu fallen. Allerdings kam das dicke Ende am Tag danach, wenn er wieder auftauchte und Vater ihn, den »Streuner«, bestrafte.

Es knarrte vor seiner Tür. Dann war für eine Weile alles still. Er spürte regelrecht, wie der Alte vor seiner Tür stand und überlegte, ob er hereinkommen sollte. Sein ganzer Körper war gespannt wie das Gummiband auf einer Schleuder. Warum hatte er das Messer nicht aus der Küche mitgenommen? Jahrelang hatte er es ertragen, dass Vater seine Wut an ihm ausließ, als wäre er ein Boxsack. Es war Zeit zurückzuschlagen. Er konnte sich nur selbst helfen.

Minna kam ihm wieder in den Sinn. Ein kurzes Stechen in der Brust, dann konzentrierte er sich erneut auf die Geräusche draußen. Er hörte ein Schnaufen, dann setzte sich der Mann draußen vor seiner Tür mühsam wieder in Bewegung. Es würde seine Mutter treffen, nicht ihn. Entweder Vater würde sie schlagen oder ficken. Vielleicht beides. Er dachte nicht daran, ihr zu helfen. Sie hatte ihm auch nie geholfen. In dieser Familie war jeder auf sich allein gestellt. Ganz auf sich allein. Er spürte Erleichterung. Und Erschöpfung. Seine Augen fielen zu.

Die Flammen schlugen hoch aus den Fensterhöhlen. Sie schwärzten die Backsteine über den Fenstern, ihr Rauch verhüllte den alten Sandstein am Giebel, der die Jahreszahl 1897 aufwies und auf dem die Namen der Väter dieses Schulprojekts eingraviert waren. Er hörte das Geräusch weiterer zerplatzender Fensterscheiben, kein Klirren, vielmehr ein Stöhnen. Das Glas gab mit einem leisen »Poff«, das wie ein Seufzen klang, auf und zerfiel in seine Einzelteile. Und dann schlug wieder eine Flamme aus einem Fenster. Nun brannte der Dachstuhl, der Qualm drang aus allen Ritzen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis alles mit einem riesigen Getöse berstender Tonziegel zusammenbrechen würde. Alles, was noch auf dem Dachboden war, würde zerstört werden. Alte Landkarten, Kisten mit Glaskolben, alte Klassenbücher in einer Schrift, die kein Mensch lesen konnte. Er hatte das alles gesehen. Und dann würde der Holzboden des Obergeschosses einbrechen und Minna unter sich begraben. Sie war da drin. Er wusste es.

Wieder ein Stöhnen, wieder ein leises »Poff«. Noch ein Fenster. Wieder ein Stöhnen, dann ein Jaulen. Fingen die Fenster jetzt an zu klagen? Und wie viele Fenster noch? Noch ein Stöhnen, noch ein Jaulen. Jetzt mussten doch alle Fenster kaputt sein. Warum hörte das Geräusch nicht auf?

Er schreckte hoch. Blickte um sich. Nach einer Weile sah er etwas, den dunklen Mond. Konnte es sein, dass ein Mond dunkler war als die Nacht um ihn herum? Das Stöhnen und Jaulen war immer noch da.

Es kam von seiner Mutter. Sie war es, die jammerte und klagte, nicht die Fenster. Dazwischen hörte er die grunzenden Geräusche seines Vaters. Ja, es hatte sie getroffen.

Ihm wurde übel. Er rannte zum Fenster und erbrach sich in die Nacht. Danach hatte er einen schrecklichen Geschmack aus Bier und Galle im Mund. Er wäre gern ins Badezimmer gegangen, um zu gurgeln und sich den Mund auszuspülen. Und um etwas zu trinken. Er hatte schrecklichen Durst. Aber er wagte es nicht. Wer wusste, was sein Vater tun würde, wenn er mit Mutter fertig war? Er schluckte ein paarmal, legte sich wieder hin und blickte zum Fenster. Der dunkle Mond blickte zurück.

