Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman - Andrea Reichart - E-Book

Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman E-Book

Andrea Reichart

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Beschreibung

Dieses spannende Buch ist nicht nur für Hundefreunde interessant sondern auch für Menschen, die ihre Augen für das wirkliche Leben mit seinen Höhen und Tiefen nicht verschließen. (Beim Lesen dieses Buches werden Sie herzlich lachen und ebenso manchmal feuchte Augen bekommen!) So lernen sie den reichen Literaturagenten Norbert Schulte kennen, der sich nach dem Tod seiner Frau nicht nur mit dem Landleben auseinandersetzen muss, sondern auch noch ihren letzten Wunsch erfüllt, sich einen Hund zu besorgen. Als der Hund, der auch "Norbert" heißt, in sein Leben tritt, beginnt die Reise seines Lebens, die ihn am Ende bis nach Thailand führt. Dort findet er mit Hilfe seines Freundes nicht nur die Liebe seines Lebens, sondern begreift auch, warum Millionen Menschen für ihren Vierbeiner durch die Hölle gehen würden - und wieder zurück.

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Seitenzahl: 349

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Für Dirk, der mir bis heute nicht erklären kann, warum unser Hund bei ihm nicht zieht.

Andrea Reichart

Nenn mich Norbert

Roman

 MÖNNIG-VERLAG ISERLOHN

Andrea Reichart studierte Germanistik und Anglistik und besaß in Essen eine Buchhandlung, ehe sie ins Sauerland zog, um das Konzept des Literaturhotels in Iserlohn umzusetzen und zu betreuen. ‚Nenn mich Norbert‘ ist ihr erster Roman.

Mehr Infos unter http://www.nenn-mich-norbert.de.

 © Mönnig-Verlag, Iserlohn, 3. Auflage 2013

 

Alle Rechte an Bild und Text, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotografischen Wiedergabe und der Vervielfältigung bleiben dem Verlag vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Susanne BohneBuchgestaltung, Textbearbeitung und Produktion: Mönnig-Verlag, Iserlohn

Gedruckte Ausführung unter www.moennig.dePrint: ISBN 978-3-933519-51-1E-Book: ISBN 978-3-933519-61-0 EPUBE-Book: ISBN 978-3-933519-62-7 MOBI

Kapitel 1

In der Stadt hätte er sich nie verfahren. Nicht so wie jetzt. Dort gab es Umleitungsschilder. Nicht nur ein Schild, nein, mehrere, die sich fürsorglich um Ortsunkundige bemühten. Auf dem Land war das offensichtlich anders. Dort hätten sie auch ‚Hier links ab, den Rest kennst du ja‘-Schilder heißen können. Vielleicht war die gesamte ländliche Beschilderung nur eine clevere Methode, um Fremde zum Übernachten zu zwingen? Erst stundenlang über die pittoresken Dörfer jagen, vorbei an idyllischen Herbergen, bis sie völlig desorientiert endlich aufgaben und einkehrten? Er war ja eigentlich kein Anhänger von Verschwörungstheorien, aber als selbst sein Navi verzweifelte und nur noch in einem fort ‚Bitte wenden Sie jetzt‘ stotterte, wurde ihm mulmig. Sein Auto war für normale Straßen wendig genug. Das hier war keine normale Straße. Das war eindeutig ein schlechter Scherz, ländlicher Feldweghumor. Jede Schrebergartenanlage in der Stadt hatte breitere Wege als dieses Dorf. Seltsam, dass hier ein Tierheim sein sollte.

Da war es wieder, das verlogene Holzschild. „Tier-Oase 50 m rechts“ stand da in schnörkeligen Buchstaben auf dem verwitterten Brett. Leider war ‚50 m rechts‘ aber nur eine Kreisverkehr-Baustelle, im weiten Umkreis gerodet, ohne ein einziges Haus in der Nähe.

‚Ok, das reicht‘, beschloss er entnervt, schaltete die verzweifelte Frau im Armaturenbrett aus und versuchte, die Sonne zu finden. Der Ort, in dem er wohnte, lag östlich von – ja von wo eigentlich? Egal. Östlich.

„Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf. Im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen“, murmelte Norbert den alten Kinderreim. Er befand sich eindeutig im Norden. Keine Sonne weit und breit, nur tiefhängende, dunkle Regenwolken.

‚Gute Güte‘, dachte er entnervt, ‚was finden die Leute bloß am Landleben?‘ Wenn es nach ihm gegangen wäre, säße er jetzt in seinem Lieblingsrestaurant in der Düsseldorfer Altstadt, läse ein Manuskript und würde das leise Raunen der anderen Gäste genießen. Stattdessen kurvte er frustriert durchs Sauerland.

Als er eine Stunde später ausgehungert und dehydriert in seine Garage fuhr, war es längst dunkel.

Er griff nach seinem eleganten Aktenkoffer und dem altmodischen Herrenregenschirm. Mit einem leisen Pfiff verabschiedete sich sein Wagen auf Knopfdruck, das Garagentor glitt geräuschlos zu Boden, und die clevere Hauselektronik sorgte augenblicklich für warme Willkommensbeleuchtung im ganzen Haus.

Mit einem Seufzer legte Norbert seine Sachen ab und ging direkt nach oben. Es gab wenig, was eine ausgiebige Dusche nicht wieder in Ordnung bringen konnte.

Das Handtuch, das seinen eleganten Hausmantel vor den letzten Tropfen auf dem duschfeuchten, graumelierten Haar schützen sollte, warf er nachlässig über den Barhocker, als er eine halbe Stunde später die exklusive Kaffeemaschine bediente. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm die FAZ und den Kaffee und ließ sich im Wohnzimmer auf das große, gemütliche Sofa sinken. Ein Blick auf die Rezensionen im Feuilleton ließ ihn lächeln. Er hatte natürlich wieder aufs richtige Pferd gesetzt. Er war sein Geld wert.

Nachdem er die Zeitung überflogen und alles, was ihn interessierte, wenigstens angelesen hatte, bespielte er gedankenverloren die Fernbedienung und lehnte sich zurück. Nachrichten, Talkshow, hirnlose Massenverblödung, Werbung, Werbung, Werbung, Bellen.

Er richtete sich auf.

Der Hund, der dort gerade vorgestellt wurde, litt eindeutig an Lampenfieber und wollte dringend zurück in seine Garderobe. Der nächste war noch weniger entspannt, blickte aber wenigstens einmal in die Kamera, ehe er sich losriss und floh. Norbert notierte die Namen der Tierheime. Irgendwo dort draußen wartete angeblich sein neuer ‚bester Freund‘. Bettina war sich da offensichtlich ganz sicher. Er nicht.

Als er später das Licht löschte und wieder nach oben ging, hatte er den Zettel mit seinen Notizen an die Pinnwand geheftet, zwischen all die anderen. Bettinas Augen schienen ihm von Bild zu Bild die Treppe hoch zu folgen, und sie konnte sich wie immer ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Sag lieber nichts“, hob er den Finger und mahnte seine verstorbene Frau mit einem schiefen Lächeln zur Zurückhaltung. „Ich habe noch nicht aufgegeben. Noch nicht.“

Kapitel 2

Die Koffer waren gepackt, die kleine Wohnung sah so aus, als müsse man sich nicht schämen, wenn aus irgendeinem Grund jemand anderer als man selbst die Tür aufschließen würde, und mit einem leisen ‚Pause!‘ legte sie das Spielzeug in den Korb, den sie morgen Kai und Silke übergeben würde. Mit ihrem Hund.

Sie atmete tief durch.

Nobbi schaute sie aufmerksam an. Sicher spürte er, dass etwas im Busch war, aber heute Abend würde es keine Rolle spielen. Ihren letzten Abend wollte sie nicht mit Trübsal und Reisefieber verschwenden, sondern die Nähe ihres Hundes genießen.

Sie zog sich ihre dicke Winterjacke und Nobbi das Hundegeschirr über und verließ die Wohnung.

