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Mord auf ostfriesisch
Sommerflaute in der Mordkommission! Stephan Möllenkamp und seine Kollegen schreiben Berichte und sortieren Akten. Doch plötzlich überschlagen sich die Ereignisse: Während eines Fußballspiels des FC Weener bricht auf einmal ein junger Familienvater tot auf dem Platz zusammen. Kurz darauf wird auch noch die Reederswitwe Engelke Terveer entführt- nur um Tage später verwirrt auf einer Landstraße wieder aufzutauchen. Zunächst scheinen die beiden Ereignisse nichts miteinander zu tun zu haben. Aber dann liefert Lokalreporterin Gertrud Boekhoff den entscheidenden Hinweis, der die beiden Fälle miteinander verbindet. So kommen Möllenkamp und sein Team einem Verbrechen auf die Spur, das auch noch Jahre später seine Opfer fordert ...
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Seitenzahl: 543
Cover
Weitere Titel der Autorin:
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
20. November 1984, Karibik
Samstag, 8. Juli 2000
November 1999, Philippinen
Sonntag, 9. Juli 2000
November 1999, Philippinen
Montag, 10. Juli 2000
November 1999, Philippinen
Dienstag, 11. Juli 2000
Mittwoch, 12. Juli 2000
Dezember 1999, Philippinen
Donnerstag, 13. Juli 2000
Freitag, 14. Juli 2000
Frühjahr 2000, Indischer Ozean
Samstag, 15. Juli 2000
Frühjahr 2000, an der afrikanischen Küste
Sonntag, 16. Juli 2000
Frühjahr 2000, irgendwo im Atlantik
Montag, 17. Juli 2000
Frühjahr 2000, irgendwo im Atlantik
Dienstag, 18. Juli 2000
Ende April 2000, Nordwestdeutschland
Mittwoch, 19. Juli 2000
Mai 2000, Weenermoor
Donnerstag, 20. Juli 2000
Im Juni 2000, Weenermoor
Freitag, 21. Juli 2000
Eineinhalb Wochen zuvor
Samstag, 22. Juli 2000
Fünf Tage zuvor
Sonntag, 23. Juli 2000
Epilog
Drei Wochen später
Leseprobe [Deichfürst]
Deichfürst
Sommerflaute in der Mordkommission! Stephan Möllenkamp und seine Kollegen schreiben Berichte und sortieren Akten. Doch plötzlich überschlagen sich die Ereignisse: Während eines Fußballspiels des FC Weener bricht auf einmal ein junger Familienvater tot auf dem Platz zusammen. Kurz darauf wird auch noch die Reederswitwe Engelke Terveer entführt – nur um Tage später verwirrt auf einer Landstraße wieder aufzutauchen. Zunächst scheinen die beiden Ereignisse nichts miteinander zu tun zu haben. Aber dann liefert Lokalreporterin Gertrud Boekhoff den entscheidenden Hinweis, der die beiden Fälle miteinander verbindet. So kommen Möllenkamp und sein Team einem Verbrechen auf die Spur, das auch noch Jahre später seine Opfer fordert ...
Heike van Hoorn wurde 1971 in Leer/Ostfriesland geboren. Die promovierte Historikerin war Referatsleiterin in der Hessischen Staatskanzlei und arbeitet als Geschäftsführerin des Deutschen Verkehrsforums. Sie ist außerdem Mutter von Zwillingen und begeisterte Hobbygärtnerin. Durch die Recherchen zu ihrem ersten Roman »Deichfürst« hat sie ihre Heimat neu kennen und lieben gelernt. Heike van Hoorn lebt mit Mann und Kindern in Berlin.
Heike van Hoorn
Sturmfluch
Ostfriesland-Krimi
beTHRILLED
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Dieses Werk wurde vermittelt durch die agentur literatur Gudrun Hebel.
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Bernhard Stäber
Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt
Covergestaltung: Chrissie Salz unter Verwendung von Motiven © Janis Smits/Shutterstock, © catolla /iStockphoto.com, © Bizi88/Shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar
ISBN 978-3-7325-5518-5
Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Deichfürst« von Heike van Hoorn.
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www.lesejury.de
Er friert, während er sich an der Reling festhält und das Wasser heftig gegen den Schiffsrumpf klatschen hört. Vor ein paar Tagen stand er schwitzend an derselben Stelle und sah auf die Lichter der Hafenanlagen von Ilhéus.
Jetzt sind sie nördlich von Grenada. Ein Sturm ist angekündigt, wie so oft in dieser Gegend. Auf dem Wasser schimmern die Schaumkronen in der Dunkelheit.
Gustav hasst Wasser. Er hasst das Meer. Er hasst die Karibik. Er hat keine Angst vor dem Meer, dafür ist er schon zu lange Seemann. Aber er traut dem Wasser nicht.
Am meisten hasst er das stille Wasser der Häfen. Unter der spiegelnden Oberfläche verbirgt sich eine schmuddelige Brühe aus Schlamm, Schrott, Einleitungen aus Industrie und Kanalisation, den sich zersetzenden Körpern von Möwen, betrunken hineingefallenen Seemännern und weiß der Teufel was noch.
In Ilhéus lagen sie fünf Tage im Hafen fest. Fünf Tage. Eine Folter für ihn. Einen Tag löschten sie Ladung, am nächsten Tag luden sie Container. Dann hätten sie ablegen können, aber sie legten nicht ab. Nach zwei weiteren Tagen kam noch mehr Ladung. Am Ende waren es 457 Container in vier Lagen.
Der Stau- und Zurrplan erlaubt drei Lagen von Containern übereinander.
Er hat nichts gesagt. Er hat schon nichts gesagt, als sie in Rotterdam die deutsche Mannschaft durch Philippinos ersetzt haben. Unter den Mannschaftsdienstgraden ist jetzt kein einziger Deutscher mehr.
Er ist zweiter Offizier. Er will irgendwann erster Offizier werden. Als erster Offizier kriegt er mehr Geld und kann vielleicht früher damit aufhören, zur See zu fahren. Darum hält er den Mund.
***
Als er den verqualmten Raum betritt, muss er sich räuspern: »Was spielt ihr denn?«
»Lütje un dicke Tuffels1. Setz dich hin, Gustav, sonst fangen wir ohne dich an«.
Man kann die Hand kaum vor Augen sehen. Natürlich ist Rauchen hier unten verboten, aber wer hält sich schon an Verbote, 7.000 km von zu Hause entfernt? Gustav nimmt einen tiefen Schluck aus der Bierflasche, dann hebt er den Knobelbecher und lässt die Würfel darin klappern.
»Wo ist eigentlich unser Kapitän?«
»Guck auf der Brücke nach. Da ist er doch immer.«
»Ach lass man. Wenn er meint, dass er da dauernd aufpassen muss, soll er halt oben bleiben.«
Das Schiff schaukelt heftig. Die leere Bierflasche fällt um und rollt vom Tisch. Gustav hebt sie auf und sieht nacheinander in die Gesichter seiner Mitspieler. Joke gähnt, Harald popelt sich etwas zwischen den Zähnen heraus, und Jorge sieht ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
»Was ist? Willst du nun spielen oder nicht?«
»Der Sturm…«, beginnt Gustav. Er weiß nicht, wie er weitermachen soll und sagt dann: »Die Ladung macht mir Sorgen.«
»Klaus ist oben und hält die Ladung höchstpersönlich fest. Und wenn’s hart auf hart kommt, dann treibt Pietro uns schon auf unsere Posten, verlass dich drauf. Spielst du nun endlich?«
Gustav lässt den Becher auf den Tisch sausen und spürt sein Herz hämmern.
»Glück muss der Mensch haben! Zwei Dreier und eine Zwei«, nuschelt Harald und ergreift mit der Hand, die er gerade vom Mund gezogen hat, den Knobelbecher. Seine feuchten Finger hinterlassen dunkle Flecken auf dem speckigen Leder.
Jorge verliert den ersten Durchgang, Joke den zweiten. Dann müssen die beiden gegeneinander antreten. Harald holt die Zigarren hervor und steckt sich eine an. Sekunden später ist der kleine Raum in noch dichtere Rauchschwaden gehüllt.
***
»Wer wird denn gleich in die Luft gehen…« steht auf der Butterbrotdose, daneben ein fröhliches Männchen im gelben T-Shirt mit einer Zigarette in der Hand. Sein Sohn hat ihm vor langer Zeit den Aufkleber auf die Tupperdose gepappt. In der Dose liegt eine Plastiktüte, die mit einem Gummiband verschlossen ist, darin ein halbes Dutzend Schulhefte. Gustav schreibt nur Tagebuch, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Es ist ihm unangenehm. Er kennt keinen erwachsenen Mann, der sowas macht. Er hat die Taschenlampe so platziert, dass sie bei dem Geschaukel nicht herunterfallen kann und nur einen kleinen, hellen Kreis auf sein Heft wirft. Um ihn herum ist alles dunkel. Er sitzt oben auf der Doppelstockkoje und hört die Männer nebenan schnarchen, obwohl es draußen stürmt und grollt.
»Diese Reise ist merkwürdig, anders als andere«, schreibt Gustav. »Aus Brasilien sind wir kaum weggekommen, aber seit wir unterwegs sind, kann es nicht schnell genug gehen. Unser Kapitän Pietro ist ein netter Kerl. Er kommt aus Italien und spricht kein Deutsch. Wir sehen ihn kaum, weil er immer auf der Brücke ist. Jetzt machen wir wieder Tempo, als ginge es um unser Leben. Das Schiff fährt ständig unter Volllast. Wir haben viel zu viel Ladung an Bord, und ich mache mir Sorgen, dass die alte Anne einen Sturm nicht übersteht.«
Gustav kaut auf seinem Bleistift herum. »DenSturm« müsste er schreiben, besser noch: »den Orkan«. Denn es wird ein Orkan werden.