Die Akten

Herbst 1989

Er sitzt im Wagen und klammert seine Hände um das Lenkrad. Die Straße liegt schwarz und glänzend vor ihm. Selbst jetzt, da der Regen aufgehört hat, macht er noch Krach. Bei jedem Durchfahren einer der riesigen Pfützen knallt das Wasser mit ohrenbetäubendem Lärm an den Unterboden des Wagens. Es ist, als führe er durch einen See, und der Lärm des zur Seite spritzenden Wassers zerreißt ihm das Trommelfell. Er tritt aufs Gas.

Dabei hat es ganz lautlos angefangen. Nur ein paar Tropfen, die dunkle Spuren auf den grauen Steinen hinterließen. Dann kamen sie schneller, setzten sich auf ihre Vorgänger, davor, dahinter, rundherum, immer mehr, immer schneller. Sie verblassten nicht mehr, stattdessen wurden die Steine glänzend nass. Dann hörte er ihn, den Regen, ein Rauschen, das sich verstärkte, auf das Blechdach über dem Erker prasselte, immer lauter. Er saß nur da, taub vom Lärm, und hatte dieses Rauschen in den Ohren, das ihn am Denken hinderte. Dann ergossen sich die Ströme, laut wie Wasserfälle, aus den verstopften Regenrinnen und erinnerten ihn daran, dass er den versoffenen Hausmeister immer noch nicht dazu gebracht hatte, sie frei zu machen.

Irgendwo wird jetzt in einem der Schlafsäle wieder ein dunkler Fleck erscheinen. Ein weiteres Versagen, das ihn daran erinnert, dass er den Laden nicht im Griff hat. Mit seiner »schüchternen« Art, wie der Chef des Landschaftsverbandes bei der Einstellung zu ihm gesagt hat, käme er nicht weit. Die müsse er ganz schnell ablegen. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, denn er wird nicht zurückkommen.

Zu beiden Seiten der Straße gleiten die dunklen Schatten der Bäume an ihm vorüber. Der Lichtkegel erfasst die Leitpfosten am Straßenrand, schneller und schneller rasen sie an ihm vorbei. Er kommt sich vor wie auf der Flucht. Dabei geht er doch nur fort, oder?

In der Ferne erblickt er ein kleines rotes Licht, flackernd, schwankend. Ein Fahrradfahrer? Bei diesem Wetter? Er fixiert den Punkt, dem er sich nähert. Aus dem Punkt wird eine dunkle Gestalt, deren Beine sich auf und ab bewegen. Der Kerl muss verrückt sein, denkt er.

Er fährt nach links, um den Radfahrer weiträumig zu überholen. Wieder schlägt ihm das Wasser hart gegen den Unterboden. Da spürt er, wie er schwimmt, er verliert die Haftung, zieht nach links, doch der Wagen gleitet nach rechts. Das rote Licht kommt immer näher. Er ruft, als könnte der Mann ihn hören. Ein dumpfer Knall, dann ist die dunkle Gestalt verschwunden.

Er sitzt keuchend hinter dem Lenkrad, umklammert es mit beiden Händen. Sein Herz hämmert gegen den Drang an, einfach Gas zu geben. Er schließt die Augen, öffnet sie. Es ist immer noch das gleiche Bild: draußen der Regen, die Schwärze, nach vorne zwei Lichtkegel, die eine Grasnarbe und einen Waldrand beleuchten. Der Blick aus den Seitenfenstern offenbart nichts als Nacht.

So kann er nicht sitzen bleiben. Mit zitternder Hand öffnet er die Tür, will aussteigen. Der Gurt hält ihn zurück. Er blickt geradeaus auf die zwei Lichtkegel, fasst sich schließlich und macht sich frei.

Als er aus dem Wagen heraus ist, sieht er zuerst das Fahrrad. Es liegt am Straßenrand, das Hinterrad zu einer Acht gebogen. Er schaut dorthin, als wollte er die Schäden am Fahrrad genau protokollieren. Doch in Wahrheit ist es nur die Furcht vor dem anderen, das da auch ist: der Person, die auf dem Fahrrad gesessen hat. Er hat sie ja gesehen. Er zwingt den Blick zum Herumschweifen. Dann sieht er die Beine unter seinem Wagen hervorragen. Sie bewegen sich nicht.