Im Wald war es nicht so dunkel wie befürchtet, durch den Regen aber auch nicht so hell wie erhofft. „Beschwer dich bei Tief ‚Dagmar‘“, riet sie ihrem Hund, als dieser sich fast vorwurfsvoll immer wieder umsah. Sie freute sich auf die Bewegung.

Ihre Standardstrecke führte sie einmal um den Berg und ihre Gedanken einmal durch das letzte Jahr. Huberts Unfall, die Beerdigung, dann der Schock bei der Testamentseröffnung und die Zwangsversteigerung des Hauses, alles schien so weit weg und doch so nah, dass sie unwillkürlich schneller wurde, als könne sie den Erinnerungen davonlaufen.

Nur mit Mühe und Not hatte sie, unter Aufbietung aller Energiereserven, den Abgabetermin für ihr Buch einhalten können, eine verbitterte Abrechnung mit all den verlogenen Geschichten über Liebe, Glück und Happy-End, wie sie im Leben, davon war sie inzwischen überzeugt, nicht vorkamen. Der Verlag war winzig, die Auflage klein, der wirtschaftliche Erfolg eher unbedeutend. Aber das interessierte Huberts Gläubiger nicht. Sie lauerten und würden sie im Auge behalten, vermutlich den Rest ihres Lebens.

Dann das Angebot von Heike, eine ihrer Reisegruppen zu übernehmen. Vierzehn Tage Thailand, über Weihnachten und Neujahr, mit Rundreisen und viel Strand und Sonne.

Claudia blieb stehen und ließ Nobbi in Ruhe schnüffeln. Sie hatten die Runde fast geschafft. Da Kai und Silke in der Nähe wohnten, würden sie mit ihm dieselben Runden drehen. Mit etwas Glück würde er ihre Abwesenheit gar nicht richtig zur Kenntnis nehmen. Dasselbe Futter, der alte Hundekorb, sein Spielzeug, Freunde, die er seit Welpentagen kannte und vor allem dasselbe Revier.

Sie musste schmunzeln. Blödsinn, natürlich würde er sie vermissen, dafür waren sie einfach zu eng verbunden, sie beide. Sie waren ein Team, ein Traumteam, und einer konnte ohne den anderen nicht glücklich werden, da war sie sich sicher. Sonst hätte sie sich die Mühe mit seiner ‚Gebrauchsanweisung‘ ja nicht gemacht.

Gestern Nacht war sie damit erst fertig geworden. Ihren Kursteilnehmern riet sie, sich kurz zu fassen, wenn es um den Hund ging. Wenn niemand die liebevoll zusammengetragenen Tipps und Infos lesen wollte, dann stünde ihr Tier im Ernstfall nicht nur alleine in der Welt, sondern auch vor dem reinsten Kommunikations-Scherbenhaufen.

Das Format des Hunde-Büchleins war vorgegeben, es musste in den Impfausweis passen und sollte den Hund durchs Leben begleiten wie die Dokumentation seiner Krankengeschichte. Nur so konnte gewährleistet werden, dass er nicht bei jeder Umstellung, bei jedem neuen Besitzer – so tragische Fälle gab es ja schließlich – bei null anfangen musste. Claudia kannte Fälle, in denen man im Tierheim nicht einmal sicher war, wie ein Hund hieß, geschweige denn was er liebte und fürchtete. Und dann war es mit ihr durchgegangen. Um am Ende im Format zu bleiben, hatte sie den Text mit einer 6-Punkt-Schrift ausdrucken müssen. Eine Schriftgröße, die nur die Fittesten ohne Lupe lesen konnten.

Sie musste lächeln. Kai und Silke hatten gemeckert, als sie ihnen von dem kleinen Nobbi-Ratgeber erzählt hatte.