Schon als kleiner Junge empfand er Unbehagen gegenüber dem Meer. Er nahm sich vor, niemals zur See zu fahren. Sein Vater, der stolz auf die Familientradition war, verstand ihn nicht. Gustav erinnert sich an die seltenen Telefonate. Wochenlang hatte er darauf hingefiebert, ihm von seiner Zwei in Mathe zu erzählen, von seinem ersten Sprung vom Dreier oder dass er freihändig Fahrrad fahren konnte. Und dann klingelte es, er hörte das Knacken und Rauschen in der Leitung und die blecherne Stimme seines weit entfernten Vaters. Wie es ihm ginge, fragte der. Gut, stammelte er. Was die Schule mache. Gut. Ob er seiner Mutter folge. Ja, sagte er. Dann fragte Vater nach Mutter, und er lief und holte sie ans Telefon. Niemals hat er es geschafft, seinem Vater zu erzählen, was ihm wirklich wichtig war.
In seinen Tagebüchern will er wenigstens seinen eigenen Kindern Bericht erstatten. Auch wenn sie sie erst viel später lesen werden.
Er schiebt das Heft zurück in die Plastiktüte. Es befindet sich auch eine Filmrolle darin. Er macht Fotos von seinen Reisen. Die Fotos sind ebenfalls für seinen Sohn. Er fühlt sich ihm nahe, wenn er für ihn dokumentiert, was er von der Welt sieht.
Er bindet sich die Schuhe auf, zieht sie aber nicht aus. Legt sich hin. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen starrt er in die Dunkelheit und horcht auf das Knarren des Schiffes und das Heulen des Sturms. Denkt an seine Familie und ob er noch einmal versuchen soll, einen Job bei VW in Emden zu kriegen.
In zwei Stunden muss er Klaus ablösen.
Dann schläft er ein.
***
Er schreckt auf, als das Telefon schrillt. Hat er die Ablösung verschlafen? Ein Blick auf die Uhr: viertel vor zwei.
Klaus ist dran. Er versteht ihn kaum: »Komm hoch … haben Probleme. Die Maschinen…«
Gustav springt aus dem Bett, stolpert los, fällt beinahe über seine offenen Schuhbänder. Als er sich die Schuhe zubindet, irritiert ihn etwas. Er kommt nicht gleich darauf, was es ist.
Dann begreift er: Die Maschinen, sie laufen nicht mehr. Das Schiff ist manövrierunfähig. Er reißt die Tür auf, macht zwei Schritte, rennt zurück zum Bett, greift seinen Seesack, wirft die Tupperdose hinein, läuft an Deck.
Die Tür schlägt hinter ihm zu. Wind und Regen peitschen ihm augenblicklich ins Gesicht, schütteln ihn hin und her. Der Kampf ums Gleichgewicht betäubt das klare Denken. Er hangelt sich an Zurrgurten und Seilen vorwärts und sucht nach Klaus. Dort hinten steht er, vor den Containern, hält sich mit einer Hand fest und fuchtelt mit der anderen in der Luft herum, um den Philippinos verständlich zu machen, was sie tun sollen.
Dass sie kein Deutsch verstehen, ist im Moment ohne Belang. Man hört ohnehin nur das Brausen und Zischen und ohrenbetäubende Platschen, wenn wieder eine Welle auf das Deck schwappt. Auch wenn sie etwas von der Seefahrt verstünden, würde es ihnen jetzt nicht mehr helfen. Wenn sie es nicht schaffen, das Schiff zu stabilisieren, wird die Anne Kuhlmann auf jeden Fall sinken, das steht fest. Ob sie das Schiff, das in einem karibischen Orkan hilflos herumtreibt, überhaupt stabilisieren können, ist ungewiss.
Er ist bei Klaus angekommen. »Wir müssen die Laschung kontrollieren und die Container stabilisieren«, brüllt der ihn an.
»SOS schon raus?«, schreit Gustav mit dem Kopf Richtung Brücke nickend zurück.
Klaus hebt den Daumen. Gustav kämpft sich zu den Containern durch und blickt an den Lagen empor. Beim Gedanken daran, die Leiter zu den obersten Containern hochzusteigen, wird ihm übel. Er tut es trotzdem. Er weiß, was ihn erwartet: Die vierte Lage ist nur mit Laschdrähten und Spannschrauben gesichert, statt mit der vorgeschriebenen Laschung. Was soll er hier ausrichten?
Er spürt, dass das Schiff zu rollen beginnt. Die Wellen schlagen seitlich mit Wucht gegen den Rumpf, zehn, fünfzehn Meter hoch. Da die Anne Kuhlmann nicht steuern kann, schwankt sie wie eine Nussschale in der aufgepeitschten See. Unter diesen Umständen ist die Ladung nicht zu halten. Er muss runter, die ganze Mannschaft muss in die Rettungsboote. Er kommt gerade unten an, da rutschen die ersten Container und kippen in die See ab. Das Schiff sackt mit Schlagseite nach Backbord.
Gustavs Blick rast hin und her. Wo ist der Kapitän?
Durch die Gischtschauer erkennt er am Achterdeck eine Gruppe Philippinos, die sich an einem der Rettungsboote zu schaffen macht. Es sieht so aus, als hätten sie Schwierigkeiten.
In den grellen Blitzen, die die Finsternis zerreißen, versucht er zu erkennen, wer da ist. Er sieht Harald und Joke bei den Containern, Jorge, der sich mit angestrengt verzerrtem Gesicht an der Reling festhält.
Gustav weiß, wann es Zeit ist aufzugeben. »Weg hier!«, brüllt er. »Zu den Booten!«
Er will den Philippinos helfen. Sie müssen so schnell wie möglich die Rettungsboote zu Wasser lassen, was bei einem Schiff in Schieflage lebensgefährlich ist. Aber wenn sie untergehen, werden sie ohne Boote alle ertrinken. Er macht sich auf den Weg zum Heck. Er packt seinen Seesack, den er hinter eine Leiter geklemmt hat. Während er den Sack losreißt, sieht er, dass Harald und Joke ihm zu den Rettungsbooten folgen. Er wendet den Kopf, um Jorge ein Zeichen zu geben.
Jorge macht sich an den Containerlaschungen zu schaffen. Ist er denn verrückt geworden? Gustav wirft Harald seinen Seesack zu und dreht sich um. Dem Wind und seiner Angst zum Trotz macht er sich auf den Weg zu Jorge.
Mit jedem Schritt kommt es ihm vor, als lege sich das Frachtschiff etwas mehr auf die Seite. Es vergeht eine Ewigkeit, bis er bei Jorge angekommen ist. Sein Kamerad hat sich wieder an der Reling festgeklammert und starrt auf die verrutschten Container, die noch nicht über Bord gegangen sind.
»Wir müssen in die Boote!«, schreit er ihn an. »Lass die Container, das hat keinen Zweck!«
Jorge bewegt die Lippen und Gustav liest das Wort »Klaus« davon ab.
Gustav folgt Jorges Blick. Sieht, was der sieht. Hinter einem der Container, die sich an die Reling drücken, schaut ein Arm hervor.
Ein Augenblick der Erstarrung, dann packt er Jorge und schubst ihn vor sich her zu den Rettungsbooten. Eine große Welle wirft sie beide zu Boden, sie schlittern die letzten Meter und prallen hart gegen die Bordwand. Dann wird alles schwarz.
***
Um 1:57 Uhr empfängt das Motorschiff Wismar einen Funkspruch: »MS Anne Kuhlmann Position 12°46'N, 61°26'W. Maschinenausfall. Schwere Schlagseite. Mehrere Container von Deck verloren. Erbitten dringend Hilfe.« Die Wismar ist 230 Seemeilen entfernt. Um 2:14 Uhr empfängt die Wismar einen letzten Funkspruch: »Besatzung von 24 Mann geht in dieRettungsboote. Schiff sinkt«.
Sein Fuß stieß gegen eine Bierflasche. Es klirrte leise. Sofort hatte er wieder einen der blöden Handwerkerwitze im Kopf: Zwei Maurer spazieren über eine Wiese und finden einen halb vollen Kasten Bier. Fragt der eine Maurer den anderen ganz erstaunt: »Weißt du, wer hier baut?«
Stephan Möllenkamp verfluchte seine Kollegen aus dem Fachkommissariat I. Kaum dass sie von seinem Vorhaben erfahren hatten, in Esklum einen Resthof zu renovieren, hatten sie ihm das Buch mit den Handwerkerwitzen geschenkt.
Einstweilen baute hier noch niemand. Im düsteren Licht eines selbst für Ostfriesland ungewöhnlich rauen Hochsommertages lag vor ihm eine Bruchbude aus rotem Backstein, in der er nur mühsam den stolzen Gulfhof von einst erkennen konnte. Leider fiel ihm die Vorstellung, was er und seine Frau Meike aus diesem angeblich laufend modernisierten Hof machen würden, auch nicht leichter.
Ein ostfriesischer Gulfhof bestand ursprünglich aus dem Vorderhaus, dem Wohntrakt und dem angrenzenden Stall- und Scheunentrakt, dessen Dach weiter herabgezogen wurde, so dass er breiter war als der Wohntrakt. Im Zentrum des Scheunentraktes befand sich der »Gulf«, ursprünglich eine Lagerfläche für Heu, Erntegut und Gerät. Dieser hintere Bereich nun sollte zu einem Wohnzimmer mit großen Terrassentüren ausgebaut werden, die den weiten Blick über das Land ermöglichten.