Benommen geht er auf die Beine zu, kniet sich hin, streckt die Hand aus, traut sich nicht, sie zu berühren. Wieder schweift sein Blick ab. Eine Taschenlampe, er braucht eine Taschenlampe. Er umrundet den Wagen, kramt im Handschuhfach, fördert eine Stablampe zutage und macht sie an. Er lässt den Lichtkegel um das Fahrrad schweifen, um nur ja nicht nach den Beinen sehen zu müssen. Da ist eine Tasche. Eine hellbraune Ledertasche, wie Lehrer sie haben. Hat er einen Lehrer überfahren? Er geht auf die Ledertasche zu, dann bleibt er stehen. Er kann doch nicht die Tasche bergen, ohne nach der Person zu sehen, die da unter seinem Auto liegt.

Noch ein Blick auf die Beine. Hat er die Füße bewegt? Nein, der Mann ist tot. Oder im Koma. Er sollte einen Rettungswagen rufen. Er sollte jetzt, sofort, zur nächsten Notrufsäule gehen und einen Rettungswagen rufen. Es war ein Unfall, Aquaplaning. Tragisch, aber es kommt vor. Ihn trifft keine Schuld. Er hat nicht getrunken und sich korrekt verhalten.

Aber vielleicht ist es gut zu wissen, wen er da überfahren hat? Er stolpert zur Tasche, hebt sie auf und öffnet sie. Es sind Akten darin. »LWL Landesjugendamt Westfalen«, steht darauf. Plötzlich hat er ein komisches Gefühl der Angst. Er nimmt die erste Akte heraus und öffnet sie: Hermann Jung, Jahrgang 1963, Suizid durch Erhängen. Er sieht das Foto. Es trifft ihn wie eine Ohrfeige. Die nächste Akte: Andreas Hartmann, Jahrgang 1971, Unfall mit einem Motorrad bei überhöhter Geschwindigkeit in einer Kurve. Die dritte Akte: Karl-Friedrich Born, Jahrgang 1970, Überdosis. Und dann Thomas Przybilski, Jahrgang 1969, ermordet in der Haft. Es sind nur die vier Akten, und plötzlich weiß er, wohin der Mann wollte, den er überfahren hat. Ihm wird schwindlig. Er kann jetzt nicht den Rettungsdienst informieren. Er kann überhaupt niemanden informieren.

Er hockt da, die Tasche auf seinem Schoß, wie gelähmt. Der Regen ist wieder stärker geworden, er hört den Lärm nicht mehr, nur das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren. Er schließt die Tasche und steht langsam auf. Sein Blick gleitet zu den Beinen. Etwas ist anders als vorher. Der eine Fuß, er lag doch vorhin näher bei dem anderen. Der Mann hat sich bewegt!

Panik erfasst ihn. Er lässt den Blick die Straße hinuntergleiten, dann dreht er sich um. In der Ferne sieht er ein verschwommenes Licht. Ein Auto, noch ganz weit weg, aber bald da. Er sitzt in der Falle, wenn er sich jetzt nicht beeilt.

Auf einmal hat er keine Probleme, die Beine des Mannes anzufassen. Er zerrt den Körper unter dem Auto hervor und schleift ihn in die Böschung hinunter. Anschließend wirft er das Fahrrad hinterher. Er setzt sich wieder ins Auto, kneift die Augen fest zu und beißt die Zähne aufeinander, dass es schmerzt. Dann lässt er den Motor an, tritt das Gaspedal durch und fährt ruckartig los.

Vater

Ostersonntag, 15. April 2001, Esklum, morgens

Weil es am Ostersonntag keine Zeitung gab, hatte Stephan Möllenkamp NDR Inforadio angestellt, um sich zu informieren. Während er Kaffee kochte und den Tisch eindeckte, lauschte er den Nachrichten. Der Brand in Wymeer kam nicht vor. Er würde auf den »SonntagsBlickpunkt« warten müssen. Schade eigentlich. Er war gespannt, was die Medien aus diesem Feuer machen würden. Er jedenfalls hatte noch keinen Reim darauf.

