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Zum Sterben schön – die Poe-Werkausgabe für das 21. Jahrhundert Die Abgründe der menschlichen Seele, die Schattenwelt zwischen Leben und Tod – niemand hat sie so genau beschrieben wie Edgar Allan Poe. Elektrisiert von den Umbrüchen seiner Zeit und den kühnen Experimenten der Wissenschaft hat Poe der Angst alles Schauerlich-Beschauliche genommen – der Beginn der literarischen Moderne. Sein Werk war von Anfang an eine Provokation im puritanischen Amerika. Erst in Frankreich fand er posthum geistiges Exil: Kein Geringerer als Charles Baudelaire übersetzte Poes Werk in fünf Bänden und legte damit den Grundstein für seinen weltweiten Ruhm.
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Seitenzahl: 434
Edgar Allan Poe
Neue unheimliche Geschichten
Herausgegeben von Charles Baudelaire
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Andreas Nohl
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Bei der Betrachtung der Fähigkeiten und Impulse – der prima mobilia der menschlichen Seele – haben es die Phrenologen versäumt, einem Trieb seinen Platz zuzuordnen, der zwar offensichtlich als radikales, primitives, nicht zerlegbares Gefühl existiert, aber von allen Psychologen, die ihnen vorausgingen, ebenfalls übersehen worden ist. Im reinen Hochmut der Vernunft haben wir alle ihn übersehen. Wir haben zugelassen, dass seine Existenz unserer Wahrnehmung entging, einzig und allein, weil wir ihn nicht wahrhaben wollten, weil uns der Glaube fehlte – sei es der Glaube an die Offenbarung oder der Glaube an die Kabbala. Der Gedanke ist uns nie gekommen, weil er uns überflüssig erschien. Wir sahen keinen Bedarf für diesen Impuls – diesen Trieb. Wir konnten keine Notwendigkeit dafür erkennen. Wir konnten nicht verstehen – das heißt, wir hätten auch gar nicht verstehen können, hätte sich die Idee dieses primum mobile je aufgedrängt –, wir hätten nicht verstehen können, auf welche Weise es die Ziele der Menschheit befördern sollte, seien sie zeitlich oder ewig. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Phrenologie und in starkem Maße jede Art von Metaphysizismusa priori erdacht worden ist. Der Intellektuelle oder logisch denkende Mensch – im Gegensatz zum begreifenden oder beobachtenden Menschen – machte sich daran, Gott Pläne zu unterstellen, ihm seine Ziele zuzudiktieren. Nachdem er dieserart die Intentionen Jehovahs zu seiner Zufriedenheit ergründet hatte, konstruierte er aus diesen Intentionen seine zahllosen Gedankensysteme. Soweit es beispielsweise die Phrenologie betrifft, legten wir zuerst fest – verständlicherweise –, es sei der Plan der Gottheit, dass der Mensch essen solle. Dann wiesen wir dem Menschen ein Organ für die Nahrungsaufnahme zu, und dieses Organ ist die Geißel, mit der die Gottheit den Menschen nolens volens zum Essen zwingt. Sodann entschieden wir, es sei Gottes Wille, dass der Mensch seine Spezies erhalte, und entdeckten daraufhin ein Organ für den Liebesdrang. Ähnlich mit dem Kampfgeist, dem Idealismus, der Kausalität, der Kreativität – kurz, mit jedem Impuls, ob es sich nun um einen Trieb, ein moralisches Gefühl oder eine rein intellektuelle Fähigkeit handelt. Und in dieser Anordnung der principia der menschlichen Handlungen traten die Anhänger Spurzheims im Prinzip, ob zu Recht oder Unrecht, in Teilen oder zur Gänze nur in die Fußstapfen ihrer Vorgänger, denn sie leiteten alles von der vorgefassten Meinung über die Bestimmung des Menschen und die Ziele seines Schöpfers ab und errichteten darauf ihr Gedankengebäude.
Es wäre klüger, es wäre sicherer gewesen, Klassifikationen (wenn wir unbedingt klassifizieren müssen) der menschlichen Handlungen auf der Basis dessen vorzunehmen, was der Mensch gewöhnlich oder gelegentlich tut und schon immer gelegentlich getan hat – statt auf der Basis unserer Vor-Urteile über den Willen Gottes. Wenn wir Gott schon nicht in seinen sichtbaren Werken begreifen können, wie sollen wir ihn in seinen unbegreiflichen Gedanken verstehen, die diese Werke schaffen? Wenn wir ihn nicht in den Objekten seiner Schöpfungen verstehen können, wie denn dann als handelndes Subjekt in seinen Stimmungen und Schöpfungsphasen?
Die Induktion a posteriori hätte der Phrenologie ermöglicht, ein paradoxes Etwas als angeborenes Urprinzip des menschlichen Handelns anzunehmen, das wir in Ermangelung eines treffenderen Begriffs Perversität nennen wollen. In dem von mir beabsichtigten Sinne ist es eigentlich ein mobile ohne Motiv, ein Motiv, das nicht motiviert ist. Durch seine Einflüsterungen handeln wir ohne nachvollziehbare Absicht; oder, falls dies als ein begrifflicher Widerspruch erscheint, wollen wir die Behauptung dahingehend modifizieren, dass wir durch seine Einflüsterungen eben aus dem Grunde handeln, weil wir es nicht tun sollten. In der Theorie könnte kein Beweggrund unvernünftiger sein, aber tatsächlich ist kein anderer so mächtig. In bestimmten Köpfen wird er unter bestimmten Bedingungen absolut unwiderstehlich. Die Gewissheit, dass ich atme, ist nicht größer als meine Gewissheit, dass das Unrechte oder Falsche einer Handlung oft die eine unwiderstehliche Kraft ist, die uns antreibt und die allein uns zu ihrer Durchführung treibt. Diese überwältigende Neigung, das Falsche um des Falschen willen zu tun, entzieht sich auch der Analyse oder Zerlegung in untergeordnete Elemente. Es ist ein radikaler, elementarer Urimpuls. Man wird gewiss einwenden, wenn wir hartnäckig etwas verfolgen, eben weil wir uns bewusst sind, dass wir es nicht verfolgen sollten, sei unser Verhalten nur eine Modifikation der Handlungen, die dem Kampfgeist der Phrenologie entspringen. Aber ein Blick genügt, diesen Gedanken als falsch zu entlarven. Der phrenologische Kampfgeist enthält im innersten Kern die Notwendigkeit der Selbstverteidigung. Er ist unser Schutzmechanismus gegen Verletzungen. Er dient im Prinzip unserer Wohlfahrt, so dass der Wunsch, keinen Schaden zu nehmen, gleichzeitig mit der Entwicklung des Kampfgeistes erregt wird. Daraus folgt, dass der Wunsch, keinen Schaden zu nehmen, gleichzeitig mit jedem Prinzip erregt werden muss, das nur eine Abwandlung des Kampfgeistes darstellt, doch im Falle jenes Etwas, das ich Perversität nenne, wird das Begehren, keinen Schaden zu nehmen, nicht nur nicht geweckt, vielmehr besteht ein stark antagonistisches Verlangen.
Ein Appell an das eigene Herz ist schließlich die beste Erwiderung auf die eben erwähnte Sophisterei. Niemand, der seine eigene Seele vertrauensvoll befragt und gründlich prüft, wird die absolute Radikalität des betreffenden Triebes ableugnen wollen. Er ist ebenso verständlich wie deutlich. Es lebt kein Mensch, der nicht zum Beispiel irgendwann in seinem Leben von dem ernsthaften Wunsch gequält worden ist, seinen Gesprächspartner durch Abschweifungen auf die Folter zu spannen. Der Sprecher empfindet deutlich, dass er Missfallen erregt, er möchte nichts lieber als gefallen, normalerweise drückt er sich kurz, präzise und klar aus, die lakonischste und erhellendste Sprache versucht die Herrschaft über seine Zunge zu gewinnen, nur unter Schwierigkeiten kann er sich davon abhalten, ihr die Zügel schießen zu lassen, er fürchtet und bedauert den Zorn seines Gesprächspartners, und doch streift ihn der Gedanke, dass er durch bestimmte Verschachtelungen und Einschübe diesen Zorn erregen könnte. Dieser eine Gedanke genügt. Der Impuls wächst sich zu einem Wunsch aus, der Wunsch zum Begehren, das Begehren zu einem unbeherrschbaren Verlangen, und zum tiefen Bedauern und Verdruss des Redners wird dem Verlangen nachgegeben.