Darum hatte er sich heute mit Herrn Groll verabredet. Nein, mit Werner. Möllenkamp stöhnte leise. Der Architekt und Bauleiter war ihm von Anfang an viel zu jovial gewesen und verfügte über eine verdächtig unverwüstliche Laune.
»Was ist, wenn der Typ Mist baut und wir ihn von der Baustelle schmeißen müssen?«, hatte er Meike nach dem ersten Treffen gefragt. »Hoffentlich redet Johanna dann noch mit dir. Hast du mal drüber nachgedacht, zu welchen Verwerfungen das führen kann? Allein, dass ich nicht Sie zu ihm sagen darf, weil er irgendwie zu unserem Bekanntenkreis gehört.«
»Du siehst Gespenster«, hatte seine Frau gelacht. »Werner Groll hat fünfzehn Jahre Erfahrung in dem Geschäft und alle nötigen Qualifikationen. Warum sollten wir ihn von der Baustelle schmeißen? Es kommt nur darauf an, dass wir alles genau mit ihm absprechen.«
Oh ja, wie recht sie hatte.
»Wir wollen das Gebäude so herrichten, dass es dem Originaleindruck möglichst nahekommt.« Was war an dieser Aussage falsch zu verstehen? So falsch, dass man Kunststofffenster mit innenliegenden Sprossen vorschlug, »damit ihr nicht so viel Arbeit mit dem Putzen habt«. Sie hatten ihm mühsam die Kunststofffenster und -türen ausgeredet und auch den Laminatfußboden abgelehnt. Der Wunsch nach gebrannten Tonziegeln, hochkant und im Fischgrätmuster im Hausflur verlegt, hatte Grolls Augenbrauen nach oben schnellen lassen. Dann hatte er versucht, ihnen den Dielenboden in den Wohnräumen auszureden, weil sich darunter nur schlecht eine Fußbodenheizung montieren ließe.
Außerdem beunruhigte es Möllenkamp, dass Werner darauf bestand, nur mit Handwerkern seines Vertrauens zusammenzuarbeiten. »Die Jungs sind von mir ausgesucht. Ich arbeite mit denen schon seit zehn Jahren. Wir verstehen uns blind.«
Der letzte Satz hatte sich in seinem Kopf festgesetzt und schwebte jetzt wie eine kleine dunkle Wolke darin herum. Vor allem, seit er die Truppe kennengelernt hatte.
»Dass die sich blind verstehen, ist toll. Aber sehend wäre mir lieber«, hatte er Meike zugeraunt, die ihn mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen brachte. Und so dachte er, während ihm die einzelnen Handwerker vorgestellt wurden, an das Gedicht vom Blinden und vom Lahmen und hoffte, dass sich die offensichtlichen Unzulänglichkeiten der Gestalten vor ihm am Ende doch noch zu einem harmonischen Gesamtbild fügen würden.
Nervös fuhr Möllenkamp sich mit der Hand durch die dunklen Haare. »So, nächste Woche kreist hier die Abrissbirne!«, hörte er hinter sich den fröhlichen Bass des Bauleiters, den er so hasste. »Freut ihr euch schon, dass es endlich losgeht?«
»Jaha«, zwang sich Möllenkamp zu einem Grinsen. »Aber bitte nicht zu viel abreißen, ja?«
»Tja, wie ihr meint. Wenn ihr mich fragt, hättet ihr den Schrott hier besser ganz plattgemacht und einen Neubau hingesetzt. Schöne Toskanavilla mit großen Fenstern und modernster Technik. Isolierung, Heizung, Elektrik, Fenster – alles auf dem heutigen Stand. Aber wie heißt es so schön: Der Kunde ist König.«
Möllenkamp war beim Wort »Toskanavilla« zusammengezuckt und hatte das Gesicht verzogen. Werner klopfte ihm auf die Schulter. »Ruhig Blut. Ihr kriegt, was ihr wollt, und auch der Dielenboden ist drin. Jetzt wollen wir aber mal die Außenanlagen und die Zufahrt besprechen.«
Im Folgenden beschrieb ihm Werner, wie er das Grundstück roden würde, um es für eine schöne breite Zufahrt und die Anlage eines pflegeleichten Gartens zu präparieren.
»Für die Baufahrzeuge wäre es viel leichter, wenn ihr die Kastanien an der Zufahrt gleich fällen würdet. Außerdem macht das Laub viel Arbeit, im Herbst fallen euch die Dinger ständig aufs Auto, und dann kommt die Miniermotte und erledigt den Rest.«
»Werner, vielleicht könnten wir uns doch auf die Arbeiten am Haus konzentrieren?«
»Ich mein ja nur. Ihr braucht sowieso ne Doppelgarage und Meike bestimmt ein bisschen mehr Platz zum Wenden.«
Auf das verschwörerische Augenzwinkern ging Möllenkamp nicht ein. Stattdessen strebte er dem Hinterhaus mit seinem großen hölzernen Tor zu, das inzwischen halb verfallen war. Hier sollten nach dem Umbau Terrassentüren über die ganze Breite des Gebäudes hinweg den Blick auf den Hammrich öffnen.
Es gelang Möllenkamp, mit Werner Groll das Thema Abzug für den Schwedenofen sachlich zu erörtern und sich über Hinweise auf die Vorzüge einer Fußbodenheizung hinwegzusetzen. Als jedoch der Vorschlag kam, die Terrasse zu überdachen und an beiden Seiten mit einer Glaskonstruktion einzufassen, beschloss er, dass es jetzt an der Zeit sei, sich nach Hause zu begeben. Er wollte am Nachmittag noch zum Fußball und das ganze Bauprojekt für den Rest des Tages lieber vergessen.
Wieso eigentlich war Meike nicht hier? Schließlich war die Vorstellung vom romantischen Eigenheim auf dem Lande doch auf ihrem Mist gewachsen. Er hätte sich problemlos weiterhin mit dem gemieteten Reihenhaus in Leerort arrangieren können. Seinen verrückten Nachbarn Müller hätte er zur Not auch mit einer Rolle Natodraht von ihren 250 Quadratmetern Grund und Boden ferngehalten. Aber es mussten ja 2500 Quadratmeter sein, damit neben Hochbeet und Gewächshaus auch noch der Traum vom Obstgarten in Erfüllung gehen würde.
»Meine liebe Frau«, pflegte er zu sagen, »ist dir bekannt, dass der geplatzte Traum vom luxuriösen Eigenheim für ungefähr ein Viertel der Fälle verantwortlich ist, die ich aufzuklären habe?« Er wusste nicht, ob das mit dem Viertel stimmte, aber es war auch egal, weil Meike sowieso nur mit ihrem hellen Lachen darauf reagierte. Seinen nächsten Versuch – »Kennst du mich eigentlich gut genug, um das Risiko einzugehen, mit mir in die Einöde zu ziehen, wo dir niemand helfen kann, wenn du schreist?« – verkniff er sich dann wegen mangelnder Erfolgsaussichten. Er war eben ein Pantoffelheld.
***
»So ein Tag, so wunderschön wie heute. So ein Tag, der dürfte nicht vergehn.« Sie sangen schon seit der zwanzigsten Minute. Genau genommen, seit dem 4:0, das Arno Jansen geschossen hatte. Möllenkamp kannte Arno Jansen nicht, aber der Name war vom Stadionsprecher so oft wiederholt worden, dass selbst er ihn sich merken konnte. Außerdem hatte Arno Jansen auch schon für die drei vorigen Tore gesorgt. Damit war das Fortkommen seiner Mannschaft, des TUS Weener, auf dem Weg zur Niedersachsenmeisterschaft der Altherren ebenso gesichert wie sein eigener Platz an der Fotowand des Vereinsheims. Vielleicht würde es mit der Niedersachsenmeisterschaft am Ende nichts werden, das Foto von Arno Jansen aber würde bleiben und die nächsten Jahrzehnte an der Wand langsam vor sich hin vergilben.
»So ein Tag«, krächzte es neben Stephan, und er warf verstohlen einen Blick nach rechts. Gertruds breites Gesicht hatte eine ungesunde Farbe angenommen. Sie hatte den blau-gelben Schal des TUS Weener dick um ihren Hals geschlungen und schwenkte euphorisch ihre Bierflasche. Als sie merkte, dass sie beobachtet wurde, stieß sie ihn an.
»Jetzt mach mal ein bisschen mit. Du musst langsam hier reinkommen, Stephan. Dich akklimatisieren. In Ostfriesland ist Fußball Nationalsport, da muss man mitmachen. Erzähl mir doch nicht, dass das in Osnabrück anders ist. Gleich in der Halbzeit stell ich Dir ein paar Leute vor.«
»Hast du mir nicht mal erzählt, dass Sport dich nicht so interessiert?«
Sie verdrehte die Augen. »Es geht doch gar nicht um den Fußball. Hier kommen die wichtigen Leute zusammen. Auf dem Platz und neben dem Platz. Hier erfährst du alles, was du wissen musst. Kannst du vielleicht mal brauchen, wenn wieder jemand im Rheiderland ermordet wird.«
Dann hab ich ja dich, dachte Möllenkamp. Gertrud Boekhoff, die durchsetzungsstarke Lokalredakteurin des Rheiderländer Tagblatts, hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit geholfen, den Mord an dem alten Polderbauern Tadeus de Vries aufzuklären. Ihre Methoden hatten die Grenzen des Erlaubten einige Male überschritten. So dankbar er ihr war: Der Fall nagte immer noch an ihm, denn den Täter hatten sie zwar identifiziert, jedoch nicht gefasst. Seit einem halben Jahr war Herbert Klatt verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Und mit jedem Tag schwanden Möllenkamps Hoffnungen, ihn jemals zu kriegen, mehr dahin.