Es war kühl, und manchmal bereute er es, dem Rat seines Bauleiters Werner Groll nicht gefolgt zu sein. Der hatte Fliesen mit Fußbodenheizung empfohlen, was Puristen wie er und Meike natürlich zurückweisen mussten. Die Holzdielen waren zwar historisch korrekt und ansprechend, aber er hatte nun doch kalte Füße und beschloss, den Kachelofen anzuheizen. Als er Holz von der Terrasse holte, blickte er fröstelnd auf den Schneematsch, der im Rasen weiße Inseln gebildet hatte. Na, das würde heute ein Spaß beim Ostereiersuchen werden.

Er fragte sich, wie er es früher bei diesen Osterfeuern ausgehalten hatte: mit einem eiskalten Bier in der Hand, im Matsch an irgendeiner Bude stehend.

Die rauchenden Trümmer, die verkrümmte Leiche von Minna Schneider, das alles erschien ihm unwirklich im Licht des Tages. Er hatte Meike in der Nacht noch alles erzählt, und im Gegensatz zu ihr war er trotzdem um acht Uhr aufgewacht und hatte mit sich nicht mehr anzufangen gewusst, als Kaffee zu kochen.

Allmählich wurde es warm in der Küche. Er stand mit einem dampfenden Becher in der Hand und sah auf den großen rustikalen Esstisch, der wie ein Pflasterstreifen die Küche mit dem Wohnzimmer verband. Der alte Resthof, den sie im Vorjahr gekauft und renoviert hatten, hatte mindestens zwölf mehr oder weniger kleine Zimmer gehabt, die sie zu einem halben Dutzend großzügiger und heller Räume verschmolzen hatten. Heute Mittag würde Meikes Familie erstmals hier an diesem Tisch sitzen.

Die Gelassenheit, mit der seine Frau jetzt ausschlafen konnte, wunderte ihn. Er selbst hätte am liebsten das Frühstück ausfallen lassen und schon jetzt mit dem Tischdecken angefangen, damit mittags auch alles perfekt wäre.

»Morgen«, krächzte es hinter ihm in der Tür. Meike wankte gähnend im Nachthemd herein, lief schnurstracks zur hinteren Terrassentür und schaute nach draußen. »Guck mal, die Amsel da draußen. Die habe ich gestern auch schon beobachtet. Sie wühlt das ganze Beet durch und fliegt dann mit Stöckchen und Moos im Schnabel davon. Die baut irgendwo in unserem Garten ein Nest, in dem sie dann entzückende Amselbabys aufzieht.«

»Mein Schatz, erinnerst du dich daran, dass heute Mittag deine ganze Familie hier einfällt, um ein absolut erstklassiges Ostermahl zu sich zu nehmen, das dem deiner Mutter in nichts nachstehen darf? Wann wolltest du denn damit anfangen?«

»Wieso ich? Wir sind doch zu zweit. Ich lese dir aus dem Kochbuch vor, und du setzt es einfach um. Wer lesen kann, der kann auch kochen.«

»Meike, komm, jetzt hör auf mit dem Quatsch.«

»Lass uns mal erst frühstücken.«

Er holte Teller und Besteck und setzte sich hin. »Na gut, es ist deine Familie.« Seine Unruhe minderte es nicht. Sie aßen schweigend. Während Möllenkamp sein Ei köpfte, fragte er so beiläufig wie möglich: »Was soll's denn heute Mittag zu essen geben?«

»Pizza.«

Sein Löffel stoppte auf dem Weg zum Mund. Undenkbar, dass dies den Standards von Rena Brandt genügen würde. Die Familie war Lammbraten oder Rouladen gewohnt, begleitet von zwei bis drei Gemüsesorten und mindestens einem frischen Salat. Davor gab es Hühnersuppe, selbstverständlich mit Eierstich, danach noch eine raffinierte Crème Brûlée oder selbst gemachte Mousse au Chocolat. Und jetzt Pizza!

»Gibt es Vorspeise und Nachtisch?«, fragte er vorsichtig.