Vor uns liegt eine Aufgabe, die schleunigst erledigt werden muss. Wir wissen, dass jeglicher Aufschub ruinöse Folgen haben wird. Der entscheidende Wendepunkt unseres Lebens ruft mit Trompetenstimme nach unverzüglichem, energischem Handeln. Wir glühen, wir verzehren uns vor Eifer, die Arbeit in Angriff zu nehmen, denn unsere ganze Seele brennt im Vorgefühl von deren ruhmreichem Abschluss. Sie muss, sie wird heute unternommen werden, und dennoch verschieben wir sie auf den nächsten Tag, und warum? Es gibt keine andere Antwort, als dass wir uns pervers fühlen, um das Wort ohne Begriff des Prinzips zu verwenden. Der neue Tag ist da und mit ihm eine noch besorgtere Ungeduld, unsere Pflicht zu erfüllen, aber gleichzeitig mit dieser vergrößerten Besorgnis meldet sich ein namenloses, wahrhaft furchterregendes, weil unergründliches Verlangen nach Aufschub. Dieses Verlangen gewinnt im Lauf der Minuten an Kraft. Die letzte Stunde, in der Handeln noch möglich ist, ist da. Wir zittern, weil der Konflikt in unserem Innern gewaltig tobt – der Konflikt des Entschiedenen mit dem Unentschiedenen, der Substanz mit dem Schatten. Aber wenn der Wettstreit bis hierhin fortgeschritten ist, dann siegt der Schatten – wir kämpfen vergeblich. Die Uhr schlägt, und es ist der Glockenschlag unseres Wohlergehens. Gleichzeitig ist es der Hahnenschrei für den Geist, der uns so lange eingeschüchtert hat. Er flieht – er verschwindet –, wir sind frei. Die alte Energie kehrt zurück. Jetzt wollen wir zur Tat schreiten. Doch leider ist es zu spät!
Wir stehen am Rand eines Abgrunds. Wir lugen vorsichtig in die Tiefe – uns wird schwindelig und übel. Unser erster Impuls lässt uns vor der Gefahr zurückweichen. Unerklärlicherweise bleiben wir stehen. Ganz allmählich verbinden sich unsere Übelkeit, unser Schwindel und unser Schrecken zu einer Wolke aus unnennbaren Gefühlen. Ganz langsam und kaum merklich nimmt diese Wolke eine Form an, ähnlich dem Dampf aus der Flasche, aus der der Geist in Tausendundeiner Nacht aufstieg. Aber aus unserer Wolke am Rand des Abgrunds erwächst greifbar eine Gestalt, die viel furchteinflößender ist als jeder Flaschengeist oder sonst ein Märchendämon, dabei ist es nur ein Gedanke, wenn auch ein angsterregender, einer, der uns mit dem wilden Vergnügen an seinem Grauen durch Mark und Bein geht. Es ist nur die Vorstellung, wie sich der sausende Flug eines Sturzes aus solcher Höhe wohl anfühlen würde. Und nach diesem Sturz, dieser rasenden Vernichtung – genau aus dem Grund, dass er das grausigste und abstoßendste von allen grausigen und abstoßenden Bildern von Tod und Qual enthält, die sich je unserer Vorstellungskraft gezeigt haben – genau aus diesem Grund verlangen wir besonders heftig danach. Und weil unser Verstand uns gewaltsam vom Rand des Abgrunds fernhalten will, gerade deshalb nähern wir uns ihm umso entschlossener. In der Natur gibt es keine andere Leidenschaft, die mit so dämonischer Ungeduld nach etwas verlangt, wie bei dem, der zitternd am Rand eines Abgrunds den Sprung erwägt. Wenn man sich nur einen Augenblick lang gestattet, zu denken, ist man unweigerlich verloren, denn die Überlegung nötigt uns, die Sache zu unterlassen, und gerade deswegen können wir es nicht. Wenn kein freundlicher Arm uns zurückhält und wenn es uns nicht gelingt, uns rücklings vom Abgrund weg zu Boden fallen zu lassen, stürzen wir uns hinunter und werden zerschmettert.
Diese und ähnliche Handlungen können wir drehen und wenden, wie wir wollen, wir werden immer zu dem Schluss kommen, dass sie aus Perversität resultieren. Wir lassen uns ausschließlich dazu bewegen, weil wir wissen, dass wir es nicht tun sollten. Darüber hinaus oder dahinter verbirgt sich kein erkennbares Prinzip, und wir könnten eigentlich diese Perversität als unmittelbare Anstiftung des Gottseibeiuns betrachten, wären nicht auch Fälle bekannt, wo sie das Gute befördert.
Ich habe all dies gesagt, um in gewissem Umfang Ihre Frage zu beantworten – um Ihnen zu erklären, warum ich hier bin – um Ihnen zumindest so etwas Ähnliches wie einen Grund dafür zu nennen, dass ich diese Fesseln trage und mich in dieser Todeszelle befinde. Ohne meine Weitschweifigkeit hätten Sie mich gänzlich missverstanden oder mich wie der Pöbel für verrückt erklärt. Wie die Dinge liegen, werden Sie unschwer begreifen, dass ich eines der vielen ungezählten Opfer des Dämons der Perversität bin.
Es ist unmöglich, dass je eine Tat nach gründlicherer Überlegung begangen wurde. Wochen-, monatelang grübelte ich über die Durchführung des Mordes. Ich verwarf tausend Pläne, weil ihre Umsetzung die Möglichkeit der Entdeckung barg. Schließlich stieß ich bei der Lektüre einiger französischer Schriften auf den Bericht einer Erkrankung, die Madame Pilau sich durch eine versehentlich vergiftete Kerze zuzog und die fast zu ihrem Tod geführt hätte. Diese Idee überzeugte mich sofort. Ich wusste, dass mein Opfer im Bett zu lesen pflegte. Ich wusste außerdem, dass sein Quartier eng und schlecht belüftet war. Aber ich brauche Sie nicht mit unwichtigen Einzelheiten zu behelligen. Ich brauche nicht zu beschreiben, wie leicht es mir gelang, in seinem Schlafzimmer eine Wachskerze eigener Herstellung mit derjenigen zu vertauschen, die ich dort im Kerzenständer fand. Am nächsten Morgen wurde er tot im Bett gefunden, und der Coroner diagnostizierte einen »Tod durch Gottes Heimsuchung«.
Ich erbte sein Vermögen, und jahrelang ging es mir ausgesprochen gut. Der Gedanke, ich könnte entdeckt werden, kam mir nicht ein einziges Mal in den Sinn. Die Reste des tödlichen Wachslichts hatte ich sorgfältig beseitigt. Ich hatte nicht den Schatten eines Hinweises hinterlassen, mit dessen Hilfe man mich des Verbrechens überführen oder mich auch nur verdächtigen konnte. Niemand kann sich vorstellen, welche Befriedigung in meiner Brust aufstieg, als ich über meine absolute Sicherheit nachdachte. Lange, sehr lange genoss ich dieses Gefühl. Es vermittelte mir mehr echtes Vergnügen als die bloßen weltlichen Vorteile, die mir aus meiner Sünde erwuchsen. Aber schließlich kam eine Zeit, in der sich das lustvolle Gefühl allmählich, wenn auch kaum wahrnehmbar, in einen Gedanken verwandelte, der mich verfolgte und quälte. Er quälte mich, weil er mich verfolgte. Ich konnte ihn so gut wie keinen Augenblick mehr loswerden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass wir uns ähnlich belästigt fühlen, wenn in unseren Ohren oder eher in unserem Gedächtnis irgendein dümmlicher Gassenhauer oder ein paar unbedeutende Fetzen einer Oper nachklingen. Es stört uns keineswegs weniger, wenn das Lied an und für sich gut oder die Oper hörenswert ist. In ähnlicher Weise ertappte ich mich schließlich ständig dabei, wie ich über meine Sicherheit nachgrübelte und immerfort leise den Satz »Ich bin sicher« vor mich hin murmelte.
Eines Tages schlenderte ich durch die Straßen, als ich mich gerade noch zurückhalten konnte, diese mir eingeprägten Silben halblaut auszusprechen. In einem Anfall von Gereiztheit formulierte ich sie um: »Ich bin sicher – ich bin sicher – ja – wenn ich nicht dumm genug bin, ein öffentliches Geständnis abzulegen!«
Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, da spürte ich, wie Eiseskälte mein Herz ergriff. Ich besaß bereits einige Erfahrung mit solchen Anfällen von Perversität (deren Natur ich zu erklären versucht habe), und ich erinnerte mich deutlich, dass ich bei keiner dieser Gelegenheiten ihren Angriffen hatte widerstehen können. Und jetzt war da diese zufällige Autosuggestion, ich könnte möglicherweise dumm genug sein, den Mord, den ich auf dem Gewissen hatte, zu gestehen, gleichsam als würde der Geist des Ermordeten – mich in den Tod locken.