Ein Pfiff ertönte zur Halbzeitpause. Man versammelte sich vor der Bierbude und unterzog die Geschehnisse der ersten Halbzeit einer genauen Analyse.
»Suurhusen is ja nix vandaag.«
»Dat de sük overhoopt trauen, sünner Troff hier uptelopen.«
»De hebben ja sehn, wat se daarvan hebben, ha, ha.«2
Die wenigen Fans des SV Concordia Suurhusen hatten sich der Bierbude gar nicht erst genähert. Wer den Schaden hatte, brauchte für den Spott nicht auch noch selbst zu sorgen. Es galt außerdem, sich den Mut für die zweite Halbzeit nicht durch die Fans der überlegenen Weeneraner weglachen zu lassen. Und für eine veritable Schlägerei waren sowieso alle noch zu nüchtern. Die musste bis nach dem Spiel warten.
»Moin Gertrud, wo geit di dat? Hest du’n nei Fründ? Mooi Kerl is dat. Und wat hest du mit dien Rudi Dutschke makt? Fangt de Poggen?«3 Der rotgesichtige kleine Mann am Bierstand grinste die Redakteurin herausfordernd an.
»Ja, deit he. Und wenn du neit uppasst, dann kummst du ok in sien Terrarium. Du deist da sogar noch rinpassen.«4 Sie ließ ihren Blick ebenso herausfordernd an ihm empor- und wieder herabgleiten, bis sein Grinsen zur Maske gefror. Erst dann drehte sie sich zu Möllenkamp um: »Stephan, darf ich vorstellen: Hartmut Reck, Bauunternehmer hier in Weener. Sein Betrieb fällt aber eher in die Zuständigkeit deiner Kollegen von der Organisierten Kriminalität. Er hat zwar viele Leichen im Keller, aber die meisten nicht selbst umgebracht, sondern nur geholfen, sie in schlecht gemischtem Beton verschwinden zu lassen. Nicht, Hartmut?«
Hartmut lachte gezwungen.
»Ach so, ja. Fast vergessen: Das hier ist Stephan Möllenkamp, Leiter des Fachkommissariats I der Polizeiinspektion Leer. Mord, Totschlag, Drogen. Also nimm dich in Acht.« Die Männer schüttelten sich die Hand und gaben vor, sich zu freuen.
»Den magst du ja richtig gern«, stellte Möllenkamp fest, als sie sich ein Stück entfernt hatten.
»Ja, Hartmut kenn ich schon aus der Schule. Hat das Bauunternehmen von seinem Alten übernommen und kann seitdem vor Kraft nicht laufen. Immer große Schnauze und hält sich für unwahrscheinlich komisch.« Gertrud schnaubte.
»Also empfiehlst Du mir nicht, das Bauunternehmen Reck anzufragen, wenn ich meine Ruine in Esklum sanieren will?«
Gertrud sah ihn verwundert an. »Ihr habt in Esklum eine Ruine gekauft?«
»Na ja, von außen sieht es aus wie ein hübscher Resthof. In Wirklichkeit ist es aber eine Ruine.«
»War’s wenigstens günstig?«
»Das kann ich Dir erst hinterher sagen, wenn wir fertig oder pleite sind.«
»Junge, Junge, das ist aber mutig«, stellte Gertrud fest, während Möllenkamp wieder dieses komische Gefühl im Bauch bekam, das ihn immer überfiel, wenn er an den anstehenden Hausumbau dachte.
»Wer ist eigentlich Rudi Dutschke?«, fragte er, um sich davon abzulenken.
»Rudi Dutschke war eine Führungsfigur der Studentenbewegung und wurde 1968 von einem Attentäter so schwer verletzt, dass er…«
»Ja, ja, schon gut, so weit reicht es bei mir auch noch. Aber der war ja wohl nicht ‘dein′ Rudi Dutschke und fängt auch keine Frösche.«
»Sieh an, der Herr Kommissar versteht ja doch Plattdeutsch. ‘Mein′ Rudi Dutschke heißt Gottfried Schäfer und war, wenn du dich erinnerst, lange Zeit dein Hauptverdächtiger im Fall de Vries.«
Möllenkamp war baff. Während der Ermittlungen zum Mordfall Tadeus de Vries hatte sich zwischen Gertrud Boekhoff und dem zeitweise Hauptverdächtigen, Gottfried Schäfer, eine vollkommen unpassende Romanze entwickelt. Unpassend nicht nur wegen der Umstände, sondern auch wegen der Persönlichkeiten: hier die taffe, äußerlich robuste Redakteurin des Rheiderländer Tagblatt, in jeder Hinsicht dem festen Boden sehr verbunden; dort der hagere altlinke Umweltaktivist aus Hessen, der die Ideologie politischer Gewalt vor ein paar Jahren gegen ein ebenso entschiedenes Bekenntnis zum Christentum eingetauscht und sich lange gegen das Emssperrwerk-Projekt engagiert hatte. Nun war anscheinend tatsächlich etwas Ernstes daraus geworden. Er schüttelte den Kopf.
»Was macht er denn eigentlich, dein Schäfer?«
»Oh, er … er schreibt ein Buch über das Sperrwerk.«
»Jetzt schon? Das Ding ist ja noch gar nicht fertig. Geschweige denn, dass bereits alle Krabben tot oder die Krummhörn nach dem Schließen der Tore überflutet worden wäre. Was schreibt er denn da?«
»Es«, Gertrud räusperte sich, »äh, es ist auch nicht direkt über das Sperrwerk. Also nicht nur. Es ist mehr so ein Resümee seiner politischen Arbeit. Von der Startbahn West bis heute.«
Was für ein komischer Kauz, dachte er. Was will sie bloß mit dem?
Dann wurde die zweite Halbzeit angepfiffen.
***
Arno Jansen saß breitbeinig auf seiner Bank und kratzte sich die Eier wie ein Pavian. Ob der Mensch sich nach vier Toren in einer Halbzeit immer so zurückentwickelte? Und warum? Weil er es sich dann erlauben konnte?
»Jungs, ich bin stolz auf Euch. Ihr habt sie in Grund und Boden gespielt. Suurhusen hat die Sonne nicht gesehen.«
Hans Albers‹ Gesicht glänzte. Unter seinen Achseln war das blaue Hemd einige Nuancen dunkler. Der Trainer des TUS Weener war glücklich, aber nicht kopflos. »Ihr riskiert nichts mehr. Wir halten das Ergebnis, auch wenn das Publikum draußen sauer ist. Denkt daran: Wir wollen den Pokal. Wir werden Niedersachsen-Meister!«
»Wir wer – den Nie – der – sach – sen – Meis – ter!!!« gröhlte es aus fünfzehn Altherren-Kehlen.
»Und jetzt raus mit euch!«
Vierzehn Paar mehr oder weniger behaarte Beine bewegten sich auf den Ausgang der Kabine zu.
»Fokko, alles klar mit dir? Du siehst blass aus. Soll ich Eppi für dich einwechseln?«
Etwas verschwommen tauchte die besorgte Miene des Trainers dicht vor Fokkos Augen auf. Er wischte sich über das Gesicht. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Damit Hans es nicht merkte, bückte er sich und band seine Schuhe noch einmal nach. »Alles paletti«, ächzte er. »Ich muss nur noch mal aufs Klo.«
Hans klopfte ihm auf die Schulter: »Okay, du bist erwachsen. Aber beeil dich. Gleich ist Anpfiff.«
Fokko wartete, bis Hans die Kabine verlassen hatte. Es roch nach Männerschweiß und Deo, eine Mischung, die ihm jetzt unerträglich vorkam. Er atmete behutsam durch den Mund ein, um die Schmerzen in seiner Magengegend nicht noch weiter zu verschlimmern. Dann überspülte ihn eine Welle aus Übelkeit.
Er schaffte es gerade noch zur Toilette. Ihm kam es vor, als müsse er nicht nur seinen Mageninhalt, sondern sämtliche Eingeweide aus sich herauspressen. Die Schmerzen brandeten gegen sein Zwerchfell an und ließen ihn fast ohnmächtig werden. Es fühlte sich wie hundertfach verstärktes Sodbrennen an. Als er vor der Kloschüssel zusammensackte, versuchte er, an ein Glas Milch zu denken. Der Gedanke verschaffte ihm etwas Linderung. Vorsichtig atmete er ein und aus, jeden Atemzug ein bisschen tiefer.
Und beim Ausatmen immer »Milch« sagen. »Ffhh…Milch…ffhhh…Milch…ffhhh…Milch…«
Beim Aufstehen blickte er in die Kloschüssel. Zwischen den gelblichen Brocken und kleinen Schaumkronen, die im Wasser schwammen, sah er rote Flecken. Er runzelte die Stirn, sah genauer hin. Blut? Spuckte er Blut? Ein Magengeschwür! Lieber Himmel, das hatte ihm vor dem Urlaub gerade noch gefehlt. Jetzt, wo alles gut werden würde und Sabine in Vorfreude auf Mallorca glühte und den ganzen Tag von nichts anderem redete.
Mühsam richtete er sich auf. Sofort wurde ihm schwarz vor Augen, aber nach ein paar Sekunden sah er wieder klarer. Er würde jetzt rausgehen und die zweite Halbzeit überstehen. Irgendwie.
Am Waschbecken schlug er sich ein paar Hände voll kaltem Wasser ins Gesicht. Aus dem Spiegel blickte ihn ein kreideweißes Gesicht mit blutunterlaufenen Augen an. Er sah aus wie eine Leiche auf Urlaub. Bis nächsten Freitag musste er es geschafft haben, ein gesunder Mann auf Urlaub zu werden.