„Halloooo?“, hatte Silke mit hochgezogenen Augenbrauen gefragt. „Das könnte genauso gut unser Hund sein, so oft war er inzwischen hier! Wenn Kai nicht die Allergie hätte, würden wir ihn auch öfter nehmen.“

Kai war für Claudia ein Held. Er nahm zwei Wochen triefende Augen in Kauf, nur um seiner Frau und der Witwe seines besten Freundes einen Gefallen zu tun. Wahrscheinlich hatte er Angst, sie könnte in die längst überfällige Depression fallen, wenn zusätzlich zu all dem Theater des letzten Jahres nun auch die Unterbringung des Hundes zum Problem geworden wäre.

Heike hatte ihnen allen versichert, dass dies ganz sicher die einzige Reise wäre, bei der sie Claudias Hilfe benötigen würde. Ganz sicher! Claudia wusste, dass bei ihrer Chaosfreundin gar nichts sicher war, und im Stillen hoffte sie, dass wenigstens die Bezahlung reibungslos funktionieren würde. Sie brauchte das Geld so dringend!

Als sie die Wohnungstür aufschloss, murmelte sie „Warte!“ und hob den Finger. Nobbi rührte sich nicht von der Stelle, bis sie ihm grinsend ein Handtuch über den Körper gelegt hatte. Dann rubbelte sie ihn trocken und flüsterte „Das magst du, das Kuschelmuschel, nicht wahr, du guter Hund?“ Wie zur Bestätigung schloss ihr Vierbeiner die Augen und schmiegte den feuchten Kopf in das Handtuch, damit ihre Hände darin auch ganz sicher keine Stelle vergessen würden.

Dann fragte sie ihn „Hast du Hunger?“, und er raste ihr voraus in die Küche. Sie füllte seinen Napf mit Trockenfutter, ließ kaltes Wasser darüber laufen und hielt einen Zeigefinger hoch, den Nobbi aufmerksam beobachtete. Erst als sie ihn senkte, stürzte er sich auf das Futter und Claudia begann, für sich selbst zu sorgen.

Als sie sich einige Stunden später ins Bett legte und mit Kissen und Decke an die Wand rutschte, stieg der junge Rüde vorsichtig auf die Matratze, rollte sich neben ihrem Kopf zusammen und atmete tief aus.

Ihm war es vollkommen egal, warum die Koffer im Flur standen. Claudia lag neben ihm. Alles war gut.

Kapitel 3

Sie hatte die Koffer ins Auto geladen und seine Transportbox auch. Er würde mitfahren.

Er freute sich auf die Fahrt, wo immer sie hingehen würde. Fahrten mit ihr waren wunderbar. Er vertraute ihr. Es würde wieder schön werden. Er beeilte sich mit der Runde und ignorierte ihr ständiges „Langsam!“. Wieso wollte sie, so kurz vor einer Autofahrt, schlendern? Menschen! Er beeilte sich noch mehr. Es gab so viele Zeichen zu setzen, gerade jetzt, wo er nicht wusste, wann sie wieder zurück sein würden. Meine Güte, wie er sich freute!

So. Fertig. Das tat gut. Wie erwartet, drehte sie nach einem ‚Sehr gut‘ prompt um und ging zurück. Egal. Sollte sie jetzt ruhig ihren Willen haben. Aber Schlendern kam nicht in Frage. Er beeilte sich. Zurück, schnell zurück! Wenn sie es nur mal versuchen würde auf allen Vieren, sie würde sich nie wieder aufrichten. Fast hatte er sie vor ein paar Tagen soweit gehabt, aber sie hatte nur gekreischt und geschimpft und war sofort wieder aufgestanden. Meine Güte, sie konnte so stur sein.

Mach die Klappe auf, mach die Klappe auf! Ja, rein ins Auto, rein in die Box, hinlegen, freuen.

Sie zog den Reißverschluss zu, startete den Motor, fuhr los. Er seufzte und legte den Kopf auf die Pfoten.

Der Geruch seines Futters und seines Körbchens stiegen ihm in die Nase. Das war anders. Nicht beunruhigend. Sie war klug. Sie war bei ihm.

Ihr Geruch füllte seine Sinne. Durch ein Fenster strömte Luft. Laute Musik, sie sang. Sie sagte seinen Namen. Sie war bei ihm. Er freute sich. Sie war klug. Alles war gut.