Zunächst gab ich mir Mühe, diesen seelischen Albtraum abzuschütteln. Ich ging energisch – schneller – noch schneller – schließlich rannte ich. Ich spürte eine wahnsinnige Lust, laut zu schreien. Jede weitere Gedankenwelle überwältigte mich mit neuem Schrecken, denn, ach!, ich wusste nur zu gut, dass das Denken in meiner Lage bedeutete, dass ich verloren war. Noch einmal beschleunigte ich meinen Schritt. Ich sprang wie ein Irrer durch die belebten Hauptstraßen. Nach einer Weile wurden die Menschen aufgeschreckt und verfolgten mich. Da spürte ich, dass mein Schicksal sich erfüllte. Wäre es möglich gewesen, mir die Zunge herauszureißen, ich hätte es getan – aber eine grobe Stimme drang mir in die Ohren, ein noch gröberer Griff packte mich an der Schulter. Ich drehte mich um – ich schnappte nach Luft. Einen Moment lang erlebte ich die ganze Pein des Erstickens, ich wurde blind und taub, mir schwindelte. Da hieb mir ein unsichtbarer Feind, so schien es mir, mit seiner breiten Hand auf den Rücken – und das lange eingesperrte Geheimnis brach aus meiner Seele hervor.
Man sagte mir, ich hätte ausgesucht deutlich, aber mit großer Emphase und leidenschaftlicher Hast gesprochen, als würde ich eine Unterbrechung befürchten, bevor ich die kurzen, aber inhaltsreichen Sätze vollendete, die mich dem Henker und der Hölle überantworteten.
Nachdem ich alles erzählt hatte, was für eine vollständige gerichtliche Verurteilung nötig war, fiel ich ohnmächtig zu Boden.
Doch warum soll ich noch mehr sagen? Heute trage ich diese Ketten und bin hier. Morgen werde ich meiner Fesseln ledig sein! – aber wo?
Weder erwarte noch beanspruche ich, dass man der äußerst abseitigen, doch zugleich auf den häuslichen Kreis beschränkten Geschichte, die ich zu Papier bringen will, Glauben schenkt. Es grenzte auch an Irrsinn, dies in einem Fall zu erwarten, da meine eigenen Sinne ihrer Wahrnehmung misstrauen. Doch irrsinnig bin ich nicht – und ebenso gewiss träume ich nicht. Aber morgen sterbe ich, und heute möchte ich mein Gewissen erleichtern. Mein vorrangiges Ziel ist es, der Welt in schlichten, knappen Worten und ohne weiteren Kommentar eine Reihe häuslicher Vorkommnisse vor Augen zu stellen. In ihrer Konsequenz waren diese Vorkommnisse für mich Entsetzen, Folter und Vernichtung. Doch habe ich nicht vor, sie zu erläutern. Für mich selbst bedeuteten sie zunächst kaum etwas anderes als Grauen – vielen werden sie weniger grauenhaft als vielmehr grotesk erscheinen. Vielleicht findet sich hiernach ein Verstand, der mein Phantasma auf das Alltägliche zurechtstutzt – ein Verstand, der ruhiger, logischer und weniger erregbar als der meine ist und der in den Umständen, die ich hier voller Abscheu schildere, nicht mehr als eine gewöhnliche Abfolge vollkommen natürlicher Ursachen und Wirkungen sieht.
Von Kindesbeinen an fiel ich durch Fügsamkeit und Freundlichkeit auf. Meine Sanftmut war so hervorstechend, dass meine Kameraden sich sogar darüber mokierten. Besonders mochte ich Tiere, und meine Eltern in ihrer Nachsicht erlaubten mir das Halten vieler solcher Lieblinge. Mit ihnen verbrachte ich den größten Teil meiner Zeit, und nichts machte mich glücklicher, als sie zu füttern und zu streicheln. Dieser Wesenszug verstärkte sich noch mit dem Älterwerden, und in den Mannesjahren waren sie für mich eine der Hauptquellen des Vergnügens. Wer sich der Zuneigung eines treuen und klugen Hundes erfreut hat, dem brauche ich nicht zu erklären, welch intensive Befriedigung damit verbunden sein kann. Es liegt etwas in der selbstlosen und opferbereiten Liebe eines Tieres, das jedem unmittelbar zu Herzen geht, der reichlich Gelegenheit hatte, die armselige Freundschaft und die fadenscheinige Treue eines Menschen zu erproben.
Ich heiratete früh und hatte das Glück, eine Frau zu finden, deren Neigungen mit den meinen durchaus harmonierten. Da sie meine Vorliebe für Haustiere bemerkte, versäumte sie keine Gelegenheit, uns solche der liebenswürdigsten Art anzuschaffen. Wir hatten Vögel, Goldfische, einen edlen Hund, Kaninchen, ein Äffchen und eine Katze.
Diese war ein auffallend großes und schönes Tier, vollkommen schwarz und erstaunlich schlau. Wenn von ihrer Intelligenz die Rede war, machte meine Frau, die im Grunde ihres Herzens dem Aberglauben zuneigte, oft Anspielungen auf die alte volkstümliche Vorstellung, nach der alle schwarzen Katzen verkappte Hexen sind. Nicht, dass sie das je ernst gemeint hätte – und ich erwähne die Sache nur deswegen, weil sie mir zufällig gerade einfällt.
Pluto – so nannten wir den Kater – war mein Lieblingstier und -spielgefährte. Ich war es, der ihn fütterte, und er wich im Haus nicht von meiner Seite. Und nur mit Mühe konnte ich ihn davon abhalten, mir durch die Straßen zu folgen.
Auf diese Weise dauerte unsere Freundschaft mehrere Jahre, während derer sich meine Laune und mein Charakter – befördert durch die verteufelte Alkoholsucht (ich schäme mich, es zu gestehen) – radikal verschlechterten. Von Tag zu Tag wurde ich übellauniger, reizbarer, rücksichtsloser gegenüber den Gefühlen anderer. Selbst meiner Frau setzte ich zu. Schließlich wurde ich sogar handgreiflich gegen sie. Auch die Tiere bekamen natürlich die Veränderung in meinem Wesen zu spüren. Nicht dass ich sie einfach vernachlässigte, vielmehr malträtierte ich sie. Pluto gegenüber behielt ich jedoch genügend Achtung, um ihn von meinen Quälereien zu verschonen, während ich keine Skrupel hatte, die Kaninchen, den Affen oder auch den Hund zu misshandeln, wenn sie mir aus Zufall oder aus Anhänglichkeit über den Weg liefen. Aber meine Krankheit gewann allmählich die Oberhand – und welche Krankheit lässt sich mit dem Hang zum Alkohol vergleichen! –, und schließlich bekam selbst Pluto, der inzwischen alt und infolgedessen etwas mürrisch zu werden begann – selbst Pluto bekam die Auswirkungen meiner Übellaunigkeit zu spüren.
Eines Nachts, als ich stark angetrunken aus einer meiner Stammkneipen in der Stadt nach Hause kam, bildete ich mir ein, dass die Katze meine Anwesenheit scheute. Ich packte sie, sie erschrak vor meiner Gewaltsamkeit und brachte mir mit ihren Zähnen einen leichten Kratzer auf der Hand bei. Augenblicklich ergriff mich eine dämonische Raserei. Ich war nicht mehr ich selbst. Meine Seele schien auf einmal aus meinem Körper zu fliehen – und eine mehr als teuflische, vom Gin genährte Bösartigkeit durchzuckte jede Faser meines Leibes. Ich zog ein Klappmesser aus meiner Westentasche, öffnete es, packte das arme Tier an der Gurgel und schnitt ihm mit voller Absicht ein Auge aus der Höhle! Ich erröte vor Scham, ich brenne, ich schaudere, da ich die verdammenswerte Gräueltat niederschreibe.
Als mit dem Morgen die Vernunft zurückkehrte – nachdem ich meinen nächtlichen Rausch ausgeschlafen hatte –, verspürte ich einerseits Abscheu, andererseits Reue angesichts des Verbrechens, dessen ich mich schuldig gemacht hatte. Aber das war nur ein schwaches, unbestimmtes Gefühl, und meine Seele blieb davon unberührt. Erneut überließ ich mich dem Exzess und ertränkte jede Erinnerung an die Tat im Wein.