***
»Mensch Fokko, wir wollten schon ohne dich anfangen. Hier, trink noch einen Schluck Wasser und zieh dir die Strümpfe hoch. Pass auf, du spielst immer auf Robert, egal was kommt. Robert ist instruiert. Ihr dürft die Suurhusener jetzt nicht mehr heranlassen. Darauf kommt’s eigentlich bloß an. Alles klar?«
Fokko nickte mechanisch. Er hatte nur »Robert« verstanden, das reichte. Benommen stolperte er auf den Platz. Er versuchte, unter den Zuschauern Antonia und Simon auszumachen, deren Stimmen er vor der Pause immer wieder gehört hatte, konnte sie aber nicht sehen.
Der Schiedsrichter pfiff die zweite Halbzeit an. Wie auf Kommando setzten die Schlachtengesänge des Publikums ein: »TUS! TUS!» »So ein Tag, so wunderschön wie heute!« Dann, leiser: »Con-cor-di-a! Con-cor-di-a!« Die Suurhusener Fans hatten noch nicht eingepackt.
Die Stimmen vermischten sich, verliefen wie die Farben auf den Tuschebildern seines Sohnes ineinander. Aus der Kakophonie wurde eine Harmonie, eine Melodie, die sich von seinem Ohr immer weiter entfernte, bis nur noch ein feines Rauschen übrigblieb.
Der Ball fiel ihm vor die Füße. Unschlüssig, was er damit sollte, blieb er stehen. Der Name »Robert« kam ihm in den Sinn. Wer war Robert? Er hob den Blick, sah aber nur noch weiße Flecke um sich. Das feine Rauschen um ihn herum verdichtete sich in seinen Ohren zu einem Dröhnen, das seinen ganzen Körper ausfüllte, ihn vibrieren ließ, sich dann in seinen Bauch zurückzog und zu einem Klumpen verdichtete. Aber da dehnte sich der Klumpen schon wieder zu einem ungeheuren Schmerz aus, der ihm den Atem raubte. Der Klumpen drückte gegen Herz und Lunge, da war kein Platz mehr für die Funktionen des Körpers. Er schnappte nach Luft, aber es war, als käme kein Sauerstoff in seinen Lungen an. Sein Herz schlug wie wild und irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu.
Verzweifelt sah er sich um. Da, in der Menge sah er die blassen, kleinen Gesichter seiner Kinder. Sie schienen ihn fragend anzusehen. Er versuchte die Hand zu einer beruhigenden Geste zu heben. Doch die Bewegung geriet zu einem hilflosen Schlenkern. Dann wurde ihm schwarz vor Augen, und er sackte über dem Ball zusammen, der noch immer vor seinen Füßen lag.
***
»Na, wie war dein erstes Match als Fan des TUS Weener?«, schallte Meikes muntere Stimme aus dem Wohnzimmer. Im Hintergrund liefen die Geräusche des Fernsehers. »Hast du einen Aufnahmeantrag gestellt?«
»Vier Tore und ein Toter«, versuchte es Stephan Möllenkamp mit Sarkasmus.
»Vielleicht können sie Lothar Matthäus als Ersatz verpflichten«, kam es zurück. »Der hat jetzt in der Nationalelf aufgehört.«
Okay, sie hatte den Ernst der Lage nicht erfasst. Er betrat das Wohnzimmer und sah im Fernsehen eine wogende Menge kaum bekleideter Menschen, die sich zum Geräusch von Maschinengewehrsalven bewegten.
»Werden die jetzt erschossen?«
»Bist du verrückt? Das ist eine Friedensdemonstration.«
Wie konnte man eine Friedensdemonstration mit derart martialischen Klängen unterlegen?
»Wieso siehst du dir diesen Mist an?«
»Weil die Hälfte der Schüler aus meinem Deutsch-Leistungskurs auf der Love Parade ist.«
»Ja und? Glaubst du, du findest da einen von im Fernsehen?«
»Glaub es oder nicht: Ich habe schon jemanden erkannt.«
Er schüttelte den Kopf und floh vor dem Lärm nach oben ins Bad. Minuten später stand er unter der dampfenden Dusche und versuchte, die klamme Kälte aus sich herauszuspülen. Er stellte sich vor, dass die Poren das heiße Wasser von außen nach innen leiteten, wo es das Blut in den Venen erwärmte, das in das Herz gepumpt wurde und weiter durch die Arterien strömte. Oder war das mit den Arterien und Venen umgekehrt? Egal, immerhin funktionierte es langsam, und er dachte wieder einmal, wie stark doch die Kraft der Autosuggestion war.
Dennoch: Wenn das hier das typische ostfriesische Sommerwetter war, würde er ein Versetzungsgesuch nach Freiburg aufsetzen. Er genoss die heiße und feuchte Luft in der Duschkabine und schäumte sich mit dem gut riechenden Bio-Lavendel-Duschbad ein, das Meike immer kaufte – auch wenn er darauf hinwies, dass der konsequente Umstieg auf ein No-Name-Produkt von Aldi ihnen die Finanzierung des Resthofes in Esklum sehr erleichtern würde…
Und dann fiel ihm ein, dass Esklum auf ewig zwischen ihm und Freiburg stehen würde.
Er seufzte, drehte den Hahn ab und griff sich ein Handtuch. Beim Abrubbeln stellte er frustriert fest, dass sich der leichte Schwimmring um seine Taille anscheinend vergrößert hatte. Von seinem Ziel, in diesem Herbst einen Halbmarathon zu laufen, sprach er öffentlich nicht mehr. Vor sich selbst hatte er sich damit herausgeredet, dass er bei seinem Bauprojekt Hand anlegen müsse und dass ihm dies vorübergehend leider kaum Zeit für sportliche Betätigung ließ. Nur hatte das Bauprojekt genau genommen noch gar nicht begonnen. Die Übergabe des Hauses war eben erst erfolgt, und die Hauptarbeit hatte bisher darin bestanden, die Darlehen zu beantragen, einen Bauleiter zu suchen und Pläne für den Umbau zu schmieden. Jetzt konnte es bald losgehen, aber was den Bauleiter anging, hatte er ein mulmiges Gefühl im Magen. Dieser bärtige Typ erschien ihm allzu gemütlich, und Möllenkamp zweifelte daran, dass er gegenüber seinen Handwerkern den richtigen Ton anschlagen würde. Dass es sich bei Herrn Groll um den Mann von Meikes Arbeitskollegin handelte, machte die Sache nur vertrackter.
Er kapiert es einfach nicht, dachte Möllenkamp, während er sich sorgfältig zwischen den Zehen abtrocknete, was er tat, seit seine Mutter ihn als Kind über das hartnäckige Auftauchen von Fußpilz aufgeklärt hatte. Bei dieser schwierigen Übung, die auf einem Bein zu vollführen war, trat sein Schwimmring noch ausgeprägter hervor.
Genau diese unerotische Schwachstelle seines Körpers berührten jetzt von hinten die warmen, schlanken Finger seiner Frau, die unbemerkt hereingekommen war.
Er zuckte zusammen. Meikes Hände wanderten tiefer in seine Leistengegend, verharrten kurz, kraulten ein wenig in seinem drahtigen, dunklen Schamhaar, um dann entschlossen, aber nicht grob dorthin zu fassen, wo sich sein bester Freund, der Verräter, ohne Rücksicht auf die entwürdigende Situation bereits freudig in Positur gestellt hatte.
»Du riechst aber gut«, brummte sie von hinten in sein Ohr, »Und es ist Samstag. Da tun es doch alle Ehepaare, oder?«
»In was für einer scheußlichen Routine wir erstarrt sind«, gab er zurück. Er wandte sich zu ihr um und knöpfte ihr die Bluse auf. Wieso rochen Frauen immer gut, fragte er sich. Sie aßen das Gleiche wie Männer und duschten auch nicht öfter.
Dann ließ er sich von Meike ins Schlafzimmer führen. Er dachte kurz daran, sie wie im Film hochzuheben und an die Badezimmertür zu pressen, um ihr das Höschen runterzureißen und sie ohne Vorspiel zu nehmen. Kurz dankte er dem Himmel für die Erfindung der ehelichen Routine und der Federkernmatratze und widmete sich dann ganz seiner Frau.
Vor dem Anahawan District Hospital kauert ein alter Mann. Mit leerem Blick schaut er in die Ferne, während der Regen auf ihn niederprasselt. Er hält ein durchweichtes Papier in der Hand. Schmutziges Wasser umspült seine Füße, die Luft ist heiß, in den Straßen dampft es.
Das Hospital ist eigentlich nicht mehr als eine eingeschossige Krankenstation. Neben dem Eingang werden geparkte Motorroller gestartet und fahren so dicht an ihm vorbei, dass brackiges Wasser über seine Kleidung spritzt. Menschen eilen vorüber, halten Schirme und Taschen als Schutz gegen den Regen über ihre Köpfe und streben Vordächern und Unterständen zu. Struppige Hunde tollen im Wasser herum.
Der Mann schüttelt den Kopf, als habe ihn jemand etwas gefragt. Aber da ist niemand, der mit ihm spricht. Nun steht er auf, geht gebeugt, tastend, als habe er Schmerzen. Von Nahem sieht man, dass er noch gar nicht alt ist. 35, 40 Jahre höchstens. Sein Gesicht passt nicht zu seiner Gestalt, die sich langsam vom Krankenhaus entfernt, sich nicht umdreht, die Augen nicht hebt.
Als er bereits verschwunden ist, fliegt die Tür des Hospitals auf. Eine Frau stürmt heraus, auf dem Arm ein kleines Kind.