Kapitel 4

„Nobbi!“ Silke streichelte den freudig an ihr hoch springenden Hund mit einer Hingabe, die Kai rührte.

„Lass die beiden doch erst mal reinkommen“, tadelte er seine Frau und hievte den schweren Futtersack aus dem Kofferraum.

‚Claudia hält sich an der Leine fest, als müsste sie Halt suchen‘, dachte Kai, als sie sich von ihrem Hund ins Haus ziehen ließ.

Er schloss hinter ihr die Haustür mit einer akrobatischen Fußbewegung und ließ den schweren Sack in der Küche gekonnt von der Schulter gleiten. Dann nahm er ihr den Mantel ab, nachdem sie den Hund von Leine und Geschirr befreit hatte, und folgte den Frauen ins Wohnzimmer.

Nun saß Claudia mit ihm am Tisch und beobachtete, wie ihr Hund mit Silke durch den winterlichen Garten tobte und die gelbe Frisbeescheibe mit den abenteuerlichsten Sprüngen fing. Er würde vollkommen erledigt sein. Das war gut. Er würde sich in sein Körbchen legen und schlafen.

Kai reichte Claudia ein Papiertaschentuch. Er hatte direkt zwei Pakete mitgebracht, als er merkte, dass sie die Fassung verlor. Wenn Silke weinte, dann schluchzte sie laut und herzerweichend, bebte in seinen Armen und ließ sich nur langsam beruhigen. Egal ob gerade Lassie in der dreißigsten Wiederholung immer noch nicht nach Hause fand, oder sein bester Freund bei einem Unfall getötet worden war. Unmöglich eigentlich, dass Frauen für Blödsinn und echte Tragik stets die gleichen Schleusen öffneten.

Claudia gab im Gegensatz zu Silke beim Weinen keinen Laut von sich. Das war mindestens ebenso beunruhigend. Auf Huberts Beerdigung war sie vollkommen geräuschlos in sich zusammengefallen, und als er sie aufgefangen hatte, war ihr Gesicht nass gewesen. Er hatte einen Sekundenbruchteil lang Blut gesucht aber nicht gefunden, stattdessen nur ein Tränenmeer, das nicht versiegen wollte, begleitet von einem Beben, das ihren Körper schüttelte. Was für ein Zirkus, damals. Ein Freund von Hubert war Gott sei Dank ohne Frau gekommen, der konnte sich um seine brüllende Silke kümmern, während er Claudia zum Wagen schaffte, kaum dass sich die irritierte Trauergesellschaft pietätvoll zurückgezogen hatte.

Zu Claudias Verteidigung konnte er vielleicht sagen, dass der Abschied von Nobbi einfach zu nah dran war am Abschied von Hubert. Aber, Herr im Himmel, sie fuhr doch nur für zwei Wochen fort, und der Hund würde gar nicht merken, wie die Zeit verging, so viel Programm hatte Silke für ihn zusammengestellt.

Kai reichte Claudia ein neues Taschentuch.

„Komm, Mädchen, lass uns über Formalitäten sprechen“, versuchte er sie abzulenken, obwohl er ihre Instruktionen inzwischen auswendig kannte.

„Hier ist sein Impfausweis, falls mal etwas passiert“, Claudia reichte ihm das Impfbuch, und ein Heftchen glitt heraus. „Und Nobbis Gebrauchsanweisung.“

Kai kniff die Augen zusammen und versuchte zu entziffern, was in dem Büchlein stand, als er es durchblätterte. Entweder war er über Nacht noch kurzsichtiger geworden, oder Claudia hatte sich gewaltig mit der Schriftgröße vertan. Der Text war nahezu unlesbar. Zwanzig Seiten, eng beschrieben mit Punkten. Sehr hilfreich.

„Tu mir und vor allem dem Hund einen Gefallen, und lies das, ok?“, bat sie tränenerstickt hinter ihrem Taschentuch.