Unterdessen erholte sich die Katze allmählich. Die leere Augenhöhle bot zwar einen schrecklichen Anblick, doch das Tier schien keine Schmerzen mehr zu leiden. Es strich wie früher im Haus umher, floh aber verständlicherweise voll Entsetzen, wenn ich mich näherte. Ich hatte mir so viel von meinem alten Herzen bewahrt, dass mich anfangs die offenbare Abneigung eines Tieres, das mich ehedem so geliebt hatte, tief betrübte. Doch diese Empfindung wich bald dem Ärger. Und dann kam, wie um meinen endgültigen und unwiderruflichen Absturz zu besiegeln, der Geist der Perversität über mich. Mit diesem Geist hat sich die Philosophie noch nicht befasst. Aber so sicher ich mir bin, dass meine Seele lebt, so sicher weiß ich, dass die Perversität einer der Urantriebe des menschlichen Herzens ist – eine der unteilbaren primären Veranlagungen oder Empfindungen, die dem Charakter des Menschen eine Richtung vorgeben. Wer hat nicht hundertmal sich selbst bei einer bösen oder dummen Tat ertappt, die er einzig und allein deswegen beging, weil er wusste, dass er sie nicht hätte begehen sollen? Haben wir nicht eine ständige Neigung, wider besseres Wissen das Gesetz zu übertreten, einfach weil es das Gesetz ist? Dieser Geist der Perversität, ich wiederhole es, war mein Verderben. Es war dieses unerfindliche Verlangen der Seele, sich selbst zu demütigen – ihre wahre Natur zu vergewaltigen – Unrecht nur um des Unrechts willen zu tun –, das mich antrieb, die Quälerei der harmlosen Katze fortzusetzen und schließlich zu vollenden. Eines Morgens streifte ich kaltblütig eine Schlinge um ihren Hals und hängte sie an einem Baum auf; – hängte sie auf, während mir Tränen aus den Augen rannen und bitterste Gewissensbisse mein Herz peinigten; – hängte sie auf, weil ich wusste, dass sie mich geliebt und mir keinen Grund zur Verärgerung gegeben hatte; – hängte sie auf, weil ich wusste, dass ich damit eine Sünde beging – eine solche Todsünde, dass ich damit meine unsterbliche Seele gefährdete und sie – wenn so etwas möglich ist – unerreichbar machte für die Gnade des Allerbarmenden und Allzürnenden Gottes.
In der Nacht, die auf diese grausame Tat folgte, wurde ich durch Feueralarm aus dem Schlaf gerissen. Meine Bettvorhänge standen in Flammen. Das ganze Haus brannte lichterloh. Nur mit knapper Not gelang es meiner Frau, dem Dienstmädchen und mir, der Feuersbrunst zu entkommen. Alles war zerstört – mein gesamter Besitz –, und von da an überließ ich mich der Verzweiflung.
Es liegt mir fern, zwischen der Gräueltat und der Katastrophe einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung herstellen zu wollen. Aber ich beschreibe eine Kette von Ereignissen – und will dabei kein mögliches Glied auslassen. Am Tag nach dem Brand besichtigte ich die Ruine. Die Mauern waren, mit einer Ausnahme, eingestürzt. Diese Ausnahme war eine nicht sehr dicke Trennwand in der Mitte des Hauses, wo sich das Kopfende meines Bettes befunden hatte. Der Verputz hatte hier großenteils dem Feuer widerstanden – was ich dem Umstand zuschrieb, dass er erst kürzlich aufgebracht worden war. Um diese Mauer stand eine dichte Menschenmenge versammelt, und viele Leute schienen einen ganz bestimmten Teil davon mit höchster Aufmerksamkeit zu untersuchen. Worte wie »komisch!«, »seltsam!« und ähnliche Ausrufe weckten meine Neugier. Ich trat näher und sah auf der weißen Oberfläche die Gestalt einer riesigen Katze wie im Basrelief abgebildet. Der Abdruck war bewunderungswürdig genau. Um den Hals des Tieres lag ein Strick.
Als ich diese Gespenstererscheinung sah – denn für weniger konnte ich sie kaum erachten –, war mein Erstaunen und Entsetzen grenzenlos. Doch schließlich kam mir eine Überlegung zu Hilfe. Die Katze, fiel mir ein, war in einem an das Haus angrenzenden Garten erhängt worden. Nach dem Feueralarm hatte sich dieser Garten flugs mit Menschen gefüllt – von denen irgendjemand das Tier vom Baum geschnitten und durch ein offenes Fenster in mein Zimmer geschleudert haben musste. Das war wahrscheinlich geschehen, um mich aus dem Schlaf zu schrecken. Der Einsturz anderer Mauern hatte das Opfer meiner Grausamkeit in den noch frischen Verputz gepresst, dessen Kalk zusammen mit den Flammen und dem Ammoniak des Kadavers dann das Abbild geschaffen hatte, das ich vor mir sah.
Obgleich auf diese Weise für meine Vernunft, wenn auch nicht für mein Gewissen, das bestürzende Phänomen erklärt war, verfehlte es nicht seine tiefe Wirkung auf meine Einbildungskraft. Über Monate wurde ich die gespenstische Erscheinung der Katze nicht mehr los, und in dieser Zeit meldete sich bei mir ein Gefühl zurück, das der Reue nahekam, aber keine Reue war. Ich ging so weit, den Verlust des Tieres zu bedauern und mich in den elenden Tavernen, die ich jetzt regelmäßig frequentierte, nach einer neuen und ähnlichen Katze umzuschauen, die es ersetzen könnte.
Eines Abends, als ich mit schwerem Kopf in einer mehr als verrufenen Spelunke saß, wurde meine Aufmerksamkeit plötzlich von etwas Schwarzem auf einem der mächtigen Gin- oder Rumfässer angezogen, welche die Haupteinrichtung des Raums ausmachten. Ich hatte schon eine ganze Weile meinen Blick dort verweilen lassen, doch überraschenderweise das schwarze Etwas nicht schon früher bemerkt. Ich ging hin und berührte es mit der Hand. Es war eine schwarze, sehr große Katze – genauso groß wie Pluto –, und sie glich ihm in jeder Hinsicht, außer einer: Pluto hatte kein einziges weißes Haar in seinem Fell gehabt, doch diese Katze trug einen großen, ungestalten weißen Fleck auf der Brust.
Als ich sie anfasste, stand sie sofort auf, schnurrte laut, rieb sich an meiner Hand und schien über meine Zuwendung hocherfreut. Dies war exakt das Tier, das ich suchte. Ich bot dem Wirt gleich an, es ihm abzukaufen, aber dieser Mensch erhob gar keinen Anspruch darauf – kannte es gar nicht – hatte es noch nie gesehen.
Ich kraulte das Tier weiter, und als ich mich zum Gehen wandte, wollte es mir offensichtlich folgen. Ich erlaubte es ihm und bückte mich gelegentlich, um es zu tätscheln. Als wir zuhause ankamen, gewöhnte es sich sofort ein und wurde bald zum großen Liebling meiner Frau.
Ich meinerseits entwickelte langsam eine Aversion gegen die Katze. Das widersprach vollkommen meinen Erwartungen, aber wie oder warum auch immer – ihre offensichtliche Zuneigung zu mir wurde mir immer unangenehmer und stieß mich ab. Allmählich verwandelte sich diese Aversion in bitteren Hass. Ich ging dem Tier aus dem Weg. Ein Gefühl der Scham und die Erinnerung an meine Schandtat verhinderten, dass ich es misshandelte. Über mehrere Wochen schlug ich es nicht, noch verging ich mich sonst wie an ihm. Aber allmählich – sehr allmählich – entwickelte ich einen unaussprechlichen Abscheu und floh stillschweigend seine widerwärtige Gegenwart wie einen Pesthauch.
Was meinen Hass auf das Tier zweifellos vermehrte, war die Entdeckung am Morgen, nachdem ich es mit nach Hause genommen hatte, dass es wie Pluto eines seiner Augen verloren hatte. Dieser Umstand verstärkte indes die Liebe meiner Frau, die, wie gesagt, in hohem Maß jene Fähigkeit zu menschlichem Mitgefühl besaß, die mich einst selbst ausgezeichnet hatte und Quelle vieler meiner einfachsten und reinsten Freuden gewesen war.