»Mariano!«
Die Frau blickt sich um, doch sie scheint nicht zu finden, was sie sucht. Sie tritt einen Schritt hinaus aus dem Schutz des Vordaches, sofort durchnässt sie der Regen. Das Kleine fängt an zu weinen. Die Frau beachtet es nicht. Sie steht einfach nur da und lässt das Wasser über sich und das schreiende Kind strömen.
In einer Pfütze schwimmt das Blatt Papier, das der Mann eben noch in der Hand gehalten hat. Das Kind zappelt und schreit. Da endlich löst sich die Erstarrung der Frau. Sie drückt das Kleinkind fest an sich und bückt sich nach dem Papier. Die Schrift darauf verschwimmt bereits. Ihr Blick fällt auf ein Wort, bleibt daran hängen, saugt es förmlich ein. Langsam dreht sie sich um und kehrt in die Krankenstation zurück. Auf dem weißen T-Shirt des Kindes hinterlässt die verlaufene Schrift schwarze Flecken.
Sein Rücken strahlte schlechte Laune aus. Die Schulterblätter stachen vorwurfsvoll, geradezu anklagend aus dem dünnen Oberhemd heraus. Er las Zeitung, wobei »Lesen« eindeutig ein Euphemismus war. Er arbeitete sich durch seine Lektüre. Die nassen Flecken unter seinen Armen zeigten an, dass es sich um eine körperlich anstrengende Tätigkeit handelte. Links von ihm lag ein ganzer Stapel Zeitungen und Zeitschriften, angefangen vom Rheiderländer Tageblatt über das Anzeigenblättchen Der Wecker bis hin zu überregionalen Zeitungen wie Frankfurter Rundschau und der FAZ, die Gottfried nach eigenem Bekunden als »Gegengift« betrachtete. Gertrud hatte eingewendet, angesichts seiner politischen Einstellung müsse doch die Rundschau als Gegengift für die FAZ angesehen werden, doch er hatte unwirsch abgewunken.
Hin und wieder fand sich auch eine kommunistische oder evangelikale Kampfschrift unter der Lektüre, sogar den Wachturm hatte sie zu ihrem Entsetzen dort entdeckt und einige Tage lang ihren religiös inspirierten Lebensgefährten noch genauer beobachtet als sonst. Schließlich war sie zu dem Schluss gekommen, dass er diese weltanschauliche Mischung brauchte, um sich an ihr abzuarbeiten. Und das tat er: Er studierte die Zeitungen, kommentierte sie laut, schnitt einzelne Artikel aus, machte sich Notizen an den Rand, heftete die Beiträge in Schnellheftern ab. Erst dann landeten die ausgeweideten Kadaver journalistischer Arbeit auf dem Stapel rechts von ihm, der heute Morgen noch ziemlich niedrig war.
Dafür war allerdings sein Maß an Empörung bereits ziemlich voll, und Gottfried grummelte nur, als Gertrud ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn scheinbar nichtsahnend fragte, was es denn Neues in der Welt gebe.
»Naies? Koa Oahnung. Isch bin noch bei'de Dorschsischt der Propagandaschrifte vunn vor zwaa Woche, unn des is schlimm genunk.«5
Wenn er sich aufregte, verfiel er in seinen hessischen Heimatdialekt. Gertrud mochte das, weil es seiner Wut etwas von der Schärfe nahm.
»Warum fängst du denn nicht mit den aktuellen Nachrichten an und arbeitest dich dann nach hinten durch?«
»Weil isch doann die oalde Zeitunge gar net mehr lese deed.«6
Was vielleicht nicht schlimm wäre, dachte sie, sagte aber: »Und, was gab es vor zwei Wochen Aufregendes?« Dabei setzte sie sich auf die Kante des Tischs, der unter ihren 85 Kilo gefährlich ächzte.
»Ha! Meyer baut werrer sou en dekadente Riesendampfer. Super Star Libra.« Er spuckte die Worte förmlich aus. »De hewe Se jetz ins Baudock. Für den Luxusliner mache sie die Ems kapudd. Äwwer defeer kriegt er en umweltfreundlischen Anstrisch.«7 Seine Stimme troff vor Sarkasmus.
»Isch sag dir, mim Emssperrwerk is ›s nedd geduu. Doa muss alles weg, woas steert. Unn woann nedd uff normalem Wege, doann bezahlt Meyer äwe irgendein besoffene Kapitän vunnem Seelenverkäufer, damit er die Eisenbahnbrick in Weener rammt. Doann krieht er uff Staatskoschde e breite Dorschfahrt für sai Riesenkiwwel hingeschdellt.«8
»So, jetzt ist aber Schluss mit Verschwörungstheorien. Hast du schon gefrühstückt?«
»Keine Zeit«, gab er zurück. Gertrud fühlte allmählich leichten Ärger in sich aufsteigen.
»Zeit müsstest du eigentlich genug haben.« Ihre Stimme klang spitzer, als sie beabsichtigt hatte. Ihre Notlüge gegenüber Stephan Möllenkamp kam ihr in den Sinn.
Sie goss zwei Becher Kamillentee auf, weil sie Kaffee in Gottfrieds derzeitiger Stimmung für bedenklich hielt, und toastete etwas Brot, das sie mit seiner selbstgemachten Erdbeermarmelade bestrich.
»Willst du dir nicht endlich mal einen Job suchen? Ich glaube, das würde dir guttun, und du kämst ein bisschen raus.«
Er blickte nicht von seinen Zeitungen auf.
Gertrud setzte sich ihm gegenüber und betrachtete ihn. Sein graues Haar, die Nickelbrille, hinter denen sich kluge Augen verbargen, die hagere Gestalt im karierten Hemd. Er war nicht der Typ Faulenzer, der auf Kosten der Allgemeinheit lebte und ab und zu ein bisschen demonstrierte. Er war ein ernsthafter Mann, der an der Welt, wie sie war, litt. Irgendwie hatte er in dem großen Rollenspiel der Gesellschaft seinen Platz nicht mehr finden können. Anders als seine Kumpels Joschka Fischer und Herbert Große, die Lederjacken und Turnschuhe gegen Jacketts eingetauscht und zielstrebig den Marsch durch die Institutionen angetreten hatten, war Gottfried seinen Idealen treu geblieben. Er hatte sich nur zur totalen Gewaltlosigkeit bekehrt. Und weil er jede Art von Seilschaft hasste, hatte es auch niemand seiner früheren Weggefährten geschafft, ihn in irgendeinem grünen Verband oder einer sozialen Stiftung unterzubringen. Sie liebte ihn für seinen Starrsinn, der sie gleichzeitig auf die Palme brachte.
»Ich habe gestern Friederike getroffen. Sie hat mir erzählt, dass sie im Tierheim jemanden suchen. Auf 630-Mark-Basis. Du könntest doch mal anrufen.« Sie kramte in ihren Jeans und zog einen zerknitterten Zettel heraus. »Hier ist die Nummer der Leiterin. Ich lass sie dir mal da.«
Er blickte immer noch nicht auf.
Sie sah ihn eine Weile an, wartete ab, ob noch etwas kommen würde. Dann stand sie auf. »Ich muss jetzt zur Arbeit. Wir sehen uns morgen.«
Weil immer noch keine Reaktion kam, ging sie auf ihn zu, drückte ihm die Schulter, wollte noch etwas sagen, schluckte es herunter und verließ den Raum.
Im Auto saß sie unbehaglich hinterm Steuer. Nie hatte sie so werden wollen wie ihre Mutter, die sich dauernd einmischte und Vorschläge machte, wie sie ihr Leben führen sollte. Den anderen respektieren, ihn so sein lassen, wie er war, das hatte sie sich für ihre Beziehung vorgenommen. Jahrelang hatte sie allerdings keine Gelegenheit gehabt, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen, schlicht und ergreifend, weil kein Mann in ihrem Leben gewesen war. Jetzt hatte sie jemanden gefunden, als sie bereits gedacht hatte, der Zug sei abgefahren. Und schon nach ein paar Monaten fing sie an, sich genauso wie ihre Mutter zu benehmen. Vor Wut über sich selbst trommelte sie mit den Händen auf dem Lenkrad, streifte dabei die Hupe und erschreckte sich so, dass sie fast einen Schlenker in den Straßengraben gemacht hätte.
Gut, dass sie sich gleich in der Redaktion ablenken konnte. Mit dem Herstellen einer Zeitung kannte sie sich erheblich besser aus als mit Männern.
***
»Hest du dat all hört van Fokko?«
Willm setzte ihr ein Jever auf den Tresen. Im Kneipchen war es wie üblich verräuchert und viel zu warm, weil die Heizung das ganze Jahr über lief. Beim vertrauten Klang der klackenden Billardkugeln fiel der Stress des Sonntagsdienstes unmittelbar von Gertrud ab. Sie hatte nicht nur den unglücklichen Todesfall auf dem Weeneraner Fußballfeld für die Leser aufarbeiten müssen, sondern sie war auch noch für die Sportergebnisse der ostfriesischen Fußballvereine verantwortlich gewesen, weil ihr Kollege Wessels erkrankt war.
»Ik hebb dat neet blot höört, ik was daarbi«9, gab Gertrud zurück.
Willm machte große, runde Augen. »Du hast dir das Spiel angeguckt? Na, was ich gehört habe, war das mit dem Fokken ja’n richtiger Krimi. Und die Kinder haben das alles mitangesehen.« Er kratzte sich teilnahmsvoll den Bart. »Fokken, das war’n Bloed10. Der hat wohl mal’n bisschen viel getrunken. Aber dass er so früh abberufen wird …«
Gertrud schwieg. Sie wollte einfach die Festplatte runterfahren und nicht über Fokko Fokken reden.