„Na klar!“, antwortete Kai und versuchte, aufrichtig zu klingen. Kai vermisste seinen Freund, auch wenn er ebenso geschockt gewesen war wie Claudia, als er den vernichtenden Schuldenberg im Nachlass entdeckt hatte. Huberts Erbe hatte das Kartenhaus zum Einsturz gebracht, in dessen Trümmern Claudia noch wochenlang nach Antworten suchte, ehe sie erkannte, dass alles verloren war.

Das Entsetzen ging durch ihren ganzen Freundeskreis. Gab es noch einen unter ihnen, der am Ende war? Diese Frage hatte sie alle lange beschäftigt und Silke vorübergehend sogar zur skeptischen Inquisitorin mutieren lassen, ehe er sie endlich beruhigen konnte.

Geld hatte Claudia nicht ohne Gegenleistung annehmen wollen, wohl aber Hilfe. Der Umzug hatte sie nur den Mietwagen gekostet. Einer hatte Huberts Auto gekauft, ein anderer das Wohnmobil übernommen, ein dritter die Schallplattensammlung. Aber Huberts Gläubiger hatten zu Recht darauf hingewiesen, dass sie eigene Familien zu ernähren hatten, und Claudia hätte sicher den Rest ihres Lebens damit zugebracht, sie auszuzahlen, wenn er, Kai, sie nicht am Ende doch zur Privatinsolvenz hätte überreden können. Aber er kannte die still vor sich hin weinende Frau gut genug um zu wissen, wie sie unter dem Makel des Scheiterns litt. Kraft gab ihr nur noch dieser Hund, der gerade vor Kais Wohnzimmerfenster einen Krater in den gepflegten Rasen buddelte. Kai sagte nichts. Silke saß inzwischen neben ihm und schenkte Claudia Kaffee nach.

Kai musste sich die Nase putzen. Nobbi war nur ein paar Mal durchs Wohnzimmer gelaufen, schon fing das Jucken an. Silke warf ihm einen Blick zu und hob die Augenbrauen. ‚Kein Wort!‘, schien ihr Blick zu sagen, und er schüttelte unmerklich den Kopf. Silke hatte versprochen, zu putzen und zu saugen wie eine Irre und mit dem Hund so oft draußen zu sein, wie möglich, damit er die nächsten vierzehn Tage überleben würde. Und außerdem seien Allergien reine Kopfsache. ‚Genau‘, dachte Kai.

‚Als erstes löst sich die Haut beim Jucken vom Schädel, dann explodiert der Kopf‘.

Claudia warf ihnen aus verheulten Augen einen Blick zu und lächelte. Dann stand sie auf.

„Ich muss los“, sagte sie, ging zur Gartentür und rief den Hund, der sofort auf sie zustürmte und ihr ein Spielzeug vor die Füße warf. Dann begann das Abschiedsritual.

„Frauchen geht jetzt arbeiten“, sagte sie mit fester Stimme und streichelte den Hund, der sich an ihr Knie drückte. „Pass du fein auf. Frauchen kommt gleich wieder.“

Kai schüttelte den Kopf. So ein Blödsinn. Was erwartete sie von dem Tier? Sollte er jetzt nicken? Aber er hütete sich, auch nur einen einzigen Kommentar abzugeben. Claudia gehörte zu den friedlichsten Frauen, die er kannte, aber was ihren Hund betraf, da verstand sie keinen Spaß.

Er war sicher, dass das einzige Wort, das den Hund überhaupt interessierte, der Mehrsilber „Leckerchen“ war, und das konnte ihm auch niemand ausreden. Der Rest war blanker Blödsinn.

Ohne weiteres Aufhebens stand Claudia auf, ging in den Flur, zog sich die Jacke an, drückte erst Silke und ihn wortlos und bückte sich dann ein letztes Mal zu ihrem Tier. Mahnend hob sie ihren Zeigefinger. „Pass du fein auf!“

Dann drehte sie sich um, verließ das Haus und schloss die Tür hinter sich.

Silke und Kai standen im Flur und beobachteten den Hund. Der wartete, bis das Geräusch des abfahrenden Wagens nicht mehr zu hören war, sah sich um, ging zu seinem Körbchen, das neben der Treppe stand, drehte sich ein paar Mal im Kreis, ließ sich fallen, seufzte und legte den Kopf auf die Pfoten. Wie immer.