Mit meiner zunehmenden Aversion gegen diese Katze schien jedoch umgekehrt ihre Zuneigung zu mir zu wachsen. Sie folgte mir auf Schritt und Tritt mit einer Hartnäckigkeit, die ich dem Leser nur schwer vermitteln kann. Wann immer ich mich irgendwo hinsetzte, hockte sie unter meinem Stuhl oder sprang auf meinen Schoß und überhäufte mich mit ihren widerwärtigen Liebkosungen. Stand ich auf und wollte fortgehen, drängte sie sich zwischen meine Füße und brachte mich fast zum Stolpern, oder sie schlug mir ihre langen, scharfen Krallen in den Anzug und kletterte zu meiner Brust hinauf. Obgleich ich bei solchen Gelegenheiten Lust verspürte, sie totzuschlagen, hielt mich teils die Erinnerung an mein früheres Verbrechen davon ab, doch in erster Linie – ich will es gleich gestehen – meine horrende Angst vor dem Tier.
Es war nicht so sehr Angst davor, dass mir körperlich etwas zustoßen könnte – auch wenn ich kaum wüsste, wie ich sie sonst beschreiben sollte. Fast schäme ich mich, zuzugeben – ja, selbst in dieser Todeszelle schäme ich mich fast, es zuzugeben –, dass die Angst und das Grauen, die das Tier mir einflößten, durch eines der lächerlichsten Wahngebilde verstärkt wurde, die man sich vorstellen kann. Meine Frau hatte mich mehrfach auf die besondere Form des weißen Flecks aufmerksam gemacht, von dem ich schon gesprochen habe und der den einzig sichtbaren Unterschied des neuen Tiers zu dem von mir getöteten darstellte. Der Leser wird sich erinnern, dass dieser Fleck, obwohl recht groß, ursprünglich keine fest umrissenen Konturen hatte; doch allmählich – in kaum wahrnehmbaren Schüben, die mein Verstand lange Zeit als bloße Einbildung abtun wollte – bekam er schließlich eine klare Gestalt. Er stellte nun einen Gegenstand dar, den ich nur mit Schaudern nenne – und allein darum hasste und fürchtete ich das Ungeheuer und würde mich seiner entledigt haben, hätte ich mich nur getraut –, es war jetzt wahrhaftig das Bild eines abscheulichen, eines grausigen Werkzeugs – eines Galgens! –, oh, trauriger und schrecklicher Apparat des Entsetzens und des Frevels, des Leidens und des Todes.
Jetzt war ich in der Tat elend über jedes menschliche Maß hinaus. Und ein vernunftloses Tier – dessen Artgenossen ich voller Verachtung getötet hatte –, ein vernunftloses Tier bereitete mir – einem Menschen, der nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ward – eine solch unerträgliche Qual! Ach, weder am Tag noch in der Nacht fand ich mehr den Trost der Ruhe! Während des Ersteren wich die Kreatur nicht von meiner Seite; und in der Letzteren schrak ich stündlich aus unsäglichen Angstträumen auf, nur um den heißen Atem des Geschöpfs auf meinem Gesicht zu spüren, und auf meinem Herzen lastete für immer sein enormes Gewicht – ein fleischgewordener Nachtmahr, den abzuschütteln mir die Kraft fehlte.
Unter diesem Druck schwand auch der letzte schwache Rest an Moral, der noch in mir steckte. Böse Gedanken wurden meine einzigen Gefährten – die finstersten und bösartigsten Gedanken. Meine gewöhnliche Übellaunigkeit wuchs sich zu einem Hass auf alles und jeden aus; dabei hatte meine still duldende Frau, ach!, unter meinen plötzlichen, häufigen und zügellosen Wutausbrüchen, denen ich mich jetzt blindlings überließ, am meisten zu leiden.
Eines Tages begleitete sie mich in den Keller des alten Gebäudes, das wir aufgrund unserer Armut bewohnen mussten, um etwas für den Haushalt zu holen. Die Katze folgte mir die steile Treppe hinunter und brachte mich beinahe zu Fall, so dass ich vor Wut außer mir geriet. Ich hob eine Axt und vergaß in meinem Zorn die kindische Angst, die bis jetzt meine Hand zurückgehalten hatte. Ich führte einen Schlag gegen das Tier, der natürlich unmittelbar tödlich gewesen wäre, hätte er so getroffen, wie ich wollte. Doch wurde ich von der Hand meiner Frau aufgehalten. Von diesem Eingreifen zu einer mehr als dämonischen Raserei getrieben, riss ich mich von ihr los und hieb ihr die Axt in den Schädel. Sie brach auf der Stelle ohne einen Laut tot zusammen.
Nach diesem widerwärtigen Mord ging ich unverzüglich und mit Bedacht daran, den Leichnam zu beseitigen. Ich wusste, dass ich ihn weder bei Tag noch bei Nacht aus dem Haus schaffen konnte, ohne Gefahr zu laufen, von den Nachbarn beobachtet zu werden. Viele Möglichkeiten gingen mir durch den Kopf. Einmal wollte ich die Leiche in kleine Stücke sägen und verbrennen, ein andermal schien es mir das Beste, sie im Boden des Kellers zu vergraben. Dann wieder überlegte ich, sie im Brunnen hinter dem Haus zu versenken oder sie wie eine übliche Handelsware in einer Kiste zu verpacken und sie von einem Paketboten abholen zu lassen. Schließlich kam mir eine Idee, die mir sehr viel zweckmäßiger erschien. Ich beschloss, sie im Keller einzumauern – so wie der Überlieferung nach die Mönche im Mittelalter ihre Opfer eingemauert haben.
Dafür war der Keller geradezu ideal geeignet. Die Wände waren lose aufgeschichtet und erst vor Kurzem mit einem Rauverputz versehen worden, der wegen der Luftfeuchtigkeit nicht richtig ausgehärtet war. Außerdem gab es einen Mauervorsprung, hinter dem sich ein falscher Rauchabzug oder Kamin befand, den man zugemauert hatte, so dass er mit der Kellerwand eben abschloss. Ich zweifelte nicht, dass ich die Ziegelsteine an dieser Stelle mühelos herausnehmen, den Leichnam in dem Hohlraum unterbringen und die Lücke wieder zumauern könnte wie zuvor, ohne dass etwas Verdacht erregen könnte.
Und in dieser Annahme sollte ich mich nicht täuschen. Mit Hilfe eines Brecheisens löste ich die Steine, dann lehnte ich den Leichnam gegen die Innenwand, stützte ihn ab und zog die Wand ohne Schwierigkeiten wieder hoch, so wie sie gestanden hatte. Ich hatte mir bereits unter großen Vorsichtsmaßnahmen Kalk, Sand und Rosshaar besorgt, dann mischte ich Putz an, der sich vom alten nicht unterscheiden ließ, und verputzte damit sorgfältig das neue Mauerwerk. Nach getaner Arbeit sah ich zu meiner Befriedigung, dass alles gelungen war. An der Wand war keinerlei Veränderung zu bemerken. Den Schutt am Boden beseitigte ich mit äußerster Gründlichkeit. Ich schaute mich triumphierend um und sagte zu mir: »Hier wenigstens war meine Arbeit nicht vergeblich.«
Als Nächstes suchte ich nach dem Tier, das so viel Elend verursacht hatte, denn ich war fest entschlossen, es zu töten. Hätte ich es in diesem Moment gefunden, wäre sein Schicksal besiegelt gewesen. Aber wie es aussah, war das schlaue Tier durch die Gewalt meines letzten Wutausbruchs gewarnt und vermied es, sich mir in meiner jetzigen Gemütsverfassung zu zeigen. Es ist unmöglich, zu beschreiben oder sich vorzustellen, welch tiefe, beseligende Erleichterung die Abwesenheit der verhassten Kreatur in mir auslöste. Sie tauchte die ganze Nacht nicht auf – und so schlief ich zum ersten Mal, seit sie ins Haus gekommen war, eine ganze Nacht tief und fest – jawohl, schlief selbst mit der Last des Mordes auf meiner Seele!
Ein zweiter, ein dritter Tag verging, und immer noch ließ sich meine Peinigerin nicht sehen. Ich atmete wieder wie ein freier Mensch. Das Ungeheuer hatte aus Angst für immer das Weite gesucht! Ich würde es nie wiedersehen! Mein Glück kannte keine Grenzen! Die Schuld meiner Untat beschwerte mich nur wenig. Es hatte ein paar Ermittlungen gegeben, aber diese waren rasch erledigt. Man hatte sogar eine Hausdurchsuchung unternommen – aber natürlich nichts gefunden. Meiner glücklichen Zukunft stand nichts im Wege.