»Hast du den gekannt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bloß vom Namen her.«
Willm kniff die Augen zusammen und musterte sie. Sein Ruf als der Wirt des Rheiderlandes beruhte auch darauf, dass er immer am besten informiert war. Sie wusste, dass er einen ausführlichen Bericht haben wollte, den sie ihm als Zeugin des Geschehens liefern konnte. Sie wollte das aber jetzt gerade nicht. Achselzuckend machte er sich auf den Weg zu den Tischen, um weitere Bestellungen aufzunehmen.
Was sollte sie bloß mit Gottfried machen? Er lebte in seiner eigenen Welt, in die er sie manchmal hineinließ, aber oft auch nicht. Er war jetzt 48 Jahre alt. Wollte er bis zur Rente über seinen Büchern hocken und den Verbrechen des Kapitalismus nachspüren?
»Was soll bloß aus der Frau und den Kindern werden?«
»Die müssen aus‘m Haus. Das war nicht abbezahlt. Und er war ja ›n bisschen oft inner Spielothek.«
»Wie weißt du das denn? Bringst du da auch dein Geld von Weener Papier hin?«
»Nee, die zahlen zu schlecht. Reicht bloß für Lotto am Samstag.«
Lachen. Gläser klirrten.
Nicht schwer zu erraten, worüber die Jungs links neben ihr am Tresen sich unterhielten.
Willm, der inzwischen wieder da war, beugte sich zu ihr herüber. »Gertrud, stimmt das, dass er Schaum vor dem Mund hatte?«
»Das musst du die Sanitäter fragen. Ich hab ja nicht auf dem Platz gestanden.«
Willm war nicht zufrieden. Ganz und gar nicht. Gertrud sah hilfesuchend auf Willms Fernseher, der oben in der Ecke neben dem Tresen angebracht war. Ein Reisemagazin zeigte unentschlossenen Nordlichtern, wo es überall auf der Welt schön war und dass sie nicht vergessen sollten, ihre Haut mit Sonnenschutzcreme gegen den schwarzen Hautkrebs zu schützen. Erkenntnisgewinn gleich null, aber dafür tolle Bilder von karibischen Stränden bis zu norwegischen Fjorden. Sie versuchte sich Gottfried in einem der gezeigten Luxusresorts vorzustellen und hätte fast laut gelacht. Er würde höchstens in ein Flüchtlingslager in Ostafrika reisen, um dort mal kurz die Welt zu retten. Welt retten war aber nicht Gertruds Ding. Sie schaltete die Gedanken an Urlaub ab und leerte ihr Bier.
»Sie hat ziemlich fertig ausgesehen, findest du nicht?«
»Ist mir nicht aufgefallen.«
»Komm, das musst du doch gesehen haben. Die Haare ganz strähnig und so aufgedunsen im Gesicht.«
»Ich fand, sie sah gut aus.«
Tödlicher Fehler.
Gertrud warf einen Blick auf das Teenagerpärchen zu ihrer Rechten und schloss mit sich selbst Wetten ab, wie lange es bis zu den Tränen noch dauern würde.
»Besser als ich?«
»Was?« Der Junge hatte den nächsten Fehler begangen, indem er seine Aufmerksamkeit von seiner Freundin zum Fernseher hatte wandern lassen.
»Ob du findest, dass sie besser aussieht als ich?«
»Nein, das weißt du doch.«
»Aber du findest ihre schwarzen Haare gut?«
»Ja.«
»Findest du, dass sie damit rassig aussieht?«
Jetzt auf keinen Fall antworten! Willm stellte grinsend noch ein Jever vor sie hin und deutete mit den Augen an, dass auch er bemerkt hatte, was für eine Katastrophe sich neben Gertrud anbahnte.
»Ja, irgendwie schon.«
Das war’s, dachte Gertrud. Noch drei Minuten, dann haut sie ab.
»Soll ich meine Haare auch schwarz färben?«
»Nein, warum?«
»Damit ich nicht mehr so langweilig aussehe.«
Er war wieder mit den Augen am Fernseher hängengeblieben, wo das Reisemagazin mit Bildern knapp bekleideter Schönheiten an karibischen Stränden zu Ende ging.
»Hm«, stimmte er abwesend zu und trank einen Schluck Bier.
Guck zu ihr, guck zu ihr, und sag ihr, dass sie nicht langweilig aussieht! Leider blieben Gertruds Warnungen unartikuliert.
»Weißt du, wenn ich dir zu langweilig bin, dann geh doch zu deiner schwarzhaarigen Schlampe zurück! Übrigens, wusstest du, dass sie schon mit Niklas rumgemacht hat, als ihr noch zusammen wart? Aber vielleicht ist die ja das, was du unter rassig verstehst.«
Inzwischen hatte die Unterhaltung eine Lautstärke erreicht, dass das ganze Lokal zuhören konnte – und es auch tat.
»Wieso zu langweilig? Und was hast du überhaupt? Ich will doch gar nichts mehr von ihr!«
»Für mich interessierst du dich aber auch nicht!«
»Das stimmt doch gar nicht! Heute habe ich extra Philipp abgesagt, damit wir zusammen sein können!«
Jetzt war auch er laut geworden.
»Ah, das ist dir bestimmt schwergefallen, deinen debilen Freunden abzusagen, um mit mir auszugehen!«
»Wenn ich gewusst hätte, was du hier für eine Szene abziehst, dann hätte ich das bestimmt auch nicht gemacht!«
»Dann geh doch!«
»Das mach ich auch!« Wütend spülte der junge Mann sein restliches Bier hinunter, schnappte sich seine Jeansjacke und verließ das Lokal.
Eins zu null für dich, dachte Gertrud, die jede Wette eingegangen wäre, dass das Mädchen als Erste das Kneipchen verlassen hätte.
Die starrte zunächst trotzig vor sich hin, hob dann aber den Blick und erkannte, dass alle Augenpaare im Raum auf sie gerichtet waren. Gertrud überlegte, ob nun die erwarteten Tränen kommen würden. Doch zu ihrer Überraschung warf das Mädchen den Kopf in den Nacken, nahm ihr Bierglas und gesellte sich zu den Billardspielern im Vorraum.
Willm schüttelte den Kopf: »Ich versteh nicht, warum Inga es ihm nicht einfach sagt, wenn sie keine Lust auf einen Abend zu zweit hat. Stattdessen macht sie ihm immer eine Szene und spielt danach vorne mit Harry und Gaby Billard als wär nichts gewesen.«
Diesmal war es Gertrud, die unkonzentriert auf den Fernseher über Willms Kopf schaute. Dort lief eine Dokumentation über den Untergang der Wilhelm Gustloff. »Geschichtsporno« war Gertruds Begriff für diese Altmännersendungen, in denen Divisionen, Kanonen, Tote und Gefangene akribisch gegeneinander aufgerechnet wurden. Ihr Vater würde sich die Sendung über die Gustloff bestimmt ansehen, dachte sie, und es machte ihre Laune auch nicht besser.
Sie zahlte und ging.
Die Hütten stehen dicht an dicht: graues Wellblech, verwittertes Holz, vor jeder Hütte ein quadratischer Stein. Darauf steht normalerweise eine Schüssel. Darin wird gewaschen, gerührt, ausgelesen; um sie wird gehockt, gearbeitet, geschwatzt, gelacht. Aber nicht jetzt, da der Regen die Wege in Bäche verwandelt hat, in denen Unrat treibt, eine stinkende, schmutzigbraune Brühe. Es riecht nach Essen, Fäkalien, Müll.
In einer der Hütten hockt im dämmrigen Licht der Türritze der Mann vom Krankenhaus. Er hat die Arme um die Beine geschlungen und das Kinn auf die Knie gelegt. Er schaukelt ein wenig vor und zurück. Draußen steht sein kaputtes Tricycle im Schlamm.
Er ist Taxifahrer, eigentlich befördert er alles, was man mit so einem Fahrzeug befördern kann. Jetzt ist sein Tricycle kaputt, und er hat keine Arbeit mehr, weil er die Reparatur seines Fahrzeugs nicht bezahlen kann.
In der Hütte gibt es nicht viel. Ein paar Gummimatten stehen aufgerollt in einer Ecke, es gibt einen Gaskocher, einen Tisch, drei Plastikstühle, einen blauen Müllsack mit Hosen und Hemden der Familie. An der Wand hängt ein ausgebleichtes Bild: die Muttergottes mit dem Christuskind. Eine Glühbirne baumelt von der Decke, in der Mitte ein Ventilator, der die feuchtwarme Luft verrührt. Ein Plastikschränkchen beherbergt Seife, Werkzeug, ein wenig blechernen Schmuck.
Der Mann schaukelt noch immer hin und her. Die Muttergottes schaut milde auf ihn herab, aber er bemerkt sie nicht. Seine Schultern zucken. Er schluchzt. Das Wasser rauscht draußen auf dem Dach und übertönt die Geräusche, die sonst aus jeder Ritze der dünnwandigen Hütten dringen.
Nach einer langen Weile hält der Mann inne. Er öffnet den blauen Müllsack und wühlt darin herum. Schließlich zieht er ein Baumwollkleid heraus. Der Größe nach mag es einem Mädchen von etwa sieben oder acht Jahren gehören. Er hebt es an seine Nase, riecht daran. Dann presst er es an sich, vergräbt sein ganzes Gesicht darin, atmet tief ein.
Die Tür geht auf. Die Frau mit dem Kleinkind bückt sich unter der niedrigen Tür und betritt die Hütte. Sie hat das Kind in einem Tuch fest an ihren Körper gewickelt. Es schläft.