»Zur Pizza gibt es einen leckeren frischen Feldsalat und hinterher Eis.«

»Hm.«

»Magst du keine Pizza?«

»Doch schon, aber deine Mutter ...«

»Hör zu. Ich habe keinen Ehrgeiz, meine Mutter zu kopieren. Es kommen Kinder, die essen immer gerne Pizza. Ich kann ein Blech mit Fleisch drauf machen und eines ohne. Damit ist auch den Vegetariern gedient, und Wiebke muss sich keine Sojaschnitzel in der Küche braten. Und wir können uns auf das konzentrieren, was wichtig ist: Zusammensein.«

Möllenkamp runzelte zweifelnd die Stirn und dachte an seine Kindheit zurück. An hohen christlichen Feiertagen wurden reihum Verwandtenbesuche gemacht. Schon morgens hatte Nervosität geherrscht, weil alle pünktlich in vollem Sonntagsornat in der Kirche sitzen mussten. Für die Hausfrauen waren die Familienzusammenkünfte immer ein reines Schaulaufen gewesen. Es kam darauf an, gegenüber den anderen Frauen der Familie immer noch einen draufzusetzen. Meist wurde morgens ab sechs Uhr schon in der Küche gewerkelt, Kartoffeln geschält oder Fleisch vorgebraten. Das beste Geschirr wurde aus dem Schrank geholt. Es spielte keine Rolle, dass das Zeug nicht spülmaschinenfest war und Mutter abends um zehn noch abwusch. Selbstverständlich mussten Männer nicht mithelfen. Über Pizza und Eis hätte man in diesen Kreisen die Nase gerümpft.

Okay, er musste lockerer werden. Es war ihre Familie. Suchend blickte er sich nach etwas Lesbarem um, da der »SonntagsBlickpunkt« noch nicht da war. Meike steckte ihre Nase in ein etwas angestaubtes Taschenbuch, er legte den Kopf schräg. »Bambule«, las er, die Autorin war Ulrike Marie Meinhof.

»Was hast du denn da?«, fragte er neugierig. »Linksradikales Gedankengut?«

»Nein, es ist ein Drehbuch für einen Film über die Zustände in Mädchenerziehungsheimen in den Sechzigerjahren. Ich würde sagen, es enthält eher humanitäres Gedankengut. Aber für deinen Chef wäre das wahrscheinlich dasselbe.«

»Ich wusste gar nicht, dass Ulrike Meinhof sich auch mit so was beschäftigt hat«, sagte Möllenkamp und biss von seinem Brötchen ab.

»Die ist ja nicht als Terroristin auf die Welt gekommen. Sie war in den Sechzigerjahren eine der profiliertesten Journalistinnen in Deutschland. Ich überlege, ob ich das Buch mit meiner Klasse lese. Es ist nicht so dick und hat wichtige Themen: Einsamkeit, Ausgeliefertsein, den Wunsch nach Autonomie, gesellschaftliche Zwänge.«

»Ist solche Lektüre denn im Lehrplan vorgesehen?«, fragte Möllenkamp zweifelnd.

»Siehst du, dieses Denken hat zu den Zuständen in den Heimen geführt, die Meinhof beschreibt. Lies es mal.« Meike grinste und stand auf. Erleichtert sah Möllenkamp, wie sie den Kühlschrank öffnete und frische Hefe herausnahm. Endlich ging es los.

Er griff sich kurz das Buch und blätterte ein wenig in den angegilbten Seiten herum. Dann seufzte er und erhob sich. »Ich wollte eigentlich heute Vormittag noch laufen, aber angesichts des Vorbereitungsstandes unseres Osteressens kann ich dich wohl kaum allein lassen.«

»Wenn's dir hilft, dann glaub es ruhig«, sagte Meike und kramte nach einer Schüssel, ohne sich umzudrehen.

»Wieso?«

»In Wahrheit suchst du doch bloß eine Ausrede, um nicht laufen zu müssen. Außerdem hast du einen Kontrollwahn. Du glaubst, wenn du hier verschwindest, lasse ich sofort den Löffel fallen und lege mich mit einer Zeitung aufs Sofa.«

»Die Zeitung ist noch nicht da. Aber sonst ...«

Jetzt strahlte Meikes Rücken eindeutig Unmut aus. »Kümmere du dich um deine Sachen, und ich kümmer mich um meine. Und such dir endlich eine Mannschaft oder einen Verein.«