Vollkommen überraschend kam am vierten Tag nach dem Mord eine Gruppe von Polizisten ins Haus und begann erneut mit einer gründlichen Durchsuchung der Räumlichkeiten. Doch da ich mir sicher war, dass sich mein Versteck nicht auffinden ließ, verspürte ich keinerlei Nervosität. Die Beamten baten mich, sie bei ihrer Durchsuchung zu begleiten. Sie ließen keinen Winkel, keine Nische unerforscht. Schließlich stiegen sie zum dritten oder vierten Mal in den Keller hinunter. Ich zuckte nicht mit der Wimper. Mein Herz schlug so ruhig wie das eines unschuldig Schlummernden. Ich durchmaß den Keller vom einen Ende zum anderen. Mit verschränkten Armen schlenderte ich entspannt umher. Die Polizisten waren voll und ganz zufriedengestellt und wollten schon aufbrechen. Doch der Übermut in meinem Herzen war zu groß, um ihn zu bändigen. Ich brannte förmlich darauf, meinem Triumph, und sei es nur mit einem Wort, Ausdruck zu verleihen und doppelt sicherzugehen, dass sie von meiner Unschuld überzeugt waren.
»Meine Herren«, sagte ich schließlich, als die Gruppe die Treppe hinaufging, »es freut mich, dass ich Ihren Verdacht zerstreuen konnte. Ich wünsche Ihnen allen Gesundheit und ein bisschen mehr Höflichkeit. Nebenbei bemerkt, dies hier – ist ein sehr gut gebautes Haus.« (In meinem rasenden Wunsch, etwas Leichtsinniges von mir zu geben, wusste ich kaum mehr, was ich sagte.) »Ich darf sagen, ein vortrefflich gebautes Haus. Diese Mauern – gehen Sie schon, meine Herren? – diese Mauern sind grundsolide aufgeführt.« Und aus bloßer leichtsinniger Prahlerei schlug ich mit einem Stock, den ich in der Hand hielt, kräftig auf genau jenen Teil des Mauerwerks, hinter dem der Leichnam meiner Herzensfrau stand.
Doch möge Gott mich vor den Fängen des Erzfeinds beschützen und mich aus ihnen erlösen! Kaum waren meine Schläge verhallt, antwortete eine Stimme aus dem Inneren der Gruft! – zuerst erstickt und gebrochen, wie das Schluchzen eines Kindes, und dann allmählich ansteigend zu einem langen, lauten, anhaltenden Schrei, abartig und unmenschlich – ein Heulen – ein wimmerndes Kreischen, halb verzweifelt und halb wie im Triumph, so wie er in der Hölle den Kehlen der Verdammten und der Teufel hätte entsteigen können, die in der Verdammung frohlockten.
Von meinen eigenen Gedanken zu sprechen, wäre töricht. Fast ohnmächtig taumelte ich zur gegenüberliegenden Wand. Die Gruppe erstarrte einen Augenblick auf der Treppe vor übermäßigem Grauen und Entsetzen. Doch im nächsten schon machte sich ein Dutzend kräftiger Arme an der Mauer zu schaffen. Sie stürzte in sich zusammen. Die Leiche, bereits stark verwest und mit geronnenem Blut bedeckt, stand aufrecht vor aller Augen da. Auf ihrem Kopf hockte, mit rot aufgerissenem Maul und einem glühenden Auge, das abscheuliche Tier, das mich mit seinen Schlichen in den Mord getrieben hatte und dessen denunziatorische Stimme mich dem Henker überantwortete. Ich hatte das Untier mit in der Gruft eingemauert!
Was davon sagen? Was vom grimmigen Gewissen, Diesem Gespenst in meinem Wege.
Chamberlaynes Pharonnida
Erlauben Sie, dass ich mich kurzerhand William Wilson nenne. Das reine Blatt Papier, das vor mir liegt, muss nicht mit meinem wahren Namen beschmutzt werden. Er ist schon viel zu lange Gegenstand der Verachtung, des Grauens, des Abscheus vor meinem Geschlecht gewesen. Haben nicht die aufgebrachten Winde seine beispiellose Verworfenheit bis in den allerletzten Winkel der Erde getragen? Ach, Verstoßener – unter allen Verstoßenen der Verlassenste! Bist du nicht für immer der Welt gestorben – ihrer Gunst, ihren goldenen Blütenträumen? Und hängt nicht eine undurchdringliche Wolke, düster und grenzenlos, auf ewig zwischen deinen Hoffnungen und dem Himmelreich?
Ich habe nicht vor, selbst wenn ich es vermöchte, hier und heute von meinem unsäglichen Elend und meinen unentschuldbaren Verbrechen zu berichten. Dieser Lebensabschnitt – mithin die letzten Jahre – ist so voller Schandbarkeiten, dass ich mich darauf beschränken will, ihre Ursache zu erläutern. Die Niedertracht eines Menschen entwickelt sich gewöhnlich in kleinen Schritten. In meinem Fall fiel aller Anstand buchstäblich in einem einzigen Augenblick von mir ab, wie ein loser Umhang. Von vergleichsweise harmlosen Boshaftigkeiten ging ich in einem Riesenschritt zu einer Monstrosität über, die selbst die eines Elagabal übertraf. Welcher Zufall, welches besondere Ereignis diese verhängnisvolle Entwicklung auslöste, mag der geduldige Leser meinem Bericht entnehmen. Der Tod steht vor der Tür, und der Schatten, der ihm vorauseilt, legt sich lindernd auf meine Seele. In dem düsteren Tal, das ich durchschreite, sehne ich mich nach Mitgefühl – fast hätte ich Mitleid gesagt. Gerne würde ich sie davon überzeugen, dass ich in gewissem Maße Opfer von Umständen war, die sich der menschlichen Einflussnahme entziehen. Ich wünschte, sie würden für mich in den einzelnen Geschehnissen, die ich sogleich näher beschreiben werde, die ein oder andere kleine Oase unentrinnbaren Fatums inmitten einer Wüstenei von Verirrungen entdecken. Ich wünschte, sie würden anerkennen – was sie nicht anders als anerkennen können –, dass es vielleicht schon früher große Versuchungen gab, aber zumindest kein Mensch je so versucht worden – und gewiss noch nie so tief gefallen ist. Und hat demnach keiner je so gelitten? Habe ich nicht eigentlich in einem Traum gelebt? Und sterbe ich jetzt nicht als Opfer des wilden Grauens und der geheimnisvollsten aller irdischen Schreckensvisionen?
Ich entstamme einem Geschlecht, das stets für sein zur Phantasie neigendes und leicht erregbares Naturell bekannt war. Seit meiner frühesten Kindheit war unübersehbar, dass ich diesen familiären Charakterzug geerbt hatte. Mit zunehmendem Alter trat dieser Zug immer stärker hervor; er führte aus verschiedenen Gründen dazu, dass meine Freunde sich ernsthafte Sorgen machten und ich mir selbst spürbaren Schaden zufügte. Ich wurde eigensinnig und überließ mich den seltsamsten Launen – eine Beute unbeherrschbarer Leidenschaften. Willensschwach und von ähnlich labiler Veranlagung wie ich selbst, vermochten meine Eltern nur wenig gegen die unguten Neigungen, die mich auszeichneten. Halbherzige und irregeleitete Bemühungen ihrerseits scheiterten kläglich, während ich natürlich umso mehr triumphierte. Fortan war, was ich sagte, zuhause Gesetz; und in einem Alter, in dem andere Kinder kaum ihr Gängelband abwerfen, war ich der Führung meines eigenen Willens überlassen und konnte – außer was die Wahl meines Namens anbetraf – in jeder Hinsicht tun, was ich wollte.
Meine frühesten Erinnerungen an die Schule verbinden sich mit einem großen, weitläufigen elisabethanischen Gebäude in einem nebligen Städtchen in England, in dem eine Unzahl gewaltiger, knorriger Bäume standen und alle Häuser wie aus grauer Vorzeit aussahen. Es war ungelogen ein traumhafter und der Seele schmeichelnder Ort, dieses ehrwürdige Provinzstädtchen. Just in diesem Moment spüre ich wieder die erfrischende Kühle der baumbeschatteten Alleen, atme den Duft der tausend Büsche und Sträucher, und erneut höre ich mit unbeschreiblicher Beglückung den tief hallenden Klang der Kirchenglocke, der zu jeder Stunde jäh und düster die dämmrige Stille durchdrang, in die eingebettet der mit Maßwerk verkleidete gotische Kirchturm schlief.