»Warum bist du weggelaufen? Ist es besser, hier mit dem Kleid deiner Tochter in der Hand herumzusitzen, als im Krankenhaus bei ihr zu sein?«
Er schweigt.
Die Frau lässt sich auf einen der Plastikstühle fallen.
»Sie wird sterben.«
»Nein, wird sie nicht.«
»Und warum sitzt du dann hier und weinst?«
Er schweigt.
»Sie spuckt Blut.«
»Sie hat Tuberkulose, das kann man heilen.« Seine Stimme klingt schwach, der Kloß sitzt fest in seinem Hals.
Die Frau lacht auf. »Ja, wenn du 30 000 Pesos hast, kannst du sie heilen. Aber du hast ja nicht mal mehr einen Job! Das Auto ist kaputt und wir haben kein Geld es zu reparieren! Wir haben gar nichts!«
Sie weint. Das Kleinkind brüllt.
Der Mann steht auf, blickt einen Moment hilflos auf die Muttergottes und geht hinaus in den Regen. Seine Füße platschen in das Wasser. Je weiter er sich von der Hütte entfernt, umso schneller wird er.
»Ja, weglaufen, das kannst du!«, schreit die Frau hinter ihm her.
Sie sahen alle aus wie Schulkinder am Anfang der letzten Woche vor den großen Ferien: erschöpft, aber gespannt, unkonzentriert und voll unterschwelliger Furcht vor den Zeugnissen.
Er hatte aber keine Zeugnisse für seine Mannschaft und hätte ihnen ebenso gut jetzt schon freigeben können. Die Sommerflaute hatte bereits eingesetzt. Es gab keine neuen Fälle, nur Altlasten, die man aufarbeiten, Akten, die man sortieren und Berichte, die man schreiben konnte. Musste. Und er würde es tun, das hatte sich Stephan Möllenkamp fest vorgenommen. Wer wusste schon, wann er jemals wieder dazu käme, wenn es auf dem Bau erst so richtig losging?
»Was macht man zuerst, wenn der Maurer vom Gerüst gefallen ist? Man nimmt ihm die Hände aus den Hosentaschen, damit es wie ein Arbeitsunfall aussieht.«
Wilfried Bleeker konnte es nicht lassen. Wie immer saß er übernächtigt, aber lässig und tadellos in einen schwarzen Anzug gekleidet im Stuhl. Sein Gesicht trug ein schiefes Grinsen zur Schau, als wenn er sich die Sache hier nur einmal unverbindlich ansehen wollte.
»Wilfried, immer wieder denk ich, wie schön es wäre, wenn sie dich am Ende doch nicht aus dem Kofferraum gezogen hätten.«
Anja Hinrichs, die ewig schlecht gelaunte Kollegin, ging wie immer zu weit, aber im Stillen musste Möllenkamp ihr gerade recht geben.
»Jetzt reißt euch noch eine Woche zusammen, dann könnt ihr in Palma oder Antalya wieder richtig ermitteln. Zum Beispiel, wer Eure Ray-Ban-Sonnenbrille im Waschraum vom Megapark geklaut hat«, versuchte Möllenkamp die Mannschaft zu motivieren.
»Respekt, Alder«, gab Bleeker von sich, wobei er das »R« besonders lange rollen ließ. »Aber isch setz meine Sonnenbrille nicht mal beim F…«
Gerade rechtzeitig, um den Gebrauch schlimmer Worte in den sachlichen Räumen der Leeraner Polizeiinspektion zu ersticken, öffnete sich die Tür und Kriminaloberrat Thomas Hinterkötter schob sich herein. Der Vizechef der Polizeiinspektion Leer und Chef des Zentralen Kriminaldienstes trug zum weißen Kurzarmhemd eine Krawatte mit Palmen. Für seine Verhältnisse war dies eher modisch dezent, meteorologisch aber umso verwegener, als die Außentemperaturen es gerade mal in den zweistelligen Bereich geschafft hatten. Zu den Eigenheiten des Westfalen gehörte es, die Jahreszeiten strikt am Kalender festzumachen und sich ungeachtet der tatsächlichen Wetterverhältnisse entsprechend zu kleiden.
Johann Abrams Gesicht verriet keine Regung, obwohl Stephan Möllenkamp sicher war, dass hinter seiner Stirn etwas vor sich ging. Hinter Abrams Stirn ging immer etwas vor sich. Abram würde nächste Woche auf jeden Fall fehlen, denn er hatte schulpflichtige Kinder. Auch Hinterkötter würde die Schulferien seines zehnjährigen Sohnes als Vorwand nutzen, um gemeinsam mit dem Landrat sein Handicap zu verbessern. Dann war da noch Edda Sieverts, die ebenfalls ihren Jahresurlaub beantragt hatte, obwohl sie kinderlos war. Doch die Vermarktung einer neuen Aloe-Vera-Sonnencreme aus der von ihr nebenberuflich vertriebenen Pflegeserie nahm zu dieser Zeit natürlich Fahrt auf. Für Nebensächlichkeiten wie die Unterstützung kriminalpolizeilicher Arbeit hatte sie nun wirklich keinen Kopf.
»Wie planen Sie denn den Einsatz am Freitag«, ließ sich Thomas Hinterkötter gewollt beiläufig vernehmen, kaum dass er sich auf dem für ihn reservierten Platz ganz vorne niedergelassen hatte.
Die Kollegen sahen sich verwirrt an. Wusste ihr Chef von einer Drogenrazzia, oder konnte er Mordfälle voraussehen?
Möllenkamp überlegte fieberhaft, wie er herausbekommen konnte, worauf die Frage zielte, ohne sich vor seiner Mannschaft eine Blöße zu geben.
Wie so oft rettete ihn Johann Abram.
»Der Einsatz am Denkmal fällt üblicherweise nicht in die Zuständigkeit der Kriminalpolizei, Herr Kriminaloberrat.«
»Das ist aber der Gefahr für Leib und Seele der jungen Schulabgänger nicht angemessen«, gab Hinterkötter barsch zurück. An Möllenkamp gewandt sagte er: »Die Teilnehmer dieser unangemeldeten Demonstration werden bestimmt jede Menge Betäubungsmittel mit sich führen. Da sollten wir hier zum Schutz der Jugend schwerere Geschütze auffahren. Bei der Denkmal-Demo mischen doch organisierte Banden mit.«
Heitere Unruhe machte sich im Raum breit. Hinterkötters Gesicht verfärbte sich bedrohlich, so dass sich Möllenkamp, dem immer noch nicht klar war, worum es eigentlich ging, zu einer Deeskalation genötigt sah. »Ich werde mich persönlich mit einigen Kollegen in Zivil unters Volk mischen und die Lage beobachten«, formulierte er vage.
Thomas Hinterkötter blickte ihn misstrauisch unter zusammengezogenen Augenbrauen an, nickte dann aber und ließ es dabei bewenden.
***
»Was zum Teufel hat es mit dieser Demonstration auf sich?«, fragte Möllenkamp Abram, nachdem alle anderen den Raum bereits verlassen hatten.
»Die Schüler der Leeraner Schulen treffen sich nach der Zeugnisvergabe in der Mühlenstraße am Denkmal, um das Ende des Schuljahrs zu feiern. Klar sind da Drogen im Spiel, meistens legale, aber natürlich wird da auch gekifft und ein bisschen gedealt. Manche schlagen über die Stränge. Vor allem die Abiturienten, die sind ja meist schon seit Wochen im Feiermodus. Tja, das ist eigentlich alles.«
»Und das ist eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung?«
»In den Augen unseres Vize, ja.«
»Wofür wird da demonstriert? Ferien und Freibier für alle?«
»Du hast es in etwa erfasst.«
»Oh Mann«, stöhnte Möllenkamp, der auf nichts weniger Lust hatte als auf Horden betrunkener Jugendlicher.
»Ähm, also unser Flieger nach Palma geht schon abends ab Hamburg…«
»Wen soll ich dann mitnehmen?«
»Anja und Wilfried. Die freuen sich bestimmt. Ich glaube, Wilfried geht eh immer hin. Der fühlt sich bei sowas ja wohl.« Abram grinste sarkastisch, ein seltenes Indiz dafür, dass hinter der Fassade des braven Familienvaters ein bösartiger Humor lauerte.
»Danke auch. Du bist ein echter Kollege, auf den man sich verlassen kann.«
»Da nicht für. Du kannst gern an meiner Stelle die Koffer packen und mit meinen Kindern diskutieren, ob sie ihre komplette Lego- und Barbiesammlung mit in den Urlaub nehmen dürfen.«
»Mir kommen gleich die Tränen.«
Möllenkamp grummelte noch, als er die Treppe hinunterging. Er würde Meike fragen, was sie über die Denkmal-Demo wusste. Zum ersten Mal in seinem Leben sehnte er ein schweres Verbrechen herbei.
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Da partout niemand an diesem Montag ein schweres Verbrechen begehen wollte, beschloss Stephan Möllenkamp nach drei Stunden Büroarbeit seinem Tagewerk noch einen sinnvollen Abschluss zu verpassen.
Er würde Einkaufen fahren, und das würde er erledigen wie ein Mann: kistenweise Getränke, Großpackungen an Konserven und Spaghetti, einen Jahresvorrat an Klopapier und Tempotaschentüchern. Dazu konnte Meike dann ja ihre einzelnen Salatblättchen, Bärlauch und französischen Rohmilchkäse vom Wochenmarkt beisteuern.
Pfeifend setzte Möllenkamp sich ins Auto und fuhr los.
Er sah ihn schon, als er sich der Einfahrt von Multi Süd näherte. Er stand, wo er immer stand, mit einer Ausgabe der neuesten Ossi