Kapitel 5

Er passte auf. Und wartete. Und wartete. Sie blieb lange, dieses Mal. Aber sie kam wieder, kam immer wieder. Er musste nur warten.

Silke war da. Und Kai, der viel nieste, aber die meisten Leckerchen gab. Silke ging oft mit ihm raus. Auch Silke schlenderte, aber das kannte er ja schon. Alles andere war gleich. Die Wege waren seine Wege, der Wald war sein Wald, die anderen Hunde waren wie immer. Die Weibchen rochen gut, die Rüden hassten ihn. Alles wie immer. Nur ging Silke nie den richtigen Weg zurück.

Ihr Duft verflog. Erst war er nicht mehr in seinem Fell, dann nicht mehr in der Decke, die Silke ihm mit „Na, ist die jetzt nicht schön sauber?“ neu in den Korb faltete. Er wartete.

Silke und Kai waren zuverlässig. Es gab das richtige Futter, sie spielten fast die richtigen Spiele, selbst Kai konnte die Scheibe werfen. Meistens waren sie ruhig. Wenn Besuch kam, zog er sich schnell zurück, sobald er begriff, dass sie nicht dabei war.

Er wartete. Und passte auf.

Selbst, als sie anfingen zu weinen, zu schreien, hektisch durcheinander zu rennen. Als immer öfter immer mehr Besuch kam und ihn jeder streicheln wollte. Das war neu. Das war ungewöhnlich. Er verstand sie nicht. Was waren das für Worte? Warum weinte Silke so viel und so laut? Unfall, Wasser, und immer wieder ihr Name, den kannte er. Claudia, Claudia. Verschwunden. Suchen. Hilfe. Verschwunden. Tot. Claudia. Lösung. Schmerzen. Allergie. Claudia. Verschwunden. Tot. Tierheim. Und immer wieder streichelten sie ihn, und Silke weinte, und Kai schimpfte und verschwand und kam wieder. Und dann schimpfte der andere Mann und Silke schrie und niemand spielte mit ihm.

Und nun saß er im Auto. Autofahren war gut. Oder? Er roch sein Futter neben der Transportbox, und sein Körbchen. Das war gut. Oder? Kai fuhr, Silke weinte. Das kannte er. Das war gut. Oder? Er seufzte, legte den Kopf auf die Pfoten. Claudia. Tierheim. Silke weinte. Sie fuhren und fuhren. Das war ungewöhnlich. Er wartete. Er passte auf. Hoffentlich kam sie nicht gerade jetzt zurück, wo er unterwegs war. Claudia.

Kapitel 6

„Wir übernehmen ihn von hier aus“, sagte die Frau und nahm Silke die Leine aus der Hand.

Kai unterschrieb das Formular und gab ihr den Impfausweis.

„Hier ist ein Heftchen drin, wie man mit dem Hund reden soll“, sagte er mit belegter Stimme und schob das Büchlein zurück, nachdem die Frau einen kurzen Blick darauf geworfen hatte.

„Aha“, sagte sie. Dann reichte sie Nobbis Leine an eine Mitarbeiterin.

„Darf ich mich von ihm verabschieden?“, fragte Silke zwischen zwei lauten Schluchzern.

„Natürlich“, antwortete die Frau.

Silke kniete sich neben Claudias Hund. Nobbi zitterte. Sie wusste nicht, wie sie das hier schaffen sollte, riss sich aber so gut zusammen, wie es ging. Dann nahm sie seinen Kopf in die Hände, beugte sich vor und flüsterte ihm ins Ohr „Frauchen geht jetzt arbeiten. Pass du fein auf!“ Sie versuchte, ihn irgendwie zu beruhigen. Er hatte den Schwanz eingeklemmt, wollte ihr folgen, wurde zurückgehalten, und warf ihr einen Blick zu, der ihr das Herz förmlich aus dem Brustkorb riss.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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