Vielleicht bereitet mir das Schwelgen in Erinnerungen an die Schulzeit und ihre Belange das einzige Vergnügen, das mir im Augenblick noch möglich ist. Ins Elend gestoßen, wie ich bin – ein Elend, ach! das nur zu wirklich ist –, wird man mir die Schwäche nachsehen, wenn ich in Einzelheiten abschweife und darin vorübergehend Trost suche. Diese Einzelheiten, so trivial und sogar lachhaft sie an und für sich sein mögen, erhalten in meiner Phantasie doch eine gewisse zusätzliche Bedeutung, da sie einer Zeit und einem Ort angehören, in denen ich die ersten unklaren Warnhinweise auf jenes Schicksal erkenne, das mich später vollständig überschatten sollte. So will ich mich denn erinnern.
Das Gebäude war, wie gesagt, alt und verschachtelt, das dazugehörige Gelände weitläufig. Eine hohe und mächtige Backsteinmauer, gekrönt von fest darin eingelassenen Glasscherben, umgab das Anwesen. Dieser gefängnisartige Schutzwall bildete die Grenze unseres Reichs. Das jenseitige Gebiet erblickten wir nur dreimal in der Woche – einmal am Samstagnachmittag, wenn wir, unter der Aufsicht von zwei Tutoren, im Pulk kurze Spaziergänge durch die benachbarten Felder machen durften – und zweimal am Sonntag, wenn wir in der gleichen Formation zur Morgen- und Abendandacht in die Dorfkirche marschierten. Der Pfarrer dieser Kirche war unser Schuldirektor. Mit welch tiefer Verblüffung und Ungläubigkeit pflegte ich ihn von unserer weit entfernten Kirchenbank auf der Empore zu betrachten, wenn er feierlich und gemessen die Kanzel bestieg! Dieser ehrwürdige Mann mit dem so arglos gütigen Gesicht unter seiner so sorgsam gepuderten steifen Riesenperücke und in seinem so glänzenden, priesterlich wallenden Gewand – konnte das wirklich derselbe sein, der noch vor Kurzem mit saurer Miene und in schnupftabakbefleckter Kleidung, das Lineal in der Hand, die drakonischen Strafen der Lehranstalt verabreicht hatte? Oh, maßlose Paradoxie, zu irrwitzig für eine Auflösung!
An einer Stelle der gewaltigen Mauer dräute ein noch gewaltigeres Tor. Es war über und über mit Eisenbolzen beschlagen und oben mit scharfen Eisenzacken versehen. Was für eine tiefe Ehrfurcht es uns einflößte! Nie wurde es geöffnet, außer zu den drei erwähnten wiederkehrenden Gelegenheiten, wenn wir ein und aus gingen; da schien uns jedes Kreischen seiner mächtigen Angeln eine Fülle von Geheimnissen zu bergen – eine Welt, die Stoff für feierlich-ernste Gespräche und noch ernsteres Grübeln bot.
Die weitläufige Ummauerung war verwinkelt, so dass sich viele größere Ein- und Ausbuchtungen ergaben. Die drei oder vier größten von ihnen bildeten den Schulhof. Er war eben und mit feinem hartem Kies bestreut. Ich erinnere recht genau, dass dort weder Bäume noch Bänke standen noch sonst etwas dergleichen. Natürlich lag er auf der Rückseite des Gebäudes. Auf der Vorderseite befand sich ein schmales Gartenstück mit Buchsbaum und anderem Gesträuch; doch diesen geheiligten Bereich durchquerten wir nur bei den seltensten Gelegenheiten – etwa bei Schuleintritt oder Schulabgang oder wenn ein Elternteil oder Familienfreund uns abholte und wir fröhlich zu den Weihnachts- oder Sommerferien nach Hause aufbrachen.
Aber das Schulhaus! – was für ein wunderlicher alter Kasten das war! – für mich das reinste Zauberschloss! Man fand sich in seinen gewundenen Gängen und unüberschaubaren Ebenen und Teilen nicht zurecht. Man konnte nie mit Sicherheit sagen, in welchem seiner beiden Stockwerke man sich gerade befand. Von einem Raum zum nächsten führten immer drei oder vier Stufen hinauf oder hinab. Dann gab es unzählige vertrackte Seitengänge, die sich so ineinander zurückkrümmten, dass unsere exaktesten Vorstellungen von dem ganzen Haus sich nicht sonderlich von denen unterschieden, die wir von der Unendlichkeit haben mochten. Während der fünf Jahre, die ich dort zubrachte, wusste ich nie mit Sicherheit, in welchem entlegenen Trakt die Schlafkammer lag, die man mir und etwa achtzehn oder zwanzig anderen Schülern zugeteilt hatte.
Das Schulzimmer war das größte im Haus – ich dachte unweigerlich: in der ganzen Welt. Es war sehr lang, schmal und bedrückend niedrig, mit gotischen Spitzfenstern und einer Eichendecke. In einem abgelegenen und furchterregenden Winkel befand sich ein quadratischer Verschlag von acht oder zehn Fuß, das »Allerheiligste«, den unser Rektor Reverend Dr. Bransby »während der Stunden« benutzte. Es war ein solides Zimmerchen mit massiver Tür, und wir hätten eher die Folter peine forte et dure vorgezogen, als es in Abwesenheit des »Dominus« zu öffnen. In anderen Ecken gab es noch zwei ähnliche Kabuffs, die zwar etwas weniger, aber immer noch deutlich genug Ehrfurcht einflößten. Eines davon war die Kanzel des »Klassik«-Tutors, das andere desjenigen für »Englisch und Mathematik«. Kreuz und quer in endloser Unregelmäßigkeit über den ganzen Raum verstreut standen unzählige schwarze, abgenutzte Bänke und Pulte aus Vorzeiten, hoffnungslos mit abgegriffenen Büchern überladen und so mit Initialen, Namenszügen, grotesken Figuren und vielfältigen anderen Schnitzereien überzogen, dass sie das Wenige an ursprünglicher Form, das sie einst besessen haben mochten, gänzlich eingebüßt hatten. Ein riesiger Wasserbottich stand am einen Ende des Raums und eine Uhr von staunenswerten Ausmaßen am anderen.
Umgeben von den dicken Mauern dieser ehrwürdigen Lehranstalt verbrachte ich, durchaus ohne Verdruss oder Abscheu, das dritte Lustrum meines Lebens. Das überbordende Gehirn eines Kindes braucht keine äußeren Reize, um sich zu beschäftigen oder zu unterhalten; und die scheinbar triste Monotonie der Schule war reicher an spannenden Erlebnissen, als ich sie in meiner reiferen Jugend im Luxus oder in meinem vollen Mannesalter im Verbrechen gefunden habe. Doch muss ich annehmen, dass meine frühe geistige Entwicklung etwas Ungewöhnliches hatte – ja, sogar etwas Outriertes. Die frühen Lebensereignisse jedoch hinterlassen im Allgemeinen bei Menschen im reiferen Alter keinen maßgeblichen Eindruck. Alles ist nur grauer Schatten – eine schwache und unpräzise Erinnerung – ein unterschiedsloses Heraufdämmern blasser Freuden und phantasmagorischer Qualen. Bei mir ist das anders. In meiner Kindheit muss ich mit der Kraft eines Mannes empfunden haben, was mir nun so lebendig und tief und dauerhaft ins Gedächtnis geprägt ist wie die exergues auf karthagischen Münzen.
Doch eigentlich: Wie wenig, nach den Maßstäben der Welt, war da zu erinnern! Das Wecken am Morgen, der abendliche Appell, ins Bett zu gehen; das Lernen, die Abfragen; die regelmäßigen halben freien Tage und Spaziergänge; der Schulhof mit seinen Raufereien, Zeitvertreiben und Intrigen; – all dies erhielt durch die längst vergessene Zauberei der Seele eine Fülle wilder Sinnesreize, es war eine Welt vielfältiger Ereignisse, ein Universum unterschiedlichster Empfindungen und aufwühlender, leidenschaftlicher Erregungen. »Oh, le bon temps, que ce siècle de fer!«
Fürwahr, mein überschwängliches, leicht zu begeisterndes und hochfahrendes Wesen sicherte mir bald einen besonderen Status unter meinen Schulkameraden, und allmählich errang ich unter allen, die nicht sehr viel älter waren als ich, eine gewisse Vorrangstellung – unter allen, mit einer einzigen Ausnahme. Diese Ausnahme war ein Schüler, der, obgleich nicht mit mir verwandt, den gleichen Tauf- und Familiennamen hatte wie ich; – ein Umstand, der eigentlich wenig bedeutete; denn ungeachtet meiner adeligen Abkunft trug ich einen Allerweltsnamen, wie er seit Menschengedenken durch Gewohnheitsrecht Gemeingut des Pöbels ist. In dieser Erzählung nenne ich mich deshalb William Wilson – ein fiktiver Name, der dem wirklichen nicht allzu unähnlich ist. Mein Namensvetter war der Einzige in »unserer Clique«, wie es im Schuljargon hieß, der sich erdreistete, mir im Unterricht, im Sport und bei den Pausenbalgereien auf dem Schulhof Paroli zu bieten – der sich schlichtweg weigerte, meinen Behauptungen unbesehen Glauben zu schenken und sich meinem Willen zu unterwerfen – der sich sogar meinen willkürlichen Direktiven in jeder Hinsicht widersetzte. Wenn es auf der Welt einen absoluten und uneingeschränkten Despotismus gibt, dann ist es der Despotismus, den ein dominanter Charakter in der Jugend über seine weniger durchsetzungsfähigen Kameraden ausübt.
Wilsons Auflehnung war für mich ein Quell äußersten Missbehagens, und das umso mehr, als ich ihn unerachtet meiner Großsprecherei, mit der ich ihn und seine Anmaßung vor anderen zu traktieren pflegte, insgeheim fürchtete und in der Leichtigkeit, mit der er sich mir ebenbürtig erwies, wider Willen ein Zeichen seiner tatsächlichen Überlegenheit erkennen musste; da es mich eine ständige Anstrengung kostete, nicht zu unterliegen. Doch wurde diese Überlegenheit – oder auch nur diese Ebenbürtigkeit – in Wahrheit von niemandem außer mir anerkannt; unsere Schulkameraden schienen sie in unerklärlicher Blindheit nicht einmal zu ahnen. Allerdings waren seine Rivalität, sein Widerstand und vor allem seine unverfrorene und beharrliche Durchkreuzung meiner Pläne nicht offen sichtbar, sondern wirkten im Verborgenen. Ihm schien es sowohl am Ehrgeiz zu mangeln, der mich antrieb, als auch an der geistigen Leidenschaft, mit der ich mich hervortat. Seine Rivalität entsprang anscheinend nur dem wunderlichen Wunsch, mir Steine in den Weg zu legen, mich zu verblüffen oder zu beschämen; auch wenn es Momente gab, in denen ich mit einer Mischung aus Staunen, Demütigung und Groll feststellte, dass er seine Kränkungen, Sticheleien oder Widerreden mit einer gewissen überaus unpassenden und jedenfalls äußerst unwillkommenen Zuneigung vorbrachte. Ich konnte mir dieses eigentümliche Gebaren nur als Ausdruck vollständigen Eigendünkels erklären, der sich in das vulgäre Kleid der Gönnerschaft und Protektion kleidete.
Vielleicht war es ebendieser Zug in Wilsons Verhalten – verbunden mit der Namensgleichheit und dem bloßen Zufall, dass wir am selben Tag in die Schule eingetreten waren –, der bei den höheren Semestern der Anstalt den Anschein erweckte, wir seien Brüder. Dabei kümmern sich die älteren Schüler in der Regel nicht sonderlich um die Angelegenheiten der Jüngeren. Ich habe schon gesagt oder hätte sagen sollen, dass zwischen Wilson und meiner Familie nicht die geringste Verwandtschaftsbeziehung bestand. Aber wenn wir Brüder gewesen wären, dann hätten wir Zwillinge sein müssen. Denn nachdem ich Dr. Bransbys Anstalt verlassen hatte, erfuhr ich zufällig, dass mein Namensvetter am 19. Januar 1813 geboren worden war – und das ist eine bemerkenswerte Koinzidenz, denn genau das ist mein eigenes Geburtsdatum.
Es mag seltsam erscheinen, aber trotz der ständigen Unruhe, in die mich Wilsons Rivalität versetzte, und trotz seines unerträglichen Widerspruchsgeistes brachte ich es nicht über mich, ihn rundheraus zu hassen. Wir hatten wohl fast jeden Tag Streit, wobei er mir zwar öffentlich die Siegespalme überließ, aber irgendwie den Eindruck vermittelte, dass eigentlich er sie verdiene. Doch ein gewisser Stolz meinerseits und eine wahrhafte Würde auf seiner Seite ließen den Gesprächsfaden zwischen uns nie abreißen, während es in unserem Naturell viele Berührungspunkte einer ausgesprochenen Geistesverwandtschaft gab, die vielleicht nur durch unser Verhältnis daran gehindert wurde, sich zu einer echten Freundschaft zu entwickeln. Es ist allerdings schwierig, meine wirklichen Gefühle ihm gegenüber zu präzisieren oder auch nur zu beschreiben. Sie waren ziemlich gemischt und in sich widersprüchlich; – eine reizbare Animosität, die aber noch kein Hass war, eine gewisse Hochachtung oder eher Respekt, tiefe Furcht und eine ungeheure, mit Unbehagen verknüpfte Neugier. Für den Psychologen brauche ich nicht hinzuzufügen, dass Wilson und ich die unzertrennlichsten Kameraden waren.
Zweifellos war es die absonderliche Situation zwischen uns, die all meine Angriffe auf ihn (und es waren deren viele, ob offen oder verdeckt) in eine Richtung von Hänseleien und Streichen lenkte (die zwar schmerzhaft waren, aber doch immer wie ein bloßer Spaß daherkamen) statt in eine ernsthafte und entschiedene Feindseligkeit. Aber meine diesbezüglichen Bemühungen waren keineswegs immer von Erfolg gekrönt, selbst wenn ich sie noch so schlau ausgeheckt hatte; denn mein Namensvetter hatte viel von jener zurückhaltenden und unaufgeregten Nüchternheit, die sich der Treffsicherheit ihrer eigenen Spötterei erfreut, selbst aber keine Angriffsfläche bietet und sich keiner Lächerlichkeit preisgibt. Ich konnte bei ihm tatsächlich nur eine verwundbare Stelle entdecken, und diese persönliche Eigenheit, die vielleicht auf eine angeborene Missbildung zurückging, hätte wohl jeder Gegner verschont, der nicht ganz so am Ende seines Lateins war wie ich; – mein Rivale hatte eine Dysfunktion in seinem Kehlkopf oder an seinen Stimmbändern, die es ihm unmöglich machte, seine Stimme je über ein sehr leises Flüstern hinaus zu erheben. Aus dieser Behinderung zog ich so viel billigen Nutzen für mich wie möglich.
Wilsons Retourkutschen waren vielfältig, wobei mir eine Form seines Schabernacks über die Maßen zu schaffen machte. Wie er mit seinem Scharfsinn überhaupt herausfand, dass eine solche Belanglosigkeit mich auf die Palme bringen würde, ist mir bis heute ein Rätsel. Aber nachdem er einmal dahintergekommen war, bereitete er mir damit ständig Ärger. Ich hatte schon immer eine Aversion gegen meinen unvornehmen Familiennamen und den geradezu plebejischen Allerwelts-Vornamen. Die Silben klangen grässlich in meinen Ohren; und als am Tag meiner Ankunft ein zweiter William Wilson ins Institut kam, war ich zornig, dass er diesen Namen trug, und doppelt abgestoßen von dem Namen, weil ein Fremder ihn trug, der eine wiederholte Namensnennung verursachen und sich ständig in meiner Gegenwart aufhalten würde und dessen Angelegenheiten im normalen Schulalltag aufgrund der abscheulichen Übereinstimmung unweigerlich mit meinen eigenen verwechselt werden mussten.
Der so entstandene Verdruss verstärkte sich mit jedem Umstand, der geeignet war, eine seelische oder körperliche Ähnlichkeit zwischen meinem Rivalen und mir herzustellen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass wir gleich alt waren; aber ich sah, dass wir gleich groß und uns überhaupt verblüffend ähnlich waren, sowohl in der Gestalt als auch in den Gesichtszügen. Außerdem ärgerte mich, dass in den oberen Klassen sich das Gerücht verbreitet hatte, wir seien verwandt. Mit einem Wort, nichts konnte mich mehr verstören (obgleich ich den Eindruck einer solchen Verstörung sorgfältig vermied) als eine Anspielung auf irgendeine Ähnlichkeit unserer Denkweisen, unseres Verhaltens